Schneeflöckchen, Blutröckchen - Margit Kruse - E-Book

Schneeflöckchen, Blutröckchen E-Book

Margit Kruse

4,9

Beschreibung

Kurz vor Heiligabend wird eine Bank ausgeraubt und ein Auszubildender erschossen. Der Räuber, im Weihnachtsmann-Outfit, mit auffälligen Budapester Schuhen, flüchtet im Weihnachtsmarktgetümmel. In sentimentaler Stimmung nimmt Margareta Felix, den Obdachlosen, am Heiligen Mittag nach Arbeitsende mit nach Hause um ihm über Weihnachten Asyl zu gewähren. Mit ihm zusammen begibt sie sich auf Gangsterjagd. Ein Katz- und Maus-Spiel durch ihren Heimatort, spannend und skurril, beginnt …

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Margit Kruse

Schneeflöckchen, Blutröckchen

Ein Weihnachtskrimi

Zum Buch

Weihnachtsjagd Kurz vor Heiligabend wird eine Bank ausgeraubt und ein Auszubildender erschossen. Der Räuber, im Weihnachtsmann-Outfit, mit auffälligen Budapester Schuhen, flüchtet im Weihnachtsmarktgetümmel. In sentimentaler Stimmung nimmt Margareta Felix, den Obdachlosen, am Heiligen Mittag nach Arbeitsende mit nach Hause um ihm über Weihnachten Asyl zu gewähren. Mit ihm zusammen begibt sie sich auf Gangsterjagd. Ein Katz- und Maus-Spiel durch ihren Heimatort, spannend und skurril, beginnt. Durch Felix’ Beobachtungen erhärtet sich der Verdacht, um wen es sich bei dem Bankräuber handeln könnte. Um Felix zu schützen, will Margareta den Fall ohne Kripo lösen. Als sie von der Bildfläche verschwindet, machen sich am zweiten Weihnachtstag Mutter Waltraud samt ihren Freundinnen Anna und Hildchen sowie Felix auf die Suche. Haben auch Mandel-Alfred und der Kapellmeister Sepp Dreck am Stecken? Nicht nur Kommissar Zufall mischt ordentlich mit, auch Kommissar Blauländer hat da so eine Ahnung.

Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis „Eisaugen“, „Zechenbrand“, „Hochzeitsglocken“ und „Rosensalz“. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben zahlreichen Beiträgen in Anthologien hat sie bislang zehn Bücher veröffentlicht, darunter ein Roman, der für den Literaturpreis Ruhr 2009 nominiert war. Labrador Enja ist stets dabei wenn Margit Kruse sich auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Die Autorin ist Mitglied im Syndikat sowie im Verband deutscher Schriftsteller.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Opferstock (2017)

Rosensalz (2016)

Wer mordet schon im Hochsauerland (2015)

Hochzeitsglocken (2014)

Zechenbrand (2013)

Eisaugen (2011)

Impressum

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ohneski / photocase.de

ISBN 978-3-8392-5514-8

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Übrigens: Die Deutsche Bank im Gelsenkirchener

Ortsteil Buer existiert zwar, den Banküberfall mit

tödlichem Ausgang gab es jedoch nicht.

 

Prolog

Der Schuss kam so überraschend, knallte ihm von vorne in die Brust. Er riss die Augen auf, schaute ungläubig, torkelte einige Schritte nach vorn, sah nur sie an, brach zusammen und fiel in den frisch gefallenen Schnee.

Sie stürzte zu ihm hin, drehte ihn weinend um, rief seinen Namen, immer wieder.

Doch er brachte keinen Ton heraus, sah sie aus traurigen, fassungslosen Augen an.

Ein einziges Wort.

Nur ein einziges Wort wollte er ihr noch sagen. Doch nur ein jämmerliches Gurgeln verließ seine Kehle.

Dieser ungläubige Blick, der fragen wollte: »Warum gerade ich?«, verfolgte nur sie.

Trotz der Dunkelheit sah sie dank der Straßenlaternen die Blutstropfen im Schnee versinken. Tanzende dicke Flocken, die vom Himmel fielen, setzten sich auf die am Boden liegenden Tropfen. Sie strich ihm mit der Hand zärtlich über seine Wange, kniete neben ihm nieder und beugte sich zu ihm herunter: »Ich habe das nicht gewollt. Verzeih mir!«

Ihm wurde schwindelig, schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen. Von irgendwoher drang eine weihnachtliche Melodie an seine Ohren: »Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit …«

Waren es Engel, die das sangen? War er schon im Himmel? Er spürte einen wahnsinnigen Schmerz in seiner Brust. Wieder hörte er dieses »Schneeflöckchen«-Lied, das er als kleiner Junge schon so gern gehört hatte. Dann wurde es Nacht.

Noch bevor der Notarztwagen mit lautem Martinshorn vor ihm hielt, war er nicht mehr hier. Auch das flackernde Blaulicht holte ihn nicht mehr zurück.

1.

21. Dezember. Margareta stand mit ihrem Glühweinglas dicht gedrängt zwischen den anderen Gästen vor dem Eiscafé Botticelli und fror. Direkt gegenüber, vor dem Bekleidungsgeschäft, in dem sie beschäftigt war, befand sich die kleine Bühne, eingerahmt von Imbissbuden. Darüber, in dem großen Baum, hingen Geschenkpakete in allen Farben, angeleuchtet von unzähligen Lichtersternen. Glückliche Kinder einer Kita sangen als Nikoläuse verkleidet im Bratwurst- und Pommesnebel Weihnachtslieder, angefeuert von Muttis, Vatis und jeder Menge Omis sowie gelegentlich auch mal einem Opi, wenn er mitdurfte.

Wo ist mein Kind?, fragte Margareta sich. Wieso habe ich kein kleines Mädchen oder auch einen kleinen Jungen, der dort oben auf der Bühne seinen Mund weit aufreißen und singen würde? Vor Stolz würden mir die Augen nass werden, und ein Kloß im Halse würde mich beim Sprechen hindern. Meine Mutter Waltraud stünde laut aufschluchzend vor Rührung neben mir. Doch wo sollte dieses Kind herkommen? Vom Heiligen Geist? Unbefleckte Empfängnis?

Wieder war ein Jahr vergangen, wieder hatte sie den Mann fürs Leben nicht getroffen. Die alljährliche Weihnachtsfeier in der Firma mit dem traditionellen Schrottwichteln war ätzend gewesen, und Margareta war frustrierter als je zuvor. Sie schaute auf die große Plastiktragetasche mit dem Kaufhauslabel und hätte sich schütteln können. Einen unmodernen Herrenwintermantel, groß kariert, Lagerbestand seit mindestens 20 Jahren, hatte sie erwichtelt. Ein Wink mit dem Zaunpfahl? Sollte der Mantel vielleicht für jemand ganz Bestimmten sein? Da stand er wieder, wie fast jeden Tag, seit der Weihnachtsmarkt vor vier Wochen eröffnet worden war, ihr schräg gegenüber im Eingang des Kaufhauses. Einer der »Platte machte«, ein Obdachloser, und doch unterschied er sich von den anderen Wohnungslosen, die sich gelegentlich hier auf der Hochstraße blicken ließen. Felix hieß er, war höchstens 40 Jahre alt und hatte wunderschöne braune Augen. Sie war ein paarmal mit ihm ins Gespräch gekommen, in ihrer Mittagspause, zwischen Bratwurst und Kakao. Gestern traf sie ihn an einer der Märchenhütten gegenüber der Deutschen Bank. Er starrte auf die verstaubten Plüschbewohner des Etablissements und musste grinsen. Margareta ging es nicht anders. Auch sie hätte laut loslachen können beim Anblick dieser Figuren. Wie lange gab es diese Märchenhütten in Buer jetzt schon? Sie wusste es nicht. Jedenfalls schon, so lange sie denken konnte. Die Heiligen Drei Könige waren vom Alter gezeichnet, beugten sich vor dem Jesuskind, einer uralten Schildkrötpuppe, nieder. Maria in ihrem weißen Gewand sah aus wie die Bewohnerin eines Seniorenzentrums, und Josef, na ja, so alt, wie er aussah, konnte ein normaler Mensch gar nicht werden. Die krächzende Stimme aus dem Lautsprecher, die das entsprechende Märchen herunterleierte, erinnerte sie an die Stimme ihres Chefs. Ob er die Märchen selbst aufgesprochen hatte, um Geld zu sparen? Schließlich gehörten er und die Bude zur Buerschen Werbegemeinschaft. Möglich war alles.

Ihre Blicke hatten sich getroffen, und beide lachten. Felix hatte schöne Zähne. Die letzte professionelle Zahnreinigung konnte noch nicht lange her sein.

So ein hübscher Mann in Sack und Asche und ohne ein Dach über dem Kopf? Mutig hatte sie ihn angesprochen.

»Warum ziehen Sie umher mit Ihrem Hab und Gut? Sie sind doch noch so jung?« Mein Gott, ich rede schon wie meine Mutter, hatte sie gedacht. Ihr Blick blieb an seinem riesigen Rucksack und der daran befestigten Wolldecke hängen.

»Tja, das Leben ist kein Wunschkonzert. Meinen Sie, ich hätte mir jemals träumen lassen, mal auf der Straße zu landen? Ich hatte einen festen Job, doch meine Frau hat mir alles genommen. Aber das ist eine lange Geschichte.«

Jaja, immer die bösen Frauen. »Und wahrscheinlich sind Sie zu stolz, Hilfe anzunehmen, nicht wahr?«, hatte sie ihn gefragt.

»Kann schon sein«, sagte er nur. Tränen traten in seine Augen. Seine Jack-Wolfskin-Jacke war voller Löcher und Flecken, seine Cordhose stand ebenfalls vor Dreck. Die graue Fellmütze mit den Ohrenklappen sah zum Schießen aus. Und doch wusste sie, dass in dieser erbärmlichen Schale ein Juwel stecken musste. Vielleicht das Christkind, von Gott gesandt, um sie zu prüfen? Wie war das noch mit dem Froschkönig?

Tagsüber hielt er sich viel im Weißen Haus auf, einem Asyl für Obdachlose, warm und behaglich. Dort gab es zu essen und eine Waschmöglichkeit. Zum Glück brauchte er nachts noch nicht draußen zu schlafen, kam bei einem Bekannten in dessen Gartenhaus unter. Bei zehn Minusgraden allerdings auch kein Vergnügen. Jedoch fuhr besagter Bekannter über Weihnachten weg und wollte dann niemanden auf seinem Grundstück haben, erzählte er Margareta mit traurigem Blick.

Sie tranken Kakao, sinnierten über das Leben, bevor Margareta wieder an die Kleiderständer musste. Felix wollte seinen Nachnamen nicht preisgeben.

Warum sie Single sei, hatte er sie gefragt, so eine tolle Frau.

Tja, warum, überlegte sie, während die Rolltreppe sie in den ersten Stock des Kaufhauses, in die Herrenabteilung, gebracht hatte. Der Richtige war eben noch nicht dabei gewesen. Sie musste lachen. Hätte auch ein Spruch aus ihrer Mutter Mottenkiste sein können.

»Happy, happy star of Jerusalem«, schallte es aus dem krächzenden Lautsprecher auf der Bühne. Die Kinder waren längst verschwunden, die Musik kam jetzt vom Band und holte sie in die Wirklichkeit zurück. Auch Felix stand nicht mehr im Eingang des Kaufhauses.

Und wieder erklang der Refrain des nicht mehr taufrischen Nockalm-Quintett-Songs »Happy, happy star of Jerusalem, lass uns heute Nacht in den Himmel sehen.« Verträumt schaute Margareta in den Abendhimmel. Oh ja, sie mochte auch mal wieder mit einem Mann verliebt in den Himmel sehen.

Einen weiteren Glühwein zu trinken, kam für Margareta nicht infrage, wenn sie ihren Führerschein behalten wollte. Sie entschied sich für einen Kakao. Sie wollte einfach noch nicht nach Hause in ihre leere Wohnung. Obwohl die Geschäfte bereits schlossen, wurde es um sie herum immer enger. Das italienische Eiscafé war ein beliebter Treffpunkt der Weihnachtsmarktbesucher. In Dreier-, Vierer- und Fünferreihen standen sie hier draußen bei der Kälte vor der Tür an rustikalen Stehtischchen, um heißen Glühwein zu schlürfen, der von dem Italiener angerührt und auf der Tafel als »Vin brûlé« angepriesen wurde. Besonders der weiße Glühwein mundete Margareta und schenkte ihr für kurze Zeit Vergessen.

In drei Tagen war Heiligabend, und sie würde ihn wieder ohne Begleitung bei ihrer Mutter Waltraud verbringen, inmitten einer Schar Buckliger. Prost Mahlzeit! Ach ja, Waltraud! Hoffentlich würde ihr der rote Pullover mit dem tiefen Ausschnitt gefallen, den sie heute für sie gekauft hatte. Ihre Mutter trug gerne zur Schau, was sie hatte, auch noch mit über 70 Jahren.

Margareta grauste es vor dem Heiligen Abend. Sie würde ihren Bruder Gisbert wiedersehen, worauf sie eigentlich keinen großen Wert legte. Lieber würde sie den Heiligen Abend mit einem netten Mann bei sich zu Hause verbringen, die Beine hochlegen, schön essen, sich beschenken und verwöhnen lassen. Hatte sie eigentlich schon einmal Weihnachten mit einem Mann verbracht? Vor zehn Jahren, als sie noch fest liiert war, hatten sie die Weihnachtsfeste bei seinen Eltern abgehangen. Das war fast noch schlimmer gewesen als bei Waltraud. Tannenduft und dicke Luft herrschten dort in Muttersöhnchens Heim. Die chronisch beleidigte dürre Alte begluckte ihren Sohn, dass es fast schon pervers war.

Bei Margaretas Verflossenen war alles dabei gewesen. Eine bunte Mischung aus einem Kriminalkommissar, einem Mehrfachmörder, einem Weichei, das sie bei ihren Ermittlungen auf dem Bergmannsglücker Zechengelände kennengelernt hatte, einem Polen, schön, aber untreu. Zuletzt war da ein Lehrer, der erst Sex wollte, nachdem er vor den katholischen Traualtar getreten wäre. Nein, sie wollte keinen Kater im Sack kaufen.

Ihre Gedanken gingen zu Felix. Armer Mann! Wieso war er so abgedriftet? Ob sie ihn morgen wieder auf dem Weihnachtsmarkt treffen würde? Fast freute sie sich darauf.

Gegen 20 Uhr trat sie den Heimweg an. Pünktlich um 20.15 Uhr wollte sie vor dem Fernseher sitzen, um sich den »Kleinen Lord« anzuschauen, wie in jedem Jahr. Dieser kleine Blondschopf, der Lord Fauntleroy werden sollte und beim bösen Earl of Dorincourt auf dessen Anwesen, das Kälte und Herzlosigkeit ausstrahlte, untergebracht wurde und den alten Knacker mit seiner kecken Art bald um den Finger wickelte, faszinierte sie in jedem Jahr zu Weihnachten aufs Neue.

Während sie in ihre warme Decke gehüllt vor dem Fernseher lag, Nüsse knackte und auf den winzigen Tannenbaum zu acht Euro vom Händler an der Ecke starrte, würde Felix in dem kalten Gartenhaus seines Bekannten, zusammengerollt in seinem Schlafsack, bei Minusgraden Radio hören. Am Heiligen Abend müsste er das Häuschen geräumt haben. Würde er dann auf einer Bank nächtigen? Im Berger Park oder im Stadtwald? Sie bekam eine Gänsehaut, wenn sie nur daran dachte. Es gab ein Männerübernachtungsheim im Ortsteil Schalke in der Caub­straße. Doch dort hatte es Felix nur einmal versucht, für drei Euro Schlaf zu finden. Lauter Drogenjunkies und Gewalttätige hätten ihm Angst gemacht. Nein, zu diesen Obdachlosen zählte er sich nicht. Wie sollte es bloß mit ihm weitergehen?

2.

22. Dezember. Seit einigen Wochen war Margareta in der Herrenabteilung des Kaufhauses eingesetzt, da durch Krankheit gleich mehrere Mitarbeiter ausgefallen waren. Während sie kurz vor der Mittagspause einem kernigen Mann in Jeans helfen musste, da er wegen seiner Körperfülle zu unbeweglich war, hörte sie Polizeisirenen und eine Stimme aus einem Megafon. Mehr Sirenen, Türengeschlage, Geschrei.

Sie ging zum Fenster in dem Vorraum der Umkleidekabinen und spähte hinaus. Von hier oben hatte sie einen tollen Blick über den Wochenmarkt, der parallel zur Hochstraße, der Buerschen Einkaufsmeile, lag, sowie auf die Springestraße, die von der Hochstraße zum Busbahnhof führte. Auf dieser schmalen Straße befand sich die Deutsche Bank. Margareta blickte auf einen riesigen Menschenauflauf zwischen den Weihnachtsmarktbuden und der kleinen Kindereisenbahn. Die Polizei war gerade dabei, die Menschen zurückzudrängen und den Eingang der Bank mit Flatterband abzusperren. Ein grüner Mannschaftsbus der Polizei spuckte Beamte, die zur Verstärkung geschickt worden waren, wie Kirschkerne aus. Dass es die Fahrzeuge überhaupt geschafft hatten, durch die von Menschen überfüllte Fußgängerzone bis zur Bank durchzudringen, war ein Wunder. Sie konnte auch Felix sehen. Seelenruhig stand er an der Märchenbude mit den Heiligen Drei Königen und schaute sich das Schauspiel an. Frauen- und Kinderschreie waren bis oben hinter die dicken Scheiben zu hören. Was war passiert? Ein Krankenwagen fuhr im Schneckentempo durch die Menge bis zum Eingang der Bank. Ein Überfall? Gab es Tote und Verletzte? Jetzt kam der Notarztwagen, dahinter gleich ein schwarzer BMW. Die neugierigen Menschen ließen sich nur mit Mühe an die Seite drängen. Margareta musste schmunzeln. Sie kannte das Fahrzeug. Ihm entstieg, in einen weiten Wintermantel gehüllt, der Erste Hauptkommissar des KK11 des Buerschen Polizeipräsidiums: Helmut Blauländer. Dass sie ihn so schnell wiedersehen würde, hätte sie nicht gedacht. Kein schöner Anlass, so ein Banküberfall in der Weihnachtszeit. Die Anwesenheit des Chefs der Kripo vor Ort bedeutete, dass es einen Toten gegeben haben musste. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Noch 15 Minuten bis zu ihrer Pause.

»Wat is denn jetz mit meine Hose hier. Helfen Se mich ma«, schrie der Dicke hinter dem Vorhang. Margareta hätte sich schütteln können, wenn sie daran dachte, nun wieder am Boden herumkriechen zu müssen, um dem Mann die Hose auszuziehen, in die er sich mit Mühe gestopft hatte. Hätte er weniger gegessen, könnte er sich alleine an- und ausziehen. Auf dem Höckerchen vor der Kabine saß seine Alte und stopfte sich eine Waffel mit Puderzucker in den zahnlosen Mund. Sie war selbst viel zu unbeweglich, um ihrem Göttergatten zu helfen. Wozu gab es schließlich Verkäuferinnen?

»Gibt es Probleme?« Ottfried Zarzke steckte den Kopf in den Vorraum und sah Margareta wütend an. »Wenn Sie hier fertig sind, Frau Sommerfeld, packen Sie bitte die neuen Jeanshosen in die Regale, statt hier Ihre Zeit mit Aus-dem-Fenster-Starren zu vergeuden.«

»Aber da draußen ist etwas passiert! Wohl ein Banküberfall. Der Notarzt ist auch da.«

»Hier passiert gleich auch was, Frau Sommerfeld«, flüsterte ihr Chef ihr, für die Kunden nicht hörbar, zu und war auch schon verschwunden.

Nur noch zwei Tage, danach neun freie Tage, sagte sie sich und kroch vor dem überdimensionalen Sandmann am Boden herum, um ihm die Hose auszuziehen, während die zahnlose Alte in ihrem dunkelblauen Wintermantel weiterhin ihre Waffel kaute.

Im nächsten Jahr suche ich mir endgültig einen neuen Job, beschloss Margareta soeben, während sie mit aller Kraft versuchte, die Hosenbeine von den dicken Stempeln des Mannes zu ziehen. Ein betäubender Geruch, ein Gemisch aus Fäkalien, Maggi-Würzmischung zwei und stinkiger Asi-Bude wehte ihr aus dem Schritt des dicken Mannes entgegen. Oh, wie entwürdigend. Sie hätte sich übergeben können. Seine mittelblaue Unterhose war ausgebeult und schmutzig. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, was da für Flecken an dem Teil hafteten. Endlich stand sie mit der Hose, die er natürlich nicht haben wollte, vom Boden auf, um sie erst einmal wieder auf rechts zu ziehen.

»Hamse nich nowatt anderet da?«, fragte der Dicke und leckte sich über seine aufgesprungenen Lippen.

»Ich habe jetzt Pause«, presste Margareta wütend hervor und verschwand mit der Hose, während das Paar lautstark seinem Ärger Luft machte. Sollte der Kerl sich doch beschweren. Sie musste sich nicht alles bieten lassen. Was zu viel war, war zu viel. Sie warf die Jeans auf einen Ständer und hastete zu den Personalräumen, um ihren Mantel zu holen. Nach draußen, nur nach draußen. Sie musste wissen, was dort vorging, obwohl ihr bewusst war, dass Ärger auf sie warten würde, wenn dieser Stinker sich bei ihrem Chef beschwerte. Das würde der gar nicht witzig finden, dass sie den Kunden einfach hatte sitzen lassen und ihre wohlverdiente Pause antrat.

Als sie das Kaufhaus durch den Ausgang zum Markt verließ, musste sie sich durch die Menschenmenge drängen, um möglichst nah zur Bank vorzustoßen. Ein fast unmögliches Unterfangen, denn die Polizei hatte inzwischen Verstärkung angefordert und riegelte großräumig ab. Margareta drückte sich an den Schaufenstern entlang. Sie wollte zur Märchenhütte, an der sie Felix vermutete. Ein wildes Stimmengewirr drang an ihre Ohren. »Tote«, riefen einige Menschen in die Menge, »Überfall.« Hier und da blitzte eine Kamera auf. Den Presseleuten entging nichts. Sie witterten eine gute Story. Kinder weinten. Anstatt dass die Eltern mit ihrem Nachwuchs von der Bildfläche verschwanden, warteten sie sensationslüstern, ob sie vielleicht etwas Spannendes erspähen konnten. Vielleicht eine Geiselnahme wie im Fernsehen? Als Margareta die Märchenhütte erreicht hatte, war kein Felix mehr zu sehen. Gegenüber an der Pumuckl-Bude weinte eine Frau, eine gute Kundin von Margareta. Margareta hastete zu ihr, um sie aufgeregt zu befragen, was passiert war. Doch die verstörte Dame stammelte nur immer wieder: »Der arme Junge, der arme Junge, jetzt ist er tot!«

»Ja, wer denn, um Himmels willen?« Margareta schüttelte die Frau so heftig am Ärmel ihres gefütterten Wildledermantels, dass ihre goldenen Armbänder nur so klingelten.

»André, der Auszubildende der Bank, wurde erschossen.«

Margareta riss entsetzt die Augen auf. »Der André? Meine Güte, so ein netter Kerl.«

Die Frau schniefte in ihr stark parfümiertes Stofftaschentuch. Ihre verlaufene Wimperntusche verwandelte ihr Gesicht in eine Fratze.

»Haben Sie den Täter gesehen?« Erneut krallte sich Margareta in den Arm der Frau.

»Nein, ich habe nur die Leute schreien hören. Er soll Richtung Busbahnhof geflohen sein.«

Margaretas Blick suchte den Bankeingang. Helmut Blauländer stand dort und diskutierte mit einem Kollegen, einem zarten, blutarmen Mann mit Goldrandbrille. Ob sie es wagen sollte, ihn einfach anzusprechen? Irgendwie tat er ihr leid. So kurz vorm Fest noch so einen Stress für den von sämtlichen Zipperlein geplagten Mann. Seit Stefan Kornblum, seine rechte Hand und Margaretas ehemaliger Liebhaber, sich hatte versetzen lassen, hatte er es sicher nicht einfach. Stefan war schon eine Koryphäe auf seinem Gebiet gewesen. Und nicht nur dort, dachte Margareta wehmütig. Seit Stefan von Blauländers Seite gerissen worden war, musste dieser wieder richtig zupacken. Vorbei war es mit dem süßen Mittagsnickerchen in seinem Dachkämmerlein des Präsidiums. Jetzt hieß es »Ran an die Ermittlungen«. Im Sommer, bei den Untersuchungen zum Fall des Pfarrermordes, stand ihm Jenny Gehrke, mit der Stefan sie betrogen hatte, zur Seite. War auch sie schon wieder Vergangenheit?

Sie entschied sich, ihn in Ruhe zu lassen. Immer wieder sah sie sich nach Felix um. Wo war er bloß? War er etwa der Täter und mit der Beute geflohen? Saß er bereits im Gartenhaus seines Freundes und zählte das Geld?

Spinn nicht rum!, mahnte sie sich selbst. Nein, so etwas traute sie ihm nicht zu. Wer konnte den Täter gesehen haben? Sicherlich hatten Blauländer und sein Kollege schon einige Passanten befragt und wussten mehr. Es reizte sie, den Kommissar einfach anzusprechen. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Ihre Pause war bereits seit fünf Minuten beendet. Zarske sprang bestimmt schon wie Rumpelstilzchen zwischen den Herrenanzügen und Wintermänteln hin und her.

Egal, sie musste es riskieren. Sie bahnte sich den Weg zurück zum Markt. Der Hähnchenverkäufer Bodo Winkler, der gleich am Eingang zum Wochenmarkt mit seiner Karre stand und Brathähnchen sowie Schweinshaxen feilbot, hatte von seinem Grillwagen aus freien Blick auf den Bankeingang. Sie musste ihn sprechen. Der Geruch von verbrannten Hähnchen zog Margareta regelrecht an. Eine Menschenschlange hatte sich vor seinem Verkaufswagen gebildet. Wollten die etwa alle ein Hähnchen mitnehmen? Empörte Kunden machten ihrem Ärger Luft, fuchtelten mit den Händen in der Gegend herum. Natürlich stellte Margareta sich nicht hinten an, sondern drängelte sich ganz nach vorn durch. Weit und breit war jedoch kein Hähnchenmann zu erblicken. Die Karre war verwaist. Die Hähnchen drehten sich auf den Stangen verzweifelt in der Hitze und waren schon mehr als gar. Ebenso die Schweinshaxen, die über knusprig weit hinaus waren. Margareta fiel das Märchen von Frau Holle ein. Das arme Brot in dem Ofen, das schon längst gar war. »Hol mich hier raus, ich verbrenne, ich bin schon lange fertig gebacken«, schrie das Brot verzweifelt. Margareta überlegte kurz, dachte aber nicht ernsthaft daran, irgendwie einzugreifen. Stattdessen lauschte sie den Gesprächen der angeblichen Kunden.

»Hat sich einfach vom Acker gemacht, der Alte!«

»Wo ist der hin?«

»Wer weiß, vielleicht war er ja der Bankräuber?«

So und ähnlich erhitzten sich die Gemüter, während die Brathähnchen und auch die Haxen immer dunkler wurden.

Erst in der letzten Woche hatte Bodo ihr erzählt, dass seine Geschäfte schlecht liefen. Eine Reparatur an seinem Grillwagen wäre unbedingt nötig. Auch die beiden anderen Wagen würden bald den Geist aufgeben. Er konnte in diesem Jahr seinen Angestellten schon kein Weihnachtsgeld mehr zahlen. Wenn es so weiterginge, müsste er Konkurs anmelden. Ob er die Gelegenheit genutzt hatte? Mitten in der Hauptmarktzeit? Während er zum Geldwechseln in die Bank lief, sah er die Gunst der Stunde gekommen und schlug erbarmungslos zu? Überfall okay, einen Mord traute Margareta dem Hähnchenmann jedoch absolut nicht zu. Doch wo war er? Er ließ nicht so ohne Weiteres seinen Imbisswagen im Stich. Ich muss der Sache nachgehen, nahm Margareta sich fest vor und schlich zurück ins Warenhaus, hinauf in ihre Abteilung, wo Zarske sich schon aufgebaut hatte, um sie niederzumachen.

Er fletschte die Zähne und zischte ihr mit seiner feuchten Aussprache böse Worte entgegen. Margareta stand vor ihm wie ein bedröppeltes Huhn, den Blick nach unten gerichtet.

»Wo kommen Sie jetzt her, Frau Sommerfeld?« Seine Halsschlagader pulsierte, seine Augen glotzten ihr wütend entgegen. »Sie haben die Pause genau 20 Minuten überzogen. Und das nun schon zum dritten Mal in den letzten zwei Wochen.«

»Beim letzten Mal waren es nur sieben Minuten, Herr Zarske. Jetzt übertreiben Sie mal nicht. Ich war auf dem Markt. In der Bank wurde ein Auszubildender erschossen.«

»Ja, das mag tragisch sein, doch unser Betrieb läuft weiter. Der Kunde von vorhin hat sich über Sie beschwert. Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, für uns ist jeder Kunde gleich, ob arm, ob reich.«

»Der hat gestunken wie ein Elch und hat sowieso nichts gekauft. Die beiden wollten sich nur aufwärmen.«

»So zu urteilen, steht Ihnen nicht zu, Frau Sommerfeld. Die Sache hat ein Nachspiel!«

Sie wich, so gut es ging, den Speicheltropfen, die jetzt wie Geschosse aus seinem Mund flogen, aus.

»Die Sache hat ein Nachspiel«, echote der völlig überdrehte Mann.

Nachspiel, Nachspiel. Nichts geht über ein schönes Nachspiel, hätte sie ihrem Chef am liebsten an seinen arg trockenen Kopf geknallt. Doch nach Spaß war ihm ganz gewiss nicht zumute.

»Ich kann es nicht ändern«, sagte sie nur und ging wieder zu dem Regal, um weiterhin Jeans einzusortieren.

Zarske gab einige Urlaute von sich, wahrscheinlich, um sich neu zu justieren und seinen Adrenalinspiegel zu senken.

Der nette Hähnchenmann war spurlos verschwunden, aber Zarske erfreute sich seiner Anwesenheit. Wie ungerecht. Gern hätte sie noch einen Blick aus dem Fenster vor den Umkleidekabinen geworfen, doch wollte sie ihren Chef nicht noch mehr reizen. Dass er den Bankraub aber auch so völlig ignorierte. Was, wenn der Bankräuber Zuflucht im Bekleidungsgeschäft gesucht hatte und sich hier irgendwo versteckte? Was, wenn Zarske ihm in die Arme lief und brutal niedergeschossen wurde? Margareta musste lächeln. Gar kein so übler Gedanke. Margareta, reiß dich zusammen, rief sie sich selbst zur Ordnung.

Morgen noch vor Arbeitsbeginn würde sie mit Mandel-Alfred vom Weihnachtsmarkt sprechen. Der wusste doch auch immer über das gesamte Stadtgeschehen Bescheid.

3.

23. Dezember. Noch am Vorabend berichtete der Lokalsender WDR ausführlich über den Banküberfall in Buer, bei dem 150.000 Euro erbeutet wurden, und ein Auszubildender der Filiale, der sich dem Bankräuber, einem großen Kerl im Weihnachtsmannkostüm, mutig in den Weg gestellt haben soll, sein Leben lassen musste.

Margareta hatte Felix gestern nicht mehr gesehen. Sie hatte einen äußert unruhigen Abend verlebt. Während Sissi sich im TV Kaiser Franz an den Hals schmiss und ihre Schwester Nene todunglücklich machte, gingen ihre Gedanken immer wieder zu Felix, zu André, dem jungen Azubi aus der Bank, und zu Bodo, dem Hähnchenmann. Ein Kopfkino vom Allerfeinsten kam in Gang.

Als sie am Abend nach Hause fuhr, war der Hähnchenwagen verschwunden gewesen. Der Marktplatz war blitzsauber und fungierte wieder als Parkplatz. Also musste Bodo noch einmal aufgetaucht sein, um sein Gefährt zu holen.

Gerade war »Sissi« Teil 1 zu Ende gewesen, da klingelte auch noch das Telefon. Um 22 Uhr. Das konnte nur ihre Mutter Waltraud sein.

»Weißt du, was?«, legte sie dann auch gleich los. Fast alle ihre gesprochenen Sätze fingen mit diesen drei Wörtern an. Waltrauds Mantra sozusagen. Margareta hatte es aufgegeben, sie auf diese Unart hinzuweisen.

»Nein, aber du wirst es mir gleich sagen«, antwortete sie genervt.

»Was?«

»Das, was ich noch nicht weiß.« Am liebsten hätte Margareta sofort aufgelegt und wäre ins Bett gegangen, um sich die Decke weit über den Kopf zu ziehen.

»Du immer mit deinen blöden Sprüchen. Ich bin deine Mutter.«

»Ja, das weiß ich.« Es gab also durchaus Dinge, die sie wusste.

Und schon legte Waltraud mit ihrem Sensationsbericht los. »Die Bank in Buer am Markt wurde ausgeraubt, und ein junger Mann, der sich dem Bankräuber in den Weg stellte, erschossen. Ist das nicht furchtbar? Anna war dabei gewesen, stand ganz in der Nähe.«

»Da hat Anna aber Glück gehabt, dass sie nicht erschossen oder als Geisel genommen wurde. Hat Anna den Räuber gesehen?« Anna war dabei gewesen. Pah! Margareta konnte sich lebhaft vorstellen, wie das ausgesehen hatte. Mindestens 500 Meter entfernt wird Anna vor Angst schlotternd gestanden haben und ihr Wissen über den Vorfall von anderen Tratschweibern haben.

»Nein, wo denkst du hin! Das war ja ein einziger Menschenauflauf gewesen. Wie sollte sie ihn da erkannt haben?«

»Ich weiß, was da abging, Mutter, ich habe es oben vom Fenster aus beobachten können. Wie du weißt, arbeite ich direkt in der Buerschen City, nur wenige Meter von der Bank entfernt.«

»Du weißt es schon und sagst mir nicht Bescheid?«, kam es vorwurfsvoll aus dem Hörer. Ihre Stimme war eine einzige Anklage.

»Ich habe bis 19 Uhr gearbeitet, hatte einen harten Tag und wollte erst einmal abschalten.«

Schweigen. Waltraud war beleidigt. Nach gefühlten 20 Minuten kam erneut ihr obligatorisches »Weißt du, was?«

»Nein, was denn?« Bleib ruhig, mahnte Margareta sich, wasche ihr nicht gleich wieder den Kopf, du böse Tochter, du!

»Ich nehme jetzt doch Dosenwürstchen von Aldi. Die sind ja immer lecker. Meinst du, dass zwei Dosen reichen? Zuerst wollte ich ja welche vom Metzger holen …« Bla, bla, schnatter, schnatter. Themawechsel von einer Sekunde auf die andere. So schnell konnte das nur Waltraud. Jetzt war der Heilige Abend angesagt.

»Kartoffeln hatte Anna vom Markt besorgt. Sieglinde natürlich. Linda waren aus, und die Pfälzer, na ja, ich weiß nicht«, ging es weiter. Während in der Bank ein junger Mann erschossen wurde, grübelte Anna am Kartoffelstand darüber nach, welche Sorte für den Kartoffelsalat ihrer Freundin am besten geeignet wäre. Verrückte Welt!

Margareta hörte gar nicht mehr hin, zum einen Ohr rein, zum anderen Ohr raus, anders war Waltraud einfach nicht zu ertragen. Sie atmete tief ein, zählte bis fünf und atmete wieder aus.

»Du findest also auch rote Servietten mit kleinen Weihnachtsmännern besser als die weißen mit den Sternen?«

Ach, sie war schon bei der Tischdeko, die Würstchen und die Kartoffeln waren abgehakt.

»Unbedingt«, erwiderte Margareta gezwungen freundlich.

»Na, dann bis übermorgen.« Und schon hatte Waltraud das Gespräch beendet.

Vor Arbeitsbeginn Mandel-Alfred aufzusuchen, würde sie nun nicht mehr schaffen, da es schon fast halb zehn war. Dieser blöde Eierlikörpunsch aber auch. Gleich drei Gläser hatte sie sich am Abend noch einverleibt, nur um nach Waltrauds Anruf gut schlafen zu können. Nun war sie zu spät aufgewacht. Die Dusche musste ausfallen, es gab nur eine Katzenwäsche. Mandel-Alfred musste bis zur Mittagspause warten.

Ottfried Zarske belauerte Margareta bei der Arbeit aufs Übelste, war ständig um sie herum, gab ihr Tipps, wusste wieder einmal alles besser. Immerhin hatte sie an diesem Morgen zwei teure Anzüge an den Mann gebracht und einem Opi noch zwei altmodische Wintermäntel regelrecht aufgequatscht. Sie hatte den armen alten Mann so zugelabert, hatte ihn umgarnt und ihm völlig übertriebene Komplimente gemacht. Alles nur, um Zarske zufriedenzustellen, was ihr voll gelungen war.

In der Mittagspause hetzte sie zum Ausgang. Sie hatte sich fest vorgenommen, dieses Mal pünktlich zurück zu sein, weshalb Eile geboten war. Ihr Weg führte sie zu Mandel-Alfred, der seinen Stand auf dem Weihnachtsmarkt an der Hochstraße hatte. Heute war kein Wochenmarkt, der große Platz wurde zum Parken genutzt, was einen Tag vor Heiligabend ein heilloses Chaos bedeutete.

Margareta hetzte am Schmuckstand vorbei, ließ den Mützenstand hinter sich und konnte kurz nach dem Reibekuchenstand schon Mandel-Alfreds große Verkaufsbude erspähen. Der Mann sah grausam aus. Margareta erschrak, als sie ihn erblickte. Er schaute drein, als sei er vor nicht allzu langer Zeit überfallen worden. Trotz Minusgraden verschwitzt, befleckte Klamotten, mit fettigen Haaren, die ihm zu Berge standen.

Erst vor ein paar Tagen hatte er seinen Stand bejammert, an dem er außer knackigen Mandeln, die äußerlich genauso beschaffen waren wie seine grobe Gesichtshaut, noch Obst und Nüsse jeglicher Art feilbot. Doch das Hauptgeschäft bildeten die Mandeln, die er angeblich direkt aus Kalifornien bezog und die dort an herrlichen Bäumen, die zur Art der Rosengewächse zählten, wuchsen. Der Kerl war ein Riese, breitschultrig, hatte eine große Klappe und schikanierte seine einzige Angestellte, ein unscheinbares Hascherl, wo er nur konnte. Aber heute schien Mandel-Alfred wie ausgewechselt –still und irgendwie verhuscht hauchte er seinen Atem in die klirrende Winterkälte.

Margaretas Verhältnis zu Mandel-Alfred war ambivalent. Auf der einen Seite mochte sie ihn, gleichzeitig fand sie ihn ätzend. Im vorigen Jahr in der Adventszeit war sie ein paarmal mit ihm ausgegangen. Er machte ihr eindeutige Avancen. Betonte immer wieder, dass er ihr als selbstständiger Geschäftsmann einiges zu bieten hätte, nicht nur finanziell. Er hatte sie aus seinen großen blauen Augen angesehen, während er ihr sein Haus auf dem Lande beschrieb. Dass seine gebrechlichen Alten dort mit an Bord waren, beide Pflegestufe II, erwähnte er erst beim letzten Treffen. Nein, ein Eigenheim mit dem Geruch von Franzbranntwein und Urinnebel wollte sie nicht, da blieb sie lieber in ihrer Mietwohnung. Wie stark er mit Dummheit gepudert war, konnte er auch lange Zeit vor ihr verbergen. Oder vernebelte der Glühwein, den sie bei ihren beiden Dates reichlich konsumiert hatte, ihr derart das Hirn, dass sie tatsächlich in Erwägung gezogen hatte, sich mit diesem Choleriker zusammenzutun? Sie schrieb es der sentimentalen Stimmung der Weihnachtszeit zu, dass sie fast mit ihm in die Kiste gestiegen wäre. Oder lag es daran, dass sie so rattenscharf auf Mandarinen war und er ständig welche in seinen Hosentaschen mitführte? Egal, Mandel-Alfred war Vergangenheit.

Als er Margareta erblickte, lächelte er nervös. »Na, Sommerfeld, Pause?«

»Was ist mit dir passiert? Wie siehst du aus? Geht es dir nicht gut?«

»Nee, geht mir gar nicht gut. Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Muss mir wohl was weggeholt haben. Durchfall! Hab mich wahrscheinlich bei Bodo angesteckt. Dem ging es gestern ganz dreckig. Hat so eine schlimme Attacke bekommen, dass er sogar seinen Hähnchenwagen im Stich ließ und aufs Klo rannte. Da hing er dann lange Zeit fest.«

Durchfall – was für eine simple Erklärung für das mysteriöse Verschwinden des Hähnchenverkäufers.

»Ich habe vom Raubüberfall gar nicht viel mitbekommen, bin mittags auch nach Hause. Reni musste den Laden alleine schmeißen. Nicht wahr, Reni?« Er schmiss seiner Sklavin einen bösen Blick zu. Die zarte Gestalt mit den wenigen blonden Haaren, die gerade dabei war, einen Sack Walnüsse in das entsprechende Fach zu schütten, nickte total verängstigt, sprach kein Wort.

Das war doch gelogen, dachte Margareta. Wer weiß, vielleicht war er der Täter? Eine kräftige Figur hatte er ja. Und angeblich pleite war er auch. Was dieses arme Wesen mit dem schütteren Haar hier noch hielt, war Margareta ein Rätsel. Sich demütigen und verbal quälen zu lassen, war eine Sache, seit Wochen allerdings auch noch keinen Lohn zu bekommen, eine andere. Wer ließ sich so etwas gefallen? Da stimmte doch was nicht.

Mandel-Alfred ließ sich noch einige Minuten über den Banküberfall aus, gab Vermutungen ab, wer es gewesen sein könnte, schenkte Margareta zwei Mandarinen und widmete sich dann den anderen Kunden.

Margareta schlug den direkten Weg zurück zum Kaufhaus ein. Kakao oder Glühwein zu trinken, war zeitlich nicht mehr drin. Außerdem riss das ein zu großes Loch in ihre Kasse. Nach Felix würde sie Ausschau halten, wenn sie Feierabend hatte. Sie hatte ihn seit dem Überfall noch gar nicht gesprochen. Die beiden Mandarinen schenkte sie mit süßlichem Lächeln Zarske und wusch sich anschließend äußerst gründlich die Hände. Die Früchte eines Durchfallerkrankten, auch wenn sie noch so wohlschmeckend waren, wollte sie keinesfalls essen. Zarske hingegen freute sich. Hinter der Kasse stehend, pellte er die beiden Dinger sofort ab und stopfte sie sich gierig in den Mund. Margareta hoffte, dass Montezumas Rache über ihn kommen würde.

Nach Feierabend stellte sie sich mit einem Glas Glühwein vor das Eiscafé und hielt nach Felix Ausschau. Nirgendwo war er zu entdecken. War er vielleicht in den Bankraub involviert? Hatte er die ganze Sache gar mit einem Komplizen geplant? Sollte sie sich so in diesem armen Mann getäuscht haben?

Ihr Blick ging die Hochstraße hinunter. Geschäftig liefen die Leute hin und her, bepackt mit unzähligen Taschen und Tüten, in denen sie Präsente für ihre Lieben trugen, die sie morgen beschenken würden. Die Lichterbögen, die zwischen den Häuserzeilen angebracht waren, beleuchteten die Stadt auf eine romantische Weise. Kindheitserinnerungen wurden in Margareta wach. Wie aufgeregt war sie jedes Mal vor dem Fest gewesen. Der Dezember schien gar nicht zu vergehen. Sie bibberte und zitterte regelrecht, hoffte, dass all ihre Wünsche vom Christkind, oder wem auch immer, erfüllt werden würden. Irgendwann kam die Ernüchterung. Es gab gar kein Christkind. Das, was sie sich sehnlichst gewünscht und in krakeliger Kinderschrift auf ihrem Wunschzettel notiert hatte, lag auch nicht immer unter dem Weihnachtsbaum. Sie erinnerte sich an das Jahr, in dem ihr Bruder eine Eisenbahn geschenkt bekommen hatte und alle drumherum hockten. Margareta mit ihrer Barbiepuppe, die sich vorkam wie ein lästiges Waisenkind, war in Vergessenheit geraten. Dem Berg kratziger Wollklamotten, an dem ihre Oma ein ganzes Jahr lang gestrickt hatte, schenkte sie kaum Beachtung. Scheiß Weihnachten, hatte sie damals gedacht. Jahre später, als ihr Bruder Gisbert kurz hintereinander Vater wurde und zum Fest mit seinen verwöhnten Rotzblagen aufschlug, war vom Fest der Liebe wenig zu spüren gewesen. Unruhe, Dreck und inkonsequente Eltern verdarben jedes Jahr den Heiligen Abend. Da war es echt eine Wohltat gewesen, als Gisberts Holde sich mit dem gemeinsamen Nachwuchs vom Acker machte.

Margareta hätte auch gerne eine eigene Familie gehabt, einen erfolgreichen Mann, der es ihr ermöglichte, Teilzeit zu arbeiten, zwei nette Kinder, auf die sie stolz sein konnte. Warum war alles so anders gekommen? Wieso war sie ständig knapp bei Kasse? Was hatte sie sich in diesem Jahr von ihrem Weihnachtsgeld gegönnt? Eine neue Handtasche, eine warme Winterjacke, einen Frisörbesuch und ein Geschenk für ihre Mutter. Das war’s auch schon. Einige besondere Lebensmittel für die Feiertage hatte sie noch besorgt. Einmal aus dem Vollen schöpfen, ja, das wäre es. Einen großen Betrag verschlang schon die Inspektion ihres Polos. Jammere nicht, sagte sie sich und trank ihren Glühwein aus. Sie lief noch einmal die Hochstraße auf und ab und ging anschließend zu ihrem Fahrzeug. Von Felix war nach wie vor keine Spur.

Zu Hause angekommen, ließ sie den Fernseher ausgeschaltet, füllte einen großen Eimer mit lauwarmem Wasser und putzte die ganze Wohnung. Das Läuten des Telefons ignorierte sie. Sie hatte keine Lust, sich anzuhören, welches Gewürz Waltraud noch für den Kartoffelsalat besorgen musste und welche Nachspeise sie zubereiten könnte. Es würde sowieso wieder nur die dämliche Rotweincreme geben, mit dem Tütchen billigsten Wein im Paket. Jedes Jahr das Gleiche. Sie wollte auch gar nicht wissen, wer morgen noch mit am Tisch sitzen würde. Mit Sicherheit Waltrauds Busenfreundin Anna, die mit ihren Sprösslingen zerstritten war, und ihre neue Nachbarin, diese komische Alte. Na, das würde ein Heiliger Abend werden!

Sei dankbar, hielt sie sich selbst vor. Du musst wenigstens nicht auf einer Parkbank übernachten wie Felix höchstwahrscheinlich. Du hast es warm, wirst sogar ein klein wenig verwöhnt, wenn auch nur mit Kartoffelsalat und Rotweincreme.

Gegen 23 Uhr suchte sie ihr Bett auf. Die Wohnung war blitzsauber. Wenigstens etwas an diesem Tag, über das sie sich freuen konnte.

4.

24. Dezember. Auch heute, am Heiligen Morgen, war der Überfall Gesprächsthema Nummer 1 im dörflichen Buer. Der tote Azubi stimmte die Menschen traurig. Margareta hatte den freundlichen jungen Mann mit den Aknenarben gut gekannt. André, 20 Jahre alt und nun nicht mehr unter den Lebenden. Für Margareta unvorstellbar, dass der Täter entkommen konnte. Sie musste unbedingt mit Felix sprechen. Vielleicht hatte er etwas bemerkt. Er musste doch gesehen haben, in welche Richtung der Täter flüchtete.

Zarske, der sich bester Gesundheit erfreute, war übertrieben freundlich und hatte sich leider mit den Mandarinen keine Diarrhö eingefangen.