Mörderisches aus Westfalen - Margit Kruse - E-Book

Mörderisches aus Westfalen E-Book

Margit Kruse

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Beschreibung

Fahrräder und Pferde prägen das Bild von Westfalen. Man trinkt Korn, isst Pumpernickel und Schinken dazu. Der liebenswerte Menschenschlag ist stur, arbeitsam, bodenständig, redet nicht viel - und handelt in den zwölf Kurzkrimis mit Messer, Pistole, Strick und Gift. Vom Sauer- bis Siegerland, in Ostwestfalen und im Münsterland sowie im östlichen Ruhrgebiet - in Klöstern, auf Burgen und Reiterhöfen - lässt Margit Kruse morden, was das Zeug hält.

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Margit Kruse

Mörderisches aus Westfalen

Kriminalroman

Zum Buch

Pumpernickelblues Privatermittlerin Margareta Sommerfeld reist Uli hinterher, ihrer Jugendliebe, die sie in den 80er-Jahren in Lieberhausen kennengelernt hat. Als er tot in der Aggertalsperre gefunden wird, gerät sie selbst unter Verdacht. Wer hat Doppelkorn-Jürgen in die Kornmühle einer Brennerei gesteckt? Wer den Entertainer Tommi, der beim tanzenden Publikum in Bad Sassendorf äußerst beliebt war, verschwinden lassen? Natürlich kann Margareta Sommerfeld, zufällig vor Ort, es nicht lassen, zu ermitteln.

Zwölf spannende Kurzkrimis entführen auf skurrile und humorvolle Weise nach Westfalen, in Klöster, auf Burgen und Reiterhöfe sowie zu sagenumwobenen Gründergestalten wie Hermann der Cherusker und Originalen wie »Der tolle Bomberg«. Der Merfelder Bruch darf als Tatort nicht fehlen, ebenso wenig eine historische Wassermühle samt Leiche. Begleiten Sie Margareta Sommerfeld zu einem Seminar auf Schloss Corvey, wo ein Toter in einem Baum gefunden wird. Die Lachmuskeln kommen trotz der fiesen Taten nicht zu kurz.

Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis »Eisaugen«, »Zechenbrand«, »Hochzeitsglocken«, »Rosensalz« und »Bergmannserbe«. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben etlichen Beiträgen in Anthologien hat sie zahlreiche Bücher veröffentlicht. Labrador Enja ist stets dabei, wenn sich Margit Kruse auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Margit Kruse ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und war für den Literaturpreis Ruhr nominiert.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Pixel62 / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-7586-3

Prolog

Westfalen, die Region rechts vom NRW-Bindestrich, ist die Krimiregion schlechthin.

Der dort lebende Menschenschlag wird vor allem als bodenständig, derb, nüchtern, aufrichtig, praktisch und beharrlich charakterisiert. Als klassischer Urtyp der Region gilt der westfälische Bauer. Wälder, Fahrräder und Pferde prägen das Bild von Westfalen ebenso wie sagenumwobene Gründergestalten, darunter Hermann der Cherusker, und Originale, beispielsweise »Der tolle Bomberg«. Diese wurden vor allem in älteren Filmen gern in Szene gesetzt.

In Westfalen trinkt man Korn, isst Pumpernickel und Schinken dazu.

Westfalen wohnen im Sauer- und Siegerland, in Wittgenstein und Ostwestfalen, in Minden-Ravensberg, natürlich im Münsterland, aber auch im östlichen Ruhrgebiet.

Westfalen ist Teil des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, das 1946 von der britischen Militärregierung aus den zuvor preußischen Provinzen Rheinprovinz (Nordhälfte) und Westfalen gebildet wurde. Westfalen erstreckt sich über 209 Kilometer Luftlinie von Preußisch Ströhen im Norden, einer Ortschaft der Stadt Rahden im Kreis Minden-Lübbecke, bis zur Gemeinde Burbach im Kreis Siegen-Wittgenstein im Süden. Fast identisch ist mit 211 Kilometern Luftlinie die Entfernung zwischen den äußersten Grenzpunkten im Westen bei Anholt, zugehörig zur Stadt Isselburg im Kreis Borken, und Stahle im Osten, Stadt und Kreis Höxter. Das im Norden und Osten an Niedersachsen, im Süden an Hessen und Rheinland-Pfalz, im Westen an die rheinländischen Regierungsbezirke Köln und Düsseldorf sowie die Niederlande grenzende westfälische Gebiet umfasst eine Fläche von über 21.000 Quadratkilometern, das sind 63 Prozent der Landesfläche Nordrhein-Westfalens. In Westfalen leben rund 8,5 Millionen Menschen.

1. Auf dem Rücken der Pferde

Die blonden Haare hingen ihr wie eine Gardine vor dem schmalen Gesicht. Sie spielte die Rolle des süßen Mädchens gut, schlug die Lider nach oben und riss die blauen Augen auf, was hier in dem dunklen Raum allerdings nicht zur Geltung kam.

Wieso bin ich bloß auf sie hereingefallen, fragte Timo sich mehr als einmal. Blond und blauäugig, dazu die zarte, knabenhafte Figur. Dabei war Mandy schon 40! Sie lief jedoch wie ein verträumtes Mädchen durch die Gegend, überließ alle wichtigen Entscheidungen ihrem 15 Jahre älteren Ehemann Dietmar, ein Justizvollzugsbeamter, der mit beiden Beinen im Leben stand, wie er selbst meinte. Er war die Langeweile pur, konnte nirgendwo mitreden. Seine Standardantwort lautete stets: »Mir doch egal.«

Mandys und Dietmars Tochter Svenja war das Ebenbild ihrer hübschen Mutter, blond, blauäugig, zart und blöd, genau wie die Mutti. Dieses Tochterfrüchtchen hatte mit ihren 14 Jahren sämtliche Tricks drauf, den Jungs die Köpfe zu verdrehen. An erster Stelle stand jedoch für sie das Reiten.

So auch bei Timos Tochter Franka, die leider ebenfalls nach ihrer Mutter schlug. Stämmig, kurzbeinig, breitgesichtig, bebrillt, picklig, dafür megaschlau und Klassenbeste am örtlichen Gymnasium. Und auch eine Pferdenärrin, was Timo gar nicht in den Kram passte. Seine Katja war stolz auf die gemeinsame Tochter und unterstützte ihre Pferdeleidenschaft, wo sie nur konnte. Sie machte Überstunden im Supermarkt, in dem sie an der Wursttheke Kunden bediente und wie verrückt Schinken und andere Wurstsorten vom Stück schnitt. Jeden Euro legte sie beiseite, und Franka tat es ihr nach. Sie sparten für ein eigenes Pferd, wovon Timo überhaupt nichts hielt. Ihm reichte die Reitbeteiligung an »Abendwind«, der seine Tochter mehrmals wöchentlich in dem übel riechenden Reitstall frönte. Hin und wieder musste er sie begleiten, beim Satteln helfen, dem Ross die Hufe reinigen und den Gaul trensen. Und für die ganze Schufterei bezahlte man auch noch Geld, was er nicht verstehen konnte. Das gesündeste Pferd war »Abendwind« auch nicht. Er litt unter stressbedingtem Kotwasser, was bedeutete, dass ihm des Öfteren sein Pferdehintern mit einem Schwamm gereinigt werden musste, auch von Timo, wenn er seine Tochter zum Reiten begleitete und das Pferd überall alles aus sich herausließ.

Dem Reiterhobby der beiden Mädchen hatte er es zu verdanken, dieses Wochenende hier zu sein, auf einem der zahlreichen Pferdehöfe im Kreis Borken im westlichen Münsterland. Hier machten Kinder in den Schulferien ohne Eltern Reiterurlaub, Schulklassen kamen auf Klassenfahrten, und am Wochenende belagerten ganze Familien mit Kindern den Hof. In der Gegend konnte man nicht nur reiten, sondern auch herrlich ausspannen, Wanderungen unternehmen und am Freizeitprogramm des Hofes teilnehmen. Planwagenfahrten durch die waldreiche Landschaft wurden geboten, Volleyball, Basketball und Tischtennis ebenfalls. Idylle pur, wären da nicht Mandy, Dietmar, seine Frau Katja und die beiden Mädchen.

Timo hatte eher an Im-Liegestuhl-Herumhängen und Faulenzen gedacht. Er hatte nicht vor, ein Pferd zu satteln, zu putzen oder zu trensen. Er hatte mit Katja und Franka ein Familienzimmer bezogen, was ihm nicht passte. Seine große Tochter blockierte stundenlang das Bad, um für irgendeinen Gaul schön auszusehen, dem das völlig egal war. Außerdem hätte er wenigstens die Nächte gerne allein mit seiner Frau verbracht.

Nun saßen sie alle zusammen beim Frühstück, und die Mädchen freuten sich auf ihre Reitstunden und den anschließenden Einzelunterricht. Für heute Nachmittag war ein gemeinsamer Ausritt zu den Teufelssteinen geplant, einem jungsteinzeitlichen Ganggrab aus Findlingen. Es befand sich in einer mit Kiefern bewachsenen Dünenlandschaft, die während der letzten Kaltzeit vor 50.000 Jahren entstanden war. Vor rund 5.000 Jahren, während der jüngeren Steinzeit, wurden die bis zu sieben Tonnen schweren und vom Eis geschliffenen Findlinge zu einer Grabanlage von 11,7 Metern Länge und 1,7 Metern Breite zusammengestellt.

Das alles interessierte Timo reichlich wenig. Während seine Katja sich ein Brötchen nach dem anderen dick belegte und einverleibte, kaute Mandy lustlos auf einem Vollkornbrot herum. Die Frauen unterhielten sich über Reiterläden, wo man was am besten einkaufen könne. Wenn er nur daran dachte, wie viel von seinem sauer verdienten Geld seine beiden Weiber für dieses Pferdegedöns in solchen Buden ließen, wurde ihm schlecht. Dauernd neue Reiterhosen und Stiefel, dann irgendwelche Bürsten, um ein fremdes Pferd damit zu striegeln.

Dietmar in seinem karierten, zeltähnlichen Hemd sagte nichts, fraß wie ein Irrer sein Rührei, schlürfte es regelrecht in sich hinein, goss Kaffee hinterher. Schuppen flogen ihm aus seinen nach hinten gekämmten fettigen Haaren. Kein schöner Anblick. Er roch nach Kaloderma-Seife. Außer dieser altertümlichen Seife benutzte er auch Kaloderma-Reispuder und bestäubte damit seinen riesigen Körper, wie er immer wieder erzählte. Na ja, jedem das Seine, dachte Timo.

Als das Frühstück beendet war, ließ Dietmar verlauten, dass er sich die Ziegen ansehen wolle.

Geh nur, das passt zu dir, bist selbst ein alter Ziegenbock, wollte Timo ihm nachrufen, konnte sich aber gerade noch beherrschen.

Die Mädchen stürmten in die Ställe, die Frauen, eine breit, die andere schmal, gingen gemächlich schnatternd hinterher.

Timo atmete tief durch, betrat den Garten hinter dem Grillhäuschen und setzte sich in einen bequemen Stuhl unter einem Sonnenschirm. Er schloss die Augen und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Ob er auch mal wieder auf ein Pferd steigen sollte? Es war Jahre her, dass er regelmäßig geritten war.

Nein, er wollte nicht reiten und am liebsten auch nicht hier sein. Mit Mandy! Wie hatte es eigentlich angefangen mit ihr? Die Frauen kannten sich über die Mädchen, die die gleiche Schulklasse besuchten und sich angefreundet hatten. Katja hatte ihm irgendwann von Mandy vorgeschwärmt, der tollsten Fußpflegerin der Welt, und ihm zum Geburtstag einen Gutschein für eine Behandlung geschenkt. Das hätte sie besser nicht gemacht. Denn bis dahin hatte er Fußpflege für völligen Unsinn gehalten, sich seine Fußnägel selbst geschnitten und die Hornhaut mit dem Hobel aus dem Drogeriemarkt wie ein Weltmeister regelmäßig heruntergehobelt. Doch dann hatte er sich von Mandy eines Besseren belehren lassen. Mit ihren langen dünnen Fingern hatte sie ihn bei der abschließenden Massage regelrecht in Trance versetzt, sodass es nicht bei der einen Fußpflege geblieben war und sie später mit den flinken Fingern auch noch anderes an ihm bearbeitet hatte. Mangels sonstiger Gelegenheit trafen sie sich seither in der bruchfälligen Laube des Schrebergartenvereins, in dem ihr Vater der Vorsitzende war.

Zuerst fand er es aufregend und lustig, mittlerweile stieß ihn diese jämmerliche Bude, in der es nach abgestandenem Bier und feuchtem Wischmopp roch, nur noch ab. Spartanische schmuddelige Küche, Wandverkleidung aus Holz wie in einer Sauna. Hinter einem muffigen Vorhang lagerten etliche Bierkästen mit vollen und leeren Flaschen, Sitzecke im altbayerischen Stil, überall schreckliche Deko: verstaubte Rehgeweihe an den Wänden, Porzellanmaulwürfe mit Schal um den Hals, Milchkrüge mit fürchterlichen Motiven.

Alles totale Abturner, fand Timo. Ebenso wie das schrille Gestöhne der scharfen Mandy auf dem Kiefernholztisch, die einfach nicht genug bekommen konnte von ihm, dem kleinen Finanzbeamten. Ihr elendes Parfum mit den Kopfnoten Amber und Patschuli verursachte bei ihm inzwischen Migräne. Sogar im Winter zwang Mandy ihn zu ausdauernden Schrebergartenbesuchen, sodass er nicht selten total erkältet durch die Gegend lief, obwohl er sich beim Mandy-Sex in eine olle Wolldecke hüllte. Klar, es gab auch einen Gasofen, doch der bullerte so stark, dass Timo Angst hatte, er würde das kleine Häuschen in die Luft fliegen lassen. Deshalb zündeten sie ihn erst gar nicht an.

Zu Hause hatte er dagegen ein wahres Paradies, ein kuscheliges, stets sauberes Bett, warm und behaglich. Nachts sind alle Katzen grau, hatte er sich irgendwann gesagt, ob nun Katja oder Mandy. Sex wurde sowieso überbewertet, fand er. Doch sämtliche Versuche, die Liaison mit Mandy zu beenden, waren kläglich gescheitert. Dabei hatte er die andere Seite der zärtlichen, verständnisvollen Mandy kennengelernt. Jedes Mal hatte sie die Zähne gefletscht und ihm gedroht, seiner Gattin alles zu erzählen.

So ging es jedenfalls nicht weiter. Er war am Ende. Ausgepowert. Ein echtes Mandy-Burn-out plagte ihn.

Plötzlich stand sie hinter seinem Stuhl und streichelte mit ihren dünnen Griffeln seinen Nacken.

»Na, wie wäre es mit einem Nümmerchen irgendwo in einer abgelegenen Ecke? Hast du Lust?« Mandy schloss die Augen und stöhnte.

Wie sie wieder aussah in ihrem kurzen Frotteekleid, das nicht einmal strandtauglich war.

»Bist du verrückt? Verschwinde! Wenn Katja oder Dietmar dich sehen! Außerdem habe ich keine Lust auf Sex.«

Verstimmt schob sie ab. Befahl ihm, ihr in die Reithalle zu folgen, wo die Mädchen gerade Unterricht erhielten.

Lustlos schritt er wenig später durch die Stallgasse, äugte in jede Box und schaute sich die Pferde an, die sich darin befanden, den Hofhund immer an seiner Seite. Anschließend suchte er die Reithalle auf, in der es nach Sägemehl roch, und sah seine Tochter aufrecht im Sattel einer braunen Stute sitzen und den Anweisungen der Reitlehrerin folgen. Wie langweilig, nur im Kreis zu reiten, fand er. Am liebsten würde er jetzt nach Hause fahren. Ob er irgendwelche Schmerzen vorschützen sollte? Die Ruhe daheim in dem kleinen Reihenhaus würde ihm guttun.

Ein Blick in Katjas mürrisches Gesicht ließ ihn den Gedanken verwerfen. Ob sie etwas ahnte? Mandy laberte auf Katja ein und grinste dazu. Was für eine Freundin, die mit deren Mann in die Kiste stieg!

Ich muss das beenden, sagte er sich wieder und überlegte haarscharf, wie er das hinkriegen könnte.

Dietmar war nicht in der Halle. Er sei nach Groß-Reken gefahren, sechs Kilometer entfernt, nachdem es ihm bei den Ziegen zu langweilig geworden war, erzählte man ihm auf Nachfrage. Dort wollte er sich die Wehrkirche St. Simon und Judas ansehen.

Timo holte sein Handy aus der Hosentasche und gab den Kirchennamen ins Internet ein. Er erfuhr, dass die alte Kirche seit Fertigstellung der neuen nur noch als sakrales Museum und hin und wieder für Gottesdienste genutzt wurde. Die Kirche verfügte über barocke Altäre, die an ihren Originalstandorten verblieben waren, und war bekannt für die Zweischiffigkeit. Ein echter Hingucker sollten auch die Bibelfliesen sein.

Timo wurde auf die alte Windmühle in der Nähe der Kirche verwiesen, die ein Heimatmuseum beherbergte. Dort ging es um »Vom Säen zum Ernten«, und man konnte die dafür benötigten Werkzeuge und Maschinen bestaunen, die bis zum Jahre 1945 in Gebrauch gewesen waren.

Timo steckte sein Smartphone weg und musste schmunzeln. Ja, das war das Richtige für den furztrockenen Justizvollzugsbeamten, dachte er. Dietmar hätte ihn trotzdem fragen können, ob er ihn begleiten wollte. Jedenfalls schien niemand Dietmar zu vermissen.

Beim Mittagessen – es gab Schnitzel, Pommes und Erbsen, das aßen die Kinder gerne – war die Stimmung ein wenig gedrückt. Franka und Svenja schwiegen, wieso auch immer, Mandy war sauer, dass Dietmar nicht pünktlich zum Essen erschienen war. Nicht, dass sie ihn vermisste. Eher passte es ihr nicht, dass er machte, was er wollte, und sich einen feuchten Kehricht um seine Familie kümmerte. Katja gähnte, sagte mehrmals, dass sie sich hinlegen wollte. Ihr Mittagsschläfchen ging ihr über alles, auch zu Hause, wenn sie mal nicht an der Wursttheke stand.

Obwohl Mandys Mundwinkel nach unten hingen und sie kaum sprach, spürte Timo plötzlich ihren Fuß an seiner Wade hochwandern. Erschrocken zuckte er zusammen und sah sie böse an.

»Ich werde ein wenig spazieren gehen. Bis zum Wald und wieder zurück. Das wird mir guttun«, verkündete sie, während sie den Vanillepudding aß, und suchte immer wieder Timos Blick.

Da hat sie sich geschnitten, dachte er. Ich werde ihr nicht folgen. Hoffte sie das etwa? Dachte sie an eine flotte Nummer im Wald? Die hatte doch einen Knall! Eindeutig.

Gerade als die kleine Gruppe sich auflösen wollte – die Mädchen zog es in den Stall zu den Pferden –, erschien Dietmar und stürzte sich, wie ein Wasserfall redend, auf die Reste des Essens. Niemanden interessierten seine Ausführungen über die Kirche, und Katja und Timo gingen in ihr Zimmer.

Am Nachmittag sammelten sich die Reiter vor dem Stall zum Ausritt zu den Teufelssteinen. Franka und Svenja sprachen wieder miteinander. Die Stimmung in der Gruppe war gut.

Endlich brach auch Timo zu seinem Spaziergang auf. Keine 400 Meter weiter, und er war mitten im Wald. Hier fühlte er sich langsam besser. Zwischen den Bäumen wollte er darüber nachdenken, wie er sein Mandy-Problem loswerden könnte. Die Sonne schickte Strahlen durch die eng stehenden Bäume, die Vögel zwitscherten, weit und breit keine Mandy. Es musste doch vernünftig mit ihr zu reden sein, dachte er. Ein ähnliches Problem hatte er schon einmal gehabt. Damals, in der Grundschule, hatte sich Dori für viele Jahre an seine Fersen geheftet. Das Mädchen war lästig wie eine Schmeißfliege und stammte aus noch ärmeren Verhältnissen als er. Er fand ihre Durchtriebenheit anziehend, klaute mit ihr Süßigkeiten in den umliegenden Geschäften, spielte Nachbarn üble Streiche. Dori hatte immer neue Ideen. Obst aus fremden Gärten stehlen, Wäsche von den Leinen verschwinden lassen, sich durch die Hintertüren in die Zechenhäuser schleichen, um auch hier irgendetwas mitgehen zu lassen. In der Mittelstufe brachte Dori ihm das Rauchen und das Küssen bei. Mit 14 war er dieses Mädchen leid, das sich äußerlich nicht so prächtig entwickelt hatte und inzwischen mit fettigen Haaren, Akne und einem riesigen Busen glänzte, den sie in eine Art kugelsichere Weste presste. Sie fanden sich zu einer Aussprache zusammen, und Timo legte ihr dar, dass er die Freundschaft gerne beenden wollte. Mit Tränen in den Augen hatte Dori nur genickt, und die Sache war von da ab erledigt gewesen. Kein Betteln, nichts!

Das musste doch auch mit Mandy klappen.

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, sprang Mandy aus dem Gebüsch und stürzte sich auf ihn. Sie trug noch immer ihr buntes Frotteekleid mit den scheußlichen Orangenmotiven.

»Überraschung! Na, freust du dich, mich zu sehen?«

Ihre schmalen Fußpflegerinnengriffel legten sich um seinen Hals. Den Kuss konnte er gerade noch abwehren.

»Was willst du? Wenn uns jemand sieht!«

»Na und? Dann machen wir eben Nägel mit Köpfen.«

»Womit wir beim Thema wären, liebe Mandy.«

Er setzte sich laut schnaufend auf einen Baumstumpf am Wegesrand und begann mit seiner Ansprache. Genau wie damals bei Dori wollte er die Angelegenheit ein für alle Mal klären.

Doch Mandy war nicht Dori. Sie rastete völlig aus, sprang wie ein Eichörchen durch den Wald, schrie wie eine Verrückte, sodass Timo das Schlimmste befürchtete. Sie jammerte und heulte Rotz und Wasser. Was tun? Kurz überlegte er, ob er ihr eine runterhauen sollte, damit sie wieder zu sich käme. Aber er befürchtete, dass dies noch ärgere Folgen haben könnte. Also saß er nur da auf seinem Baumstamm und wartete ab, bis dieses tobende Rumpelstilzchen sich etwas beruhigen würde.

»So nicht, mein Freund! Nicht mit mir!«, schrie sie hysterisch und rannte in ihrem Frotteefähnchen davon, das inzwischen mit Fadenziehern und Knötchen übersät war, da sie ständig an den ausladenden Zweigen der Bäume hängen blieb.

Timo schmunzelte. Ihr Verhalten war ihm nicht neu, deshalb war er felsenfest überzeugt, dass sie sich bis zum Abendessen gefangen hatte und die Bombe nicht platzen lassen würde. Immer wieder musste er an Dori denken, die seine Entscheidung auch hatte hinnehmen müssen.

Nach dem Abendessen – Mandy hatte sich unter dem Vorwand einer Migräne abgemeldet – setzten sich die beiden Familien draußen an einen Tisch, um Monopoly zu spielen. Irgendwann kam Mandy mit verheultem Gesicht angeschlichen und hockte sich dazu. Doch kaum eine Stunde später bat sie Dietmar, sie auf ihr Zimmer zu begleiten.

Spätabends, die Sonne war fast untergegangen, betrat Timo während einer Hofrunde den Pferdestall und lief langsam die Stallgasse entlang. Er brauchte Ruhe nach diesem nicht gerade prickelnden Abend, an dem keine Stimmung hatte aufkommen wollen und er ständig Angst gehabt hatte, dass Mandy etwas Unüberlegtes vom Stapel lassen würde. Da nützten auch die drei Flaschen Bier nichts, die er sich einverleibt hatte.

Er atmete tief durch, hörte hier und da das Schnauben eines Pferdes, das Schaben der Hufe und das Klirren von Eisenstangen, wenn ein Pferd diesen zu nahe gekommen war. Der Geruch nach Heu beruhigte ihn. Ein Wallach steckte ihm den Kopf aus seiner Box entgegen. Timo näherte sich dem Tier vorsichtig und streichelte ihm die Nüstern. »Dante« stand auf dem Schild an seiner Tür. Eine Box weiter traf er auf Sissy, die ihn jedoch kaum beachtete.

Erst jetzt sah er den Mann. Hinten im Stallgang war er dabei, mit einem breiten Besen Stroh beiseite zu fegen. Wer ist das? Wieso habe ich ihn bisher nicht bemerkt, fragte Timo sich. Er ging auf den kleinen Mann mit der Stoppelfrisur zu und grüßte ihn freundlich.

Der Kerl in Jeans und Karowollhemd schaute Timo skeptisch an. Ein zögerliches Hallo verließ seinen Mund.

Trotz der schwachen Beleuchtung konnte Timo die braunen Zähne des Mannes erkennen. Da waren die Gebisse der Gäule in einem besseren Zustand, dachte er.

»Ich wollte Sie nicht erschrecken, tut mir leid. Arbeiten Sie hier auf dem Hof? Als eine Art Knecht?«

Eifrig nickte der scheue Mann, der ihn an einen Knacki erinnerte. »Genau«, sagte er. »Ich helfe hier aus. Wohne auch hier. Kalle heiße ich. Ist schön, mit den Pferden zu arbeiten. Die sagen nichts Falsches und lassen mich in Ruhe.« Kalle fegte weiterhin Strohreste zusammen und schaute hin und wieder misstrauisch zu Timo.

Timo hoffte, dass sie dieses arme Wesen auf dem Hof nicht schikanierten.

Er sei 45 Jahre alt und habe vorher auf dem Wasserschloss Velen gearbeitet, erzählte Kalle. Nur reiches Volk habe dort verkehrt. Hier sei es besser. Er arbeite überwiegend abends und nachts, wenn Ruhe einkehre auf dem Hof. Mit Menschen habe er schlechte Erfahrungen gemacht. Besonders mit Frauen, ließ er verlauten.

Timo war das Hotel in Velen als exklusives Tagungshotel bekannt. Das Märchenschloss stammte aus dem 13. Jahrhundert, wusste er. Es lag in der herrlichen Umgebung der gleichnamigen Ortschaft. Die verschiedenen zum Schloss gehörigen Gebäude waren denkmalgeschützt, das ganze Anwesen strahlte ein edles Ambiente aus. Kollegen von ihm hatten dort schon an Seminaren teilgenommen und durchweg nur Positives berichtet.

Sicherlich war Kalle hier auf dem Reiterhof besser aufgehoben als in dem großen Hotel. Er konnte gut mit Tieren, das hatte Timo gleich gespürt.

»Daisy war krank, hatte Durchfall. Was Falsches gegessen. Der Tierarzt war da.« Er deutete auf eine Box hinter ihm, in der eine kleine Tinkerstute stand und Timo mit großen Augen ansah.

»Ich darf ihr nichts geben. Nicht mal eine Möhre, hat der Arzt gesagt. Aber es geht ihr schon besser.« Liebevoll kraulte Kalle ihre Mähne. »Weshalb sind Sie hier auf dem Hof? Um auszuruhen? Abzuschalten?«, fragte Kalle neugierig.

»Ja, so ungefähr.« Timo wusste nicht, wieso, doch plötzlich brach es aus ihm heraus, und er erzählte diesem Mann, der nur die Hälfte von dem, was er sagte, kapierte, von seinem Problem. Natürlich war das auch den drei Bieren geschuldet, die seine Zunge lösten. Er ging ins Detail, ließ nichts aus und hackte auf Mandy herum.

Voller Mitleid schaute Kalle ihn an, kratzte sich an seinem stoppeligen Kinn und dachte nach. »Frauen taugen sowieso nichts. Ich will keine mehr. Die nutzen einen nur aus. Von mir wollten sie nur Geld. Dabei habe ich gar keins.«

Nach einer guten Stunde, es war fast Mitternacht, entschloss sich Timo, zurück zum Haus und ins Bett zu gehen. Er schlug Kalle freundschaftlich auf die Schulter. »Danke, Kumpel, dass du zugehört hast.«

Kalle wuchs um mindestens zehn Zentimeter, war stolz wie Oskar, dass Timo ihn ins Vertrauen gezogen hatte.

Timo grinste. Der hatte in ein paar Minuten sowieso alles vergessen, was er ihm erzählt hatte, davon war er überzeugt. Er fühlte sich irgendwie befreit. Befreit und leicht.

»Für dein Problem gibt es nur eine Lösung«, rief Kalle ihm hinterher. »Die Alte muss weg!«

»Ja, ja«, murmelte Timo und verließ den Stall. Wenn alles so einfach wäre …

Murmeltiertag: Wieder saßen sie beim Frühstück. Timo mit dickem Kopf, Katja mit megaschlechter Laune neben ihm, Mandy mit verquollenem Gesicht ihm gegenüber. Kalle und das Bier vom gestrigen Abend waren vergessen.

Die Mädchen bettelten, mit zwei 18-jährigen Typen, die gestern Abend auf dem Hof aufgetaucht waren, zum Römersee fahren zu dürfen. Da die Heimfahrt erst gegen Abend geplant war, sprach eigentlich nichts dagegen. Katja und Mandy erteilten die Erlaubnis, während der nasenbohrende Dietmar sich wie immer aus allem heraushielt.

Timo kannte den nur wenige Kilometer entfernten kleinen Römersee aus seiner Jugend. Er wurde von den Besuchern eines danebenliegenden Campingplatzes genutzt. Nicht nur das Wasser, sondern auch Wald und Büsche rundherum sorgten für eine angenehme Abkühlung an heißen Sommertagen.

Timo war überzeugt, dass die Burschen vom Campingplatz stammten und sich am Hof mit Sicherheit nach Frischfleisch umsahen. Was hatten diese Jungs vor? Die wollten bestimmt nicht nur baden. Außerdem hatten die beiden erst seit ein paar Tagen den Führerschein, da konnte auch auf einer noch so kurzen Strecke wer weiß was passieren. Der alte rote Polo, mit dem Timo sie gestern auf den Hof hatte fahren sehen, wirkte auch nicht gerade vertrauenserweckend. Doch was sollte er machen? Einen Aufstand proben? Er versuchte es mit der noch ausstehenden Reitstunde und dem anschließenden Ausritt, an dem Franka und Svenja eigentlich hatten teilnehmen wollen.

Die Aussicht auf das Baden mit den Jungs war jedoch verlockender. Timo war überstimmt.

Während er sich resigniert ein Brötchen mit Leberwurst bestrich, spürte er wieder die dämliche Fußspitze von Mandy an seiner Wade. War die verrückt? Kapierte sie absolut nichts? Es war vorbei! Wann schnallte sie das? Er gab ihr mit dem harten Absatz seiner Budapester einen heftigen Stoß, sodass ihr kleiner Fuß zurückschnellte. Tränen sammelten sich in ihren geschminkten Augen. Timo hatte endgültig genug von dieser Schmierenkomödie.

Kurz darauf verließ Katja genervt an Dietmars Seite den Raum. Sie weiß Bescheid, dachte Timo. Die beiden wollten zum Pröbstingsee nach Borken fahren. Das hatten sie ihm mitgeteilt, ohne ihn zu fragen, ob er sie begleiten wolle. Stellten ihn vor vollendete Tatsachen. Warum wollte Katja mit diesem staubtrockenen Gefängniswärter zu einem romantischen See? Die eine fuhr mit pickligen Buben zum Römersee, seine Gattin mit einem Schließer zum Pröbstingsee. Der hatte zumindest wesentlich mehr zu bieten als der kleine Römersee, auch für Segler und Angler. Am Bootshaus am Westufer konnten Tretboote von jedermann ausgeliehen werden. Und am Westende befand sich ein separater Badesee. Außerdem gab es vier wunderschöne Inseln. Zwei davon lagen auf der Südseite und waren über Brücken begehbar. Die Nordinseln dienten als Brutstätte für Wasservögel und durften nicht betreten werden. Die örtliche Sparkasse veranstaltete alljährlich einen Dragonboat-Cup, der von der Bevölkerung sehr geschätzt wurde. Alles in allem sehr viel touristisches Flair mit Gastronomie.

Timo verließ als Letzter den Frühstücksraum. Im Garten überlegte er, was er tun könnte. Sich wieder wie gestern in den Sessel hauen und den Vögeln beim Zwitschern zuhören?

Er beschloss, den Pferdestall aufzusuchen, bereute seinen Entschluss jedoch schon am Eingang. Es wimmelte von Mädchen, großen und kleinen, die die Boxen stürmten, um die Pferde für den Ausritt vorzubereiten, den Svenja und Franka nun verpassten.

Keiner beachtete ihn. Er ging zur Box von Daisy, der es besser zu gehen schien als am Vorabend. Am Ausritt durfte sie allerdings nicht teilnehmen, blieb einsam in ihrer Box zurück.

Hatte er den Stallknecht Kalle etwa nur geträumt oder wieso war er nicht vor Ort? Er erinnerte sich schwach, wie Kalle ihm gesagt hatte, dass er nur abends arbeite.

Die Schritte, die sich näherten, zerrissen die Stille in der Sattelkammer, und Timo verharrte einen Moment. »Zutritt für Unbefugte verboten«, sagte ein Schild an der Tür, das ihn nicht davon abgehalten hatte, sie trotzdem zu betreten. Er hatte die verschiedenen Sattelschränke und -wägen, den Schrank mit dem Putzzubehör, die große Truhe mit verschiedenen Gurten und Zügeln bestaunt. Satteldecken waren fein säuberlich auf einen Ständer gehängt worden, Zügel daneben an der Wand, ebenso Zaumzeug und Trensen. Peinliche Ordnung überall. Nun lauschte er angestrengt.

Das Geräusch der Schritte kam näher und endete abrupt vor der Tür, die sich nun langsam öffnete.

Da stand sie, grinsend wie ein Honigkuchenpferd, und langsam trat sie auf ihn zu. Sie wollte doch nicht etwa …

»Bist du mir hinterhergeschlichen? Was willst du hier? Sag mal, kapierst du es nicht? Es ist aus und vorbei mit uns!« Wütend stieß er sie von sich, als sie sich ihm näherte.

Wieder trug sie ihr urkomisches Frotteekleid, das auf der Brust deutliche Flecken zeigte.

»Und das hast du zu bestimmen oder wie? So einfach lasse ich mich nicht abservieren. Hörst du? Das Liebchen hat ihre Schuldigkeit getan, meinst du?« Tränen tropften auf die Orangen ihres Frotteeungetüms.

Timo hatte Angst, entdeckt zu werden, und schaltete einen Gang zurück. »Lass uns hier verschwinden und woanders darüber reden, obwohl alles gesagt ist.«

Sie startete einen weiteren Angriff und hängte sich an seinen Hals. Er stieß sie erneut von sich, und sie landete unsanft in dem Regal zwischen Zügel und Trensen. Doch das kümmerte ihn nicht sonderlich. Sein Blick heftete sich an einen rosafarbenen Führstrick rechts neben ihm. Greif ihn dir und mach Mandy den Garaus, sprach eine Stimme in ihm. Die Stimme, die endlich Ruhe wollte. Ab mit dem Strick um den dünnen Hals der nervigen Mandy und kräftig zugezogen. So lange, bis sie für immer die Klappe halten würde.

Mädchenstimmen lösten ihn aus der Starre. Raus hier! Er musste raus hier! Sofort! Er ließ die heulende Mandy zurück, verließ die Sattelkammer und den Stall und lief eiligen Schrittes in Richtung Pferdekoppel. Frische Luft, Weite und ganz viel Stille.

Das muntere Pferdequartett, das fröhlich graste und ihn neugierig anschaute, beruhigte ihn, obwohl sein Problem noch lange nicht gelöst war. Timo kam langsam runter.

Beim gemeinsamen Kaffeetrinken nach 16 Uhr im rustikalen Aufenthaltsraum – es gab frischen Pflaumenkuchen mit Sahne – war die Stimmung fast wieder gelöst. Bis auf Mandy waren alle anwesend. Sogar Dietmar war guter Dinge, erzählte und lachte, scherzte mit seiner Tochter. Der Ausflug mit Katja an den See musste ihm gutgetan haben. Es schien ihm nichts auszumachen, dass seine Gattin nicht anwesend war. Auf die Frage von Katja, wo diese denn stecke, zuckte er nur mit den Schultern. Gepackt habe sie auch noch nichts, meinte Dietmar gleichgültig, obwohl sie gegen 17 Uhr starten wollten, heim ins Ruhrgebiet.

Timo ahnte Schreckliches. Er trank seinen Kakao aus und sprang wie von der Tarantel gestochen von seinem Stuhl auf. Ein letzter Gang führte ihn direkt in die Sattelkammer. Er war sich seiner selbst nicht mehr sicher und befürchtete, dass er sie im Affekt tatsächlich mit dem Führstrick erdrosselt hatte.

Doch von Mandy keine Spur. In der Ecke vor der Futterkammer stand Kalle und rauchte eine Zigarette, obwohl Rauchen im Stall streng verboten war. Er wirkte äußerst nervös und hob grüßend die Hand, als er Timo entdeckte.

Zögerlich ging Timo auf Kalle zu, der heute in einem viel zu engen Arbeitsanzug steckte. Ahnte er etwas? War Kalle in Mandys Verschwinden verstrickt?

»Wir sind auf der Suche nach Mandy, der Frau, von der ich dir gestern erzählt habe. Sie ist spurlos verschwunden. Hast du sie vielleicht gesehen?« Timo schaute dem hektisch wirkenden Mann tief in die Augen.

Kalle hielt jedoch seinem prüfenden Blick stand. »Ist gut, wenn sie weg ist. Das wolltest du doch. Oder nicht?« Kalle kapierte anscheinend nicht, wieso sich Timo so echauffierte.

»Mensch, Kumpel, ich war heute Nacht betrunken. Ich weiß gar nicht mehr, was ich alles gesagt habe. Also, hast du sie nun gesehen oder nicht?« Am liebsten hätte er ihn geschüttelt.

»Das weiß ich nicht so genau. Ist ja auch egal. Jetzt ist sie jedenfalls weg.«

Kalle schien sich darüber zu freuen. Aber weshalb war er dann so nervös? Er trat die Zigarette aus und verließ beleidigt den Stall.

Timo war fix und fertig, suchte seine Familie auf, um ihnen beim Packen zu helfen und die Koffer ins Auto zu schaffen. Was ging ihn Mandy an? Sollte Dietmar auf sie warten. Schließlich war er ihr Ehemann.

Katja und Franka liefen in dem Zimmer hin und her, rafften ihre Klamotten zusammen. Katja fragte ihn, ob er wüsste, wo Mandy sei.

Er schaute aus dem Fenster in die herrliche Landschaft und dachte nach. Dachte an Mandys biegsamen, anschmiegsamen Körper, der zu allem bereit gewesen war. Diese samtige Haut, die er überall gespürt hatte. Vermisste er sie etwa schon, obwohl er sie mehr als einmal loswerden wollte? Dieses ambivalente Verhältnis zu dieser Frau war nicht normal. Einfach losfahren und die anderen hier zurücklassen in ihrer Not? Er spürte Wut in sich aufsteigen, obwohl er nicht genau sagen konnte, auf was sie beruhte. Niemals hätte er was mit Mandy anfangen dürfen. Das war klar.

Katja umarmte ihn von hinten und bat ihn liebevoll, endlich loszufahren. Keiner schien sich groß um Mandy zu scheren. Sie war weg und fertig.

Draußen lief Dietmar im Garten herum, pfiff fröhlich vor sich hin. Laut Katjas Aussage waren die Mädchen im Stall, um sich von den Pferden zu verabschieden. Der Badeausflug mit diesen jungen Schnöseln schien wohl nicht von Erfolg gekrönt gewesen zu sein. Wahrscheinlich hatten die pickligen Halbwüchsigen mehr gewollt als die 14-jährigen Mädchen. Mit einem kleinen Küsschen hatten die sich vermutlich nicht zufriedengegeben.

Nur eine halbe Stunde später ging auf dem Hof die Post ab. Es wimmelte von Polizeiautos. Kurz darauf hielten vor dem Pferdestall ein Notarztwagen und ein nobler Daimler, der einen Herrn in Zivil ausspuckte, wohl der Kommissar. Aufgeregte, schreiende Kinder, dazwischen die noch aufgeregteren Gastgeber.

Timos Tochter Franka stand verzweifelt am Ziegenauslauf und weinte. In ihrem Arm Svenja. Der krächzende Kalle wurde von Polizeibeamten aus dem Stall geführt, ließ sich nur schwer bändigen, ruderte wie verrückt mit den kurzen Armen, verhedderte sich in Widersprüche und wurde flugs in einen Polizeiwagen verladen und mitgenommen. So einfach ging das. Nur weil er eine kleine Schraube locker hatte und nicht die hellste Kerze auf der Torte war, ging man so mit ihm um? Kaum drei Sätze hatte der Kommissar mit ihm gewechselt.

Passanten und die Eltern einiger Pferdemädchen sonnten sich in dem Geschehen. Ein Pferdegespann hielt, es kam gerade von einer Fahrt durch die Umgebung zurück. Die völlig verdutzten Menschen, die stolpernd den Planwagen verließen, wurden von den umstehenden Leuten sofort mit den Schreckensnachrichten konfrontiert: Eine Frau sei aufgespießt worden, Mörder auf dem Hof. Die kleineren Kinder schrien, die älteren Frauen rissen erschrocken die faltigen Münder auf. Weg hier, nur weg hier, dachten sie. Die Panik übertrug sich auf die Pferde, die wieherten und immer unruhiger wurden. Schnell wurden sie in ihre Boxen gebracht.

Mandy war in der Futterkammer gefunden worden. Mit einer Mistgabel in der Brust. Ihre weit aufgerissenen toten Augen starrten an die Decke, als stünde dort der Name ihres Mörders. Der Notarzt und sein Team konnten nichts mehr ausrichten.

Noch immer trug sie dieses Frotteekleidchen. In ihren blonden Haaren klebte Blut, überall klebte Blut. Die SpuSi und der Gerichtsmediziner machten sich an die Arbeit.

Timo stand am Rande der Stallgasse. Er hatte Mandy kurz gesehen, jetzt jedoch versperrten ihm die Spurensicherer die Sicht. Dass man ihn überhaupt bis hierher vorgelassen hatte, wunderte ihn. Das tragische Ende eines Familienwochenendes, dachte er verzweifelt.

Der Kommissar wollte ihn sprechen, fragte, ob er Timo sei, und führte ihn nach draußen. Der Stallknecht habe ihm erzählt, dass er mit der Frau befreundet gewesen sei und Streit mit ihr gehabt habe.

Timo bejahte seine Fragen, betonte aber mehr als einmal, dass er sie nicht umgebracht habe.

Der Kommissar ermittelte jedoch in eine ganz andere Richtung. Für ihn war zweifelsohne klar, dass dieser Kalle Mandys Mörder war.

Die Welt war voller Vorurteile, dache Timo traurig. Nur weil dieser Kalle Miloscheck nicht der Klügste war, wurde er gleich zum Mörder abgestempelt. Was für eine Welt! Dabei hatte Timo ein viel stärkeres Motiv.

Als die Befragung beendet war, forderte der Kommissar ihn auf, morgen auf dem Präsidium vorbeizuschauen, um seine Aussage zu protokollieren. Wenn es mehr nicht ist, dachte Timo.

Eine Polizeipsychologin kümmerte sich um Svenja, während ihr Vater Dietmar noch immer im Sessel im Garten saß und blöd grinste, als wäre nichts geschehen.

Eine Stunde später ging es rund um den Tatort schon ruhiger zu. Die nicht involvierten Menschen waren von den Polizeibeamten regelrecht verscheucht worden. Mandy wurde abtransportiert. Timo samt Familie trat endlich die Heimreise an.

Timos Gedanken waren bei Kalle. War er tatsächlich der Mörder von Mandy, wie jedermann annahm? Hatte er etwas in den falschen Hals bekommen und Timo einen Gefallen erweisen wollen? So blöd konnte selbst Kalle nicht sein.

Okay, Timo war zum Schluss sehr wütend auf Mandy gewesen. Doch deshalb hätte er sie nicht umgebracht. Wenn er jeden gleich umbringen würde, auf den er irgendwann wütend war – wo käme man denn da hin? Das musste doch auch Kalle so sehen. Wäre er, Timo, überhaupt dazu fähig, einen Menschen umzubringen?

Als er vom Hof fuhr, stand Dietmar an seinem jämmerlichen Uralt-Astra und grinste ihn an. Selbstgefällig und erhaben. Dabei steckte er doch sonst voller Komplexe. Wieso dieser plötzliche Wandel? Wie ein trauernder Ehemann wirkte er jedenfalls nicht. Svenja saß wie ein Häufchen Elend auf dem Beifahrersitz, den Blick gesenkt.

Timo schaute kurz zu Katja, als sie auf die A 31 auffuhren. Sie saß schnatternd neben ihm, erzählte Belanglosigkeiten vom Allerfeinsten. Hatte sie überhaupt registriert, dass vor wenigen Stunden ihre Freundin ermordet worden war? Einzig Franka machte sich Gedanken und kam immer wieder auf Mandy zu sprechen.

»Stimmt das, was Dietmar erzählt hat, dass du ein Verhältnis mit Mandy gehabt hast?«, fragte sie plötzlich rundheraus.

Timos Pulsschlag erhöhte sich. »So was erzählt dieser Penner?« Er wunderte sich, dass Dietmar davon Wind bekommen hatte.

»Hast du sie umgebracht, Papa?« Große blaue Augen schauten ihn von hinten im Rückspiegel wütend an.

»Was soll das, Franka?«, mischte sich nun Katja ein. »Dein Vater ist doch kein Mörder! Und selbst wenn er was mit Mandy hatte – das ist ja jetzt vorbei. Er wird sich seine Fußnägel in Zukunft wieder allein schneiden müssen. Ansonsten wird alles wie gehabt weitergehen. Svenja wird ihre Trauer überwinden. Nicht wahr, Timo?«

Franka weinte angesichts der emotionslosen Worte ihrer Mutter.

Timo schluckte schwer und fragte sich, ob seine Gattin bei Mandys Tod die Finger im Spiel hatte. Mord aus Eifersucht war schließlich ein typisches Motiv. Auch sie war vom Kommissar befragt worden. War dem dabei nichts spanisch vorgekommen?

»Dietmar schien nicht sehr betroffen. Im Gegenteil, er wirkte gelöst, als sei er froh, seine Frau los zu sein«, sagte Timo.

»Das wundert dich?« Katja bedachte ihn mit einem giftigen Blick von der Seite. »Es wird schon dieser Kalle gewesen sein. Vielleicht hat sie ihn scharf gemacht. Wer weiß?«

»Du machst es dir einfach.« Alles auf Kalle zu schieben, war leicht. Hoffentlich bekam er einen guten Verteidiger, der ihn da rausboxte, hoffte Timo.

Endlich verließ auch Dietmar samt seiner Tochter das Gelände des Reiterhofes. Fröhlich pfeifend steuerte er Gelsenkirchen entgegen.

»Bist du denn gar nicht traurig, dass Mama tot ist?«, wollte Svenja wissen.

»Doch, natürlich bin ich traurig. Manche Menschen können das nicht so zeigen, weißt du?«

Dietmar war nicht ganz bei der Sache. Seine Gedanken waren bei dem herrlichen Ausflug, den er heute mit Katja unternommen hatte. Er ärgerte sich schwarz, dass sie keinen Abstecher ins wunderschöne HeidenSpassBad gemacht hatten. Über den Heidener Herbst wäre er auch gerne geschlendert. Dieser bunte Jahrmarkt, der alljährlich stattfand und den ganzen Ortskern belagerte, zog die Menschen aus sämtlichen Himmelsrichtungen an. Die Geschäfte und die Gastronomie hatten ihre Türen an diesem Sonntag geöffnet. Sämtliche Vereine waren mit interessanten Aktionen vor Ort. Er hätte mit Katja noch ein Gläschen Wein trinken und dabei über alte Zeiten reden können. Ja, das waren schöne Zeiten gewesen, mit Katja und ihm.

Der Abstecher hätte aber zu viel Zeit gekostet, wo er doch eine Mission zu erfüllen gehabt hatte.

Alles hatte gut geklappt. Was wollte er mehr? Er drehte das Radio lauter, ließ sich von dem Hit »Die rote Sonne von Barbados« der Flippers bedudeln und sang textsicher mit.

Svenja war über das Verhalten ihres Vaters geschockt. Außer sich schrie sie ihn an: »Mama ist gerade gestorben! Hast du das vergessen?«

Schuldbewusst drehte Dietmar das Radio leiser. Sie wird schon noch verstehen, dass ich es tun musste, dachte er und streichelte seiner Tochter mit der rechten Hand über ihr blondes Haar.

2. Im Feuer geschmiedet

Das mittelalterliche Klosterleben war die Wurzel für die heutige Kultur und Wissenschaft, davon war Prof. Dr. Paul Bökenhans, Kulturwissenschaftler an der Universität Paderborn, überzeugt. Der stämmige Kerl, groß und blond, mittleren Alters, bereitete sich seit Wochen auf das Tagungsprogramm mit dem Thema »Klosterleben damals und heute« vor, das seine Fakultät in wenigen Tagen im Kloster Dalheim abhalten wollte. Auf seinen Assistenten Dr. Peter Graunert war in organisatorischer Hinsicht wenig Verlass.

Zur Tagung waren zahlreiche WissenschaftlerInnen, aber auch Klostervorstehende, TourismusveranstalterInnen und BibliothekarInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz geladen.

Der erste Punkt im Programm war die Begrüßungsrede, natürlich von Paul Bökenhans persönlich gehalten. Er übte sie täglich vor dem Spiegel. Danach würde Graunert ins Tagungsthema einführen und anschließend ein Kollege von der Universität Erfurt über die Probleme der Klöster heute referieren. Abschließend wollte Paul noch etwas über die Chancen der Klöster erzählen.

Nach dem Imbiss im Kloster würde der Shuttlebus die Referenten nach Paderborn bringen, wo sie für die Dauer der Tagung in einem Hotel untergebracht waren.

An den folgenden Tagen würde es dann von morgens um 9 Uhr bis abends um 17 Uhr zahlreiche Fachvorträge geben. Paul hatte spitzenmäßige ReferentInnen gewinnen können, darunter die Nonne Sr. Thea, die einige Jahre in Klöstern auf der ganzen Welt gelebt hatte, bevor sie sich in Deutschland fest ihrem Orden verschrieb.

Noch zwei Tage, dann würde es endlich so weit sein. Mehr als nervös goss er sich ein Glas Weißwein ein. Edlen, guten Messwein. Das war für ihn Medizin, die er jetzt unbedingt brauchte.