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Schluss mit besinnlicher Weihnachtszeit, kitschigen TV-Filmen und säuselnder Radiomusik. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier … In 24 Kurzkrimis aus dem Ruhrpott wird gemordet, gemeuchelt, entführt und hereingelegt. Im gesamten Ruhrgebiet von Wesel bis Hamm, von Marl bis Hagen, in Duisburg, Dortmund, Essen und Bochum entpuppen sich Ruhrpottprinzessinnen und -prinzen als Mörder, Banditen und Verbrecher. Ein herrlicher Grusel unter dem Weihnachtsbaum.
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Seitenzahl: 370
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Margit Kruse
Karpfen, Kerzen, Kohleofen
24 Weihnachtskrimis aus dem Ruhrpott
Tödlicher Weihnachtstrubel Ein herrlicher Grusel unter dem Weihnachtsbaum – in den 24 Kurzkrimis wird gemordet, gemeuchelt, entführt und hereingelegt. Während einer kleinen Auszeit im Hotel Jammertal in Datteln stößt Margareta Sommerfeld auf einen lästigen Versicherungsvertreter, der nicht nur ihr gehörig auf den Keks geht. Fazit: Er muss weg! In der Westruper Heide in Haltern findet man auf einem Hochsitz einen toten Jäger. Wem war er im Weg? Und in der Zoom-Erlebniswelt in Gelsenkirchen wird in der kargen Blockhütte der Alaska-Welt am Heiligen Abend ein Toter gefunden. Nur wenige Meter vom Mechtenberg in Essen mit dem imposanten Bismarckturm wohnt Sandras neuer Arbeitskollege Carsten in einem angeblich tollen Haus. Er lädt die ganze Abteilung zum Schrottwichteln ein. Doch was Sandra erwichtelt, lässt ihr die Haare zu Berge stehen. Weitere Tatorte sind unter anderem: Laternenweg Schwerte, Steinbruch Klosterbusch Bochum, Bergerdenkmal Witten, ehemalige Zechensiedlung Schüngelberg in Gelsenkirchen, Skulpturenwald Rhein-Elbe, Leuchtturm Essen, Ruine Hohensyburg in Dortmund und das Gradierwerk Essen.
Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis »Eisaugen«, »Zechenbrand«, »Hochzeitsglocken«, »Rosensalz« und »Bergmannserbe«. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben etlichen Beiträgen in Anthologien hat sie zahlreiche Bücher veröffentlicht. Labrador Enja ist stets dabei, wenn sich Margit Kruse auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Margit Kruse ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und war für den Literaturpreis Ruhr nominiert.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © KatyaKatya / AdobeStock
ISBN 978-3-8392-7304-3
Nichts klappte in letzter Zeit. Alles ging schief. Was für einen Aufstand Thomas gemacht hatte, als sie ihr Köfferchen gepackt hatte, um zu diesem Wellnesswochenende hier ins Jammertal zu fahren. Er wollte mit, dieses Kleinkind in Männergestalt. Wieso durfte sie nicht mal alleine verreisen?
Wenn man überhaupt von verreisen sprechen konnte. Das Jammertal-Ressort war nur 24 Kilometer von Gelsenkirchen entfernt und in einer halben Stunde zu erreichen. Ein Stück grünes Ruhrgebiet mitten in der »Haard«, einer waldigen Sandsteinlandschaft im Naturpark Hohe Mark.
Sie atmete tief durch, schaute aus dem Fenster in die eiskalte Schneelandschaft. Mache das Beste daraus, schalte ab, sagte sie sich immer wieder, warf ihr Köfferchen aufs Bett und sah sich im Zimmer um. »Heidschnucke« hieß es, war klein, aber sehr komfortabel, sogar mit Balkon und Minitannenbäumchen. Sie setzte sich aufs Bett und überlegte, was sie zum Abendessen anziehen sollte. Ein klein wenig Wehmut verspürte sie. Wehmut und auch Sehnsucht nach Thomas. Er wird doch mal ein Wochenende ohne mich auskommen, sagte sie sich, erhob sich schwungvoll und brezelte sich im Bad ordentlich auf. Aber für wen? Sinnvoller wäre es, eine Runde im Schwimmbad zu drehen. Das würde allerdings ihre tolle Frisur ruinieren, für die sie am Morgen bei ihrem Lieblingsfriseur über 100 Euro bezahlt hatte. Auf wen sollte sie im Speisesaal denn treffen? Wollte sie überhaupt jemanden treffen? Wollte sie nicht ihre Ruhe haben? Den Winterspaziergang durch die waldreiche Landschaft des Jammertals verwarf sie hinsichtlich der Kälte. Das musste nicht sein. So schön war der Schnee auch wieder nicht.
Als sie auf dem Weg zum Speiseraum an einem kleinen Saal vorbeikam und einen Blick hineinwarf, glotzten sie zwei Riesenaugen aus einem runden Kopf an. Grunzendes Lachen, laute Stimmen, die aus den mit Krawatten umbundenen Hälsen von ungefähr 20 Anzugträgern kamen, und sich gegenseitig zu übertreffen versuchten. Großkotze, die hier wahrscheinlich ihre betriebliche Weihnachtsfeier abhielten. Diese Art von Männern liebte sie. Zuhause gehorsam und brav, aber wenn sich die Gelegenheit bot, beispielsweise auf der Weihnachtsfeier, ließen sie die Sau raus und mimten die großen Macker, schleppten sich für die Nacht vielleicht noch eine billige Tussi ab.
Die Riesenaugen hefteten noch immer an ihrem roten Kleid, besonders an ihrem Ausschnitt. Nun stand der zu den Augen gehörige Körper auf und schlenderte lässig grinsend zur aufstehenden Doppeltür. Den karierten Anzug hatte er bestimmt aus der Erbmasse seines Vaters, oder trug man jetzt wieder so etwas Schräges? Die schmierig blonde Wellenfrisur stammte ebenfalls aus einer anderen Epoche. Oh nein, keine billige Anmache, dachte sie und legte einen Schritt zu, um von der Bildfläche zu verschwinden.
In einer Nische des großen Gastraums setzte sie sich an einen kleinen Tisch mit Blick nach draußen in die herrliche Winterlandschaft. Ein riesiger beleuchteter Weihnachtsbaum und unzählige in den umliegenden Bäumen verteilte Lichterketten sollten Weihnachtstimmung verbreiten, ebenso die entzückende Tischdeko, bestehend aus viel Kristallglas und rot glänzendem Schnickschnack. Für morgen hatte sie einige Wellnessbehandlungen gebucht, unter anderem eine Ganzkörpermassage sowie einen Stirnölguss. Ob sie damit ihren Kopf frei bekommen würde? Dieses Wochenende kostete sie eine Stange Geld. Ihre Mutter Waltraud hatte etwas beigesteuert. Von Thomas hatte sie nichts annehmen wollen, auch nicht als vorzeitiges Weihnachtsgeschenk, das er ihr regelrecht aufzwingen wollte. Bis Weihnachten waren es noch 14 Tage. Da konnte viel passieren. Damit hätte er wieder wer weiß was verbunden und Ansprüche geltend gemacht. Sie lebten noch immer in getrennten Wohnungen, obwohl Thomas nach dem Tod seiner Mutter inzwischen ein ganzes Haus bewohnte, das Platz genug für sie beide böte. Doch sie wollte nicht, es war ihr zu endgültig, mit ihm zusammenzuziehen. Sie brauchte ihre Freiheit. Außerdem maulte er dauernd an ihrem Job als private Ermittlerin herum. Natürlich war ihr Beruf nicht so krisensicher wie seiner, als Erster Kriminalhauptkommissar des KK 11 in Buer. Nicht selten gab sie ihm allerdings den entscheidenden Tipp, wenn er mit seinen Ermittlungen nicht weiterkam.
Unmögliche Aufträge flatterten ihr in letzter Zeit ins Haus: Beschattungen unseriöser Geschäftspartner und untreuer Ehemänner. In der vergangenen Woche hatte sie viel Zeit in einem großen Bioladen verbracht, zwischen Regalen mit erschlafftem Obst und Gemüse, trockenen grauen Vollkornbroten und Flaschen mit kaltgepressten Ölen aus irgendwelchen obskuren Dingen. Sie sollte dem Filialleiter im ekelbefleckten Kittel Unterschlagung nachweisen. Er hatte nach Murmeltierfett gerochen – ihr Vater hatte sich früher immer den Nacken damit eingeschmiert. Allein der Gedanke an diesen Geruch verursachte bei ihr noch immer Magenschmerzen. Schnell verscheuchte sie das Bild dieses unattraktiven Kaufhauskerls, sonst bekäme sie keinen Bissen des Essens hinunter, das ihr gerade serviert wurde.
Während sie ihr Rinderfilet mit Waldpilzen und gestoßenem Pfeffer verzehrte, trat der Schlipsträger mit den Kulleraugen an ihren Tisch, verneigte sich und stellte sich vor. Was für eine Frechheit! Brüsk wies sie ihn ab. Sie wollte ihren Frieden haben, nichts als Frieden. Ihr Herz klopfte, als er endlich abzog, und sie gab sich wieder ihrem Essen, dem Wein und der live gespielten weihnachtlichen Pianomusik hin.
Später an der Bar – sie hatte nicht direkt nach dem Essen ihr Zimmer aufsuchen wollen – saß der Typ nur zwei Barhocker weiter. Ihm gegenüber einige seiner Kollegen, die ihn eindeutig mobbten. Sie warfen ihm blöde Sprüche an den runden Kopf, drohten ihm an, dass er bald seinen Posten los sei, da er faul und hinterhältig wäre. Die schlechtesten Zahlen schreibe er.
Ein gewisser Markus – dunkle Haare, schlankes Gesicht – und ein neunmalkluger Tom – blonde Stoppelfrisur –, beide voll wie die Haubitzen, wiederholten Zitate ihres Chefs, die dieser angeblich bei seiner Ansprache fallen lassen habe. Ihr dämliches Lachen wurde immer lauter, und Margareta verspürte fast Mitleid mit dem armen Mann, der sie nun entdeckte, sich freute wie ein Schneekönig und ungefragt zu ihr aufrückte. Mittlerweile rasteten die Kollegen, die ihm schräg gegenüber saßen, total aus, bewarfen ihn mit Erdnüssen und Salzstangen. Spott und Häme schütteten sie kiloweise auf sein Haupt.
Ihr Mitleid bereute Margareta jedoch schnell. Alexander Gehling war eine Quasselstrippe vor dem Herrn. Er laberte und laberte, ohne Punkt und Komma. Er erzählte ihr in wenigen Minuten sein komplettes bisheriges Leben, um sie anschließend heftig anzubaggern. Nicht nur verbal, er legte irgendwann auch Hand an, schob die wulstigen Griffel auf ihren Oberschenkel und glotze sie gierig aus weiß bewimperten Augen an.
»Hey, was soll das?« Margareta schlug ihm kräftig auf die sommersprossige Pranke.
»Na, hab dich nicht so. Ist doch Weihnachten.« Seine spröden Lippen mit den Erdnusskrümeln, aus denen er die Worte lallte, waren einfach nur abstoßend. Sie fragte sich, wieso er eine solche Niete bei der Aron-Versicherung war – dass dies sein Arbeitgeber war, hatte er ihr lang und breit erzählt. Als Schwätzer müsste es ein Leichtes für ihn sein, Versicherungen zu verkaufen. Lag es an seinem Aussehen? Seine Kollegen, besonders Markus und Tom, amüsierten sich noch immer köstlich über den tollen Alexander.
Der nette, gut aussehende Barkeeper, der mit seinen roten Haaren wie ein Ire wirkte, stellte ihr den Drink hin, den er ihr zuvor empfohlen hatte. Einen weihnachtlichen Earl-Grey-Gin mit neckischem Lavendelzweig am Glasrand. Mit warnendem Blick flüsterte er ihr zu: »Wenn der Herr Ärger macht, geben Sie mir Bescheid.«
»Mit dem werde ich schon allein fertig, danke!« Vorsichtig nippte sie an ihrem Glas. Schmeckte nach mehr, stellte sie fest.
Der tolle Alexander wurde zahm, ließ die Hände bei sich und begann, seinen Posten bei der Aron-Versicherung zu bejammern. Dass er nicht anfing zu weinen, war alles.
»Lass uns auf dein Zimmer gehen. Du gefällst mir. Wozu lange reden?« Seine großen Augen glupschten sie wieder gierig an.
»Das wüsste ich aber. Troll dich! Ich gehe jetzt auf mein Zimmer, allerdings allein.« Sie schenkte diesem Kerl noch einen abfälligen Blick und verschwand von der Bildfläche. Was manche Männer sich einbildeten … Wahrscheinlich hielt er sich für unwiderstehlich, dieser Schmierlapp.
Wenig später bekam sie auf dem Gang mit, dass nur ein paar der Versicherungsmenschen im Hotel übernachteten. Die meisten fuhren heim trotz Schneegestöber, mit dem Taxi oder, die ganz Mutigen, die das Schicksal herauszufordern wollten, mit dem eigenen Pkw. Es interessierte Margareta reichlich wenig, ob Alexander im Hotel blieb oder nach Hause fuhr.
Eine Stunde später, Alexander Gehling war längst vergessen, klopfte es an Margaretas Zimmertür. Ein volltrunkener Versicherungsfuzzi jammerte und winselte um Einlass. Alle seien so böse zu ihm, sie möge ihn trösten. Kurzerhand rief Margareta an der Rezeption an. Keine fünf Minuten später entsorgte man den lästigen Kerl und entschuldigte sich bei ihr.
Am anderen Morgen, sie wollte sich gerade zum Frühstück nach unten begeben, schaute sie aus dem Fenster in den Hof und traute ihren Augen nicht. Mitten im Schnee lag mit verdrehten Armen und Beinen eine menschliche Gestalt in einem hellbeigen, karierten Anzug. Die hässlichen blonden Haare zu allen Seiten ausgerichtet. Das war doch Alexander Gehling, dieser nervige Versicherungsvertreter!
Margaretas Herz schlug schneller. Wieso hatte ihn noch niemand entdeckt? Sie trat vor Kälte schnatternd auf ihren Balkon und blickte an der Hausfront hoch. War er vielleicht vom Balkon gestürzt? Unfall oder Suizid? Oder hatten seine beiden Kollegen Tom und Markus nachgeholfen? Beide waren angeblich scharf auf seinen Posten, hatte er ihr erzählt. Ihr Mitleid mit der im Schnee liegenden Kreatur hielt sich in Grenzen.
Noch bevor sie ihr Zimmer verließ, hörte sie Polizeisirenen und nahm Blaulichtgeflacker wahr. Er wurde also bemerkt und alles ist in die Wege geleitet, dachte sie. Nicht gerade förderlich für ein Wellnesshotel, ein Toter im Hof zur Weihnachtszeit. Das schreckte ab. Aber nicht Margareta – sie steuerte in aller Ruhe den Speisesaal an.
Nach einem opulenten Frühstück begab sie sich zu den Anwendungen in die gut duftende Wellnessabteilung. Langsam kam sogar ein wenig Weihnachtsstimmung bei ihr auf. Durch die riesige Glasfront konnte sie die Sonne erblicken, die sich durch die grauen Wolken gekämpft hatte und die herrliche Schneelandschaft in ein wunderbares Licht tauchte.
Der Tote im Hof war natürlich Gesprächsstoff im ganzen Hotel und machte auch vor der Wellnessabteilung nicht halt. Wer tut so etwas, war die große Frage. Die Gerüchteküche brodelte. Es wurde von Selbstmord gesprochen, von bösen Kollegen und Streit bei der Weihnachtsfeier. Dass am Abend noch die Fäuste geflogen seien, glaubte Margareta nicht. Dass Alexander Gehling ein echter Stinkstiefel gewesen sei, allerdings schon. Obwohl der Kerl ihr am Allerwertesten vorbeiging, interessierte sie, ob seine Kollegen Markus und Tom im Hotel übernachtet hatten. Und Gehling? Hatte er ein Zimmer gebucht? Nach seinem Äußeren zu urteilen, eher nicht.
Margareta quetschte die Dame, die sich gerade an ihrem Rücken zu schaffen machte, ordentlich aus. Einer jungen Frau vom Zimmerservice sei er dumm gekommen, habe sie angebaggert und mit in ihr Zimmer gewollt. Also hatte Gehling kein Zimmer im Hause gebucht, schlussfolgerte Margareta.
Nach dem Stirnölguss, der tatsächlich für einen freien Kopf gesorgt hatte, verließ Margareta den Wellnessbereich. Der Mann von der Rezeption kam auf sie zu. Er habe schon versucht, sie telefonisch zu erreichen, da ein Herr von der Kripo sie sprechen wolle.
Ein Milchbübchen, Akne und dicke Brille, höchstens Ende 20, wartete im Restaurant auf sie, rührte genervt in seiner Kaffeetasse herum. Er stellte sich ihr als Kommissar Martin Sommer vor. Sein Blick war äußerst skeptisch. Was wollte er von ihr, dieser Nerd?
»Sie kannten Herrn Gehling näher? Der Herr von der Rezeption sagte mir, es gab Ärger mit ihm? Er habe gegen 23 Uhr an Ihrer Tür geklopft und wollte zu Ihnen ins Zimmer?«
»Bei Ihnen piept es wohl! Wieso sollte ich ihn näher gekannt haben? Nur weil er mir lästig wurde? Er saß neben mir an der Bar und wurde zudringlich, was der Barkeeper bezeugen kann. Was weiß ich, was der für Probleme hatte, dieser Penner!« Margareta setzte sich dem Mann gegenüber und seufzte tief. Wieso immer ich, fragte sie sich.
»Mäßigen Sie sich in der Wahl Ihrer Worte, Frau Sommerfeld!« Martin Sommer schaute sie an, als hätte sie eine schwere Verfehlung begangen.
»Danke gleichfalls, Herr Sommer. Wissen Sie, solche Idioten gibt es wie Sand am Meer. Ich habe beruflich viel mit solchen Typen zu tun und gebe da nichts mehr drum.«
»Was machen Sie beruflich und warum sind Sie hier?«
»Ich bin private Ermittlerin.« Das musste genügen. Der Grund ihres Aufenthaltes hatte ihn nicht zu interessieren.
»Aha. Und wann haben Sie Gehling zuletzt gesehen?«
»Gesehen in der Bar gegen 22.30 Uhr. Gehört eine halbe Stunde später an meiner Tür. Werde ich etwa verdächtigt? Weil mich so ein hirnloser Kerl angemacht hat? Sie sollten seine Kollegen Markus und Tom fragen, die ihn in der Bar ordentlich gemobbt haben.«
»Die beiden wurden bereits befragt. Nein, Sie stehen nicht unter Verdacht, sind aber möglicherweise eine Zeugin.« Langsam wurde der Kommissar zugänglicher. Margaretas Beruf schien Eindruck auf den kleinen Kerl zu machen.
»Wie kam er zu Tode? Weiß man schon was Genaues?« Margareta dachte kurz daran, Thomas zu informieren, doch sie ließ es. Es wäre ja gelacht, wenn sie nicht allein damit fertig werden würde.
Kommissar Sommer überlegte wohl, ob er ihr Auskunft geben sollte, und entschied sich nach einigen Sekunden dafür. »Er wurde mit großer Wahrscheinlichkeit vergiftet und dann vom Balkon gestoßen.«
»Aber er hatte hier kein Zimmer, oder?«
»Der kleine Balkon ist vom Gang aus zu betreten.« Mehr sagte der Mann nicht, sondern verabschiedete sich eilig.
»Dort oben, wo die Damen vom Zimmerservice wohnen, soll er einer jungen Frau lästig geworden sein«, rief er Margareta noch zu.
Margareta griff nach dem Kärtchen, das er ihr mit den Worten »Falls Ihnen noch etwas einfällt …« auf den Tisch gelegt hatte.
Als sie nach ihrem Mittagsimbiss – sie hatte sich für eine rote Currysuppe mit Linsen und Koriander entschieden – ihr Zimmer betrat und in den Hof blickte, war nichts mehr vom Leichenfundort zu sehen. Schnee geräumt, Blut entfernt, Gehling längst weggeschafft in die Rechtsmedizin. Nur noch ein dicker BMW parkte im Hof. Ob das der Wagen dieses milchgesichtigen Kommissars war? Kaum vorstellbar.
Die Karaffe Spätburgunder Weißherbst zum Mittagessen hatte sie müde gemacht. Sie schaltete den Fernseher ein, legte sich aufs Bett und schlief sofort ein. Gegen 17 Uhr wurde sie durch einen Anruf von Thomas geweckt. Ob sie ihm von dem toten Gehling erzählen sollte? Sie ließ es, hörte sich stattessen sein Einsamkeitsgejammer an. Am Abend wollte er sich mit ihrer Mutter Waltraud zum Karten spielen treffen. Na, Prost Mahlzeit! Alles war besser, als dem beizuwohnen.
Beim Abendessen herrschte im gesamten Restaurant eine eisige Stimmung. Ob es an dem grausigen Fund vom Morgen lag? Wussten alle davon? Mit wenig Appetit verspeiste sie ihren gegarten Hirschrücken mit Lebkuchensauce. Auf den Wein verzichtete sie, nahm sich stattdessen vor, an der Bar noch einmal solch einen leckeren Drink zu sich zu nehmen wie am Abend zuvor.
»Es soll die nächsten Tage so kalt bleiben, und Schnee wird es auch wieder geben«, begann Oisin ein Gespräch mit Margareta und mixte ihr den »Schneemannstraum« von gestern Abend, der ihr so gut gemundet hatte.
Er gefiel ihr, dieser gepflegte junge Mann mit den rötlichen Haaren. Oisin bedeute »kleiner Hirsch«, erzählte ihr der Barkeeper, der tatsächlich aus Irland stammte. Oder war das seine Masche? Die Bar war schwach besucht, einige einsame Männergestalten sowie eine abgewrackte Frau hockten herum, tranken glitzernde Drinks aus Gläsern mit klimpernden Eiswürfeln.
Schwungvoll zelebrierte Oisin die Zubereitung ihres Mixgetränks und schwang den Shaker bis hoch in die Luft. »Furchtbar mit dem Toten. Gestern hat er hier noch große Sprüche geklopft, und nun gibt es ihn nicht mehr. Hat man Sie auch verhört?«
»Ja, ich wurde auch befragt. Was mich wundert, ist, dass die Kripo und die Polizeibeamten so schnell wieder verschwanden. Sind die Ermittlungen schon abgeschlossen? Ich kenne das ganz anders.« Margareta erzählte Oisin, dass ihr Partner Kommissar war und sie selbst private Ermittlerin. Statt Bewunderung erntete Margareta allerdings nur skeptische Blicke.
»Kein Angst, ich bin privat hier. Muss mal abschalten. Habe eine Scheißwoche hinter mir. Und ich habe auch nicht vor, sie vollzulabern. Sie müssen sich bestimmt einiges anhören, oder?«
»Das ist mein Beruf. Erzählen Sie nur, was Sie loswerden wollen. Wieso die Kripo so schnell weg war? Die meisten der Versicherungsvertreter werden sie zu Hause aufsuchen, da die nicht mehr im Hotel waren. Mit all den anderen, die Kontakt mit diesem Gehling hatten, wurde gesprochen, soviel ich weiß.«
»War noch was, nachdem ich die Bar verlassen habe?«
»Nein, kurz darauf verschwand Alexander Gehling ebenfalls. Er war ganz schön abgefüllt. Eine Angestellte vom Zimmerservice, die Loni, soll er angegraben haben. Doch sie ist nach oben in ihr Zimmer. Eine von den Damen hat am Wochenende Bereitschaft und muss im Hotel bleiben. Die beiden Kollegen Markus und Tom haben sich noch köstlich über ihn amüsiert, bevor sie nach oben in ihr Zimmer gegangen sind. Heute Morgen sind beide abgereist. Ich sah sie zufällig ins Auto steigen.«
»Komischer Typ, dieser Gehling. Ich ziehe solche Versager regelrecht an, müssen Sie wissen. Dabei will ich doch nur meine Ruhe haben. Vergiftet worden soll er sein und dann vom Balkon gestoßen. Komischerweise von dem Balkon aus der Etage, wo die Dame vom Zimmerservice wohnt. Zufall?«
»Ach, lassen Sie uns von was anderem reden. Er ist nicht mehr und basta!« Mit einem hinreißenden Lächeln schaute er Margareta an.
Er wusste mehr, da war sie sich sicher. Was verbarg er vor ihr? Niedlich sah er aus in seinem schwarzen Westchen mit der passenden Fliege. Das weiße Hemd strahlte vor Sauberkeit. Klar, er war einige Jahre jünger als sie, doch wieso nicht mal so ein Bübchen abschleppen? Wenn es der Sache dienlich war …
Sie schalt sich eine Närrin. Was habe ich damit zu tun? Was geht es mich an, wer diesen ekeligen Kerl umgebracht hat?
Der Abend wurde trotzdem sehr lustig. Oisin war ein fantastischer Unterhalter. Hatte er das auf der Barkeeper-Schule gelernt? Gehling war schnell vergessen. Gegen 23.30 Uhr verabschiedete sie sich von dem Jüngling. Auf die Frage, ob er sie nachher noch besuchen dürfe, antwortete sie mit Nein und, fragte sich, ob er es ernst gemeint hatte. Er konnte ganz andere Frauen haben als sie, eine Alte von fast 50 Jahren. Oder war es ein Test? Mit schweren Beinen kroch sie über den roten Teppich der Gänge, vorbei an der dunkelhaarigen Loni vom Zimmerservice, die in einem der Räume verschwand. Ein sogenannter Notfall? Hatte jemand Rotwein verschüttet und sie musste den Fleck sofort entfernen?
Endlich erreichte Margareta ihr Zimmer und fiel regelrecht ins Bett.
Am anderen Morgen präsentierte der Winter sich von seiner schönsten Seite. Wolkenloser Himmel, romantische Schneelandschaft und Sonne pur. Margareta beschloss, eine Wanderung durchs herrliche Jammertal zu unternehmen. Immer wieder schaute sie auf ihre neuen bunten Lederstiefel und konnte sich nicht satt daran sehen. Sie schlug den Weg Richtung Tennisplatz ein, der natürlich zugeschneit war. Sie folgte einem Hinweisschild, das den Weg zum Gernetal wies. Es war noch Zeit, bis sie gegen 16 Uhr das Zimmer räumen musste, um die Heimfahrt anzutreten. Um 15 Uhr war sie zu einer Kaminlesung mit Kaffee und Kuchen geladen, verspürte allerdings keine Lust auf süße Heile-Welt-Weihnachtsgeschichten. In der Ferne hörte sie ein Martinshorn, und wieder musste sie an Alexander Gehling denken. Unbegreiflich, dass so kurz nach dem Vorfall normaler Hotelalltag herrschte, der Tote, so dämlich er auch war, bereits Geschichte war. Sie wäre keine gute Ermittlerin, wenn sie sich keine Gedanken um den Täter machen würde. Waren die beiden Kollegen die Mörder, oder steckte der Chef dahinter, der ihn loswerden wollte? Wem war er in der Nacht noch zu nahe gekommen?
Sie blieb stehen und atmete die eisige Winterluft ein. Herrlich, so eine Waldwanderung im Winter, die sie bisher mangels Energie immer vermieden hatte. Menschenleer der Wald. Das Gernetal sah auch nicht anders aus als der übrige Wald, stellte sie bei der Durchwanderung fest und kehrte um. Sie passierte einen Vögel fütternden alten Mann und legte einen Schritt zu. Bevor sie das Hotel betrat, suchte sie den Parkplatz auf, um ihren Wagen vom Schnee zu befreien.
Direkt neben ihrem Polo parkte ein roter Golf, in dem sich zwei Personen heftig stritten. Die Scheiben waren von innen beschlagen. In der Frau erkannte Margareta die Servicekraft Loni wieder. Neugierig geworden, fegte Margareta ihren Wagen an der Seite ab, die sich neben der Fahrerseite des Golfs befand, auf der der junge Mann saß. Er startete plötzlich den Motor, gab Gas, fuhr rückwärts aus der zugeschneiten Parklücke und verschwand.
Margareta traf fast der Schlag. Sie hatte den Kerl mit der raspelkurzen blonden Frisur sofort erkannt, und er sie anscheinend auch. Es handelte sich um keinen Geringeren als um Tom, den Kollegen von Alexander Gehling. Angeblich war er längst daheim. Er und diese Loni hatten gemeinsame Sache gemacht, wurde ihr klar.
Margareta wusste, was sie zu tun hatte.
Haltern lag unter einer dichten weißen Schneedecke. Sämtliche Wege in der Westruper Heide unkenntlich. Wo noch vor vier Monaten die Erica blühte, nur noch eine schneeweiße Landschaft. Auf den Büschen und kleinen Bäumen Hauben wie Mützen, am Waldesrand traumhaft schneebedeckte Fichten und vereinzelte Birken.
Vor dem verschneiten Hochsitz mitten im Wald lag ein Mann. Am liebsten wäre Dieter Kibeck weitergegangen, hätte den am Boden liegenden Kerl ignoriert. Er wollte seine Ruhe haben. Stressige Woche und Probleme zu Hause reichten ihm. Das erste Adventswochenende, an dem er frei hatte. Nach seinem Morgenspaziergang wollte er Brötchen holen und heimkehren an den Frühstückstisch zu dem sich zankenden Volk. Da konnte er sich nicht mit einem Toten aufhalten. Vielleicht lebte der Mann noch? Sein schlechtes Gewissen meldete sich.
Er hinterließ Spuren, darüber war er sich im Klaren, als er durch den Schnee zum Hochsitz schritt, an dessen Leiter der Mann lag. Zweifelsohne ein Jäger, unschwer an seiner Kleidung zu erkennen. Sein Gewehr hing noch um seinen Hals, die Arme und Beine total verdreht. Er blickte an dem Hochsitz hinauf und sah, dass die zweite Sprosse von oben durchgebrochen war. War sie angesägt worden? Dieser Schussel, was stieg der auch bei dem Wetter da hinauf? Schnell noch den Sonntagsbraten sichern?
Mit dem Fuß schob Dieter den Hut des Mannes zur Seite und erschrak. Auch das noch, sein Nachbar Björn, leidenschaftlicher Jäger und erster Vorsitzender der KJS Hubertus in Recklinghausen. Wenn er die Polizei alarmierte, müsste er ihr mitteilen, dass er den Mann kannte. Dann würde dessen Jäger-Alte ihn tagelang ausquetschen, alles haarklein wissen wollen: wo gefunden, wann genau, war jemand dabei? Diese neugierige, eifersüchtige Fregatte.
Dieter ließ sich nun doch dazu herab, dem Mann an den Hals zu fassen und nach dem Pulsschlag zu fühlen. Nichts. Der war mausetot. Verärgert zog er sein Handy aus der Tasche und rief die Polizei. Sie würden seine Fußabdrücke im Schnee sehen, da machte Weglaufen keinen Sinn. Irgendein Trottel hatte ihn vermutlich ohnehin beobachtet. Wieso gerade ich, fragte Dieter sich und seufzte. Und dann noch dieser Björn Bergjohann.
Neben dem Kopf des Toten glitzerte etwas. Dieter bückte sich und fand im Schnee einen winzigen silbernen Schutzengel. Kopfschüttelnd steckte er ihn in seine Hosentasche.
Katja machte sich zu Fuß auf zum Friedhof am Brinkweg, der nur 700 Meter von ihrem wunderschönen Einfamilienhaus im Schlingenkamp entfernt lag. Wieso sie gerade heute Morgen, am dritten Adventssonntag, bei Schnee und Eis sowie Minusgraden zur Gruft ihrer Eltern hetzte, konnte sie selbst nicht sagen. Brauchte sie mal wieder den väterlichen Rat? Björn war mitten in der Nacht los, um einen Hasen zu schießen, da er Appetit auf Hasenbraten gehabt hatte. Als Jäger und Vorsitzender der Kreisjägerschaft hatte er das Privileg, das zu tun, wann immer er wollte. Deshalb war ihre Gefriertruhe voll mit geschossenem Zeug, angefangen bei Fasanen bis zum zerteilten Wildschwein und jeder Menge Hasen, die einmal sehr kuschelig gewesen waren.
Katja hasste dieses ganze Getier. Besonders hasste sie, es zuzubereiten. Überall im Haus roch es nach altem Blut. Oft hatte sie das Gefühl, ihr Ehemann stank selbst schon nach den toten Viechern. Ansonsten sah er noch immer gut aus mit seinen 42 Jahren: volles dunkles Haar, blaue Augen, der Körper durchtrainiert bis zum letzten Muskel, kein Gramm Fett zu viel. Sie hingegen hatte in den 20 Jahren Ehe ein paar Kilo zugelegt, war jedoch noch sportlich aktiv, Mitglied im Turnverein und passionierte Schwimmerin. Der Größenunterschied der Eheleute von zehn Zentimetern fiel heute mehr auf als damals, was Katja aber wenig interessierte.
Die Häuser im Schlingenkamp im Ortsteil Sythen waren zu beiden Seiten weihnachtlich geschmückt. In fast jedem Vorgarten befand sich eine beleuchtete Tanne, und in den Bäumen und Sträuchern hingen Lichterketten. In den Fenstern schimmerten ebenfalls Lichter, Schwippbögen taten ein Übriges. Auch ihre Töchter, acht und neun Jahre alt, waren fleißig gewesen und hatten ihre Bastelwerke überall im Haus angeklebt.
Der Fußweg zum Friedhof tat Katja gut, langsam beruhigte sie sich. Trotzdem war sie gefrustet. Mit eisiger Miene kam sie vor der Familiengruft der Eltern zum Stehen. Ein imposantes Grabmal, das größte und schönste im Umkreis. Sie hatte ihren Eltern, besonders ihrem Vater, viel zu verdanken und deshalb auch nicht an der Bestattung gespart, ordentlich was locker gemacht von ihrem Erbe. Wäre ihr Papa, der damalige Aufsichtsratsvorsitzende eines Großkonzerns, zu Lebzeiten nicht so großzügig gewesen, würden sie heute nicht in dem wunderschönen Haus sitzen.
Sie bückte sich, wischte mit einem Taschentuch den Schnee von den goldenen August-Buchstaben und gab ihrem Vater mal wieder Recht. Er hatte sie vor Björn gewarnt, als sie ihn, kaum 20 Jahre alt, angeschleppt hatte. Ein Hallodri sei er, ein Egoist, ein Taugenichts und Weiberheld. Katja hatte ihm widersprochen, schließlich ging Björn einer soliden Arbeit bei den Wasserwerken nach, und auch gegen sein Hobby, die Jagd, konnte man nichts Schlechtes sagen. Schnell war sie jedoch dahintergekommen, dass er seine zarten Jägergriffel nicht von fremden Weibern lassen konnte. Mehrmals hatte sie ihm ein Ultimatum gestellt, hatte gefordert, es entweder zu unterlassen oder seine Koffer zu packen und das Weite zu suchen. Er hatte jedes Mal klein beigegeben, ihr das Blaue vom Himmel versprochen, sie verwöhnt, wie er gemeint hatte, mit allerlei geschossenem Wild und heißen Küssen.
Seit einigen Jahren war Ruhe gewesen. Wäre sie in der vorigen Woche nicht im Salon Gertrud gewesen, um sich eine neue Frisur verpassen zu lassen, wüsste sie noch immer nichts von seinem Verhältnis zu Ines, der kleinen blonden Ines, die ihre Zähne kaum auseinander bekam. Aber das musste sie bei Björn auch nicht. Es reichte ihm, wenn er Reden hielt. Ines brauchte er für etwas ganz anderes.
Diese zarte Ines arbeitete ausgerechnet in der gleichen Sparkassenfiliale wie Katja. Mehr als einmal hatte sie sich seit letzter Woche gefragt, ob bereits über sie getuschelt wurde. Was hatte dieses blonde Fliegengewicht, was sie nicht hatte?
Katja befreite nun auch den Namenszug der Mutter vom Schnee. Bei »Anna« ging es schneller. Sie hatte es auch nicht leicht gehabt, ihre Mutter, hatte ständig vor August kuschen müssen. Obwohl, in ihren letzten Lebensjahren – sie verstarb vor 11 Jahren, ein Jahr nach dem Gatten – hatte sie sich nicht mehr so viel gefallen lassen, oft gegen ihren dominanten Ehemann aufbegehrt. Von ihrer Freundin Hedwig aus dem Kirchenchor hatte sie Tipps vom Allerfeinsten bekommen. Katja war überzeugt, dass ihre Mutter, würden ihre Eltern noch leben, längst Reißaus vor August genommen hätte.
Tränen liefen Katja über die Wangen, während sie leise »Macht hoch die Tür« sang.
»Sag schon, Papa, was soll ich machen? Gib mir ein Zeichen!« Sie trat wütend gegen die schwere Messinglaterne, unter der ihr Vater die ewige Ruhe gefunden hatte.
Es war, als würde sie seine sonore Stimme vernehmen. »Das weißt du doch wohl am besten. Du bist schließlich meine Tochter und nicht dumm.«
Eine große Krähe flog kreischend tief über die Gruft und hinterließ genau auf dem Grabmal ihre Hinterlassenschaft, die, kaum im Schnee eingesunken, zu dampfen anfing. Katja deutete das als klares Zeichen. Sie trocknete ihre Tränen, straffte die Schultern und ging nach Hause.
Die Sache war anders gelaufen, als Holger Goretzki gedacht hatte. In seinem Sack hatte er den perfekten Knüppel verstaut, den er Björn über den Kopf ziehen wollte. In aller Frühe, noch in der Dunkelheit. Doch dann kam alles anders …
Gestern Abend hatte er Björn angerufen, wollte ein wenig schön Wetter machen beim Vorsitzenden der Jägerschaft. Ihm war es sowieso ein Rätsel, wieso bei der letzten Wahl ausgerechnet wieder Björn das Rennen gemacht hatte und zum ersten Vorsitzenden gewählt worden war. Wieso nicht er, Holger? Er wäre, als Schießobmann und Schatzmeister des Hegerings, für den Posten viel prädestinierter als dieser Schmachtlappen. Schließlich hatte er seinen Jagdschein schon seit 2003, wogegen Björn seinen ersten Schein erst 2012 gelöst hatte. Auch beruflich hatte Björn es besser getroffen als Holger, war die Karriereleiter ständig höhergestiegen, während Holger bei der Gelsenwasser AG immer noch der kleine Popel war. Das war nicht gerecht, fand er. Schon allein, wie Björn wohnte. Ein Traum von Haus, in dem er mit seinen Lieben lebte, während er sich mit einer kleinen Dreizimmerwohnung begnügen musste.
Gut, Björns Katja stammte aus wohlhabendem Hause, hatte einen schönen Posten in der örtlichen Sparkasse, während seine Manuela in der Obstabteilung bei Edeka zwischen Kartoffeln und Möhren schuftete und sie trotzdem auf keinen grünen Zweig kamen. Seine beiden Söhne waren faul wie Brot und hangelten sich auf der Hauptschule von Schuljahr zu Schuljahr. Wenn sie ihn mit offenen Mündern anstarrten und frühestens beim zweiten Mal kapierten, was ihr Vater von ihnen wollte, musste er seine Hand oft bei sich behalten, um ihnen nicht einen Schlag an den Hinterkopf zu verpassen, damit das Hirn endlich anspränge. Die kleinen Björn-Töchter waren echte Überflieger, lernten Klavier und besaßen ein Pony. Das war nicht gerecht!
Trotzdem wollte er am gestrigen Abend ein paar Pluspunkte sammeln und hatte Björn angerufen. Ein wenig Small Talk, nach der Gattin gefragt, nach den Kindern, und ihm vom letzten Schießgruppentreffen berichtet, das jeden zweiten Montag im Monat stattfand. Dann ganz mutig ihn um ein Karnickel oder einen Vogel angebettelt. »Wann gehst du mal wieder jagen? Kannst du mir nicht einen schönen Hasen oder einen Fasan mitbringen?« Bereits als er die Worte ausgesprochen hatte, hatte er sie bitter bereut. Hatte er echt gehofft, Björn würde ihm etwas schenken?
»Morgen früh will ich los. Ich habe Appetit auf einen Hasenbraten, obwohl die Truhe voll ist. Frischfleisch schmeckt jedoch besser«, hatte Björn zunächst gesagt, dann aber draufgesetzt: »Deine Manuela bekommt doch bei Edeka Prozente. Soll sie da einen Hasen kaufen.« Mit einem dreckigen Lachen hatte er grußlos aufgelegt.
Holger hätte sich in den Hintern beißen können. Wie konnte er sich bloß so erniedrigen lassen? Dieser Drecksack! Das war außerdem nicht rechtens, was der liebe Vorsitzende da trieb, ohne Absprache loszuziehen und zu schießen, was ihm vor die Flinte kam. Holger hatte sich vorgenommen, das bei der nächsten Vorstandsitzung zur Sprache zu bringen. Jawohl!
Nach einer durchwachten Nacht – die Wut hatte Holger nicht schlafen lassen – war er im Morgengrauen aufgestanden und hatte beschlossen, Björn aufzulauern. Die Stellen in Haltern, an denen der freche Kerl sich bediente, kannte er. Björn hätte ihn, den Schießobmann Holger, bitten können, mitzukommen. Was war das bloß für ein Kollege? Geht so Verein? Der schoss sich, was er wollte, und ließ die anderen leer ausgehen. Das war bestimmt nicht im Vereinssinne und so auch nicht erlaubt, ohne jegliche Absprache.
Wie Knecht Ruprecht war Holger sich vorgekommen, als er durch den dunklen Winterwald stapfte, nachdem er sein Auto am Hotel Seehof geparkt hatte. Knecht Ruprecht mit seinem Sack in der Hand, in dem der herrliche Knüppel steckte, würde es Björn Bergjohann zeigen. Den Schädel würde er ihm einschlagen.
Waidmannsheil!
Ines Hüsgen schwebte monatelang auf Wolken, wähnte sich in einer Liebesschmonzette. Wenn sie in seine blauen Augen schaute und sein verschmitztes Lächeln sah, glaubte sie ihm alles, was er ihr erzählte. Dagegen war ihr Ehemann Benno, mit dem die zarte, blonde 35-Jährige seit zehn Jahren zusammen war, kalter Kaffee. Was hatte sie nur an ihm gefunden, diesem furztrockenen städtischen Beamten, damals, als sie sich im Fundbüro der Stadtverwaltung nach ihrem verschwundenen Fahrrad erkundigen wollte und ihm gegenüberstand? War es die Zuverlässigkeit, diese solide Art, die er ausstrahlte, der große blonde Mann mit der Schmalztolle, die ihm tief ins Gesicht fiel? Gegen ihren Geliebten Björn wirkte Benno wie ein großer Bär.
Björn war klein und schmal, jedoch total durchtrainiert. Sie hatte ihn beim Joggen am Halterner Stausee kennengelernt. Er war ihr mit seiner smarten Jägeruniform über den Weg gelaufen, war quasi aus dem Unterholz gekrochen. Wie süß, hatte sie gedacht, der kleine Jäger aus Kurpfalz. Sie waren ins Gespräch gekommen, hatten sich anschließend immer wieder im Wald getroffen, zuerst nur zu Spaziergängen, später auf Hochsitzen. Während die knospenden Bäume ihren Duft verströmten und die Amseln fröhlich sangen, hatte er ihr zarte Worte ins Ohr und ganz woanders hin geflüstert. Die Grübchen in seinen Pfirsichwangen hatten sie einfach verzaubert.
Doch bald reichten ihr diese schnellen Nummern auf den Hochsitzen im Halterner Wald nicht mehr, und die abendlichen Telefonate kamen ihr immer gehetzter vor. Sie wollte mehr. Wollte weg vom biederen Fundbüro-Benno, hin zu Björn, wollte den kleinen Jäger ganz für sich. Obwohl Björn sich ständig über seine burschikose Katja beschwerte, die Ines in der Sparkasse direkt gegenübersaß, unternahm er trotz vieler Versprechungen nichts, um sich von seiner Familie zu trennen, von dieser angeblich langweiligen Bande. Er bat Ines um Geduld und Verständnis, schenkte ihr laufend frisch geschossene Hasen und Fasane, die vor lauter Ekel bei ihr zu Hause in der Biotonne landeten, bevor Benno sie fand.
Bald, bald würde er die Familie verlassen, vielleicht schon zum Fest, versprach er ihr an einem grauen Novembertag hoch oben auf dem Hochsitz. Als sie ihn fragte, ob sie sich nicht mal woanders treffen könnten, in einem schönen Hotel vielleicht, wo es warm und kuschelig war, knurrte er nur: »Zu teuer!« Ihr Zuhause schied von vornherein aus, da sie mit Benno und mit ihrer Oma zusammenwohnte.
Nachts im Traum spürte Ines die starken Arme von Björn, den zärtlichen Mund, sehnte sich nach ihm, konnte nach solchen Träumen nicht mehr schlafen und saß am nächsten Tag entsprechend müde ihrer Nebenbuhlerin gegenüber. Diese schwärmte von Weihnachten, von ihren tollen Töchtern und von ihrem Mann Björn. Eine intakte Familie und ein gemütliches Heim seien das A und O. Wieder einmal machte sie das kinderlose Dasein von Ines nieder. Oft war Ines kurz davor, ihr alles zu beichten, die flotten Nummern mit ihrem Ehemann, die jahreszeitlich bedingt gar nicht so flott waren, die Sprüche, die er über seine »Alte« abließ, und dass er sie bald verlassen wollte. »Schau doch mal in den Spiegel, du ungepflegte Kuh«, wollte sie ihr zurufen, beherrschte sich jedoch.
Der erste Advent verstrich und nichts geschah. Eine Verabredung ließ er platzen, weil er für seine Liebsten Geschenke kaufen wollte. Ja, ging es noch? »Du brauchst keine Geschenke, wenn du noch vor dem Fest ausziehen willst«, warf sie ihm an seinen winzigen Kopf.
»Tja, das ist nicht so einfach«, druckste er herum. »Lass mir Zeit«, jammerte er wieder, wie ein Bittsteller.
Als er sie am zweiten Adventswochenende erneut versetzte – diesmal hatte er ihr versprochen, sich mit ihr im Hotel Seehof zu treffen und es sich ganz gemütlich zu machen –, wurde ihr klar, dass er seine Katja niemals verlassen würde und sie nur hinhielt. Die Zimmerrechnung durfte sie auch noch bezahlen. Dieses Schwein! Ihre Cousine Gretel, die Einzige, der sie sich anvertraut hatte, grinste nur, als sie ihr davon erzählte. »Er kann seine Familie nicht verlassen, du Dummchen. Die Villa und das Vermögen gehören seiner Frau. Er wäre eine arme Sau, würde er gehen und sich für dich entscheiden. Wache auf, Ines!«
Ja, sie wachte auf, spät, aber nicht zu spät. Das sollte sein Todesurteil sein, schwor sie sich. So etwas machte er mit ihr nicht! Nicht mit Ines Hüsgen!
Am dritten Advent stand sie besonders früh auf, zog sich warm an, als sie nach draußen in den frisch gefallenen Schnee blickte, und machte sich auf zur Westruper Heide. Sie wusste, dass Björn dort in der Nähe immer Hasen schoss. Nur ein einziges Mal hatte er sich in der letzten Woche gemeldet, ein Treffen sei ihm wegen der vielen Termine momentan nicht möglich. Plätzchen backen mit den Kindern, Gefriertruhe abtauen, Weihnachtskarten schreiben.
Ines schäumte vor Wut und ließ den Plan, den sie sich in der schlaflosen Nacht zurechtgelegt hatte, bei einer Tasse Kaffee und Spritzgebäck reifen. Benno und Oma schliefen noch.
Auf geht’s, sagte sie sich eine halbe Stunde später, nachdem sie im Keller nach einem bestimmten Werkzeug gesucht hatte. Schreiten wir zur Tat.
Halali!
Benno Hüsgen war geduldig. Sehr sogar. Doch irgendwann war auch bei ihm Schluss mit lustig. Dachte seine Ines etwa, er würde nichts merken? Nicht merken, dass sie ein Verhältnis mit diesem Jägerwürstchen hatte?
Manchmal muss man eben Dinge tun, die große Opfer bedeuten. Als er sich dem bewusst wurde und Pläne schmiedete, ging es ihm besser. Wenn alles vorbei war, sagte er sich, würde sein kleines Blondchen endlich auf dem Boden der Tatsachen landen und wieder gefügiger werden. Diese Aufmüpfigkeit passte nicht zu ihr. Was war sie am Anfang ihrer Ehe für ein kleines Schäfchen gewesen, stets hatte sie auf ihn gehört, seine Ratschläge beherzigt. Hatte sie nicht ein gutes Leben? Er kümmerte sich um alles, erledigte die Einkäufe und den Papierkram, Oma kochte und versorgte den Haushalt. Im Frühjahr hatte er noch gedacht, sie sei glücklich, doch bald hatte er sich eines Besseren belehren lassen müssen. Oft starrte sie verträumt in die Gegend, putzte sich besonders hübsch heraus. Dann verschwand sie immer häufiger von der Bildfläche, angeblich fuhr sie zu ihrer Cousine Gretel oder zu Sabine, ihrer schnatterigen Kollegin. Dreimal die Woche ging sie joggen und wollte ihn nicht dabei haben. Sie sagte, sie brauche ihre Ruhe. Im Bett verweigerte sie sich ihm, da sie angeblich müde war oder Migräne hatte.
Kinder, ihr fehlten ein paar Kinder, meinte sein Fundbürokollege Bastian. Das gab Benno Aufschwung. Ja, das war die Lösung: Kinder! Er wollte sein Vorhaben gleich in die Tat umsetzen, da die Oma noch munter war und ordentlich zur Hand gehen konnte. Doch Ines trotzte seinen Verführungskünsten, wies ihn immer wieder ab.
Eines Morgens am Küchentisch, er feierte Überstunden ab und beobachtete den geilen Schafbock, der mit seinem Harem munter auf der Wiese des Nachbarn graste. Der hat es gut, dachte er neidisch und feilte an einem Konzept, wie es ihm gelingen könnte, seine Ines zurückzugewinnen.
Die Adventszeit rückte näher, ganz Haltern war bereits festlich geschmückt. Die Oma hatte die hübsche Wohnung ebenfalls in ein Weihnachtsparadies verwandelt. Ach, so eine Oma war Gold wert, dachte er. Eigentlich brauche ich diese keifende Ines nicht, zu der sie sich entwickelt hat. Doch diesem Blödmann den Weg freigeben und ihm seine Ines überlassen? Niemals, dachte er, und der Kampfgeist in ihm erwachte.
Noch ein einziges Mal versuchte er es im Guten. Am Abend vor dem zweiten Advent bereitete er Ines einen besonders schönen Abend. Gab Schweinefilet bei Oma in Auftrag und befahl ihr, vor dem Essen in ihr Zimmer zu verschwinden. Er stellte Sekt kalt und eine Schale mit Trüffeln, die Ines so gerne aß, bereit. Genervt und geistesabwesend verspeiste sie die leckere Mahlzeit, fragte nach Oma und starrte wieder in die Gegend. Dem kleinen Geschenk, einem silbernen Schutzengel, würdigte sie nur einen kurzen Blick und legte es lieblos auf den Tisch. Als er ihr aus dem Harry-Potter-Buch – sie war ein großer Fan von diesem Zauberlehrling – vorlesen wollte, rastete sie völlig aus, und er musste sich eingestehen, dass er verloren hatte.
Sollte er Björn zum Duell auffordern? Nein, in der heutigen Zeit gab es andere Möglichkeiten. Und wieso sollte er sich der Gefahr aussetzen, selbst draufzugehen? Es reichte, wenn der Jägersmann von der Bildfläche verschwinden würde. Dann wäre alles okay.
In ihm reifte das Vorhaben, Björn zu beseitigen. Wie es danach mit Ines weiterging, lag ganz an ihr. Wenn sie sich ihm nicht wieder zuwendete, sollte sie ihrem Björn eben folgen, dafür würde er dann sorgen …
Erich lief durch das heftige Schneetreiben. Was zog ihn einen Tag vor dem Fest auf den Friedhof?
Er hatte seinen alten Golf aus der Garage geholt, war zum Einkaufen gefahren und hatte anschließend die Waren ins Haus getragen. Dort hatte ihn ein Geistesblitz getroffen. Von einer inneren Macht gelenkt war er zum Hauptfriedhof nach Buer gefahren, hatte seinen Wagen an der Trauerhalle geparkt und war losgelaufen, den Hauptweg immer geradeaus. Nicht rechts zum Grab seiner geliebten Roswitha, nein, er wollte zu Monika, seiner alten Jugendliebe, mit der er vor seiner Ehe ein Techtelmechtel gehabt hatte. Er hatte sie abgöttisch geliebt und verehrt, doch sie hatte sich für seinen Zechenkumpel Alwin entschieden. Er hatte Alwin lange nicht mehr gesehen, auch keinen Wert darauf gelegt. Nachdem beide in Ruhestand gegangen waren, hatten sie sich aus den Augen verloren, obwohl sie nicht weit voneinander wohnten. Erich hatte ihm nie verziehen, dass Monika ihm den Vorzug gegeben hatte. Es hatte damals nicht lange gedauert, und er hatte beim Karneval in der Eckkneipe seine Roswitha kennengelernt. Hauptsächlich aus Trotz hatte er sie schnell geehelicht.
Sein Lodenmantel war inzwischen total durchnässt, der Schnee fraß sich geradezu in den Stoff, der Hut war schwer vor Nässe. Er hatte das Grab, in dem Monika ruhte, erreicht. Alles vom Feinsten, ein teurer Grabstein mit goldglitzernden Buchstaben, Lampe und Vase aus schwerer Bronze, wogegen seine Holde nur in einem Reihengrab beerdigt worden war. Mehr war nicht gegangen.
Plötzlich spürte er ein Atmen in seinem Nacken.
»Erich«, sprach ihn jemand an. Einfach nur »Erich«, mehr nicht.
Ohne sich umzudrehen, wusste Erich, um wen es sich handelte.
»Alwin.«
»Wie lange ist es her?«
»Ich weiß nicht!«
»Was willst du am Grab meiner Frau?«
»Ist ein öffentlicher Friedhof. Ich kann hingehen, wo ich will.«
»Bei dem Wetter?«
»Du bist doch auch hier.« Erich drehte sich endlich um und sah in ein gelbliches, wächsernes Gesicht. Der macht es nicht mehr lange, dachte er. Wann hatten sie sich zuletzt gesehen? Vor drei oder gar vier Jahren? Beim Einkaufen hatte er ihn mal getroffen, kurz nach der Pensionierung. Alwin wollte damals einen Kaffee mit ihm trinken, doch Erich hatte ihm nur den Stinkefinger gezeigt und war weitergegangen.
Schweigend standen die beiden alten Männer vor dem zugeschneiten Grab.
»Sie hat immer nur dich gewollt, die Monika«, sagte Alwin irgendwann und legte eine Rose auf das Grab. »Wenn sie dich irgendwo traf, konnte ich mir tagelang Lobeshymnen über dich anhören.«
»Sie hat sich für dich entschieden und das war gut so. Ich habe mit meiner Frau eine gute Ehe geführt. Okay, unsere Kinder waren keine Senkrechtstarter, und auch heute machen sie mir noch Kummer. Aber was soll ich machen?«
»Unsere Söhne haben beide promoviert, tragen ihre Nasen hoch und kennen die Eltern nicht mehr. Meinst du, das ist besser?«
Wieder minutenlanges Schweigen.
»Ich habe Monika damals belogen. Habe ihr Lügen über dich erzählt, wollte, dass sie dich vergisst. Doch noch auf dem Sterbebett hat sie deinen Namen geflüstert.«