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Als der Pfarrer der St.-Michael-Kirche in Ückendorf ermordet aufgefunden wird, werden bei Jens Eigenhardt unliebsame Erinnerungen wachgerüttelt. Gemeinsam mit seinen drei besten Freunden hatte er sich geschworen, niemals über das zu sprechen, was damals in der Sommerfreizeit 1985 im Bergischen Land geschah. Doch was, wenn einer der drei Freunde etwas mit dem Tod des Pfarrers zu tun hat? Gemeinsam mit Hobbydetektivin Margareta begibt Jens sich auf die Suche nach der Wahrheit.
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Seitenzahl: 371
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Margit Kruse
Opferstock
Kriminalroman
Die Verschworenen Als der Pfarrer der St.-Michael-Kirche in Ückendorf ermordet aufgefunden wird, werden bei Jens Eigenhardt unliebsame Erinnerungen wachgerüttelt. Gemeinsam mit seinen drei besten Freunden hatte er sich geschworen, niemals über das zu sprechen, was damals in der Sommerfreizeit 1985 im Bergischen Land geschah. Doch was, wenn einer der drei Freunde etwas mit dem Tod des Pfarrers zu tun hat? Gemeinsam mit Hobbydetektivin Margarete, der er zufällig während seiner Nachforschungen in Lieberhausen begegnet, begibt Jens sich auf die Suche nach der Wahrheit. In Jens scheint Margareta ihren Mr. Stringer gefunden zu haben. Von ihm ins Gemeindeleben eingeführt, lernt sie nicht nur seine Freunde samt Partner, sondern auch die alte Pfarrhaushälterin Gesine sowie die nervigen Chorfrauen Lisbeth und Gudrun kennen. Doch auf Margaretas Verdächtigenliste steht auch der damalige Herbergsvater, der auf einem einsamen Hof im Bergischen Land sein Dasein fristet und von ihr in die Enge getrieben wird. Obwohl sich die gläubige Gemeinde im Vertuschen übt, kommt Margareta dem Geheimnis auf die Spur und bringt sich dabei selbst in Gefahr.
Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis »Eisaugen«, »Zechenbrand«, »Hochzeitsglocken« und »Rosensalz«. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben zahlreichen Beiträgen in Anthologien hat sie bislang neun Bücher veröffentlicht, darunter einen Roman, der für den Literaturpreis Ruhr 2009 nominiert war. Labrador Enja ist stets dabei, wenn Margit Kruse sich auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Die Autorin ist Mitglied im SYNDIKAT sowie im Verband deutscher Schriftsteller.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Rosensalz (2016)
Wer mordet schon im Hochsauerland (2015)
Hochzeitsglocken (2014)
Zechenbrand (2013)
Eisaugen (2011)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © emscherbild / fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5512-4
Übrigens: Dieser Roman spielt unter anderem in einem Ortsteil von Gelsenkirchen, nämlich in Ückendorf. Viele Gebäude und Einrichtungen dort sind real. Die St.-Michael-Kirche jedoch, mit ihren umstehenden Gebäuden und Grünanlagen, ähnelt zwar einer tatsächlich existierenden Kirche in diesem Ortsteil, ist aber dennoch ein Fantasiegebilde von mir. Ebenso existiert zwar das Naturfreundehaus Käte Strobel, die Vorkommnisse in der Vergangenheit gab es jedoch nicht. Es handelt sich hier um nichts weiter als um einen Roman, die Personen sind erfunden, der Plot ist fiktiv.
Der absolute Albtraum saß hämisch grinsend am Lagerfeuer und wühlte mit einem Stock in den Ascheresten zu seinen Füßen. Er saß da und starrte in die Flammen in der Mitte des Feuers. Hin und wieder suchte er meinen Blick, fixierte mit seinen Rosinenaugen meine Lederhose und leckte sich über seine wulstigen Lippen. Der bärtige Herbergsvater neben ihm stimmte auf seiner Gitarre das letzte Lied für diesen Abend an.
Abend wird es wieder,
über Wald und Feld
säuselt Frieden nieder
und es ruht die Welt.
Ja, wieder wurde es Abend. Die dunkle Nacht würde sich über unser Ferienlager legen. Wie Blei auf meiner Seele. Das fröhliche Lachen der Jungen würde verstummen, ausgelassen rannten gleich alle in ihre Zimmer, um wenig später nach einem anstrengenden Tag in süße Träume zu versinken.
Säuselt Frieden nieder, hatten sie lautstark gesungen. Nein, für mich würde kein Frieden niedersäuseln. Wenn die Welt ruhte wie in dem Lied, würde sich die Tür des Krankenzimmers leise knarzend öffnen, und er würde hereinkommen, würde vor mein Bett treten und die Frage stellen, die er jeden Abend stellte: »Na, geht es dir schon besser?«
Ich würde wie immer sagen: »Ich bin gar nicht krank. Warum kann ich nicht bei den anderen Jungen schlafen?«
Der Mond würde einen schwachen Schein durch die Vorhänge auf ihn werfen. Er würde seinen ekeligen Bademantel öffnen und antworten: »Bald kannst du wieder zurück in den Schlafsaal. Wenn du gesund bist. Erst muss ich dich noch behandeln. So eine Behandlung dauert seine Zeit.«
Tränen würden mir über mein Gesicht laufen.
»Ich will nicht behandelt werden«, würde ich betteln. »Bitte, bitte, nicht so schon wieder!«
Rücksichtslos, unter heftigem Stöhnen, würde dieses Ekel das tun, was er schon des Öfteren getan hatte. In dem dunklen Krankenzimmer, fernab der anderen Jungen.
Warum kam mir niemand zu Hilfe?
Keiner würde mir glauben, sagte er, wenn ich ihm androhte, es zu erzählen.
Gehässiges Lachen folgte.
»Wem würde man glauben? Du kleiner Narr!«
»Friede sei mit euch«, stand auf dem grünen Behang über dem Altar. Margareta seufzte spöttisch, setzte sich auf die Holzbank in der ersten Reihe der Bunten Kerke in Lieberhausen. Diese Dorfkirche aus dem 11. Jahrhundert wurde durch ihre besondere Deckenmalerei berühmt, hatte sie draußen auf der Hinweistafel gelesen.
»Alles klar, das ist genau das, was ich will, Frieden, nichts als Frieden«, sprach sie zu sich selbst und schaute die bunten Ornamente an der Decke an.
Lieberhausen! Lieberhausen im Oberbergischen Land, bei allen Gelsenkirchenern allein schon durch das damalige Landschulheim bekannt. Auch Margareta war vor drei Jahrzehnten in den Genuss einer solchen Klassenfahrt gekommen. Zähneknirschend hatte ihr Vater die 65 Mark dafür lockergemacht. An diesen kleinen Ort Lieberhausen erinnerte sie sich nur ungern, denn genau in diese Kirche führte sie der sonntägliche Kirchgang damals, steil bergauf, ungefähr drei Kilometer von dem Landschulheim entfernt.
Und was will ich heute hier?, fragte sie sich. Frieden finden? Nicht wirklich. Wieder einmal begleitete sie ihre Mutter auf einen Ausflug. Diesmal handelte es sich allerdings um eine abgespeckte Reise, denn auch die Kirche musste sparen. Ein klappriger Kleinbus des günstigsten ortsansässigen Unternehmens kutschierte 20 Frauen der Kirchengemeinde aus Buer-Erle für 20 Euro inklusive Mittagessen und regionaler Kaffeetafel hier ins Bergische Land. 100 Kilometer fernab von ihrer Heimatstadt. Ihre Mutter Waltraud hatte sie überreden können, daran teilzunehmen. Mutters Freundin Monika, arm wie eine Kirchenmaus, die diese Fahrt schon bezahlt hatte, war erkrankt, und damit die Karte nicht verfiel, war Margareta eingesprungen.
Nein, es war kein Déjà-vu. Diese Ausflugsfahrt war nicht zu vergleichen mit der Tagesreise vor drei Jahren nach Bad Sassendorf. Sie musste lächeln. Zwischen alten Leuten saßen damals der Schönling Simon von Brehden und die steinreiche schmuckbehangene Brigitte. Als sie heute Morgen vor der Kirche in den Bus stieg, dachte sie im ersten Moment, das Armenhaus aus Lönneberga aus der TV-Serie »Michel aus Lönneberga«, in dem die Alten und Erwerbslosen ein erbärmliches Dasein fristeten, unternehme einen Ausflug. Eine Horde in tarnfarbenen Klamotten quälte sich in die alte Karre, um einen Platz in diesem muffigen, nach Diesel stinkenden Gefährt zu suchen. Der urige Busfahrer grinste nur, duftete vor sich hin und sagte nichts. Wahrscheinlich war seine Aussprache nicht die beste. Der damalige Busfahrer hatte witzige Anekdoten erzählt, und sie hatten »Lustig ist das Zigeunerleben, faria, faria, ho«, gesungen. Vor Scham wäre sie damals am liebsten unter den Sitz gekrochen. Heute konnte sie darüber nur schmunzeln.
Ihr Blick ging wieder zur Decke. Bunte Engel mit langen Flöten huschten um den lieben Gott herum. In der rechten Ecke riss ein Ungeheuer, halb Pferd, halb Wolf, das Maul weit auf, um darin wohl böse Menschen verschwinden zu lassen.
»Pah, Friede sei mit euch!« Margareta schüttelte den Kopf.
Anstatt sich weiterhin das Geschnatter der alten Frauen um Waltraud anzuhören, hatte sie sich in diese Kirche verzogen. Sie musste zugeben, dass diese Ruhe für ihre Ohren eine wahre Wohltat war. Okay, das Essen im Landgasthof Reinhold war lecker gewesen, die Atmosphäre urig, eben so, wie man sich einen Landgasthof vorstellte. Zarte Lendchen, die Pfifferlinge samt Soße hervorragend, die Röstis handgemacht und der Salat spitzenmäßig. Ihr gegenüber hatte Waltraud gesessen und den beiden anderen Damen am Tisch im Beisein ihrer Tochter erzählt, was diese aber auch immer für ein Pech mit den Männern hätte. Sie wäre ja schon mit einem Verbrecher liiert gewesen, dann mit einem polnischen Migranten und mit einem Heiratsschwindler. Zuletzt lebte sie mit einem Kommissar zusammen, der sich hatte versetzen lassen. Jetzt sei sie wieder auf der Suche, verkündete sie lautstark in den Raum. An einem Tisch in der Ecke saß eine Gruppe Vertreter, wie Margareta nach einem Blick aus dem Fenster auf sechs identische schwarze Luxuskarossen mit dem gleichen Firmenlogo vermutete. Außerdem sahen sie vertretermäßig aus und benahmen sich auch so. Die gesamte Gruppe starrte sie, die mit offenem Mund wie eine Debile dasaß, an und taxierte sie ab. Da half auch Margaretas wütender Einwand »Halt doch einfach die Klappe, Waltraud« nichts mehr. Die mit am Tisch sitzende mausgraue Anna Bienert mit ihrem Pferdegebiss sowie die ihr gegenübersitzende Elfriede Urban mit ihren Altersflecken im Gesicht zuckten zusammen. Sie hatten Angst vor der frechen Margareta, was unschwer zu erkennen war. Wer weiß, was Waltraud den beiden Frauen schon über sie erzählt hatte. Am liebsten hätte Margareta Anna Bienert mit dem Kopf in ihren Sauerbraten gedrückt und so lange gewartet, bis ihr dieses dumme Grinsen verging.
So entschied sie sich gegen die Wanderung zur Aggertalsperre und suchte die gegenüberliegende Kirche auf. Ein wahres Idyll, dieses Dörfchen mit dem romantischen Kirchplatz. Leise knarrend öffnete sich plötzlich die Tür. Margareta hörte Schritte, die näherkamen. Ihr Herz schlug schneller. Würde einer dieser Vertreter sie auf ihre weiblichen Qualitäten hin testen wollen? Hier mitten in der Kirche? Langsam drehte sie sich zur Seite und schaute in ein freundliches Männergesicht. Fast schon engelhaft erschien ihr dieser Mann in dieser frommen, Ehrfurcht gebietenden Umgebung. Neutraler heller Regenmantel trotz herrlichen Sommerwetters. Die Hände in die Taschen gestopft, grüßte er freundlich. Seine halblangen mittelblonden Haare waren gelockt, seine Augen blau, sein Mund wohlgeformt. Er sah weder verweichlicht noch männlich herb aus. Irgendwie wirkte er neutral.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken, tut mir leid.« Er setzte sich neben sie auf die alte Kirchenbank und starrte auf den Altar.
»Hallo! Ich habe mich tatsächlich erschrocken und dachte schon, mich verfolgt einer dieser komischen Vertreter, die drüben im Gasthof abgestiegen sind.« Margareta betrachtete sein ebenmäßiges Profil. Zum Glück keine Geiernase oder ein Fliegerkinn. Sah ganz normal aus, der Kerl. Gleichzeitig schimpfte sie sich einen Narren. Dumme Kuh, war doch völlig egal, wie er aussah. Mit Männern bist du doch wohl durch. Ob schön oder schäbig, irgendwie haben sie alle eine Macke. Nach dem Ende der Liebesbeziehung mit dem schönen Kommissar Stefan Kornblum trug sie sich ernsthaft mit dem Gedanken, sich mit einer Frau zusammenzuschließen. Frauen waren ordentlich, machten keine Probleme im Haushalt, die meisten jedenfalls nicht. Na ja, da wäre noch der Sex. Sex mit einer Frau konnte sie sich bisher so gar nicht vorstellen. Doch sind nachts nicht alle Katzen grau?
»Haben Sie Probleme mit Vertretern?«, holte der freundliche Mann sie in die Gegenwart zurück.
»Nein, nein, heute beim Mittagessen gafften die nur so dämlich, da dachte ich, mir wäre einer von ihnen gefolgt.«
Der Regenmantelmann lachte. Ein sympathisches, freundliches, nicht anbaggerndes Lachen.
»Nein, ich leide nicht an Verfolgungswahn. Bin eigentlich psychisch stabil, momentan jedoch etwas angeschlagen, was mich bewog, mit meiner Mutter und ihren unmöglichen Bekannten einen Ausflug hierher zu unternehmen. Nichts gegen Lieberhausen, hier war ich als Kind schon mal, doch irgendwie hatte ich andere Vorstellungen.« Margareta zuckte zusammen. Was labere ich diesen fremden Mann voll? Geht es noch?
»Ich war als Kind auch schon mal hier, 1985, auf einer Kirchenfreizeit im Käte-Strobel-Haus. Mein Name ist übrigens Jens Eigenhardt.« Immer noch freundlich lächelnd reichte er ihr die Hand.
»Margareta Sommerfeld.«
Es folgte eine Zeit des Schweigens, in der beide nach vorne zum Altar schauten.
»Wieso hatten Sie andere Vorstellungen? Der Ort und auch die Umgebung sind doch zum Relaxen einfach hervorragend geeignet. Bleiben Sie länger?«
»Nein, es ist schon sehr romantisch hier, doch stehe ich momentan nicht auf Romantik. Nachdem meine Mutter und ihre Bekannten mich beim Mittagessen so vollgeblubbert haben, ist mir die Lust auf eine Wanderung vergangen. Nachher geht es wieder zurück gen Heimat. Und Sie?« Margareta wollte nicht neugierig sein. Es interessierte sie jedoch, was dieser Mann hier wollte.
»Ich bleibe noch bis morgen. Habe mich für drei Tage in der Herberge eingemietet, um alte Erinnerungen aufzufrischen. Na ja, auffrischen ist nicht der richtige Ausdruck. Sagen wir, alten Erinnerungen nachzugehen.«
»Ich hoffe doch guten Erinnerungen?«, hakte Margareta nach.
»Nein, leider keinen guten. Aber das ist eine lange Geschichte. Ich will Sie nicht langweilen.« Jens schaute Margareta fragend an. Was wollte er hören? Vielleicht: »Ich habe Zeit, legen Sie schon los!«
Ihr Blick blieb an seinem hellen langen Regenmantel hängen. Sie fragte sich, woher er dieses gute Stück hatte. Ein Erbstück seines Vaters? Wer läuft denn in seinem Alter – sie schätzte ihn auf höchstens 40 Jahre – so herum? Schlimm genug, dass die Alten sich ab einem gewissen Alter in Tarnfarben hüllten. Nichts mehr mit bunt und frisch, ausgenommen ihrer Mutter Waltraud, die sich noch immer farbenfroh kleidete. Ob die Senioren zum 65. Geburtstag ein Schreiben irgendeiner zuständigen Behörde bekamen, die ihnen mitteilte, dass sie sich ab dem soundsovielten nur noch in Klamotten in gedeckten Farben zu hüllen hatten? Beige, Schilfgrün, Lebergrau, Kotbraun führten die Hitliste der Seniorenfarben an.
»Lassen Sie mich raten? Ihre Frau, eine Sandkastenliebe, mit der Sie damals auf dieser Kirchenfreizeit waren, hat Sie verlassen, ist mit dem Küster ihrer Kirchengemeinde durchgebrannt. Nun wollen Sie herausfinden, ob damals vielleicht schon irgendetwas darauf hingedeutet hat, dass sie Gefühle für diesen Küster, der natürlich damals noch ein Kind war, gehegt hatte. Ist es so?« Margareta hoffte, dass er Humor hatte und das Gesagte als Scherz auffasste.
Er sah sie jedoch todernst und etwas verwirrt an. »Nein, so ist es nicht. Ich war nie verheiratet. Der Küster unserer Kirchengemeinde ist mein bester Freund, glücklich verheiratet und war damals tatsächlich mit auf dieser Freizeit.« Nun musste er doch schmunzeln. »Sie haben aber auch eine Fantasie!«
Geschockt starrte Margareta ihn an. »Sie sind tatsächlich Kirchgänger? Natürlich streng katholisch erzogen und haben deshalb kein passendes Gegenstück gefunden. Angefangen hat ihre Kirchgängerkarriere als Messdiener. Süßer Junge im Wahnsinnsoutfit, Kesselchen schwingend, sonntags in der Kirche. Oh Mann.«
Jetzt musste Jens schallend lachen. »Was ist schlimm daran, in die Kirche zu gehen? Ja, ich war Messdiener. Allerdings habe ich kein Kesselchen geschwungen. Sie sind also Atheistin?«
»Nein, wie kommen Sie darauf? Immerhin zahle ich Kirchensteuer und bin heute sogar mit auf einem Kirchenausflug. Das ist doch schon was, oder? Ich wurde getauft und konfirmiert. Bin allerdings ebenfalls nicht verheiratet und zurzeit überzeugter Single. Nach etlichen Pleiten habe ich keine Lust mehr auf eine Beziehung.«
»Mir waren die Frauen bisher immer zu oberflächlich«, sinnierte Jens und schaute nach vorne zum Altar.
»Was machen Sie beruflich?« Noch ehe er antworten konnte, stand für Margareta fest, dass er Lehrer von Beruf war. Irgendwie strahlte er etwas Lehrerhaftes aus. Sie hatte schon einmal Bekanntschaft mit einem Lehrer geschlossen und eine Nacht mit ihm verbracht. Dieser Kerl war ähnlich in seiner Art. Jens war allerdings etwas feiner.
»Ich bin Lehrer an einer Gesamtschule in Gelsenkirchen.«
Margareta lachte. »Ich wusste es. Dass Sie Lehrer sind, meine ich. Dass Sie aus meiner Heimatstadt stammen, natürlich nicht.«
»Ach, Sie kommen auch aus Gelsenkirchen?«
»Ja aus Buer, genauer gesagt, aus Buer-Erle. Ich lebe in dem Wohnturm einer alten Zechensiedlung.«
Jens blickte sie erfreut an. »Ich wohne auch in einer Zechensiedlung. Sagt Ihnen ›Flöz Sonnenschein‹ etwas?«
Margareta zuckte zusammen. Hatte sie es doch vermutet. Er wohnte hinter dem Rhein-Herne-Kanal. In einem der Stadtteile hinter dem Kanal zu wohnen, war für sie mehr als schrecklich. Schon als Kind hatte man ihr eingebläut, dass es sich um eine minderwertige Gegend handeln würde. Die dortigen Verwandten wurden äußerst ungern besucht, und jedes Mal, wenn Margareta damals im Auto des Vaters den Rhein-Herne-Kanal überquerte, zitterte sie vor Angst. Umgekehrt fühlen sich sogar noch heute die Leute, die hinter dem Kanal wohnen, von den arroganten Bueranern hochnäsig behandelt. Okay, Buer war fast Stadtrand und verfügte über wesentlich mehr Grünanlagen und Parks als der Süden Gelsenkirchens, doch mussten die Stadtteile hinter dem Kanal deshalb nicht schlecht sein.
Trotzdem hatte Jens ab dem Moment für sie einen Makel.
»Sie wohnen in Ückendorf«, stellte sie nüchtern fest.
»Ist das etwas Schlimmes?«, wollte er wissen.
»Irgendwie schon. Doch auch das ist eine längere Geschichte.«
Von draußen hörte sie plötzlich das Geschnatter der alten Leute, die wohl von der Wanderung zurück waren und sich in den Gasthof stürzten, wie sie durch die schmalen Kirchenfenster erkennen konnte.
»Ich muss dann mal da rüber. Im Reisepreis ist nämlich die Bergische Kaffeetafel enthalten, und die kann ich mir nicht entgehen lassen. Obwohl es mir schon davor graut, mit meiner Mutter und den alten Frauen am Tisch zu sitzen und mich belehren zu lassen. Schade, ich hätte gerne noch mehr erfahren, von wegen Vergangenheitsbewältigung.«
»Ich wollte auch noch einen Tee trinken, bevor ich zurück zum Käte-Strobel-Haus laufe. Keine Angst, ich werde Ihrer Mutter keinen Anlass geben, Ihnen Verhaltensregeln zu erteilen, dass man sich nicht von fremden Männern ansprechen lässt, zum Beispiel.«
Margareta musste lachen. »Und wenn schon, was soll’s. Darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an.«
Von ihrem Platz an dem Vierertisch der Gaststube konnte sie Jens an der Theke sitzen sehen. Auch er hatte sich eine Waffel bestellt und trank dazu Tee. Sein Ungetüm von Mantel hatte er an die Garderobe gehängt. Darunter trug er einen roten Pulli und Jeans. Sein liebes Lächeln verfolgte sie regelrecht. Magisch angezogen ging ihr Blick immer wieder zu ihm hin. Er musste ein toller Pädagoge sein, so unaufdringlich und einfühlsam, wie er war.
Elfriede Urban aß ihre Bergische Waffel, die mit heißen Pflaumen, Eis und Sahne serviert wurde, mit einem Teelöffel und bekleckerte sich ihre braune Bluse von oben bis unten. Anna Bienert schlürfte den Kaffee so laut, dass Margaretas Ohren klingelten. Als sie dann auch noch lächelnd Flatulenzen vom Allerfeinsten in den Gastraum verströmte, hatte Margareta die Faxen dicke. Die Krönung war jedoch, was Waltraud sie nun auch noch fragte.
»Gretchen, was schaust du denn den Mann dort hinten an der Theke so an? Hast du noch nicht die Nase voll von Männern? Suchst du schon wieder ein Abenteuer?«
Bienert und Urban kicherten daraufhin dämlich. Das brachte bei Margareta das Fass zum Überlaufen. Schließlich ließ sie sich nicht vor diesen alten Weibern zum Affen machen. Was zu viel war, war einfach zu viel.
»Weißt du was, Mutter? Ich habe den Kerl eben kennengelernt und werde die Nacht mit ihm verbringen. Hier im Gasthaus. Du musst also allein mit den Versehrten nach Hause fahren. Schönen Tag dann noch.« Wütend stand sie vom Tisch auf, schnappte sich ihre Tasche und verließ den Gastraum. An der Theke fragte sie die Chefin des Hauses nach einem freien Zimmer und überschlug gleichzeitig ihre Barschaft. Ungefähr 80 Euro würden sicherlich für eine Nacht in diesem Etablissement reichen, hoffte sie. Und als hätte sie es geahnt, hatte sie sich am Morgen für diesen Weekender als Tasche entschieden, in dem immerhin ein Slip zum Wechseln, ein frisches T-Shirt, Handtuch, Zahnbürste, Kamm und Bürste Platz fanden.
Die nette Dame schaute immer wieder in ihren Planer, dann auf die Wand mit den Zimmerschlüsseln. »Oh, das wird ein Problem. Ich habe kein Einzelzimmer mehr frei. Was machen wir denn da bloß?« Und schon war sie in der Küche verschwunden, wo sie wild gestikulierend mit ihrem Mann sprach.
Kaum zurück, kam folgender Vorschlag. »Nur noch das Hochzeitszimmer wäre frei. Das kostet die Nacht 86 Euro. Ich könnte Ihnen da vielleicht preislich entgegenkommen«, druckste sie herum.
Margareta überlegte. 86 Euro für eine Nacht und nur, weil ihre Mutter sie mal wieder genervt hatte?
»Wie weit könnten Sie mir entgegenkommen? Was würde ein Einzelzimmer für eine Nacht kosten?«
»50 Euro.«
»Na ja, dann sagen wir 55 Euro für das Hochzeitszimmer?« Margareta schaute die Gastwirtin bittend an.
»Okay, weil Sie es sind«, sagte sie nach kurzem Überlegen und reichte Margareta, die inzwischen neben Jens auf dem Barhocker Platz genommen hatte, den Schlüssel.
Wird verdammt knapp, dachte Margareta noch.
»Sie könnten es auch im Käte-Strobel-Haus versuchen. Dort kostet eine Nacht, soviel ich weiß, 35 Euro«, meinte Jens.
»Nachher haben die nichts mehr frei. Nein, ich bleibe lieber hier im Gasthof. Könnten Sie mich vielleicht morgen mit zurück nach Gelsenkirchen nehmen?«
»Ja klar, kein Problem.« Jens schien darüber richtig erfreut zu sein. »Was war denn los?«
»Ach, das alte Thema, meine Mutter meint, mich noch wie ein Kind behandeln zu können. Morgen hat sie sich wieder beruhigt und wird vor lauter schlechtem Gewissen sogar meine Zimmerrechnung bezahlen.«
Jetzt musste Jens lachen. »Und wir machen uns einen netten Abend bei einem Gläschen Wein.«
Schmollend zog Waltraud Sommerfeld mit ihren ältlichen Freundinnen wenig später naserümpfend an ihrer Tochter vorbei. Diese war inzwischen mit Jens Eigenhardt per Du und kippte sich einen Kräuterlikör in den Hals, als sie endlich den klapprigen Bus davonfahren hörte. »Nie wieder mache ich einen Ausflug mit meiner Mutter! Nie wieder!«
Die Wirtin schaute immer wieder verstohlen zu Margareta und Jens herüber. Margareta ahnte, was sie dachte. Sie hoffte, dass Margareta diesen schnuckeligen jungen Mann nicht mit in das Hochzeitszimmer nehmen und es mit ihm in dem Baldachinbett treiben würde.
Das Lokal leerte sich, einige Hausgäste kamen zum Abendessen herunter, die Gruppe der Vertreter aß in einer Ecke des Gastraums und hatte Spaß an den Anekdoten ihres Vertreterlebens, die sie der Reihe nach zum Besten gaben. Margareta dachte kurz darüber nach, sich auch etwas zum Abendessen zu bestellen, verwarf den Gedanken jedoch sofort wieder. Ihr fielen die Butterkekse in ihrer Tasche ein. Sie wollte nicht schon wieder ihre Scheckkarte benutzen und ihr Konto überziehen. Und von Jens einladen lassen wollte sie sich auch nicht. Da es so ein schöner Abend war, verzogen die beiden sich nach draußen vor die Gaststätte und setzten sich an einem gemütlichen Tisch, der an den Kirchplatz grenzte, unter einen Baum. Ein wahres Idyll hier draußen. Kein Verkehrslärm, nur Natur.
»Was für ein aufregender Tag«, seufzte Margareta, während sie einen kräftigen Schluck aus ihrem Weinglas nahm. Ein eisgekühlter Rosé war genau das Richtige an diesem lauen Sommerabend.
»So, nun mal zurück zur Vergangenheitsbewältigung. Wieso bist du hier? Warum nimmst du Urlaub, um dich in dieser einsamen Gegend umzusehen? Was ist 1985 passiert?« Sie sah in sein nettes Gesicht, hing regelrecht an seinen Lippen. Sie wusste inzwischen einiges aus seinem Lehrerleben, was genau er unterrichtete, und dass er allein in seinem Elternhaus lebte, seit die alten Herrschaften in eine Seniorenwohnung gezogen waren. In der Siedlung wohnten auch seine drei Freunde, ebenso stark mit der Kirche verbunden wie er. Von sich hatte Margareta wenig preisgegeben. Dass sie Damenoberbekleidungsverkäuferin war und dringend nach Veränderung suchte, hatte sie ihm erzählt. Von ihrer Hobbydetektivinnentätigkeit, die ihr zweimal fast das Leben gekostet hatte, wusste er noch nichts.
»Tja, wenn ich das so genau wüsste. Vor einigen Tagen ist unser Pfarrer ermordet in der Sakristei der Kirche gefunden worden, und das lässt mir einfach keine Ruhe mehr.«
Margareta verschluckte sich an ihrem Wein und rief laut über den Kirchplatz: »Nein! Echt? St.-Michael-Kirche in Ückendorf? Das habe ich in der Zeitung gelesen und im Radio gehört!«
»Nicht so laut«, mahnte Jens. »Die schauen schon alle zu uns herüber.«
»Das darf nicht wahr sein. Dieser Fall geht mir seit Tagen nicht mehr aus dem Kopf, und da treffe ich dich, in der Einöde, der in der Sache recherchiert.« Margareta konnte es nicht fassen. Jens mit dem Engelsgesicht wurde ihr immer sympathischer.
»Was ist denn so Besonderes daran? Andere würden mich für verrückt erklären. Ich habe es auch noch niemandem gesagt.«
»Nun muss ich dir mal was erzählen. Damit gehe ich auch nicht hausieren.« Und schon legte sie los und berichtete ihm von ihren Ambitionen, Licht ins Dunkel von Mordfällen zu bringen. Nichts ließ sie aus. Sie fing mit dem Eisaugenmann an und endete mit der toten Frau unter ihrem Schlafzimmer sowie der entführten Inge.
Jens saß mit offenem Mund da und lauschte ihren spannenden Schilderungen. So eine Frau war ihm noch nie begegnet. Hier saß sein Gegenstück, eine Frau, die ihn verstehen würde. Oh welch ein herrlicher Tag, fand er und orderte für beide, trotz Margaretas Protest, eine große Schinkenplatte.
Während Margareta in dem Frühstücksraum des Landgasthofs saß und sich mit Blick aus dem Fenster an frischen Brötchen und duftendem Kaffee labte, ließ sie den letzten Abend noch einmal Revue passieren. Wie toll sie sich unterhalten hatten, Jens und sie. Sie schwammen auf einer Welle, waren beide begeisterungsfähig, was die Aufklärung des Mordes an dem Pfarrer betraf. Wie kleine Kinder bei einem Detektivspiel diskutierten sie über Verdächtige und deren Motive. Irgendwie musste der Mord mit der damaligen Kirchenfreizeit im Jahre 1985 zusammenhängen. Übrigens, die erste Freizeit des Pfarrers, der zu dem Zeitpunkt neu in der Gemeinde war. Jens und seine drei Freunde waren dabei gewesen. In dieser Woche wollte der Pfarrer zu einer letzten Sommerfreizeit mit den Kommunionkindern aufbrechen. Wieder hätte sie der Weg nach Lieberhausen ins Käte-Strobel-Haus geführt. Wenige Tage vorher wurde er ermordet in der Sakristei der St.-Michael-Kirche gefunden. Was war damals passiert? Auch Jens wusste keine Antwort darauf. Er zuckte nur mit den Schultern und sah sie mit seinen bergseeblauen Augen an. Gegen 23 Uhr – sie waren die letzten Gäste draußen auf dem heimeligen Platz zwischen Lokal und Kirche gewesen – verabschiedeten sie sich voneinander. Er hatte sie an sich gezogen und kurz umarmt, anschließend mit seiner rechten Hand über ihre Haar gestrichen. Diese zarte Geste, die Berührung eines Engels, wie sie fand, ließ sie zusammenzucken. Vor wenigen Stunden kannte sie diesen Mann noch gar nicht, und nun hatte sie einen Freund gefunden. Und auch noch einen Gleichgesinnten. Einen »Mister Stringer« hatte sie sich schon immer gewünscht.
Er hatte sich abrupt umgedreht, die Hände, feine, gepflegte Hände, in die Taschen seines unmöglichen Mantels gesteckt und war regelrecht davongeschwebt, zurück zum Käte-Strobel-Haus. Immerhin fast drei Kilometer Fußmarsch durch einsames Gebiet.
Sie ging anschließend hinauf in ihr Hochzeitszimmer, hörte auf dem Gang Lachen, das aus einem der gegenüberliegenden Räume kam, und schmiss sich müde in das dunkelgrüne nostalgische Baldachinbett mit den neckischen Gardinen an den Seiten. Sogar ein Spiegel war unter dem Himmel des Bettes angebracht.
An Schlaf war jedoch nicht zu denken. Margareta dachte an Jens. Wie gerne hätte sie in diesem Bett in seinen Armen gelegen und seiner wohlklingenden Stimme gelauscht. Sie hegte dabei jedoch keinerlei erotische Gedanken. Dabei wäre es doch nicht unüblich in so einer Situation, im Himmelbett liegend in den Spiegel an der Decke schauend, an Sex zu denken. Sie dachte allerdings nur an Wärme und Geborgenheit. Dabei war Jens vom Äußeren her ein attraktiver Mann. Oder war er vielleicht doch ein Engel?
Die Wirtin servierte ihr eine Portion Spiegeleier und erkundigte sich, wie sie geschlafen hatte. Eine nette, sympathische Frau, stellte Margareta fest und wechselte ein paar Worte mir ihr. Die Frage, wer denn der Mann gestern Abend gewesen sei, mit dem sie sich so nett unterhalten hätte, ließ sie unbeantwortet. Als die Frau nachhakte, zuckte Margareta nur die Schultern. »Ich weiß auch nicht genau. Ich traf ihn am Nachmittag in der Kirche.«
Als Margareta sich wieder ihrem Frühstück zuwandte, verschwand die Wirtin in der Küche.
Was wollte sie hören? Dass Margareta mit ihm verabredet gewesen war und sie ihn anschließend mit in ihr Baldachinbett gezerrt hat? Wo dachte sie hin? Margareta war eine anständige Frau. Fast immer jedenfalls. Vielleicht war sie ja schon oben im Zimmer gewesen und hat an den Bettlaken geschnuppert, dachte Margareta, mahnte sich aber selbst, auf dem Teppich zu bleiben.
Gerade, als sie herzhaft in ihr Käsebrötchen biss, rief ihre Mutter Waltraud an und machte ihrer Tochter schwere Vorwürfe, wieso sie nicht mit dem Bus zurückgefahren war, wie sich das gehört hätte. Die anderen Frauen wären entsetzt gewesen über ihr Benehmen. Besonders Frau Bienert konnte es nicht fassen, dass Margareta sich einem wildfremden Mann zugewandt hatte und einfach vor Ort blieb.
»Ach Waltraud, das hat doch außer dieser senilen Bienert niemand mitbekommen. Und die soll bloß ihren Schnabel halten und sich um ihre missratenen Kinder und Enkel kümmern. Was findest du eigentlich an dieser alten Betschwester? Und merke dir eins: Ich bin kein kleines Kind mehr.«
»Und dieser Mann, was ist mit diesem Mann?«
»Was soll mit ihm sein? Er nimmt mich nachher mit zurück nach Gelsenkirchen. Jens heißt er. Nein, ich habe nicht die Nacht mit ihm verbracht. Und wenn, dann ginge dich das einen feuchten Kehricht an.«
Als die Vertreter laut redend den Raum betraten, beendete Margareta das Gespräch und kurz darauf ihr Frühstück.
Um zehn Uhr wollte Jens sie abholen, und Margareta war schon gespannt, mit welchem Fahrzeug er vorfahren würde.
Als er wenig später mit einem schlichten dunkelblauen Golf neueren Baujahrs vor ihr hielt, war sie beruhigt. Keine Nobelkarosse, die sowieso nicht zu ihm gepasst hätte, aber auch keine alte Studentenrostlaube.
Er sprang gut gelaunt aus dem Wagen, entriss ihr ihre Tasche und verstaute diese im Kofferraum, begrüßte sie anschließend wie eine alte Freundin mit Küsschen rechts und Küsschen links. Im kleinkarierten Sommerhemd sah er besser aus als tags zuvor. Fröhlich strahlte er sie an.
»Du willst jetzt aber noch nicht zurück, oder? Was hältst du von einer Wanderung?«
Margareta schaute zu ihren neuen Pumps herunter. »Wanderung? Wohin denn und wie weit?«
»Na, das klingt ja total begeistert. Na ja, deine Schuhe scheinen wirklich nicht für eine Wanderung geeignet zu sein. Hat denn deine Mutter nicht gemeckert, als du mit diesen Schuhen gestern in den Bus gestiegen bist? Wir fahren bis zur Aggertalsperre und laufen dort ein paar Meter am Wasser entlang, okay?«
Damit konnte Margareta sich arrangieren. Sie nickte erfreut. Dass ihre Mutter sie tatsächlich getadelt hatte wegen ihrer für einen Ausflug untauglichen Schuhe, verschwieg sie ihm.
Während der Fahrt sprach Jens wenig. Besser als so ein Dauergelaber, fand Margareta und lehnte sich in dem Sitz zurück.
»Ich habe heute Morgen mit einer Dame aus dem Käte-Strobel-Haus gesprochen, und sie erzählte mir, dass der Herbergsvater von damals noch am Leben ist und bei Meinerzhagen wohnt.«
Jetzt war Margareta hellwach. »Der muss ja dann schon steinalt sein. Vielleicht könnte man den mal befragen.«
»Wenn ich wüsste, wonach ich ihn fragen sollte. Ich weiß ja nichts Genaues. Da muss damals was passiert sein, doch meine Freunde hüllen sich in Schweigen. Irgendwas ist vorgefallen. Ich kann mich allerdings nicht mehr genau erinnern. Habe es vergessen oder verdrängt.«
»Du meinst, der Pfarrer hat einen von euch …«
»Ich weiß es nicht. So etwas ist eine schwere Anschuldigung. Du wirst meine Freunde ja kennenlernen. Dann kannst du dir selbst ein Bild machen.«
»Ich soll es wagen, die Kanalbrücke zu überqueren?«, scherzte Margareta.
»Ja, ich dachte, du könntest morgen Abend zum Grillen dazukommen. Bei mir im Garten. Was ist? Hast du Angst? Die sind alle ganz nett. Eine ungezwungene Runde. Jeder bringt was mit.«
»Erzähle mir, was ich noch nicht weiß«, sprach Margareta und setzte sich auf den großen Findling, der direkt am Wasser der Aggertalsperre lag. Mit Mühe war sie den Abhang zwischen den Bäumen mit seinen teilweise unebenen Wurzeln heruntergekraxelt. Wie wunderschön die Talsperre mit dem türkisfarbenen Wasser an diesem Morgen aussah. Wenige Meter weiter hatten es sich einige Jugendliche an dem steinigen Strand gemütlich gemacht, lachten und hatten Spaß. Am anderen Ufer konnte sie kleine Holzhütten mit Bootsanlegern erkennen.
»Oh, da müssten wir ja drei Tage hierbleiben. Sag mir konkret, was du wissen möchtest.« Freundlich sah Jens sie an, krempelte sich seine Hosenbeine hoch, zog Schuhe und Strümpfe aus und watete ins Wasser.
»Warum hast du keine Frau? Hast du schlechte Erfahrungen gemacht?«
»Ich habe die Richtige noch nicht gefunden. Da waren einige, doch bei keiner von ihnen hatte ich das Gefühl, mit der mein Leben verbringen zu wollen. Das waren allesamt oberflächliche Egoistinnen, dumm wie Brot, berechnend und kaltherzig. Was schaust du mich so an? Denkst du vielleicht, ich sei schwul?«
»Nein, denke ich nicht. Und wenn? Was wäre schlimm daran? Okay, du bist gläubiger Katholik. Das hätte schon Probleme gegeben.«
»Meine Eltern hätten sich erhängt, wenn ich einen Mann als Partner angeschleppt hätte.«
»Oh, so schlimm sind die?«
»Nein, nicht schlimm, aber eben streng gläubig.«
»Du bist 40 Jahre alt. Warten die denn nicht, dass du endlich mit einer Schwiegertochter ankommst?«
»Das ist mir egal. Sie bemitleiden mich zwar bei jedem Besuch, ich habe es jedoch aufgegeben, dagegen anzureden und ihnen klarzumachen, dass ich auch allein glücklich und zufrieden bin.«
»Bist du das wirklich? Sehnst du dich nicht mal nach Wärme und Zärtlichkeit? Oder gibt es in der Gemeinde ein paar scharfe Weiber, die du dir gelegentlich mit nach Hause nimmst?«
Jetzt musste Jens lachen.
»Du bist mir eine. So eine Frau wie dich habe ich noch nie kennengelernt. Klar gibt es in der Kirche, besonders im Chor, einige Frauen, die es mir leicht machen würden, ein Abenteuer mit ihnen zu erleben. Doch das gäbe nur Gerede. Außerdem kann ich Sex und Liebe nicht trennen. Da bin ich ganz altmodisch.«
Margareta lachte ebenfalls. »So einem Mann wie du bin ich auch noch nie begegnet. Und wenn einer solche Ansichten vertrat wie du, dann war er entsprechend hässlich.«
»Was ist mit dir? Ich kann mir schon vorstellen, dass es ein Leichtes für dich wäre, einen Mann für eine Nacht aufzugabeln.«
»Du, das habe ich hinter mir. Ein sogenannter One-Night-Stand kommt für mich nicht mehr infrage. Sich mit einem wildfremden Menschen einzulassen, birgt auch ein gewisses Risiko. Man könnte an einen Stalker geraten und wird zeitlebens nicht mehr glücklich.« Nachdem sie dieses ausgesprochen hatte, musste sie lachen. Wie rede ich bloß? Will ich einen guten Eindruck bei Jens hinterlassen? Ich höre mich ja an wie meine eigene Großmutter! Nicht, dass sie bisher eine Verfechterin der schnellen Nummer gewesen wäre, aber was sie da eben gesagt hatte, hörte sich total prüde an.
Jens schien jedoch schwer beeindruckt von dieser Frau, hatte er bisher mit dem weiblichen Geschlecht doch nur Pech im Leben und noch immer nicht die Richtige gefunden. Margareta war zwar nicht katholisch, aber sie schien das Herz auf dem rechten Fleck zu haben. Und das war doch schon mal was. Außerdem war sie ebenso an der Aufklärung des Mordes an Pfarrer Josef interessiert wie er, hatte schon Erfahrungen in Mordermittlungen und sogar mit einem Kommissar zusammengearbeitet, wie sie ihm berichtet hatte. Das gab einen Riesenpluspunkt. Dann sah sie noch unverschämt gut aus. Ein guter Anfang, fand er.
»Mensch, tut das gut.« Er sah auf seine krebsroten Füße und stakste vorsichtig aus dem Wasser. »Solltest du auch mal versuchen. Das Wasser ist zwar kalt, aber es wirkt Wunder. Es weckt die Lebensgeister.«
Ich wüsste wahrlich was Besseres, um meine Lebensgeister zu wecken, dachte Margareta, während sie den durchtrainierten Körper von Jens begutachtete. Da sie jedoch seine Einstellung zu Sex begriffen hatte, versuchte sie, diese zu akzeptieren.
Sie streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und überlegte, was sie zum morgigen Grillen bei Jens beisteuern könnte. Gut, dass ihr noch ein freier Tag beschert war. So konnte sie vormittags die toughe Hausfrau spielen und vielleicht einen tollen Kartoffelsalat zaubern, um die Freunde von Jens, die bald sicherlich auch ihre Freunde werden würden, zu beeindrucken. Mit ihr würden acht Personen anwesend sein, hatte er ihr erzählt.
Sie reichte ihm ihr Hello-Kitty-Handtuch, damit er sich seine Füße abtrocknen konnte. Er bestaunte dieses rosa Kinderhandtuch interessiert und benutzte es ganz vorsichtig.
Gepflegte Füße, stellte Margareta fest. Da hatte sie schon ganz andere Männermauken gesehen. Schmutzige Röhrchennägel, lang wie Blockflöten, waren noch harmlos. Gelbe dickschichtige Hornhaut war weit schlimmer.
Sie setzten sich unter einem Baum in den Schatten und genossen das See-Feeling der Aggertalsperre. Jens erzählte Anekdoten aus seinem Lehrerleben. Er unterrichtete an der Ückendorfer Gesamtschule Religion, Musik und Sport. Sport, daher der tolle Körper, dachte Margareta.
Ihre Gedanken schweiften beim Anblick seines nackten Oberkörpers – er hatte sein Hemd an den nahen Baum gehängt – immer wieder ab. Religion! Er unterrichtete Religion. Schlimm genug, dass er fast täglich in die Kirche rannte, beschäftigte er sich auch noch beruflich mit frommen Dingen. Hatte er denn überhaupt keine körperlichen Gefühle? Kam Gott für ihn an erster Stelle? Einem Mann in den besten Jahren? Er konnte also Sex und Liebe nicht trennen, wie er vorhin gesagt hatte. Also müsste er sich erst in mich verlieben, woraus dann später hoffentlich Liebe werden würde, irgendwann, bevor endlich Sex an die Reihe käme. Mensch, ich bin 43 Jahre alt! Wie lange soll ich noch abstinent leben?
Sie musste an ihren letzten One-Nigth-Stand denken. Tanz in den Mai dieses Jahres. Eine Arbeitskollegin hatte sie mit zu einer Parteiveranstaltung geschleppt, bei der man zu 100 Prozent nicht allein nach Hause gehen würde, wie sie mehrfach betonte. Okay, Margareta ging nicht allein nach Hause. Doch was schleppte sie mit? Ein Ruhrpotturgestein, das die Zähne nicht auseinander bekam. Er nuschelte sie an der Theke voll. Nach drei Stunden Abhängen und auf was Besseres warten sowie einem gewissen Alkoholpegel im Blut war für sie nur noch wichtig, dass er sauber war, nicht stank und einigermaßen aussah. Und das tat dieser Torsten mit der dunklen Wolfgang-Petry-Mähne. Er wäre Fleischereifachverkäufer bei REWE, erzählte er. »Und vom Würste abwiegen und Fleischwolf säubern kann man leben?«, fragte Margareta ihn. »Geht so«, nuschelte er. Sie wunderte sich noch, dass er trotz seiner miserablen Aussprache an der Wursttheke Fleischwaren verkaufte. Doch vielleicht ging das nach der Mitleidstour ab. Die Hausfrauen bedauerten ihn, und so manche Schmierwurst ging zusätzlich über die Theke. Tanzen konnte er erstaunlich gut. Ein regelrechter Disco-Fox-König verbarg sich in der Gestalt des Wurstverkäufers. Sie wunderte sich wohl, dass er bei der Hitze im Saal eine schwarze Strickjacke mit Gürtel trug, die er bis oben zugeknöpft hatte. Zwei Stunden später in ihrer Wohnung wusste sie wieso. Er litt unter Psoriasis, der gemeinen Schuppenflechte.
»Kann ich bei dir vorher duschen? Ich habe Schuppenflechte.«
Nachdem er sich seiner Strickjacke, seiner Hose und seines T-Shirts entledigt hatte, schabte er plötzlich mit den Händen an seinem Körper herum, als hätten ihn 1000 Wespen gestochen. Er würde ihr mit seinen sich lösenden Schuppen die ganze Bude vollstreuseln. Ein Würgereiz vom Allerfeinsten machte sich bei ihr breit. Einigermaßen geistesgegenwärtig antwortete sie: »Du machst dich jetzt ganz schnell vom Acker. Ziehst dich am besten im Treppenhaus an.« Sie packte ihn am Arm, zerrte ihn vor ihre Wohnungstür, schmiss angeekelt seine Klamotten hinterher und donnerte die Tür zu. Anschließend weinte sie die ganze Nacht und fragte sich, wie schlimm es mit ihr gekommen sei, sich so einen geistig minderbemittelten versehrten Wurstverkäufer aufzureißen. So schwor sie sich, nie wieder eine schnelle Nummer für eine Nacht! Recht hatte Jens! Sex und Liebe ließen sich nicht trennen!
Die gelernte Pfarrhaushälterin Gesine Habermüller stand am offenen Kleiderschrank des ermordeten Pfarrers Josef Wolzenburger und begann mit dem Ausräumen seiner Habseligkeiten. Du meine Güte, diese vielen Strickjacken, dachte sie und zog eine nach der anderen aus dem Schrank, nahm sie vom Bügel, schaute sie genau an und packte sie in einen der bereitgestellten Wäschekörbe. In seinem Zuhause, hier im Pfarrhaus, kannte sie ihn nur in diesen Strickjacken, da er auch im Sommer ständig fror. Nun war er tot, drei Monate, bevor er offiziell in den Ruhestand verabschiedet worden wäre, ermordete man ihn in der Sakristei der katholischen St.-Michael-Kirche, in der er 30 Jahre lang Gott gedient hatte. Sie, die hagere Frau mit der grauen Knotenfrisur, war von Anfang an an seiner Seite gewesen. Damals im Jahre 1985, sie war 35 Jahre alt und mit ihrer Ausbildung als Pfarrhaushälterin gerade fertig, wurde sie in Gelsenkirchen eingesetzt. Sie verließ ihr kleines Dorf im Bayerischen Wald und zog in eine Großstadt im tiefen Westen Deutschlands, ins sogenannte Ruhrgebiet. Zuerst wenig glücklich gewöhnte sie sich recht schnell an das Leben hier.
Warum willst du Pfarrhaushälterin werden?, fragten die Freundinnen im Dorf, die alle glücklich verheiratet waren und Kinder hatten. Für Gesine fand sich kein Mann, sie lebte mit über 30 Jahren noch immer auf dem elterlichen Bauernhof und engagierte sich in der katholischen Gemeinde des kleinen Örtchens. Der damalige Pfarrer war es, der ihr riet, Pfarrhaushälterin zu werden. Sie erfüllte alle Kriterien, verfügte über soziale Reife, besaß praktische Erfahrung in der Haushaltsführung, die Fähigkeit, eine freundschaftliche Atmosphäre zu schaffen, und letztendlich zählte ihre positive kirchliche Einstellung. Kurz und gut, sie wurde zur Mittlerin zwischen den Gemeindemitgliedern und dem Pfarrer, was ihr hervorragend gelang. Nun war ihr Chef tot, und die Diözese hatte ihr schriftlich mitgeteilt, dass sie trotzdem, wie vereinbart, bis zum 31.10. im Pfarrhaus bleiben dürfe, um sogenannte Restarbeiten abzuwickeln. Der neue Pfarrer würde keine Pfarrhaushälterin mehr an die Seite gestellt bekommen, da dieser Beruf langsam ausstarb. Egal, sagte sie sich, mir bleiben noch vier Monate. Vier Monate ohne diesen meckernden Schnüffel, Gehalt, Kost und Logis inklusive. Was wollte sie mehr?
Sie würde das schöne Backsteinpfarrhaus von 1894, welches früher ein Minoritenkloster beherbergte, nur ungern verlassen, sie hatte sich hier immer sehr wohl gefühlt in ihrer kleinen Wohnung unter dem Dach, über den privaten Räumen des Pfarrers. Ein kleines Paradies hatte sie sich geschaffen, ein Puppenstübchen vom Allerfeinsten, in das sie selten Besuch ließ. Nur der Küster Jan, der öfters einen Kaffee bei ihr trank, genoss das Privileg, ihren Privatbereich betreten zu dürfen. Ihre Einrichtung war eine Mischung aus Trödel und alten Möbeln im Biedermeierstil. Von ihrem Gehalt, das immerhin 1500 Euro netto im Monat betrug, gab sie wenig für sich aus, gönnte sich stattdessen immer mal wieder etwas für ihre Wohnung. Zu ihrem Monatslohn hatte sie freies Wohnen und gratis Verköstigung. Das hieß, sie bekam Wirtschaftsgeld, wovon sie den Pfarrer und auch sich versorgen konnte. Außerdem durfte sie den Pkw der Gemeinde nutzen. Wer jetzt den Eindruck bekam, Gesine konnte sich auf die faule Haut legen, der lag falsch. Als Schwerpunkt hatte sie sich neben dem großen Haushalt noch um die Chorgemeinschaft zu kümmern, die wöchentliche Chorprobe vorzubereiten sowie den Schreibkram des Chores zu erledigen, wozu ihr ein kleines Büro zur Verfügung stand. Nicht zu vergessen waren die Pfarrhausbesucher, um die sie sich zu kümmern hatte. Also schon ein Fulltime-Job, den Gesine da bekleidete. Aus den, laut Vertrag, 40 Wochenstunden, die sie abzuleisten hatte, wurden meistens mehr.
Sie war die Einzige, die sich erlauben durfte, dem sturköpfigen Pfarrer auch mal den Marsch zu blasen. Oft forderte dieser ihre Meinung regelrecht ein, wollte wissen, wie sie zu dieser oder jener Sache stand. Irgendwie waren sie in all den Jahren zu einer Symbiose geworden. Sie kannten sich, verstanden sich und zankten sich. Wie ein altes Ehepaar. Körperliche Liebe, wie sie oft dieser Pfarrer-Haushälterin-Beziehung nachgesagt wurde, spielte bei den beiden nie eine Rolle.
Obwohl Gesine in jungen Jahren nicht abgeneigt gewesen wäre, dem ständig frierenden Pfarrer auch mal sein Bett anzuwärmen, zeigte er kein Interesse an der nicht hässlichen Frau. Sie fand ihn damals, als er noch nicht aussah wie ein halsloser abgeliebter Teddy, recht ansehnlich.
Und nun war er tot. Die Putzfrau der Gemeinde, Manuela Dopatka, die Frau des Küsters Jan, hatte ihn am frühen Morgen des 13. Juni gefunden.
Gesine fragte sich, wieso sie an einem Samstag vor dem Frühstück zur Kirche laufen musste. War es Neugier, die sie dort hineintrieb? Wollte sie wissen, wieso die Putzfrau kreidebleich aus der Kirche gerannt kam? Oder war es Intuition? Hing es mit dem Albtraum zusammen, den sie in der Nacht davor hatte? Wo sie immer und immer wieder einen Mann hatte schreien hören? Die Kirchturmuhr hatte acht Mal geschlagen, als Gesine auf die Kirche zulief. Den Pfarrer hatte sie an diesem Morgen noch gar nicht gehört oder gesehen, fiel ihr auf. Das Kirchenportal stand offen, und magisch angezogen betrat sie das Gotteshaus. Es roch nach Weihrauch und Moder. Alles war in Ordnung, nichts zu sehen, wieso Manuela erschrocken davongelaufen war. Vielleicht war ihr schlecht geworden? Die Sonne schien durch die bunten Kirchenfenster, alles wirkte friedlich. Nichts war zerstört, nichts deutete auf einen Einbruch hin. Gesine ging durch den Mittelgang bis zum Altar und sah, dass die Tür zur Sakristei offen stand. Musste das etwas zu bedeuten haben? Wieder war es Neugier, die sie in den winzigen Raum trieb. Plötzlich bekam sie es mit der Angst zu tun. Kehr um, sagte ihr eine innere Stimme. Geh frühstücken und halt dich da raus. Eine andere Stimme, eine mutige, meinte, schau nach, was da los ist. Zaghaft steckte sie zuerst den Kopf in den kleinen Raum und ging anschließend ganz hinein. Es war ziemlich dunkel, nur ein winziges Oberlicht spendete etwas Helligkeit. Der große Eichenschrank befand sich auf der gegenüberliegenden Wand. Daran hing ein Priestergewand, ordentlich aufgehängt. Ein Blick nach rechts ließ Gesine erstarren. Dort in der Ecke auf dem Boden lag Pfarrer Josef. Seine offenen Augen waren zur Decke gerichtet, der Mund stand weit offen. Gesines Knie wurden weich, sie rang nach Luft und taumelte ein paar Schritte zurück. Wie gelähmt versuchte sie, ruhig durchzuatmen. Es dauerte einige Zeit, bis sie registrierte, dass ihr Chef tot war. Unter seinem Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet.
Gesines Gedanken überschlugen sich plötzlich. Der Pfarrer tot in seiner Kirche in Ückendorf.
»Was, um Himmels willen, ist hier los? Aus Manuela ist kein Wort herauszubekommen.« Küster Jan Dopatka, der herangeeilt war, fuhr sich mit der Hand durch sein zurückgekämmtes Haar und blickte nervös auf den Toten.