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Das Ruhrgebiet und seine Randgebiete sind ein gefährliches Pflaster geworden, besonders zur Weihnachtszeit. 24 mörderische Geschichten aus dem Pott für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres. Kurzkrimis von Äxten, Wummen, Gürteln, Gift und Wunschzetteln aus den Straßen der Ruhrmetropole. Morgen, Kinder, wird’s was geben: In der besinnlichen Adventszeit wird vergiftet, gemeuchelt und verscharrt, bis der Christbaum die Nadeln verliert. Nicht nur Gänse und Karpfen segnen das Zeitliche.
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Seitenzahl: 396
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Margit Kruse
Advent, Advent, die Zeche brennt
24 WEIHNACHTSKRIMIS
Zimtsternglitzern Das Ruhrgebiet ist ein gefährliches Pflaster geworden, besonders zur Weihnachtszeit. 24 mörderische Geschichten aus dem Pott für die schauerlich-schönste Zeit des Jahres. Kurzkrimis von Äxten, Wummen, Gürteln, Gift und Wunschzetteln aus den Straßen der Ruhrmetropole. Morgen, Kinder, wird’s was geben: In der besinnlichen Adventszeit wird vergiftet, gemeuchelt und verscharrt, bis der Christbaum die Nadeln verliert. In Essen liest ein falscher Nikolaus den Angestellten einer großen Firma die Leviten und gräbt dem richtigen eine Grube. Die letzte Seilfahrt auf der Zeche Prosper Haniel in Bottrop endet für einen Steiger tödlich. „Rücke vor bis zur Schlossallee“, heißt es in Gelsenkirchen beim weihnachtlichen Spieleabend, der böse ausgeht. In Hamm ist eine Zither der Grund für einen blutigen Heiligen Abend, während in Bad Sassendorf Margareta Sommerfeld über Kommissar Blauländer stolpert, der im gleichen Hotel eincheckt und beim Mitternachtsschwimmen ertrinkt. In Bochum wird ein unliebsamer Schwiegersohn mit einem Eidechsenledergürtel erdrosselt und aus dem 4. Stock eines Wohnhauses geworfen …
Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis »Eisaugen«, »Zechenbrand«, »Hochzeitsglocken« und »Rosensalz«. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben etlichen Beiträgen in Anthologien hat sie bislang zahlreiche Bücher veröffentlicht. Labrador Enja ist stets dabei, wenn sich Margit Kruse auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Margit Kruse ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller.
Alle Veröffentlichungen von Margit Kruse im Gmeiner-Verlag finden Sie unter www.gmeiner-verlag.de
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Starpics / stock.adobe.com
und © derProjektor / photocase.de
ISBN 978-3-8392-6136-1
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Ich saß in dem kleinen Büro des leitenden Hauptkommissars des KK11 im Polizeipräsidium Buer und schaute durch den Mann hindurch, der auf mich einredete wie auf einen kranken Gaul. Blödes Büro, klein und schäbig, ganz anders als die Büros von Bella Block und Co. Ein vergammeltes Weihnachtsbäumchen mit kitschig bunter Lichterkette stand auf dem Schreibtisch.
»Lass mich gehen, du Erdenwurm«, hätte ich ihm am liebsten an den winzigen Kopf geschmissen.
Doch er war zäh. Es würde eine lange Nacht werden. Eine lange Heilige Nacht.
»Frau …?«
»Krause. Das sagte ich schon«, fuhr ich ihn genervt an.
»Wohnhaft?«
»Sagte ich auch schon.« Schnaufend leierte ich noch einmal meine Adresse herunter.
»Geboren?«
»Na klar, bin ich geboren. Säße ich sonst hier?«
»Ein kleiner Scherzkeks, was?« Der Hauptkommissar stand auf und lief durch den Raum, knetete dabei sein Kinn. »Erzählen Sie doch mal, wie alles begann!«, forderte er mich auf.
Ja, wie war das damals im Jahre 1965, als ich eingeschult wurde? War sie meine Freundin? Tatsächlich? Inge war aus Resse zugezogen, in die alte Zechensiedlung. Am Einschulungstag setzte sie sich neben mich. Ich schaute sie an, diese magere Gestalt mit den Riesenaugen und der fahlen Gesichtshaut. Renate und Martina gefielen mir besser. Inge war eine Außenseiterin. Sie wohnte bei uns schräg gegenüber. Nachmittags beobachtete ich sie, wenn sie draußen auf der großen Wiese mit ihrem kleinen Bruder spielte und ihn grundlos ohrfeigte.
Der Kommissar blickte gelangweilt auf seine Uhr. Er wollte die Sache abkürzen, mich zu einem Geständnis zwingen, wollte nach Hause zu seinen Lieben, die um den Tannenbaum saßen und auf ihn warteten. Stöhnend setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und goss sich Mineralwasser in ein Glas.
»Was passierte während der Schulzeit?«, fragte er. Er spielte mit einem Radiergummi, der auf dem Schreibtisch lag.
Was sollte ich ihm erzählen? Dass wir recht bald Freundinnen wurden? Beide Außenseiter, die andere ärgerten und ihren Spaß dabei hatten?
Inge wurde immer fordernder, bestimmte, wann was gespielt wurde, wer zu unserem Kreis gehörte und wer unbedingt gemieden werden musste. Ich durfte mit keinem anderen Mädchen befreundet sein. Da verstand Inge keinen Spaß.
Da war dieser dicke Knüppel. Ein Stück Ast, ungefähr 50 Zentimeter lang, an den Enden glatt geschliffen. Kam sie mit Worten nicht weiter, kam ihr Kumpan, der Knüppel, ins Spiel, mit dem sie erbarmungslos zuschlug. Tagelang zierten blaue Flecken meine Knie und ich konnte schlecht laufen. Inge kannte keine Gnade. Mit zusammengebissenen Zähnen und weit aufgerissenen Augen schlug sie von der Seite auf meine Knie, was ihr ein sichtliches Wohlgefühl bereitete. Die nebenstehenden Kinder schwiegen vor Angst. Keine Entschuldigung folgte Inges Schlägen. Nichts. Sie machte irgendwann da weiter, wo sie vor den Schlägen aufgehört hatte. Klar, ich hätte es meinen Eltern erzählen können. Die hatten jedoch andere Sorgen. Es war die Zeit der Zechenschließung. Mein Vater sollte seine Arbeit verlieren. Ich wollte sie nicht mit meinem Kinderkram belasten.
Immer wieder krochen wir zusammen. Ich verzieh ihr jedes Mal, rächte mich verbal, rief ihr aus unserem kleinen Klofenster Schimpfworte hinterher. Dort konnte der Knüppel mich nicht treffen. Ich kannte Inges Schwachstellen, wusste, was ich ihr an den Kopf knallen musste. Wütend schob sie mit dem Knüppel ab, den sie im Stall deponierte, bevor sie das chaotische Haus betrat, in dem sie wohnte. Meistens drehte sie sich auf der großen Wiese noch einmal um und drohte mir, indem sie eine ihrer Hände zur Faust ballte, unter das Kinn hielt und dabei ihre Augen weit aufriss.
»Hatten Sie es geplant?«, holte der Kommissar mich mit seiner Frage aus meiner Zeitreise.
»Nein, natürlich nicht. Sie hat eines Abends an meiner Tür geklopft.«
»Ihre Freundin hat an Ihrer Wohnungstür geklopft? Gab es keine Klingel?«
»Es hat geklopft. Oben an meiner Tür. Es war der erste Advent. Als ich öffnete, stand da ein eigenartiges Männchen. Eine Art Dämon. Ganz fürchterlich sah es aus. Der Teufel persönlich. Das Männchen trug die Gesichtszüge von Inge und hatte das gleiche hässliche Lachen.«
»Und was wollte dieser Beelzebub von Ihnen?« Der Kommissar sah mich an, als hielte er mich für verrückt.
»Das Männchen hat nur gelacht. Es war eindeutig Inges hämisches Lachen. Wut stieg in mir hoch. Ich stürzte mich auf den kleinen Kerl und wollte ihn würgen, klammerte meine Hände um seinen dünnen Hals und drückte zu. Die Kreatur war zäh und quiekte ganz grausam, ähnlich wie ein getretener Hund. Plötzlich war sie weg.«
»Wieso sollte Ihre alte Freundin nach über 40 Jahren auf so eigenartige Weise Kontakt zu Ihnen aufnehmen? Und ausgerechnet am ersten Advent? Hatten Sie sie nach der Schulzeit völlig aus den Augen verloren?«
»Beruflich ging jeder seinen Weg nach der Schulentlassung. Ich war froh, ihren Klauen endlich entkommen zu sein, sah sie gelegentlich mal in der Stadt, habe sie jedoch nicht gegrüßt. Ich wollte nicht an diese Zeit erinnert werden, war froh, sie endlich los zu sein. Hin und wieder hörte ich, wenn ich meine Eltern besuchte, von Nachbarn, was aus ihr geworden war. Es erfüllte mich mit großer Schadenfreude, dass sie viel Pech im Leben hatte. Nicht einen Funken Mitgefühl konnte ich empfinden, als sie mehrmals ihre Arbeitsstelle verlor, ihre Beziehungen scheiterten und sie zwei Mal fast den Löffel abgegeben hat, als sie sehr krank wurde.«
»Und wie ging es dann weiter?«
»Nach einigen Tagen, es war der zweite Advent, hat dieses Männchen wieder an der Tür geklopft. Diesmal hartnäckiger, fordernder. Als ich öffnete, gab es fiepende Laute von sich und kam mir ganz nah ans Gesicht gekrochen. Die Augen glubschten ihm fast heraus, seine Zähne waren gelb, die lange Nase feuerrot. Ich hatte mich, als ich das Hämmern an der Tür vernahm, mit einem Fleischklopfer bewaffnet, den ich ihm nun gnadenlos auf seinen Kopf schlug. Erst auf den Kopf, dann auf die Augen. Wieder und wieder. Ich verspürte keine Angst, mir ging es mit jedem Schlag besser. Das Männchen gab wieder nur Urlaute von sich und verschwand. Schweißgebadet setzte ich mich in meinen Fernsehsessel, um mich zu erholen. Meine Knie schmerzten und brannten.«
Der junge Kommissar konnte das Gähnen kaum mehr unterdrücken und fragte mich, ob es vielleicht nur böse Träume gewesen wären.
Ich verneinte vehement. Was bildete sich dieser Schnösel nur ein?
»Sie hatten also nach der Schulzeit keinen Kontakt mehr zu Ihrer alten Freundin? Über 40 Jahre lang war Ruhe, bis diese Frau in Teufelsgestalt an Ihrer Tür geklopft hat. Ausgerechnet in der Adventszeit. Angerufen hat sie bei Ihnen auch nicht?«
Ich dachte nach. Ja, sie hatte tatsächlich bei mir angerufen, wollte sich mit mir treffen, auf einen Kaffee, um alte Erinnerungen aufzufrischen. Wieso war mir das entfallen? Wusste er davon?
»Kann schon sein. Ich habe sie am Telefon abgewürgt. Null Interesse an einem Wiedersehen hatte ich. Das Kapitel war für mich abgeschlossen. Dachte ich zumindest.«
»Und was war weiter? Klopfte das Männchen noch einmal an Ihre Tür? Vielleicht am dritten Advent? Oder war es eher so, dass Sie an ihrer Tür klopften? Oft ist auch der Wunsch der Vater des Gedanken?«
»Wieso sollte ich an ihrer Tür klopfen?«
Was erzählte dieser Jüngling, der mein Sohn sein könnte, da? Ich sollte bei ihr an der Tür gewesen sein? Der spann.
»Ja, es klopfte einige Tage später erneut an meiner Tür. Es war einen Tag nach dem dritten Advent. Ich hatte einen harten Tag hinter mir und wahnsinnige Knieschmerzen. Mein Orthopäde, bei dem ich an diesem Morgen war, fragte mich, ob ich in der Kindheit mal auf die Knie gefallen wäre oder einen Unfall gehabt hätte. Bisher hatte ich meine Knieprobleme nie in Zusammenhang mit den Schlägen von Inge gebracht. Sollte sie tatsächlich Schuld daran tragen, dass es mir heute so dreckig ging?, fragte ich mich. Wären all die Spritzkuren und Akupunkturbehandlungen gar nicht nötig, wenn es Inge und ihren Knüppel nicht gegeben hätte? Meine Wut schäumte an diesem Abend über. Als es klopfte, bewaffnete ich mich mit einem scharfen Messer aus der Küchenschublade und riss wütend die Tür auf. Da stand das Männchen wieder grinsend auf der Matte, den Inge-Blick voll auf mich gerichtet. Dieses hässliche Grinsen und Grunzen machte mich verrückt. Ich musste dem ein Ende bereiten und stach erbarmungslos zu. Ich zielte auf den Hals, genau auf die Gurgel. Wieder und wieder stach ich auf den hüpfenden Punkt. Ich rammte das Messer tief in den dünnen Hals. Hatte ich gehofft, das Männchen würde blutüberströmt zusammenbrechen, sollte ich mich getäuscht haben. Es wurde grün im Gesicht, stapfte mit den verhältnismäßig großen Füßen, die mit Hammerzehen bestückt waren, auf und verschwand.«
Der Kommissar schlug mit der Faust auf den Tisch. Scheinbar war seine Geduld am Ende. Mit Sicherheit dachte er an die Weihnachtsgans, die zu Hause im Ofen schmorte. Er wischte sich den Schweiß mit der blanken Hand von der Stirn. »Nun ist aber Schluss mit der Märchenstunde. Was geschah wirklich am vierten Advent?«
Märchenstunde? Was wusste er denn?
Geplant? Vorsatz? Ja, oft, wenn ich sie sah, dachte ich, warum lebte dieses Aas noch. Von wegen 40 Jahre nicht gesehen.
Nach mir hatte sie Erika gequält. Ich wusste es und habe nichts unternommen. Als die frisch verheiratete unscheinbare Erika, kaum 19 Jahre alt, in die kleine Wohnung in den Turm der Siedlung zog, lud sie Inge ein. Wieso, habe ich nie kapiert. Wollte sie die Friedensfahne hissen? Inge verzeihen, was sie ihr in Kindertagen angetan hatte? Erika stürzte an diesem Nachmittag aus dem Wohnzimmerfenster ihrer Wohnung im dritten Stock und schlug auf das Kopfsteinpflaster, mitten auf die Fahrbahn. Seitdem saß sie im Rollstuhl. Als ich sie im Krankenhaus besuchte, flüsterte sie nur: »Inge«. Doch Inge hatte angeblich ein Alibi. Ich war felsenfest überzeugt, dass Inge sie aus dem Fenster gestoßen hatte. Alle anderen glaubten die Version, die depressive Erika hätte sich selbst hinuntergestürzt.
»War es nicht eher so, dass Sie an der Tür von Inge klopften und um Einlass baten?«
»Kann schon sein«, antwortete ich ganz in Gedanken.
Meine Gedanken waren bei Petra. Ein Jahr nach Erikas Fenstersturz hatte die magere Petra versucht, sich umzubringen. Angeblich hatte ein Mann sie dazu getrieben. Ein verheirateter Mann, den sie in einer Kneipe in der Resser Mark kennengelernt hatte und der sich einfach nicht scheiden lassen wollte, dieser Penner. Inge, mit der sie seit ein paar Wochen befreundet gewesen war, tröstete sie, brachte ihr selbst gekochte Marmelade, das Einzige, was die magenkranke Petra noch herunterbekam. Pfirsichmarmelade auf Stuten. Inge und kochen? Dass ich nicht lache. Die war täglich zu Gast in der Imbissstube auf der Cranger Straße, um für sich und ihren Frischangetrauten eine Bottroper Schlemmerplatte heimzutragen. Nachdem Petra ein halbes Pfund Stuten mit der Pfirsichmarmelade verzehrt hatte, brach sie zusammen. Eine Nachbarin fand sie und rief den Rettungswagen. Man wollte Petra einreden, sie hätte eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Sie kam für drei Wochen in die Psychiatrie und erholte sich langsam. Aus Angst hatte sie Inge nie verraten. Wochen später hatte sie mir gestanden, dass es die Marmelade war, die ihr fast den Tod gebracht hatte. Sie flehte mich mit irrem Blick an, krallte sich dabei an meiner Bluse fest und heulte, ich möge Inge nicht verraten. So schwieg ich.
»War es nicht so, dass Sie Ihre alte Freundin, die inzwischen in Buer wohnte, am vierten Advent aufsuchten? Sie wollten also keinen Kontakt, hatten sie am Telefon abgefertigt und besuchten sie dann? Wie passt das zusammen?«
»Ich wollte sie fragen, wieso sie in Gestalt eines Teufels bei mir an der Tür geklopft hatte.«
»Und was sagte sie? Hat sie die Besuche zugegeben? Oder hat sie, genau wie ich, an Ihrem Verstand gezweifelt?«
»Ich bin natürlich nicht mit der Tür ins Haus gefallen. Habe erst einen auf schön Wetter gemacht und sie anschließend zu einem Spaziergang überredet.«
»Sie geben also zu, sich mit dem Vorsatz, sich zu rächen, Zugang zu ihrer Wohnung in der Bergmannsglückstraße in Buer-Hassel verschafft zu haben?«
»Nein, Vorsatz würde ich das nicht nennen. Ich wollte sehen, ob sie wirklich bei mir an der Tür gewesen war. Ob sie in der Lage war, ihr Aussehen zu verändern.«
»Und dann haben Sie sich auf den Weg gemacht, um sie von der Brücke auf der Pawiker Straße, die über die A 52 führt, auf die Fahrbahn zu stürzen. Haben Ihre Knie mal wieder geschmerzt?« Sarkasmus pur war seine Frage.
Er machte sich lustig über mich, dieser kleine Furz. Wieso erzählte ich ihm nichts von Erika und Petra? Weil er mir sowieso nicht glauben würde?
»Es war ein richtig schöner Wintertag. Klares Frostwetter. Wir wollten die Brücke überqueren, um den kleinen Nordfriedhof zu besuchen. Da ist es ruhig und abgeschieden, da sich kaum jemand mehr dorthin verirrt. Beerdigt wird auf dem alten Friedhof schon lange nicht mehr. Oben auf der Brücke angekommen, blieb ich stehen. Wir beobachteten den Verkehr, die Autos, die unter uns daherbrausten. ›Weißt du noch, wie wir früher auf unserem Schulweg immer Kreide von der Brücke geworfen und versucht haben, ein Auto zu treffen?‹, fragte sie mich und fing wie eine Irre an zu lachen. ›Du hast die Kreide hinabgeworfen. Du allein. Hattest Spaß, wenn die Autofahrer gehupt haben und ins Schlingern gerieten‹, antwortete ich. ›Na und?‹, sagte sie nur, beugte sich übers frostige Brückengeländer und rotzte hinunter.«
»Und dann? Dann spielten Sie den Racheengel und stießen sie auf die Autobahn?«
»Ja, ich bückte mich, gab vor, mir den Schuh schließen zu wollen, packte ihre immer noch dünnen Knöchel, umklammerte sie und hob die ganze Inge hoch, stieß sie mit aller Kraft übers Geländer. Ich schaute ihr nach, als sie auf einen LKW prallte. Dieses Geräusch, als der Kopf auf dem Dach des Führerhauses aufklatschte. Das werde ich so schnell nicht vergessen.«
»Warum nur? Nur wegen Ihrer Knie? Wegen dieser albernen Knüppelgeschichte? Wegen eines Kinderstreichs?«
»Pah, Kinderstreich! Sie haben ja keine Ahnung, wie es ist, jahrelang gequält zu werden. Körperlich sowie verbal. Nicht zu vergessen, die Sache mit Erika und Petra.«
»Was soll denn das nun wieder? Wer sind Erika und Petra? Wo kommen die plötzlich her?«
Ich schwieg. Es war zwecklos. Er glaubte mir sowieso nicht.
»Frau Krause!«, schrie er mich an. »Was soll das hier? Wollen Sie mit Ihrem wilden Gerede versuchen, auf Unzurechnungsfähigkeit zu machen? Das können Sie vergessen.«
»Ich sag ja gar nichts mehr, habe doch schon gestanden, Inge von der Brücke gestoßen zu haben. Reicht das nicht?«
»So wird das nichts, Frau Krause. Lassen Sie uns eine Pause machen.« Er ging zu seinem Kühlschrank in der Ecke unter der Dachschräge und holte eine Flasche Wasser heraus, nahm ein sauberes Glas und goss mir von der kalten Flüssigkeit ein. Ein Glühwein wäre mir lieber gewesen. Dann sah er mich lange Zeit an.
»Wer also sind Erika und Petra?« Wieder sah er auf die Uhr, stellte fest, dass es fast Mitternacht war. Die Bescherung hatte ohne ihn stattgefunden.
In der nächsten Stunde erzählte ich ihm von den Quälereien, die Inge den beiden Frauen zugefügt hatte.
»Es ging Ihnen also nicht nur darum, sich wegen ihrer Knie an Ihrer alten Freundin Inge zu rächen? Ihre Rachegefühle schlossen auch Erika und Petra gleich mit ein?«
»Nein, ich wollte damit nur unterstreichen, was für eine Person Inge war.«
»Trotzdem war es Mord. Sie werden eventuell mildernde Umstände bekommen. Doch Mord bleibt Mord.«
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte ich ihn und wollte von meinem Stuhl aufstehen, als mein Blick auf einen alten Knüppel fiel, der in der Ecke in einem Schirmständer ein vergessenes Dasein fristete. Ein Knüppel glatt und eben. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm lösen. So lange nicht, bis es an der Tür klopfte.
Herrlich duftendes Spritzgebäck, zart und mürbe, ganz hell. Da konnte eine Frau wirklich gut backen. Natürlich war es eine Frau. Welcher Mann stellt sich an den Fleischwolf und bearbeitet Teig, um daraus Spritzgebäck zu machen? Ein Vollidiot vielleicht. Christian jedenfalls nicht. Er stellte den Zellophanbeutel mit den Plätzchen auf seinen Schreibtisch zu den anderen. Ein blaues Kärtchen klebte daran. Er nahm es in die Hand. »Lass es Dir schmecken, Deine Elke!« Er schnaubte verächtlich. Reicht es nicht, dass sie mir ständig hinterherläuft, um mich mit den unmöglichsten Fragen zu bombardieren? Eine verheiratete Frau, mindestens zehn Jahre älter als ich, dachte Christian und schüttelte verächtlich den Kopf. Singen konnte sie auch nicht. Doch sollte er sie deshalb aus dem Chor werfen? Wäre das christlich?
Sein Blick blieb an einer blauen Dose hängen. Er öffnete sie.
Es gibt Frauen, die sind einfach zu dumm zum Backen. Sie kapieren nicht, dass man die Dinger rechtzeitig aus dem Ofen holen muss, damit daraus keine Acrylamidstangen werden. Fast schon verkohlt tunken sie die dann auch noch in Schokolade oder in andere ekelhafte Glasuren. Igitt! Wer soll die essen? Auch zwischen diesen Plätzchen steckte ein Kärtchen. »Für Christian, den besten Chorleiter der Welt, von Deiner Conni«, war darauf zu lesen.
Noch so ein Früchtchen, dachte Christian. Die dürre Conni mit der Vogelnestfrisur hatte er gefressen. Ihr lautes Organ ließ sogar die Gesangbücher in der Kirche erzittern.
Christian Kompernaß saß in seinem Arbeitszimmer und bestaunte die vielen Tüten, die er soeben mit heimgebracht hatte. Seit Tagen ging das schon so. Wie jedes Jahr zu Weihnachten. Genau genommen seit dem Tag vor langer Zeit, an dem er in geselliger Runde verlauten ließ, dass er Spritzgebäck über alles lieben würde. Von da ab gab es für die Frauen seines Chors kein Halten mehr. Sie buken, was das Zeug hielt und schleppten zentnerweise Spritzgebäck an. Zuerst fanden er und seine Frau Katja das ja noch lustig. Auch seine beiden Töchter Lisa und Nina waren von der Plätzchenflut begeistert und schoben sich in der Weihnachtszeit schon zum Frühstück das Spritzgebäck hinein. Nein, Katja war nicht eifersüchtig auf die Frauen. Das hatte sie auch gar nicht nötig. Christian und sie führten seit zehn Jahren eine glückliche Ehe. Katja war für ihn nach wie vor die Traumfrau. Groß, schlank, dunkelhaarig mit sanften braunen Augen, verstand sie es, ihm heute noch den Kopf zu verdrehen. Als vor sechs und vier Jahren die Mädchen geboren wurden, schien das Glück perfekt. Eitel Sonnenschein im kleinen Häuschen neben der St. Antonius Kirche in Holsterhausen, in einem ruhigen Stadtteil von Dorsten. Große Sprünge konnte Christian als erster Kantor der Gemeinde nicht machen, obwohl er jahrelang Kirchenmusik studiert hatte und ein ausgezeichneter Organist war. Sein Chor war über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. So war es selbstverständlich, dass Katja, nachdem Lisa und Nina den Windeln entwachsen waren, wieder ihrem Lehrerinnenberuf nachging.
Geld war nicht alles, sagte Christian sich mehr als einmal. Innere Zufriedenheit war für ihn wichtiger. Gäbe es da nicht Heike, wäre das Leben noch um einiges angenehmer. Ohne Zweifel hatte Heike seit langer Zeit ein Auge auf ihn geworfen. Bisher war es ihm jedoch stets gelungen, sie abzuwehren, wenn ihre Wünsche über die üblichen Chor- und Gemeindebelange hinausgingen. Bis vor Kurzem hatte er ihr grenzenloses Engagement noch gut gefunden. Sie brachte sich überall ein, half, wo Hilfe gebraucht wurde. Selbst seine Kinder liebten Heike abgöttisch, und waren die Großeltern verhindert, sprang sie öfters als Babysitterin ein. Katja sah es nicht gerne, ja, sie hasste diese neunmalkluge aufdringliche Frau regelrecht. Zumal sie längst durchschaut hatte, was der blinde Christian jahrelang nicht sah oder sehen wollte, nämlich, dass sie scharf auf ihn war. Als Frau war sie allerdings absolut keine Konkurrenz für die gut aussehende Katja. Heike war korpulent, eher unansehnlich und hatte die Haut eines Maishähnchens. Sei christlich, mahnte Katja sich oft, übe dich in Nächstenliebe, die Frau ist einsam. So machte sie oft gute Miene zum bösen Spiel und fragte sich, ob Christian es tatsächlich nicht merkte, was Sache war.
Doch so dumm war Christian nun auch wieder nicht. Langsam kam er dahinter, was Heike wollte. Er nahm die riesige mit Spritzgebäck gefüllte Tafelperle von Tupper – wohlbemerkt Heikes Tafelperle – in die Hand und zog die Stirn kraus. Die war verrückt. Wer sollte diese Menge Plätzchen essen? Er öffnete den stramm sitzenden blauen Deckel und nahm sofort den herrlichen Duft wahr. Sie konnte nicht nur prima singen mit ihrer tollen Sopranstimme, sondern auch backen, stellte er wieder einmal fest. Die Plätzchen, zart und hell, waren an den Ecken mit verschiedenen Glasuren versehen. Er nahm eins davon in die Hand und roch vorsichtig daran. Die Glasur war weiß und durchscheinend. Sonderbar, sagte er sich, muss wohl eine Zitronenglasur sein. Als er das Plätzchen zurücklegte, fiel ihm ein Brief auf, der mitten in dem Gebäck steckte. Er zog den rosafarbenen Umschlag heraus, schüttelte sanft die Krümel ab und öffnete ihn. Ein süßlicher Parfümgeruch stieg ihm in die Nase, als er den Bogen auseinanderfaltete. Aufgeregt begann er zu lesen:
Lieber Christian!
Ich kann nicht ewig warten. Die Zeit läuft, ich werde nicht jünger. Du hast auf meinen letzten Brief nicht reagiert. Wo warst Du am Sonntagabend? Wir wollten uns in der Sakristei treffen.
Deine Heike
Diese dumme Frau. Sie hat echt einen Sockenschuss, dachte er wütend. Stimmt, sie wird nicht jünger. Im Gegenteil, faltig und hässlicher ist sie in letzter Zeit geworden. Ihm fiel der parfümierte Brief von letzter Woche ein, den sie ihm mit zittrigen Händen nach der Chorprobe zugesteckt hatte. Hastig zog er die Schreibtischschublade auf. Er hatte ihn kurz überflogen und sofort in die Lade gestopft, in der Hoffnung, Heike würde in der nächsten Woche wieder bei Verstand sein. Doch weit gefehlt. Nochmals las er den Brief.
Lieber Christian!
Wie toll du heute wieder ausgesehen hast. Der blaue Pullover steht dir wirklich gut. Er passt so gut zu Deinem braunen struppigen Haar. Das macht Dich so jung.
Ich weiß, mein lieber Christian, dass Du um einige Jahre jünger bist als ich. Doch das macht nichts. Ich wirke für meine 45 Jahre noch ziemlich jugendlich, nicht wahr? Meine Haare habe ich lang wachsen lassen, wie Du bestimmt schon bemerkt hast. Normalerweise trägt man sie in meinem Alter kürzer. So komme ich mir ein wenig vor wie ein junges Mädchen, wenn ich vor Dir stehe.
Wie lange kennen wir uns jetzt, Christian? Sind es zehn Jahre? Oder etwa schon länger? Erst heute bringe ich den Mut auf, Dir zu schreiben. Obwohl Worte, ob nun gesprochen oder geschrieben, eigentlich gar nicht nötig sind. Wir beide wissen, dass wir zusammengehören. Wir sind füreinander bestimmt.
Es war wie ein Blitzschlag, als ich Dich damals in deiner Einführungsmesse zum ersten Male sah. Ich wusste, der ist es, für ihn hast du dich so lange aufgespart. Du hast sofort auf mich reagiert. Hast mir in die Augen gesehen und wurdest ganz verlegen. Dann hast Du auf meine Schuhe geschaut. Ich trug an dem Tag meine hellbraunen Waldläufer, weil ich wusste, wie gut sie mir stehen. Danach hast Du mich angesehen und ganz zart gelächelt. Ich wusste jedoch, dass Du noch Zeit brauchtest. Du warst frisch verheiratet, da musste ich Rücksicht drauf nehmen. Alles braucht seine Zeit.
Ich verstehe Deine Botschaften, die Du mir sendest, wenn Du zum Beispiel betont langsam den Deckel der Orgel öffnest und dabei bedächtig schaust. Oder wenn Du den Kopf schief hältst und mich liebevoll ansiehst, wenn Du die schnatternden Frauen während der Chorprobe um Ruhe bittest.
Erst seit Du in der Gemeinde bist, nehme ich an allen Veranstaltungen teil, an denen auch Du teilnimmst. Ich bin treues Chormitglied und auch Presbyterin. Du lobst mich ständig wegen meiner schönen Stimme.
Doch ich kann nicht ewig warten. Gib mir ein deutliches Zeichen, sonst kann ich für nichts garantieren. Komm am Sonntagabend gegen 20 Uhr in die Sakristei.
Deine Dich liebende
Heike
Hätte er dem Brief mal mehr Beachtung geschenkt. Geschmunzelt hatte er darüber, wollte ihn später Katja zeigen. Doch dann kam Besuch und am Abend war die Presbyteriumssitzung. Vergessen war der Brief und die dreiste Heike. Er hatte an einen Scherz gedacht und niemals ernsthaft geglaubt, dass Heike tatsächlich in der Sakristei auf ihn warten würde. Dass sie manches Mal nicht alle Sinne beisammen hatte, war ihm klar, doch ihm nun regelrecht die Pistole auf die Brust zu setzen, war starker Tobak. Er musste mit Katja sprechen, unbedingt. Konnte er Heike weiterhin ignorieren und die Sache einfach aussitzen?
Heike hingegen dachte gar nicht daran aufzugeben. Sie steigerte sich regelrecht hinein, sah sich schon an der Seite des Organisten Christian Kompernaß. Sie schlief nachts schlecht, ihre Gedanken kreisten nur noch um ihn, schlimmer als je zuvor. In der Überzeugung, dass es das einzig Richtige war, ihm diesen Brief zu schreiben, den sie anschließend ordentlich mit Tosca besprüht hatte, schlich sie sich am besagten Sonntagabend in die Kirche. Die schwere Tür war nicht verschlossen und fiel knarrend ins Schloss, als sie das Gotteshaus betreten hatte. Kalte Luft, nach Weihrauch und Moder riechend, schlug ihr entgegen. Sie zog die froschgrüne Sympatexjacke oben am Hals dicht zu. Gut, dass sie ihre karierte Wollhose angezogen hatte, dachte sie noch. Ehrfürchtig schritt sie durch den Mittelgang des erhabenen Kirchenschiffes nach vorne in Richtung Altar. Eine leere Kirche zu später Stunde hatte was, fand Heike und kratzte sich am Kopf. Ihr Haar unter der roten Angoramütze juckte, doch konnte sie nicht schon wieder eine Mittelohrentzündung riskieren, in dem sie die Kopfbedeckung wegließ. Erst vor drei Wochen lag sie mit 40 Grad Fieber zu Bett wegen solch einer Erkrankung. Seitdem nässte ihr rechtes Ohr noch immer und sonderte jede Menge Eiter, samt üblem Geruch, ab.
Ob er schon da ist, fragte sie sich aufgeregt und öffnete die mittlere Tür des Beichtstuhls. Vielleicht sitzt er schon da drin und kann es gar nicht erwarten, bis ich komme, dachte sie. Doch der Beichtstuhl war leer. Sie ging weiter bis zur Sakristei, nahm vorsichtig die Türklinke in die Hand und drückte sie nieder. Ihr Herz schlug wild und sie spürte, trotz der Kälte, Schmetterlinge in ihrem Bauch. Er wird da sein, bestimmt, sagte sie sich. Sicherlich trägt er wieder den blauen Pulli.
Mutig betrat sie den Raum, bediente den Lichtschalter und war enttäuscht, als das Neonlicht aufflackerte. Kein Christian zu sehen. Macht nichts, dann warte ich eben, sagte sie sich und sah sich in dem heiligen Raum um. Sie öffnete den erstbesten Schrank, in dem sich die liturgischen Gewänder befanden. Sie befühlte die edlen Stoffe, staunte über die herrlichen Farben. Der arme Pfarrer, er war in der gleichen Situation wie ich, dachte die aufgewühlte Heike mitfühlend. Auch er hatte keinen Partner, lebte ohne körperliche Liebe. Im Gegensatz zu ihm hat meine Tortur bald ein Ende, war sie sich sicher. Dann, wenn Christian sich endlich zu mir bekennt. Sie wandte sich dem nächsten Schrank zu, der Kelche, Hostienschalen, Leuchter und Kerzen beherbergte. Gierig riss sie das Päckchen mit den Hostien auf und schob sich fünf Stück davon auf einmal in den Mund. Ekelhaft, fand sie, schmecken nach nichts. Dreist entkorkte sie den Messwein und nahm einen großen Schluck, direkt aus der Flasche. Sich ein wenig Mut anzutrinken, war gar nicht schlecht, stellte sie fest und trank kurzerhand die Flasche aus. Anschließend setzte sie sich auf das in der Ecke stehende Sofa und schlug so gut es ging die prallen Beine übereinander. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass es bereits 20.30 Uhr war. Christian, wo bleibst du bloß?, fragte sie sich. Es wurde 21 Uhr, 21.30 Uhr. Kurz vor 22 Uhr gab sie auf und verließ die Kirche. Sie wunderte sich, dass der Küster die Tür noch nicht verschlossen hatte.
Christian, das wirst du mir büßen, schwor Heike sich und lief durch die nebelige Winterluft nach Hause in den Schultenhof. Wehmütig blickte sie dabei in weihnachtlich geschmückte Wohnzimmer.
Als auch am nächsten und übernächsten Tag keine Entschuldigung von Christian kam, keine SMS, kein Anruf, nichts, schwor sie Rache. So nicht, nicht mit mir. Lustlos saß sie an dem niedrigen Tisch mit fünf Kleinkindern zwischen zwei und fünf Jahren und beobachtete Christians Tochter Lisa, die mit Filzstiften in einem Malbuch malte. Sie war das Ebenbild ihrer hübschen Mutter, die gleichen braunen Augen, die gleichen dunklen Haare. Wieso musste dieses Kind ausgerechnet in meiner Gruppe sein, fragte Heike sich. Erzieherin war überhaupt ein blöder Beruf, fand sie, denn außer Erziehen gab es viele Dinge, die sie nicht gerade prall fand. Dazu zählten: Rotznasen abputzen, übel duftende Stinker aus den Hosen holen, heulende, sich am Boden wälzende Blagen beruhigen sowie immer wieder die gleichen Fragen beantworten, wenn sie schlechte Laune hatte. Ihr Blick suchte die kleine Lisa, die mit ihren feinen Fingerchen geschickt malen konnte. Mein Zug ist abgefahren, mir ist es nicht mehr vergönnt, ein eigenes Kind zu haben, dachte sie bitter. Kein Christian, keine Kinder, nichts.
Aus einer irren, wahnwitzigen Idee wurde ein ausgereifter Plan, gesponnen am Abend des dritten Adventsonntags, bei einer Flasche Rotwein. Schon am nächsten Tag wollte Heike ihn in die Tat umsetzen. Wozu auf die lange Bank schieben, sagte sie sich. Schnell war der Fleischwolf an die Küchentischplatte geschraubt und die Backzutaten aus den Schränken geholt. Es konnte losgehen. Gleich nachdem Heike aus dem Kindergarten zurück war, gegen 16 Uhr, begann sie mit ihrer Backaktion. Sie war für ihr herrliches Spritzgebäck bekannt und schon in den letzten beiden Jahren hatte sie Christian eine große Menge dieser Köstlichkeit zukommen lassen.
Nachdem gegen 20 Uhr fünf Pfund Mehl zu Plätzchen verarbeiten worden waren, öffnete sie die Terrassentür und lief mit klappernden Zähnen hinaus in den Garten. Ein Blick auf ihr Außenthermometer verriet ihr, dass zehn Minusgrade herrschten. Sachte fing es an zu schneien. Gab es doch noch weiße Weihnachten? Sie ging, nur in Bluse und Jeans, bis zu der großen Eibe und schnitt einige kleine Zweige ab. Schnell huschte sie zurück in ihr warmes Haus. Unter heißem Wasser wusch sie die Zweige und pflückte ungefähr 50 Nadeln ab, die sie in einen Marmormörser steckte. Um eine Katze den Garaus zu machen, würde eine einzige Nadel reichen, hatte sie neulich erst gelesen. Christian wog sicherlich so viel wie zehn Katzen, schätzte Heike. Mit dem Stößel zerkleinerte sie die Nadeln zu einem feinen Pulver, den sie zu dem Puderzucker in ein kleines Schälchen gab. Obenauf noch einige Tröpfchen Zitronensaft und etwas warmes Wasser. Anschließend alles zu einer Glasur vermischen. In diese tauchte Heike dann böse grinsend genau die Hälften zweier Plätzchen. Auf einem Blatt Küchenpapier sollten die präparierten Kekse nun trocknen. Wenn ich Christian nicht haben kann, soll ihn auch Katja nicht mehr haben. Und wenn eins der Kinder oder gar Katja selbst von den vergifteten Plätzchen essen würden, fragte Heike sich erschrocken. Schnell beruhigte sie sich jedoch wieder und dachte, dass es dann eben so sein sollte. Christian würde, falls eine seiner Lieben eins der beiden Plätzchen erwischte, sehr traurig sein, genau wie ich jetzt. Ich würde ihn jedoch trösten und auf andere Gedanken bringen.
Nach dem Trockenvorgang kamen die Kekse oben auf zu den anderen in die riesige Tafelperle von Tupper.
Diese überreichte Heike Christian gleich am nächsten Abend nach der Chorprobe. Conni und Elke drängten ihm ebenfalls Selbstgebackenes auf und säuselten ihm die Ohren voll, was das Zeug hielt.
»Danke, vielen herzlichen Dank, ganz, ganz lieben Dank.« Christian machte einen kleinen Diener, verbeugte sich noch mal und noch einmal. Man konnte meinen, er freute sich tatsächlich über die Gaben, so übertrieben herzlich, wie er sich dafür bei den Frauen bedankte. Freundlich lächelte er Heike zu, als er eigens für sie ein weiteres »Vielen, lieben Dank« verlauten ließ.
Heike grinste nur und dachte, warte nur ab, mein Freund.
Zu dem Zeitpunkt hatte Christian an den ersten Brief überhaupt nicht mehr gedacht, den er nur flüchtig überflogen und in seine Schreibtischschublade gesteckt hatte.
Nach dem zweiten Brief, der zwischen den Plätzchen steckte, fasste er sich endlich ein Herz und sprach nach dem Abendessen, als die Kinder gerade im Bad waren, mit Katja darüber.
»Mich wundert es nicht, dass sie dir einen Liebesbrief geschrieben hat. Du bist einfach viel zu nett zu ihr«, meinte seine Frau schelmisch grinsend. »Da kannst du dir allerdings nichts drauf einbilden. Heike ist das Allerletzte! Wie sie schon rumläuft.«
»Ich bin zu allen Frauen im Chor gleich nett. Außerdem ist es mir doch egal, wie Heike aussieht. Sie hat eine gute Sopranstimme und das ist das Einzige, was für mich zählt.« Christian hatte von Katja mehr Unterstützung erwartet.
»Na, wie oft du dich mit ihr unterhältst. Wenn sie anruft, bist du gleich zur Stelle.« Katja sah ihn aus braunen Augen wachsam an.
»Man könnte glatt meinen, du bist auf diese arme, von der Natur vernachlässigte Person eifersüchtig. Ich helfe eben, wo ich kann. Das liegt in meinen Genen«, verteidigte er sich.
»Auch, wenn der Fernseher mal nicht läuft? Kein Bild, kein Ton, ich komme schon? Ist dafür nicht ein Fernsehtechniker zuständig?«
»Mensch Katja, die Frau ist einsam, hat niemanden auf der Welt. Finanziell steht sie auch nicht gerade gut da. Was verdient schon eine Kindergärtnerin? Außerdem hat sie öfters auf unsere Mädchen aufgepasst.«
»Was nicht auf meinen Mist gewachsen war. Die will doch bloß ihre Nase bei uns reinstecken. Wahrscheinlich schnuppert sie dabei heimlich an deinem Schlafanzug.«
Christian seufzte und tat so, als hätte er Katjas letzten Satz nicht gehört. »Was bringt es, wenn wir uns streiten? Sag mir lieber, was ich tun soll. Sie zur Rede stellen oder die Sache aussitzen?«
Nachdem Katja am späten Abend, als die Mädchen schliefen, die stark parfümierten Briefe gelesen hatte, brach sie in schallendes Gelächter aus. »Die ist wirklich krank, Christian. Das ist nicht normal. Du solltest nach Weihnachten mal ein ernstes Wörtchen mit ihr reden.«
»Aber nur in deinem Beisein. Und wieso erst nach Weihnachten?«, wollte Christian von seiner Frau wissen.
»Weil es unchristlich wäre, ihr die Feiertage zu verderben. Lass sie noch harmonische Weihnachtstage verbringen.«
»Und was ist mit diesem Kaffeetrinken am 22. Dezember? Soll Heike auch dabei sein?« Christian wurde es unbehaglich.
Schon von jeher luden Katja und er zwei Tage vor Weihnachten zu einer privaten Kaffeerunde in ihr Haus ein. Das war bereits Tradition. Der Pfarrer, der Küster, drei Damen vom Presbyterium sowie drei Damen aus dem Chor, nämlich Elke, Conni und Heike nahmen daran teil. Konnte man Heike in diesem Jahr so mir nichts, dir nichts davon ausschließen? Nein, beschloss das Ehepaar Kompernaß. Alles soll wie gehabt stattfinden. Gleich nach den Feiertagen würden sie sich Heike vornehmen, um ihr ordentlich ins Gewissen zu reden, in der Hoffnung, sie von ihrem Christian-Wahn zu heilen. Notfalls müsste man den Pfarrer hinzuziehen. Schließlich hatte er sie getauft und ihr die heilige Erstkommunion verabreicht.
Nun war ihnen in der Nacht zum 22. Dezember Schnee beschert worden und das nicht zu knapp. Mit einem mulmigen Gefühl stapfte Heike durch die weiße Masse Richtung Kantorhaus. Sie passierte den Kirchplatz und blickte hinauf zum Kirchturm. Noch zwei Tage, dann würden die Glocken wieder zur Christvesper rufen. Ob Christian dann schon nicht mehr unter den Lebenden weilen würde? Oder Katja davongeschieden war? Vielleicht gab es dann nur noch eins der Mädchen? Falls jede von ihnen eins der beiden Plätzchen essen würde, wären die Eltern Kompernaß kinderlos.
Heike hatte ihre Vorbereitungen für das bevorstehende Fest bereits erledigt. Ein mickriges Tannenbäumchen aus Kunststoff war geschmückt und hatte seinen Platz, wie jedes Jahr, neben dem Fernseher gefunden. Die Fernsehzeitschrift lag aufgeschlagen bereit. Mit einem roten Textmarker hatte Heike alle Sendungen, die sie anschauen wollte, markiert. Rouladen für den ersten und Rinderbraten für den zweiten Feiertag waren portionsweise tiefgefroren. Für den Heiligen Abend hatte sie ein Paket Kartoffelsalat und ein kleines Glas Würstchen gekauft. Was sollte also noch schiefgehen?
Vor der Haustür der Kompernaß’, an der ein liebevoll geschmückter Türkranz hing, schlug Heike sich den Schnee von ihrem Lodenmantel und trampelte ihn von den Waldläufern, bevor sie den Türgong erklingen ließ.
Mehr als freundlich öffnete Katja ihr die Haustür. Lisa und Nina hüpften aufgeregt an der Seite ihrer Mutter auf und ab. Als Heike die Diele betrat, konnte sie schon aus dem Wohnzimmer die Stimme Christians hören. Er lebte noch, stellte sie erfreut fest. Ich werde ihn noch einmal ganz in mich aufsaugen können. Seiner sonoren Stimme lauschen, seine Gestik und Mimik bewundern, ihn anstarren, bis es ihm unangenehm wurde.
Conni und Elke kicherten wie Schulmädchen, als Heike in ihrem Hemdbusenkleid aus lila Lurexstoff den gemütlichen Wohnraum betrat. Auf dem großen Sofa hatten die drei goldbehangenen Damen des Presbyteriums Platz gefunden und diskutierten lebhaft über den aktuellen Fleischskandal. Angewidert schauten sie auf Heikes fettige Walla-Walla-Frisur. Das war schon kein Bad-Hair-Day mehr und der Anblick nur schwer zu ertragen. Auf dem Sessel zur Rechten hatte der Pfarrer Platz genommen, der mit seinen 75 Jahren schon sehr hinfällig wirkte. »Komm herein, mein Kind und setze dich zu mir«, sang er mehr als er sprach und wies auf den Stuhl neben sich. Höflich wie Heike nun mal sein konnte, folgte sie ehrfürchtig der Einladung des Pfarrers. Heike war erstaunt, dass in diesem Jahr nicht wie sonst der Esstisch für die Gäste festlich gedeckt war, sondern nur kleine Gedecke auf dem Couchtisch bereitstanden. Alles sah so improvisiert aus. Vergeblich suchte ihr Blick Torten oder Kuchen. Dabei bewies Katja immer äußerst gern, wie gut sie backen konnte. Nur Schalen mit Spritzgebäck befanden sich auf dem Tisch.
Christian betrat mit einer großen Kaffeekanne den Raum und begann den Gästen Kaffee einzuschenken. »Dein Pfefferminztee ist auch gleich fertig, Heike.« Lächelnd sah er sie an.
Die Kinder hatten sich ihre roten Kinderstühlchen nah an den Tisch gezogen und bedienten sich schon fleißig an einer Schale mit in Schokoladenglasur getunkten Keksen.
»Ja, unsere Heike ist ein wahrer Engel«, begann der Pfarrer mit der Santa-Claas-Stimme eine huldvolle Lobesrede. »So ein liebes, freundliches, stilles Wesen, das nur Harmonie und Frieden verbreitet, findet man heute selten.«
Die Chorweiber kicherten weiter hinter vorgehaltener Hand, die drei Gold-Luxus-Frauen, zeigten keine Regung. Einzig die Kinder schienen sich zu freuen. »Ja, Heike ist eine ganz Liebe«, meinte Nina. Der schmalbrüstige Küster, der mit seinem Stuhl vor dem Fenster saß, nickte nur zustimmend.
Heike bekam nach ihrem ersten Schluck Tee einen derben Hustenanfall und musste mit der Tannenbaumserviette verhindern, dass sich der Hustenniesel durch den ganzen Raum verteilte. Angeekelt sahen die Presbyteriumsfrauen sich an.
»Nun greift zu, meine Lieben«, forderte Katja auf. »In diesem Jahr haben Christian und ich beschlossen, unsere alljährliche Kaffeerunde etwas bescheidener ausfallen zu lassen. Das gesparte Geld, das ich sonst für die Torten ausgegeben habe, habe ich für die SOS-Kinderdörfer gespendet. Ich hoffe, es ist recht so? Wo wir doch alle im Überfluss leben und Christian so viele tolle Plätzchen geschenkt bekommen hat.«
Ein lobendes Staunen und Raunen zog durchs Wohnzimmer. Nur Heike saß geschockt auf ihrem Stuhl. Ihr Blick hatte sich an einer kleinen Glasschale festgebissen, die direkt vor ihren prallen Knien stand. In dieser Schale erblickte sie obenauf ihre zwei präparierten Kekse. Oh Gott, sie sind noch da, stellte sie fest, was ja eigentlich logisch war, da sich alle Personen noch guter Gesundheit erfreuten. Nun hob der Pfarrer die Schale hoch und schnupperte mit seiner rotgeäderten Nase daran. »Hm, wie herrlich das Spritzgebäck duftet. Von wem sind denn diese hier?«, wollte er von Katja wissen.
Mit einem stechenden Blick aus ihren braunen Augen sah sie Heike an, die verschämt zu Boden blickte. »Die sind von Heike. Heike kann vorzüglich backen.«
»Ahhh«, erwiderte der Pfarrer laut und gütig.
Heike zermarterte sich indes den Kopf, wieso die beiden Giftkekse obenauf in dieser Schale lagen. Sie hatte eine Riesenschüssel Kekse geschenkt. Nun lagen in dem Schälchen höchstens zehn davon und ausgerechnet die beiden obenauf. Man könnte glatt meinen, Katja wusste Bescheid. Was, wenn der gütige Pfarrer die Kekse essen würde? Dann war alles umsonst, bibberte Heike.
Alle, bis auf Heike, schlürften Kaffee und stopften sich aus den verschiedenen Schalen das Spritzgebäck hinein. Jede der Frauen meinte, ihre Plätzchen zu erkennen.
Heike war geschockt. So war das nicht abgemacht. Alles lief schief. Ihr hatte es die Sprache verschlagen. Christian, der ihr gegenübersaß, bediente sich gerade an den Keksen von Conni und machte gute Miene zum bösen Spiel, als er sich die fast verkohlten Teile hineinstopfte.
»Kind, was ist denn los?«, wollte der Pfarrer von Heike wissen. »Wieso isst du denn nichts? Du kannst das doch vertragen. Greif zu!« Liebevoll lächelte er sie an und hielt ihr die Schale mit ihren eigenen Keksen vor die Nase. »Na los, liebe Heike«, forderte er sie erneut auf. Die Glitzerdamen sowie auch Conni und Elke stimmten dem bei. »Heike, nun aber los, wo du doch krank warst. Du musst zu Kräften kommen.«
In Heikes Kopf rauschte es. Sie war kurz davor umzukippen, alles drehte sich und war unwirklich. Wie durch eine Nebelwand nahm sie die Stimmen der Menschen im Raum war. Heike kam es vor, als erstarrte Katjas grinsendes Gesicht zu einer Maske. Die Schale wurde ihr vom Pfarrer erneut unter den Hals geschoben, sodass sie mit zitternder Hand eins der präparierten Plätzchen nehmen musste.
»Auf einem Bein kann man nicht stehen, Heike, hähähä«, hörte sie den Pfarrer in weiter Ferne blöken. So griff sie wie eine Marionette, an dem andere die Fäden zogen, zu dem zweiten Giftkeks und hielt nun rechts und links besagte Kekse in den Händen. Sie brannten regelrecht an der Haut. Heike wusste, dass sie, wenn sie ihr Gesicht nicht verlieren wollte, diese Kekse nun essen musste.
Katja hatte inzwischen eine Weihnachts-CD eingelegt und »Tochter Zion« wurde lautstark aufgefordert, sich zu freuen. Ganz vorsichtig biss Heike in den Keks in ihrer rechten Hand. Sie stellte fest, dass er gar nicht so bitter schmeckte, wie sie vermutet hätte.
»Nun mal los, Heike, iss mal ordentlich«, schrie ihr der Pfarrer fast ins Ohr.
Tapfer kaute Heike weiter auf dem Keks herum. Als er verzehrt war, biss sie in den zweiten und harrte der Dinge, die da kommen würden.
Die anderen Gäste hatten sich längst interessanteren Themen zugewandt und schnatterten munter drauf los. Der Pfarrer unterhielt sich mit Christian über die bevorstehende Christmesse, die Kinder blätterten in den Bilderbüchern, die Heike ihnen mitgebracht hatte. Keiner schenkte ihr mehr Beachtung. Außer Katja. Ihr Blick haftete an Heike und registrierte jede ihrer Regungen.
Die ersten Vergiftungserscheinungen, die Heike wahrnahm, waren fürchterliche Hitzewallungen, gefolgt von Atembeschwerden. Zwei Minuten später fasste sie sich an den Hals, wurde puterrot und fiel vom Stuhl.
Der herbeigerufene Hausarzt, der gleich gegenüber wohnte, konnte, nachdem er mit dem Pfarrer drei Klare getrunken hatte, nur noch ihren Tod feststellen. Plötzlicher Herztod, schrieb er auf den Totenschein. Die Kinder wurden auf ihre Zimmer geschickt. Der Pfarrer gab seinem Gemeindeschäfchen Heike die letzte Ölung.
Alle, auch der Arzt, waren sich einig, dass die schwere Mittelohrentzündung wohl nicht richtig ausgeheilt war und so zum plötzlichen Herzversagen geführt hatte. Arme Heike. Direkt vor Ort wurde ein Gebet gesprochen und ein Lied gesungen, bevor man die gute Heike vom Bestatter abholen ließ.
Am nächsten Samstag war Heiligabend. Endlich kehrte ein wenig Ruhe ein. Wohnung schmücken, Einkäufe verstauen und Feiertage planen, das war nichts mehr für ihn, einen alten Mann. Herbert atmete tief durch und schaute in die Ferne. Die Aussicht hier oben von seiner Loggia im vierten Obergeschoss war schon nicht schlecht. Wohnhäuser, Gärten, qualmende Industrieschornsteine. Berge könnte er sehen, hatte ihn sein Schwiegersohn gelockt. »Vadder, bis zum Sauerland kannze gucken«, hatte er gesprochen und ihm von Bochum-Hiltrop vorgeschwärmt, von der Wohnung im obersten Stockwerk einer Wohnhauskette in der Straße Im Hagenacker. Herbert wollte die Zechensiedlung in Buer, in der er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte, nicht verlassen. Nicht im Alter von 72 Jahren noch einmal umziehen. Seine Guste war jedoch krank, konnte immer weniger. Morbus Parkinson. Laufen war nur noch in kleinen Schritten möglich. Ihre Hände waren vom Rheuma verformt. Hier in Bochum wohnte die jüngste Tochter, die vor vielen Jahren der Liebe wegen hergezogen war. Zu diesem Blödmann, der schöne Worte reden konnte. Der Mutter haben sie diese Wohnung schmackhaft gemacht, sodass er letztendlich zugestimmt hatte, noch einmal umzuziehen. Alte Bäume sollte man nicht verpflanzen, hieß es doch. Nein, das sollte man nicht. Nun wohnten sie schon sechs Jahre hier. Im goldenen Käfig. Die Sparbücher waren geräumt worden, damit Guste es so richtig schön haben sollte. Ein Puppenstübchen vom Allerfeinsten, das von der Tochter, die samt Mann zwei Straßen weiter wohnte, sauber gehalten wurde. Bekocht und mit Lebensmitteln versorgt wurden sie ebenfalls von der kinderlosen Tochter. Dafür zahlten die Eltern gut. Hatte der Schwiegersohn frei, sah man sie allerdings nicht. Dann waren die alten Leute allein. Das Haus verlassen konnten sie nicht so einfach. Da waren die vielen Treppen, bis sie durch das Kellergeschoss nach draußen gelangten. In der alten Siedlung hatte Herbert seine Freunde gehabt, Kollegen von der Zeche und Taubenväter. Sein tägliches Pläuschchen hatte er halten können, zum Stadtwald laufen oder zum Friedhof. Hier hatte er nur seinen Kanarienvogel und die olle Loggia mit Blick auf Bochum. Von wegen Berge. Der Hass auf den Schwiegersohn wuchs. Er ließ kein gutes Haar an ihm, sprach gar davon, ihn umzubringen. Erst gestern Abend hatte Guste geweint und ihren Gatten gebeten, doch wenigstens zu Weihnachten nett zu ihm zu sein. Er würde es doch nur gut meinen, der Willi. Herbert schaute auf seine Guste, wie sie da in dem nostalgischen Sessel neben dem bunt flackernden Tannenbaum saß, die kranken Beine mit einer Wolldecke umwickelt. Liebevoll lächelte sie ihn an, was ihn milde stimmte.
Vielleicht sollte ich ihm etwas schenken, überlegte er und durchwühlte seinen Kleiderschrank nach was Geeignetem. Sein Blick blieb an seinem guten Anzug hängen. Wie oft hatte er ihn getragen? Ein feines Stöffchen. Und erst der Gürtel. Feinstes Eidechsenleder. Dieses glamouröse Stück hatte Willi ihm geschenkt. Ein Mitbringsel aus einem Italienurlaub. Handgefertigt, hatte er mehr als einmal heruntergeleiert. Vielleicht würde der Schwiegersohn sich freuen, wenn er ihm diesen Gürtel nun schenken würde. Er brauchte ihn nicht und wo Willi doch so einen Spaß daran gehabt hatte. Zusammengerollt stopfte er ihn in seine Hosentasche, zog sich seine dicke Joppe über und betrat die Loggia, um sich sein Pfeifchen zu stopfen. Etwas, was er noch gerne tat trotz Minusgraden in der Loggia. Er schaute hinunter in den Hof und bedauerte den Hausmeister – ein freundlicher, lieber Kerl –, der des Öfteren hinaufkam, um mit ihm ein Quätschchen zu halten. Es hatte den ganzen Morgen geschneit und der gute Sven räumte mit Hingabe die Schneemassen beiseite.