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Am Morgen des ersten Weihnachtstages findet Privatermittlerin Margareta Sommerfeld in der Wohnung ihrer Mutter deren Freundin Anni mit einer schweren Kopfverletzung. Von Waltraud keine Spur. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ihr rotes Notizbuch. Thomas Scheffel, Hauptkommissar in Buer und Margaretas Lebenspartner, steht wenig später auf der Matte. Wo ist Waltraud? Entführt? Margareta sucht sämtliche Personen aus dem Notizbuch auf, auch den Schamanen Hemavati. Ist Waltraud das Seminar über die Raunächte, das sie bei diesem Kerl besucht hat, zum Verhängnis geworden?
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Seitenzahl: 332
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Margit Kruse
Stille Nacht, Schicht im Schacht
Weihnachtskrimi aus dem Ruhrpott
Mörderische Raunächte Am ersten Weihnachtstag sucht Privatermittlerin Margareta Sommerfeld die Wohnung ihrer Mutter auf, nachdem diese am Heiligabend nicht bei ihr erschienen ist. Doch Waltraud ist nicht da. Dafür findet Margareta Anni, die Freundin ihrer Mutter, mit einer schweren Kopfverletzung. Und auf dem Wohnzimmertisch Waltrauds rotes Notizbuch. Thomas Scheffel, Erster Hauptkommissar des KK 11 in Buer und Margaretas Lebenspartner, steht wenig später auf der Matte. Wo ist Waltraud? Entführt? Und wer schlug Anni den Schädel ein? Margareta sucht sämtliche Personen aus dem Notizbuch auf – verteilt im ganzen Ruhrgebiet bis ins Sauerland –, auch den Schamanen Hemavati. Er lebt mit seiner Frau Jana zurückgezogen in einem Haus am Waldrand. Ist Waltraud das Seminar über die Raunächte, das sie bei diesem Hemavati besucht hat, zum Verhängnis geworden? Margareta kann das Ermitteln nicht lassen und kommt dem Täter dabei gefährlich nahe.
Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis »Eisaugen«, »Zechenbrand«, »Hochzeitsglocken«, »Rosensalz« und »Bergmannserbe«. Sie war ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 war die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben etlichen Beiträgen in Anthologien hat sie zahlreiche Bücher veröffentlicht. Labrador Enja war stets dabei, wenn sich Margit Kruse auf Recherche-Tour begeben hat. Sie war Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller und für den Literaturpreis Ruhr nominiert.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Christine Braun
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Illustration Lutz Eberle mit Elementen von KatyaKatya / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3098-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die Raunächte zwischen dem 25. Dezember und dem 6. Januar gelten als eine magische Zeit. Zeit zum Innehalten zwischen den Jahren, mit Vergangenem abzuschließen und sich auf Neues vorzubereiten. Rituale helfen dabei. Zeit für Geschichten bei Kerzenschein, den Duft von Räucherwerk. Energie tanken für das neue Jahr. Sich verabschieden von Erinnerungen an Verletzungen und Enttäuschungen. Wir öffnen uns für die Anderswelt.
Es heißt, dass um Mitternacht in der Heiligen Nacht die Stofftiere und Puppen lebendig werden und zu reden beginnen. Aufgeregt halten die Kleinen sich wach, schaffen es aber letztendlich doch nicht, dieses zu erleben. Es wird davor gewarnt, zwischen den Jahren Wäsche aufzuhängen, da sonst jemand sterben würde. Haare und Nägel schneiden sind in dieser Zeit ebenfalls tabu. Wenn man keine Hexe ist, darf man auch nicht spinnen. Geliehenes muss zurückgegeben werden. Man darf keine Äpfel und keine Nuss vom Boden aufheben, sonst bekommt man Ausschlag. Träume in dieser Zeit sollen in den nächsten Monaten wahr werden. Wer unter Gicht leidet, kann sich angeblich Erleichterung verschaffen, wenn er in den Raunächten nackt über den Friedhof läuft und einen besonders bemoosten Grabstein umklammert.
Durchleben Sie gemeinsam mit Margareta und Co. die legendären Raunächte ab der »Stillen Nacht«, die durchaus kriminelles Potenzial haben können und für manche »Schicht im Schacht« bedeuten.
Margareta schaute aus dem Küchenfenster. 14 Uhr. Heiligmittag. Draußen schneite es dicke Flocken, ansonsten alles grau in grau. Sie verspürte nichts Weihnachtliches, fühlte sich leer und ausgebrannt. Nichts mit besinnlicher Zeit, säuselnder Radiomusik und kitschig-süßen TV-Filmen.
Alles war vorbereitet. Lieblos nach Liste abgearbeitet, mechanisch, ohne Freude. Gestern, am 23.12., der totale Stress. Thomas Scheffel, ihr Lebensgefährte, hatte ihr geholfen, die Wohnung zu putzen, den Baum aufzustellen und mit dem ewig gleichen Ramsch zu schmücken.
Noch vor einem Jahr hatte er sich geweigert. Er habe seine eigene Wohnung, um die er sich kümmern müsse, hatte er gesagt. Nachdem sie ihm zum wiederholten Male entgegnet hatte, dass er sich meistens bei ihr aufhalte und sich somit an der Hausarbeit beteiligen müsse, hatte er irgendwann genickt, ein paar unverständliche Worte geflüstert und zum Lappen gegriffen. Er hatte nicht riskieren wollen, noch vor dem Fest hinausgeworfen zu werden. Das hatte er schon gehabt. Dieses Jahr hatte er ihr, ohne zu meckern, geholfen, war sogar heute am frühen Morgen mit ihr durch den Super- und über den Wochenmarkt gestreift. Nun wollte er sich freiwillig um die Gans kümmern, die er vom Geflügelstand mitgeschleppt hatte.
Wozu das alles, fragte Margareta sich. Weihnachten! Schalter umdrehen und fröhlich sein? Jedes Jahr das Gleiche. Heute Abend würden sie zu dritt sein, sie beide und ihre Mutter Waltraud, die einige Häuser weiter in derselben Zechensiedlung wohnte.
Nachdem ihre Beziehung zu dem alternden Schlagersänger Sepp endgültig in die Brüche gegangen war und ihre letzte große Liebe, der tolle Fritz, sich das Leben genommen hatte, hatte sie monatelang ganz schön durchgehangen. Margareta hatte ihre Mutter schon in einer Psychiatrie gesehen, auf einem Stuhl sitzend, vor sich hin starrend und mit dem Kopf wackelnd. Im November war dann etwas Unvorhergesehenes passiert. Waltraud hatte mit ihrer langjährigen Freundin Anni, ebenfalls zu dem Zeitpunkt total gefrustet, an einem Seminar über die Raunächte teilgenommen, das ihr die dauerwellgelockte Britta aus der Frauenhilfsgruppe der Kirchengemeinde empfohlen hatte. Britta hatte behauptet, zu neuem Leben erweckt worden zu sein, seitdem sie regelmäßig ihre Wohnung ausräucherte. Bei Waltraud funktionierte das auch. Margareta erkannte ihre Mutter nicht wieder. Neues Outfit, neuer Lebensmut, Power pur, seit sie bei diesem Wochenendseminar in Arnsberg im Sauerland gewesen war.
Sie war mit dem Zug vom Gelsenkirchener Hauptbahnhof bis Arnsberg gefahren, einschließlich einmal umsteigen in Dortmund und, nicht zu vergessen, die anschließende Linienbusfahrt von 14 Kilometern. Für die eher bequeme Waltraud war das eine echte Herausforderung gewesen. Na ja, sie hatte Anni dabeigehabt. Die schüchterne, zurückhaltende Anni, die froh gewesen war, ihrem Elend daheim kurzzeitig zu entkommen. Margareta hatte vor einigen Jahren im Rahmen einer privaten Ermittlung, bei der es um einen Rollator gegangen war, den Anni-Gatten kennengelernt. Gute Nacht, hatte sie nur gedacht und die alte Frau echt bedauert.
Margareta musste schmunzeln. Ihre Mutter war schon einmal mit Anni per Bus unterwegs gewesen. Damals hatten die beiden auf einer Busreise Sepp, den greisenhaften Sänger einer Combo, kennengelernt. Danach war ihre Mutter diesem hässlichen Opa in sämtliche Kellerlöcher Deutschlands gefolgt, in denen er auftrat, wie ein echter Groupie. Sie hatte sich unsterblich in ihn verliebt, und kein Weg war ihr zu weit gewesen. Der zweite Frühling war über sie hereingebrochen. Irgendwann hatte er zum zigsten Male seine Frau verlassen, um zu Waltraud zu ziehen. Da bei Waltraud jedoch nichts zu holen gewesen war, war er bald darauf reumütig zu dieser Oma zurückgekehrt.
Sepp war längst durch, die Episode Fritz ebenfalls vorbei. Nun gab es Hemavati, den Schamanen, bei dem Waltraud das Raunächte-Seminar besucht hatte.
Ob Waltrauds verändertes Verhalten an diesem Seminarleiter lag, von dem sie ihr seit diesem Wochenende die Ohren wund geschwärmt hatte? Hemavati – das war doch mit Sicherheit ein Künstlername! Für Waltraud existierte nur noch dieser Typ, der sie regelrecht verzaubert hatte. Wo und wann hatte sie sich nach diesem Seminar mit ihm getroffen? Denn dass sie sich ständig mit ihm traf, musste so sein. Sie hatte seither keine Zeit mehr für irgendwas gehabt, nicht mal für einen Kaffee bei ihrer Tochter. Schlimm, dass Waltraud nur noch nach den Gesetzen der Raunächte lebte und fest daran glaubte. Sie konnte es kaum mehr abwarten, bis die erste Raunacht endlich da war. In Buer in einem bekannten Esoterik-Laden hatte sie sich mit dem Zubehör zum Ausräuchern eingedeckt.
Da Margareta durch ihren Beruf als Privatdetektivin momentan voll eingespannt war und sich vor Aufträgen kaum retten konnte, war sie aber auch froh, dass es ihrer Mutter besser ging und sie beschäftigt war. Waltraud tat ja nichts Böses mit der Vorbereitung auf die Raunächte. Diese fingen zu Weihnachten an und dauerten bis zum Dreikönigstag. Heilige Nächte, in denen man zur Ruhe kommen und bestimmte Dinge erledigen sollte, um sich gut zu fühlen. Waltraud hatte ihr ein Buch zu dem Thema in den Briefkasten gesteckt, das Margareta kurz durchgeblättert und dann in die Ecke geworfen hatte.
Die Weihnachtseinladung hatte Margareta per WhatsApp ausgesprochen. Da von Waltraud nichts in der Hinsicht gekommen war, hatte sie sich verpflichtet gefühlt, sie einzuladen. Als gute Tochter konnte sie die alte Frau am Heiligabend nicht alleine zu Hause sitzen lassen. Aber eigentlich wäre sie lieber für sich, ohne ihre Mutter – und offen gestanden auch ohne Thomas. Sie war müde und ausgelaugt, wollte nur ihre Ruhe haben, schön essen und vorm Fernseher abhängen. Es hatte sie reichlich wenig gestört, dass Thomas, Erster Hauptkommissar des KK 11 in Buer, sich freiwillig für die Bereitschaft gemeldet hatte, um den Kollegen mit Kindern ein schönes Weihnachtsfest zu bescheren. Um ehrlich zu sein, hoffte sie darauf, dass es heute Abend einen Einsatz geben und er gehen würde. Sollten sich überall in der Stadt die Leute doch die Köpfe einschlagen, dem Partner die Kehle durchschneiden oder die Mutter bis zur Bewusstlosigkeit würgen. Es hatte Zeiten gegeben, da wäre sie deshalb die Wände hochgegangen. Heute hätte sie nichts dagegen, wenn Thomas gerufen werden würde.
Vielleicht wollte er mit dem Bereitschaftsdienst auch nur ihrer Mutter aus dem Weg gehen? Sie konnte sich an Heiligabende erinnern, an denen er vor lauter Trotz um 20 Uhr ins Bett gegangen war oder sich im Wohnzimmer in seinen Sessel verzogen und sich Ohrstöpsel in seine Lauscher gestopft hatte. Okay, Waltraud war laut, besonders wenn sie ihre Freundin Anni im Schlepptau hatte. Margareta fand es im Gegensatz zu Thomas äußerst lustig, den Anekdoten der beiden alten Frauen, die so ganz anders waren als durchschnittliche Damen dieser Generation, zu lauschen. Thomas bezeichnete sie als »zwei ordinäre alte Schrapnellen«, nicht einmal vermögend, die eine ärmer als die andere.
Doch da lag er falsch. Jedenfalls was Waltraud betraf. Im Januar würde sie ihre Lebensversicherung ausbezahlt bekommen. Ein stattliches Sümmchen! Margareta hatte sie deshalb zur Beratung in die winzige Sparkassenfiliale in der Nähe geschleppt. Danach hatte Waltraud ihr versprochen, das Geld nach Auszahlung anzulegen. Denn ihre Mutter gab gerne und reichlich Geld aus, wenn sie es hatte. Sie liebte schöne Dinge und wollte sie haben, egal um was es sich handelte. Sicherlich würde sie ihre arme Freundin Anni unterstützen und ihr mal wieder ein paar neue Klamotten kaufen. Wie oft hatte sie mit ihrem großen Herzen schon jemanden unterstützt. Damals das alternde Muttersöhnchen Walter, nachdem seine Mutti verstorben war. Dann Onkel Gernot, der ebenfalls in seiner Trauer, und zwar um seine Frau, bei Waltraud Unterschlupf gesucht hatte. Nie konnte sie Nein sagen und war deshalb schon öfter ausgenutzt worden.
War sie jetzt wieder auf so einen Typen hereingefallen? Wem hatte sie von ihrem kleinen Vermögen, das ihr bald ins Haus flattern würde, erzählt? Etwa diesem Schamanen Hemavati? Der angeblich in der Lage war, sämtliche Schwingungen, positive sowie negative, aufzuspüren und zu verändern? Wer weiß, was er bei Waltraud zum Schwingen brachte. Obwohl Margareta ihn nicht kannte und ihn hoffentlich nie kennenlernen würde, stand für sie fest, dass er ein Betrüger war.
*
Die Gans war gelungen und lecker gewesen. Margareta schnappte sich ein gutes Buch und ab auf die Couch.
Sie hatte alle Kerzen an ihrem kitschigen Erzgebirgs-Karussell entzündet, woraufhin die bunt lackierten Weihnachtsmänner samt Rentieren alles gaben und mit 100 Sachen im Kreis flitzten. Die Geschenke hatten Thomas und sie schon ausgetauscht. Standard-Pullover gegen Seidenschal. Maximal zehn Minuten hatte diese Bescherung gedauert. Keine zusätzliche Überraschung, kein liebes Wort. Nichts.
Sie griff zum Plätzchenteller, auf dem selbst gebackene, trockene Teile ihrer muffigen Nachbarin lagen. Dass ihre Mutter sie hatte sitzen lassen, sich nicht einmal gemeldet hatte, machte ihr null Sorgen. Sie wird bei Anni sein, dachte sie, die wohnte nur eine Straße weiter, und schickte ihr per Smartphone liebe Grüße. Anschließend steckte Margareta die Nase wieder in ihr Buch. Morgen! Morgen ist auch noch ein Tag, sagte sie sich, genau wie die schöne Scarlett im Jahre 1936 in dem Film »Vom Winde verweht«.
Gegen 20 Uhr schlief sie auf dem Sofa ein.
Irgendwann wurde sie schweißgebadet wach, musste sich erst orientieren, wo sie war. Die monotonen Schnarchgeräusche vom Bett nebenan brachten sie sehr schnell in die Realität zurück. Sie musste irgendwann ins Bett gegangen sein. Ihre Hand zitterte. Sie wollte nach ihrem kleinen Kissen greifen und es dem Übeltäter um die Ohren schlagen. Doch sie beherrschte sich.
Ein Blick auf ihren Wecker folgte. 2 Uhr. Der Heilige Abend lief noch einmal wie ein Film in ihrem Kopf ab. Wieso war ihre Mutter nicht gekommen, und weshalb hatte diese Tatsache sie, Margareta, überhaupt nicht interessiert? Weil sie zuvor nächtelang nicht geschlafen hatte wegen einer Observation? Eine gut betuchte Ehefrau aus Dortmund hatte geglaubt, dass ihr Mann fremdging, mit ihrer besten Freundin. Es war Margareta äußerst schwergefallen, sich mit ihrem Polo stundenlang vor irgendwelche Wohnhäuser zu postieren, um zu warten, bis der Kerl wieder herauskam. Sie hatte solange die Klingelschilder der maroden Häuser angeschaut, fotografiert und vom kalten Fahrzeug aus die beleuchteten Fenster im Auge behalten. Weihnachtsgedudel aus dem Radio und Gedanken an das bevorstehende Fest hatten sie wachgehalten. Wie anstrengend das gewesen war! Nach fünf Tagen war ihr lückenloser Bericht fertig, der Auftrag beendet und der Scheck der goldbehangenen Auftraggeberin kassiert gewesen. Der Kerl war unschuldig wie ein Lamm. Die Leute, die er nachts aufgesucht hatte, waren keine Frauen, die von ihm beglückt werden wollten. Es handelte sich erstens um seine Mutter, die ihrem Sohn von ihren Beschwerden erzählte. Der Mann fuhr nachts heimlich hin, weil seine Gattin ihre Schwiegermutter hasste wie die Pest. Zweitens besuchte er seine Schwester, mit der er das Problem Mama und das weitere Vorgehen in der Sache besprach. Wieso er seiner Frau nicht die Wahrheit gesagt hatte, war für Margareta unbegreiflich. Aus purer Feigheit hatte er Nachteinsätze seiner Arbeitsstelle vorgeschützt!
Kaum hatte sie diesen Auftrag beendet, war eine weitere Anfrage dieser Art eingegangen, die Margareta wegen der Feiertage jedoch auf Januar verschoben hatte. Wahrscheinlich hatte sich in den vornehmen Kreisen herumgesprochen, dass sie ihre Arbeit gut machte.
Die nächtlichen Einsätze hatten Margareta zwei Kilo Gewichtszunahme gekostet. Aus lauter Langeweile hatte sie sich mit weihnachtlichen Süßigkeiten vollgestopft, von Lindt-Nikoläusen bis zu Marzipanbroten, um ja nicht einzunicken und den Zuckerspiegel abfallen zu lassen. Jedenfalls hatte dieser Einsatz sie nicht nur den Schlaf, sondern auch jegliche Nerven gekostet.
War Waltraud ihr deshalb so gleichgültig gewesen? Hatte sie ihre Prioritäten falsch gesetzt?
Sie fläzte sich auf die Bettkante, nahm einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche und begab sich gähnend in die Küche.
Okay, sie war froh gewesen, dass sie sich in den letzten Wochen nicht groß um ihre Mutter hatte kümmern müssen, dass diese ihrer eigenen Wege ging. Doch hätte sie nicht spätestens, als ihre Mutter zu diesem Raunächte-Seminar gefahren war, hellhörig werden und ausgiebig mit ihr reden müssen? Dass Anni ihre Mutter begleitet hatte, hatte sie beruhigt. Einmal hatte sie Waltraud sogar an der Bushaltestelle stehen sehen, aber nicht angehalten. Den Blick stur geradeaus gerichtet, war sie einfach an ihr vorbeigefahren, weil sie es wieder einmal sehr eilig gehabt hatte. Ihr war jedoch die glänzend rosa Thermojacke und das fast identisch gefärbte Haar an ihrer Mutter aufgefallen. War das alles diesem Hemavati zu verdanken?
Margareta schaute aus dem Fenster. Der Schneefall hatte wieder eingesetzt. Die Laternen schafften es nicht, die dunkle Straße zu erleuchten, obwohl der Schnee den Lichtschein reflektieren müsste. Sie nahm das Handy in die Hand und versuchte ihre Mutter zu erreichen. Mehrmals. Mitten in der Nacht. Margareta wusste, dass Waltraud einen leichten Schlaf hatte. Doch nichts. Sie meldete sich nicht. Auch der Anruf auf dem Festnetzanschluss blieb erfolglos.
Jetzt machte Margareta sich schwere Vorwürfe, dass sie am Heiligen Abend nicht bei ihrer Mutter vorbeigeschaut hatte, nachdem diese nicht zu ihr gekommen war.
Sie ging wieder ins Bett und nahm sich vor, gleich am Morgen zu Waltraud zu gehen. Vielleicht hatte sie Besuch und war deshalb nicht erschienen, beruhigte Margareta sich und fiel in einen unruhigen Schlaf.
*
Als sie mit Thomas am Frühstückstisch saß, versuchte sie erneut, ihre Mutter zu erreichen. Weihnachtliche Stimmung kam bei ihrer Nervosität nicht auf, da konnte Thomas noch so eine tolle CD mit klassischer Musik einlegen.
Weil ihre Mutter noch immer nicht ans Telefon ging, wählte Margareta Annis Nummer. Ans Handy ging sie nicht, und am Festnetz erwischte sie nur Annis dementen Ehegatten, der nicht mal wusste, dass Weihnachten war. Eine Anni kenne er auch nicht, sagte er und legte lachend auf. Wie konnte Anni ihren armen Mann nur alleine lassen?
Gegen 11 Uhr schmiss Margareta sich in warme Klamotten einschließlich Mütze und Schal und machte sich auf den Weg zu ihrer Mutter. Sie musste wissen, was los war.
»Und wann essen wir zu Mittag?« Das war die größte Sorge von Thomas. Böse blickte er sie an, schaute auf ihre riesigen Schneestiefel.
»Wenn ich wieder da bin«, antwortete sie lapidar.
»Gehst du zu Fuß?«
»Na klar. Bis ich das Auto freigefegt habe, bin ich schon dreimal hingelaufen. Es sei denn, du willst mich unbedingt fahren, schließlich hast du Bereitschaft.«
Die Hoffnung, die kurz in ihr aufkeimte, legte sich schnell. Thomas schaute an seinem Jogginganzug herunter und verneinte.
Ängstlich stieg Margareta die alten Holzstufen des muffig riechenden Treppenhauses empor und steuerte auf die Haustür ihrer Mutter zu. Wieso hatte sie nicht auf ihre Anrufe und WhatsApps reagiert? Was würde Margareta vorfinden?
Bisher schien alles ruhig in diesem Vier-Familien-Idyll, in dem nur alte Frauen wohnten, die das Weihnachtsfest wahrscheinlich bei auswärtig wohnenden Kindern verbrachten. Zumindest roch es nicht nach den Vorbereitungen für ein Festessen.
Zitternd steckte Margareta den mordsmäßig großen Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn zaghaft um. Auf was oder wen würde sie stoßen? Sie war auf das Schlimmste gefasst: eine wütende Waltraud, die sich wie eine Maus in ihr Mauseloch verkrochen hatte. Oder eine Waltraud in flagranti im Schlafzimmer in einer eindeutigen Situation? Mit diesem alternden Schamanen? Bloß nicht, betete sie inständig und betrat die Diele.
Kälte schlug ihr entgegen. Hatte Waltraud wieder aus Sparsamkeitsgründen die Heizung abgedreht? Doch irgendwie war es anders als sonst … Es roch ungelüftet und feucht. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Auf diesen Geruch traf sie sonst nur bei Kriminalfällen. Waltraud wird doch nicht …
Margareta stieß die Tür zum Wohnzimmer auf. Gut, dass sie ihre Waffe, eine alte Walther P7, dabeihatte. Ihr damaliger Lebensgefährte, Hauptkommissar Stefan Kornblum, hatte ihr diese besorgt.
Ein Anblick des Grauens bot sich ihr. Hier musste es eine Rauferei gegeben haben. Zwei der Stühle lagen auf dem Boden. Auf dem Esstisch ein heilloses Chaos. Halb leere Rotweingläser, ein Teller mit undefinierbaren Schnittchen, ein weiterer mit Weihnachtsplätzchen. Waltraud hatte Besuch gehabt, so viel stand fest. Und noch etwas fiel Margareta auf. Mitten auf dem Tisch lag Waltrauds Notizbuch, dunkelrot in Krokodillederimitat. Sie kannte dieses Büchlein, seit sie lebte. Margareta nahm es in die Hände und blätterte es durch. Unverkennbar die kindliche Handschrift ihrer Mutter auf jeder Seite, mal mit Filzstift geschrieben, mal mit einem Kugelschreiber. Die ihr bekannten Kaffeeflecken, mit den Jahren verblasst, befanden sich noch immer darin, einige Seiten waren inzwischen lose. Waltraud hatte ein Riesengeheimnis um dieses Ding gemacht. Wenn Margareta darin geblättert hatte, war es ihr aus der Hand gerissen worden.
»Das geht dich nichts an!«, hatte ihre Mutter jedes Mal laut gerufen.
Wo war Waltraud? Margareta setzte sich auf einen Stuhl und sah sich im Zimmer um. Der kleine kitschige Weihnachtsbaum aus den 70er-Jahren stand auf der Anrichte, daneben der dickbäuchige Weihnachtsmann in seinem roten Plüschmantel wie in jedem Jahr. Waltraud hatte Besuch gehabt. Zweifelsohne. War Hemavati hier gewesen? Ein kleines Tête-à-Tête am Heiligen Abend?
Margareta hörte ein leises Stöhnen. Sie schaute zur Schlafzimmertür, die angelehnt war. Kamen dort die Geräusche her? Hatten die beiden Chaoten sich betrunken und lagen noch in den Federn? Mutig ging sie auf die Tür zu und öffnete sie. Die Waffe im Anschlag.
Das Rollo war heruntergelassen, doch der Lichtstrahl aus dem Wohnzimmer fiel auf das Bett. Darin lag eine Person – mit blutverschmiertem Kopf. Der Rest des Körpers war zugedeckt.
Du meine Güte, das ist Anni, wurde Margareta klar. Jemand hatte der kleinen, alten Anni den Schädel eingeschlagen. Aber Anni war am Leben, sonst könnte sie keine Geräusche von sich geben.
Überall war Blut, auch neben dem Bett. Die Spur zog sich bis ins Wohnzimmer, was Margareta vorhin nicht bemerkt hatte.
Margareta fühlte Anni den Puls, obwohl das unnötig war, denn sie hatte gerade noch vor sich hin gestöhnt. »Anni, was ist passiert?«, wandte sie sich an die alte Frau, die jedoch mehr tot als lebendig war. »Wo ist Waltraud?«
Anni riss ihre winzigen Augen, kaum größer als die eines Huhns, weit auf. Ihr Mund blieb allerdings verschlossen.
Margareta ging in die Küche, anschließend ins Bad und danach in die Abstellkammer. Keine Spur von Waltraud.
Sie holte ihr Smartphone aus der Hosentasche und rief Thomas an, der war schließlich Hauptkommissar und hatte Bereitschaft. Das kleine Büchlein steckte sie ein, ebenso die Pistole. Das Notizbuch würde ihr niemand mehr aus der Hand reißen. Sie selbst würde den Täter suchen, der, wie es aussah, ihre Mutter verschleppt und Anni außer Gefecht gesetzt hatte.
*
»Er hat sie mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen«, stellte Thomas Scheffel 15 Minuten später lapidar fest. Sein Blick blieb an dem bunten Bildnis Jesu mit dem goldenen Rahmen hängen, das über dem altbackenen Ehebett hing. Der Gottessohn in seinem blauen Seidengewand streckte die Arme aus. Sein welliges braunes Haar fiel ihm über die Schultern. »Wer hat Anni hier ins Bett gelegt? Unter dieses schreckliche Bild! Das passt gar nicht zu deiner Mutter! Auf mich wirkte sie immer sehr modern und weltlich.«
Das war das erste Mal, dass er sich positiv über Waltraud äußerte.
Er klappte das Oberbett zurück und besah sich die dürre Anni in ihrem roten Kostüm ganz genau. Dann zog er sein Smartphone aus der Hosentasche und rief Polizei und SpuSi an. Aber davor den Notarzt. Schließlich lebte Anni. Fragte sich nur, wie lange noch.
Als alle informiert waren, wandte Thomas sich wieder Margareta zu. »Hast du schon überall nach Waltraud gesucht? Auch im Keller? Hast du etwas Ungewöhnliches entdeckt, abgesehen von Anni und dem Chaos hier?« Er sah Margareta voller Argwohn an, als ahnte er, dass sie etwas vor ihm verbarg. Schließlich kannte er sie lange genug.
»Ist das meine Aufgabe?«, lenkte sie ab. Es handelte sich doch nur um das winzig kleine Notizbuch, von dessen Existenz er gar nichts wusste.
Annis weiß gelocktes Haar war am Hinterkopf mit getrocknetem Blut verklebt. Thomas zog sich Handschuhe über und untersuchte die Stelle. »Sieht nach Schürhaken aus«, stellte er fest und besah sich den Körper der Frau.
»Schürhaken? Woher sollte meine Mutter ein solches Teil haben? Hier gibt es keinen Kohleofen mehr. Oder meinst du, der Täter hat extra einen mitgebracht?«
»Wir werden es herausfinden. Die SpuSi wird gleich hier sein.«
In weiter Ferne durchbrach Sirenengeheul die friedliche Weihnachtsstille der Zechensiedlung.
»Bevor du weiter über Schürhaken nachdenkst, solltest du dir die Mühe machen und nach meiner Mutter suchen!« Margareta schnaufte wütend, und das unter Jesu Antlitz. Schnell schüttelte sie ihre bösen Gedanken ab.
Thomas verzog ärgerlich sein Gesicht. »Anni kämpft um ihr Leben, das hat eindeutig Vorrang!«
»Vielleicht liegt Waltraud auch irgendwo in den letzten Zügen, Herr Hauptkommissar. Hast du daran schon gedacht?« Okay, sie hätte im Keller nachschauen können. Doch da gab es Ratten! Außerdem hatte sie wahnsinnige Angst vor dunklen, einsamen Kellerräumen. Einmal war sie in einem solchen Verlies tagelang eingesperrt gewesen. Ein anderes Mal hatte sie eine Freundin in der Kühltruhe ihres eigenen Kellers gefunden. Sollte sie ausgerechnet zu Weihnachten wieder so ein grausiges Kellererlebnis haben, dazu ihre Mutter?
Plötzlich ging alles unheimlich schnell. Zwei Streifenbeamte stürmten herein und übernahmen das Kommando. Im Schlepptau hatten sie den Notarzt, der mit seinem silberfarbenen Koffer sofort ins Schlafzimmer rannte und sich auf Anni stürzte. Zwei Sanitäter folgten ihm. Die SpuSi kam ebenfalls und begann damit, Beweismittel zu sichern. Die Polizisten steckten ihre Nasen in alle Ecken. Wenig später fand sich auch Jenni Gehrke ein, die Kollegin von Thomas.
Margareta hatte nicht mitbekommen, dass er sie informiert hatte. Thomas und sie begrüßten sich eine Spur zu intim, fand Margareta. Sie drückten und küssten sich, schäkerten herum. Margareta hasste Jenni. Sie hatte mit Margaretas vorigem Lebensgefährten Stefan Kornblum, ebenfalls Kommissar, ein Verhältnis gehabt. Schmiss sie sich jetzt an Thomas heran, dieses rote Gift mit dem ausgeprägten Profil? Sie kann ihn haben, dachte Margareta großmütig. Dann wird sie schon sehen, was er für einer ist, der tolle Thomas. Er suchte eine Mutti, eine typische Hausfrau, die ihn versorgte und immer lieb und brav war. Da wäre er bei Jenni Gehrke an der falschen Adresse. Sie hatte ein starkes Selbstbewusstsein, das kaum zu toppen war, und wechselte die Männer wie Unterhosen.
Jenni und Thomas machten sich über den Esstisch her, nahmen sämtliche Gegenstände in Augenschein und kommentierten sie. »Hier liegt ein Kugelschreiber. Warum nur ein Kugelschreiber und kein Block oder Zettel? Hat sich hier jemand etwas notiert?«
Thomas schaute Margareta fragend an, nahm eins der halb leeren Weingläser in die Hand, hielt es ins Licht. Jenni bestaunte die Häppchen auf den weihnachtlich geschmückten Tellern. Beide warteten auf Margaretas Antwort.
»Was weiß ich?« Das Notizbuch würde sie den beiden neunmalklugen Kripoleuten bestimmt nicht aushändigen.
»Deine Mutter wird Besuch gehabt haben. Und Anni kam den beiden in die Quere. Hatte sie nicht einen Schamanen kennengelernt bei einem Seminar über die Raunächte? War der Kerl hier und hat Waltraud verschleppt, nachdem er Anni niedergeschlagen hat?«
»War ich dabei? Nein.« Margareta reichte es. Sie wollte nicht länger zusehen, wie Thomas sich vor seiner Kollegin wichtigtuerisch aufspielte, und gedachte, Waltrauds Wohnung zu verlassen.
Doch der Arzt kam auf sie zu und fragte nach Annis Angehörigen. Währenddessen trugen die Sanitäter Anni zum Krankenwagen.
Margareta erzählte dem Arzt von Annis dementem Mann und ihrer auswärtig wohnenden Tochter.
Ein Polizeibeamter hatte zugehört und versprach, sich darum zu kümmern.
»Du kannst doch jetzt nicht gehen!«, protestierte Thomas mit roten Ohren, als sie sich erneut Richtung Wohnungstür wandte.
»Was soll ich noch hier?« Kopfschüttelnd verließ sie die Wohnung. Auch wenn es in diesem Moment unangemessen war, ärgerte sie sich über das Aussehen ihres Lebensgefährten. Seit vier Jahren lief er jeden Winter in dieser dämlichen Pelzimitatjacke herum, die aus der Erbmasse seines Vaters stammte. Darunter der Norwegerpulli mit dem ausgeleierten Rollkragen, an dem die Knötchen Hochzeit feierten. Ihr Thomas war ein richtiger Geizhals.
Im Treppenhaus traf Margareta auf Waltrauds Nachbarin Hildchen Stein. Die neugierige Alte hatte ihr gerade noch gefehlt. In alles musste sie ihre spitze Nase stecken. Dennoch hatte Hildchen bei ihr ein Stein im Brett. Vor ein paar Jahren, als Margareta verschleppt worden war, war sie mit Waltraud und Anni und dem Stadtstreicher, den Margareta zu Weihnachten aufgenommenen hatte, durch den ganzen Stadtteil gezogen, um sie aufzuspüren. Letztendlich war die Sache gut ausgegangen, jedenfalls für sie. Für zwei andere Personen weniger.
»Es ist so ruhig nebenan. Mutti nicht da?«, fragte Hildchen. Ihr gesteppter Morgenrock mit wildem Blumenmotiv hatte auch schon bessere Tage gesehen. Und ihr 4711-Duft vom Allerfeinsten zog durchs Treppenhaus.
»Nein, Mutti ist nicht da.« Margareta wollte nur weg, keine weiteren Fragen beantworten.
»Polizei und Notarzt. Da muss etwas passiert sein, dachte ich mir.«
»Sie haben richtig gedacht, Hildchen. Anni wurde niedergeschlagen. Von Mutti keine Spur. Ist Ihnen was aufgefallen? Die Kripo wird sicher gleich bei Ihnen klingeln.« Margareta fragte sich, ob sie nicht schon per Du mit Hildchen gewesen war. Egal, das Sie drückte Distanz aus.
»Der Kommissar ist ja Ihr Freund, nicht wahr?« Hildchen starrte Margareta an und dachte nach. »Gestern am Nachmittag ging es bei Waltraud lustig zu. Ein Mann mit einer dunklen Stimme brachte sie zum Lachen. Dass Anni bei ihr war, wusste ich nicht. Da hätte sie mich doch auch einladen können. Ich habe ihr erzählt, dass ich an Heiligabend alleine bin.« Hildchen zog ein beleidigtes Gesicht.
Mensch, die hatte Sorgen! Margareta dachte an den Heiligabend vor zwei Jahren, als ihre Mutter mit Hildchen und einer Schüssel Kartoffelsalat bei ihr zu Hause auf der Matte gestanden hatte. Damals hatte Margareta erfahren, dass Hildchen als Kind im Luftschutzkeller für die Nachbarn getanzt hatte. »Anni war vielleicht gar nicht eingeladen, sondern kam zufällig vorbei«, sagte sie zu Hildchen. »Na ja, dass so ein Überraschungsbesuch nicht gut kommt, sieht man ja jetzt.« Kaum ausgesprochen, bereute Margareta ihre bösen Worte.
Doch Hildchen bezog sie nicht auf Weihnachten vorletztes Jahr. »Dann ist ja gut, dass ich nicht bei Waltraud war. Wird Anni überleben?«
»Das hoffe ich doch.«
»Und Waltraud?«
»Ist spurlos verschwunden.«
Jammernd drehte sich Hildchen um und kroch zurück in ihre Wohnung, aus der Weihnachtsmusik drang.
Als Margareta eine Etage tiefer die Haustür öffnete, hörte sie Stimmen aus dem Keller. Die beiden Polizeibeamten sahen sich wohl dort unten um. Ob sie zu ihnen gehen sollte? Wobei … Wenn sie ihre Mutter gefunden hätten, hätten sie schon Alarm geschlagen.
Mit dem Notizbuch in der Tasche trat Margareta den Heimweg an. Sie brannte vor Neugier. Befand sich in ihm der Name des Täters, der ihre Mutter entführt und Anni niedergeschlagen hatte? Das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Während sie durch die winterliche Alleestraße lief, machte sie sich wieder bitterliche Vorwürfe, sich in den letzten Tagen nicht mehr um ihre Mutter gekümmert zu haben. Hätte, hätte! Diese miesen Gedanken brachten sie auch nicht weiter. Sie schüttelte sie ab und stapfte, zu Hause angekommen, entschlossen durch das dunkle Treppenhaus hinauf zu ihrer Wohnung. Sie würde Waltraud finden!
Margareta konnte es kaum erwarten, ihre Nase in das alte Büchlein zu stecken und Nachforschungen anzustellen. Zuerst jedoch befreite sie sich von den feuchten Winterklamotten, setzte Wasser für Kakao auf, schmierte sich ein Brot mit Teewurst und begab sich ins Wohnzimmer. Das Büchlein steckte sie in ein dickes Buch, in dem sie gerade las, damit Thomas es nicht bemerkte. Thomas! Sie stöhnte laut auf, als sie an ihn dachte. Sein beleidigtes Kleinjungengesicht, wenn er nachher hier auftauchen würde, konnte sie jetzt schon vor sich sehen. »Mittagessen noch nicht fertig?«, würde er fragen. »Du liegst herum und ich soll kochen?«
Sie hatte Wichtigeres vor, sorgte sich um ihre Mutter und natürlich auch um Anni. Hoffentlich konnte die ihr, wenn sie wieder zu sich käme, mehr erzählen.
Bevor Margareta sich endlich auf die Couch setzen und die Beine unter ihrer Wolldecke ausstrecken konnte, wurde sie mehrmals durch ihr Smartphone gestört. Hildchen wollte wissen, wie es Anni ging, woraufhin Margareta den Kopf schüttelte und mit den Augen rollte. »Anni ist vermutlich gerade erst in der Klinik angekommen und wird jetzt untersucht. Ich bin nicht bei ihr!« Brüsk beendete Margareta das Gespräch.
Des Weiteren meldete sich Christel, eine entfernte Cousine aus dem Stadtteil Horst, um ihr ein frohes Fest zu wünschen. Auf die Frage, wie es ihrer Mutter, der lieben Waltraud gehe, antwortete Margareta kurz angebunden: »Gut.« Was sollte sie dieser eigenartigen Cousine erzählen? Die verschwundene Waltraud wäre Wasser auf deren Mühlen. Dieses Horster Pack konnte sie sowieso nicht leiden.
Matthias Schröder, ein weiterer Anrufer, der Sponsor ihrer Ausbildung und guter Berater in allen Lebenslagen, merkte ihrer Stimme an, dass etwas nicht stimmte. Er war seit der schlimmen Sache mit seinem Sohn mit Waltraud befreundet. Matthias zwang sie regelrecht dazu, mit der Sprache herauszurücken. Also berichtete Margareta dem älteren Herrn von dem Vorfall bei ihrer Mutter und unterdrückte ihre Tränen. Matthias fragte sofort, ob er kommen solle, woraufhin Margareta erschrocken zusammenzuckte. Das hätte ihr gerade noch gefehlt! Thomas und Matthias, die sich eine Zeit lang als Konkurrenten gesehen hatten, hier zusammen auf sie einredend. Sie verneinte und versprach, ihn auf dem Laufenden zu halten.
Nun wollte sie endlich ihre Ruhe haben, stopfte das Handy unter ein Kissen und widmete sich dem kleinen, verklebten Buch.
Spannender konnte kein Krimi sein. Alte Erinnerungen und Anschriften, vor vielen Jahrzehnten von ihrer Mutter zu Papier gebracht. Die ersten zehn Seiten waren eine Art Kassenbuch. In krakeliger Schrift hatte sich ihre Mutter in den 70er-Jahren notiert, was sie gekauft hatte. Wozu? Um ihre Ausgaben vor ihrem geizigen Vater zu rechtfertigen? Gummistiefel zu 12,30 DM, Friseurbesuch mit Dauerwelle und Färbung zu 16,50 DM, ein großer Eimer Rollmöpse vom Fischmann, der damals noch durch die Straßen gefahren war, zu 10 DM. Was waren das für Preise gewesen!
Dann folgten zahlreiche Anschriften. Auch Cousine Christel aus Horst samt ihrer Mutter Klärchen und deren Mann Karlheinz waren darunter, mit Telefonnummer. Ob Christels Eltern noch lebten? Margareta erinnerte sich an die damals stets ausgehungerte Familie, die oft bei ihnen auf der Matte gestanden hatte, um den Kühlschrank leer zu essen.
Ganz hinten, bei den neueren Eintragungen am Ende des Büchleins, fand Margareta Matthias’ Anschrift und einige Bemerkungen, die sie zum Schmunzeln brachten.
Erste Raunacht: 25. auf 26. Dezember.
Weihnachten, Fest der Liebe. Eine gute Gelegenheit, über die Liebe nachzudenken, schließlich zieht Liebe Liebe an. Wir wünschen uns, mehr geliebt zu werden. Auf die Frage, ob man genug geliebt wird, kommen Zweifel auf. Die meisten werden sich eines Mangels bewusst, das Herz wird eng und die Energie stockt. Versucht man, die eigene innere Leere mit Liebe zu füllen, ist die Enttäuschung nicht weit.
Margareta blickte zu Thomas, der mit sich zufrieden vor dem Fernseher saß und Nüsse knackte. Erwartete sie zu viel von ihrem Partner? Hatte dieses Buch über die Raunächte etwa recht und sie wollte mit ihm ihre eigene Leere füllen? Margareta hatte es aus dem Altpapier gekramt und vertiefte sich nun darin. Könnte sie darin die Lösung entdecken, wie sie zu Waltraud fand? In einen Kasten gesetzt stand dort, sie möge heute Nacht auf die Reise durch die erste Raunacht gehen. Alle guten Geister würden sie begleiten, ihr den rechten Weg zeigen. Ein Licht würde für sie entzündet werden, wenn sie den Geist in der Dunkelheit nicht erkenne. Der Adler der Weisheit würde sie auf seinen Schwingen mitnehmen und die Augen öffnen für die Wunder und die Liebe, die auf sie warten würden.
Nachdem sie kurz aufgelacht hatte, wurde sie jedoch ernst und dachte nach. Sie befolgte den Rat, eine Kerze anzuzünden und ein paarmal tief ein- und auszuatmen. Denke nur an den Moment, sagte sie sich wieder und wieder. Sie schloss die Augen und lauschte ihrem Herzchakra. Fließt die Energie?
Um die Wirkung zu verstärken, zündete Margareta weitere Kerzen an und gab sich dem Duft nach verschiedenen Beeren und Kräutern hin.
»Sag mal, bist du noch ganz bei Trost? Was stinkt hier so? Was sollen die vielen Kerzen?« Genervt schaute Thomas Margareta an und besaß sogar die Dreistigkeit, abwertend mit dem Kopf zu schütteln.
»Ach, halte dich doch geschlossen! Ich kann in meiner Wohnung so viele Kerzen anzünden, wie ich will. Ich gebe mich der ersten Raunacht hin. Die führt mich vielleicht zu meiner Mutter. Außerdem, darf ich dich daran erinnern, was du alles getrieben hast, als deine Mutter ermordet wurde? Fast 100 Kerzen hast du in dem Ferienhaus im Sauerland angezündet und die ganze Nacht deine Mutter beweint. Einen Altar hast du für sie aufgebaut! Schon vergessen? Da bin ich noch weit davon entfernt.«
»Waltraud ist ja auch nicht tot, hoffe ich jedenfalls. Das kannst du nicht vergleichen! Außerdem hast du bis gestern alles, was mit den Raunächten zusammenhängt, als Humbug abgetan.« Thomas wurde ungern an die schlimme Zeit nach dem Tod seiner Mutter erinnert. Er trauerte noch immer um sie.
»Was meinst du mit ›hoffe ich jedenfalls‹? Rechnest du etwa damit, dass sie ermordet aufgefunden wird?« Empört stand Margareta vom Sofa auf, ging zum Schrank.
»Nein, natürlich nicht! Waltraud ist zäh. Die killt man nicht so leicht.«
Was für ein schwacher Trost. Margareta setzte sich wieder auf die Couch, griff zu dem Buch, in dem sich das kleine Notizheft befand, und widmete sich weiter den Eintragungen. Was Waltraud alles darin verewigt hatte! Sie blätterte weiter und stieß irgendwann auf den Namen Hemavati. Darunter eine Handy- und eine Festnetznummer, mehr nicht. Sie war versucht, seine Handynummer zu wählen, ließ es aber und zog stattdessen ihren Laptop auf den Schoß, um nach dem Mann zu googeln, aufmerksam verfolgt von den Blicken ihres Liebhabers. Immerhin hatte er ihr vor einer halben Stunde mitgeteilt, dass Annis Zustand stabil sei und man sie eventuell am nächsten Tag kurz sprechen könne. Von Waltraud weiterhin keine Spur. Obwohl er Bereitschaftsdienst hatte, machte Thomas keine Anstalten, nach ihr zu suchen. Nichts.
Schnell wurde Margareta im Netz fündig. Hemavati hatte eine eigene Webseite. In Wirklichkeit hieß er Norbert Schauerte, war ehemaliger Elektriker und erst 42 Jahre alt, was Margareta erstaunte. Waltraud war verliebt in einen Mann, der locker ihr Sohn sein könnte! Noch mehr verwunderte sie, wie freimütig er Dinge aus seinem Leben im Internet preisgab, die hier nicht hingehörten. Er war halt nicht die hellste Kerze auf der Torte, das war Margareta sofort klar.
Das Foto brachte sie zum Schmunzeln. Er sah aus wie ein Cherokee, saß auf einer Bank im Garten und schaute in den Himmel. Halblange, blonde Haare, ein schmales Gesicht, aus dem zwei blaue Augen hervorstachen. Sicherlich Kontaktlinsen, war Margareta überzeugt. Ihr fielen sämtliche Elektrikerwitze ein und sie fragte sich, wieso er umgeschult hatte und Schamane geworden war. Um alten Frauen Kokolores zu erzählen und ihnen anschließend das Geld aus der Tasche zu ziehen? Margareta schrieb eine Nachricht in den Kontaktkasten und gab vor, einen Kurs belegen zu wollen. Als Anschrift des Kursortes war die VHS in Arnsberg vermerkt, nicht sein Wohnort. Deshalb fragte sie nach seiner Adresse mit der Begründung, dass sie in den nächsten Tagen im Sauerland wäre und gerne vorbeischauen würde. Sicher würde dieser Schamane niemals seine Anschrift preisgeben. Vielleicht sogar Panik bekommen, weil er Waltraud versteckt hielt?
»Was suchst du? Hast du eine Spur? Nicht, dass du morgen wieder verschwindest, um in ganz Deutschland zu recherchieren. Ich sehe dieses gewisse Leuchten in deinen Augen.«
Thomas kannte sie ziemlich gut. Sie musste lächeln, was ihn dazu veranlasste, mutig einen Vorschlag zu unterbreiten. »Richte uns doch was Nettes zum Abendbrot. Ein Schnittchenteller wäre nicht schlecht, bisschen hiervon, bisschen davon. Dazu ein Gürkchen. Hm?«
Ihre eben noch gute Stimmung verschwand schlagartig. »Bei dir piept es wohl! Erst vor zwei Stunden hast du dir den letzten Rest der Gans reingehauen. Nun schon wieder essen?«
»Ich darf dich daran erinnern, dass ich die Gans gekocht habe.«
»Ist doch egal. Fakt ist: Wir haben erst vor zwei Stunden ausgiebig gespeist. Mit Rotkohl und Klößen.« Ihr wurde bewusst, wie viel sie schon in diesen Kerl investiert hatte. Meistens war sie es, die das Essen auf den Tisch brachte oder zumindest den Pizzaservice bestellte und bezahlte. Dazu kamen aufräumen, Wäsche waschen, bügeln und hinter ihm her putzen. Manchmal war sie kurz davor, ihn rauszuwerfen, wenn er nach einem ausgiebigen Bad die Nasszelle verließ. Lange hatte sie auch seine Mutter ertragen, diese aufgebrezelte, neugierige Frau mit den langen Ohrhängern, die ihr bis auf die Schultern gereicht hatten. In ihren engen Klamotten hatte sie wie eine Dame aus dem bestimmten Gewerbe ausgesehen. An den Tagen, an denen Thomas sie nicht getroffen hatte, hatten die beiden abends stundenlang wie ein verliebtes Pärchen telefoniert. Ja, und dann war sie im Winterurlaub ermordet worden. Thomas war in ein tiefes Loch gefallen, aus dem er nur sehr mühsam wieder herausgekrabbelt war.
Demonstrativ wendete sich Margareta wieder ihrem Buch zu. Sie war gerade bei einem interessanten Eintrag zu Heiligabend angelangt, als Thomas stöhnend den Nussknacker beiseitelegte.
Dann sagte er: »Eigentlich ein klarer Fall. Anni war einsam, wollte nicht allein sein mit ihrem dementen Mann. Sie hat sich am Heiligabend angezogen, richtig schick gemacht in ihrem roten Kostüm. Leider kam sie Waltraud gar nicht gelegen, die Besuch hatte. Ob der Besucher Hemavati war, wissen wir nicht. Ich habe mir diesen Schamanen mal im Internet angesehen. Ein ziemlich junger Typ. Falls er der Besucher war, was wollte er von Waltraud? Und ausgerechnet zu Weihnachten, wo er doch eine Frau hat!«
»Es war Hemavati, hundertprozentig! Was er wollte? Geld. Wahrscheinlich hat meine Mutter mit ihrer fälligen Lebensversicherung geprahlt.«
Thomas schaute sie mit ernstem Blick an. »Wieso bist du dir so sicher, dass es Hemavati war, der ihr ins Haus geschneit ist?«