Zechenbrand - Margit Kruse - E-Book

Zechenbrand E-Book

Margit Kruse

4,4

Beschreibung

Auf einem alten Zechengelände, mitten im Ruhrgebiet, wird hinter den historischen Gebäuden ein toter junger Mann im Schalke 04-Dress gefunden. Margareta Sommerfeld, Damenoberbekleidungsverkäuferin und passionierte Hobbydetektivin, hatte den Jungen noch kurz zuvor gesehen. Ist er zwischen die Fronten einer Investorengruppe und einer Bürgerinitiative geraten, die beide um die alte Zeche »Bergmannsglück« streiten? Ein weiterer Mord macht nicht nur Margareta klar, dass Eile geboten ist …

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Margit Kruse

Zechenbrand

Kriminalroman

Zum Buch

Trügerische Siedlungsidylle Auf dem alten Zechengelände »Bergmannsglück«, mitten im Ruhrgebiet, findet man an einem frühen Sonntagmorgen hinter den historischen Gebäuden einen toten jungen Mann im Schalke-04-Outfit. Margareta Sommerfeld, Damenoberbekleidungsverkäuferin, in ihrer Freizeit Hobbydetektivin und glühende Verehrerin der Tatort-Kommissarin Charlotte Lindholm, hatte den Jungen noch wenige Stunden zuvor auf dem Gelände gesehen. Nur fünf Tage später wird in der verwaisten Lohnbuchhaltung des Zechengebäudes ein erschlagener Mann aufgefunden, neben ihm ein fast leerer Geldkoffer. Nun ist Margareta nicht mehr zu bremsen. Ihre Ermittlungen konzentrieren sich zunächst auf eine Bürgerinitiative, die für den Erhalt der alten Gebäude auf dem Areal kämpft und gleichzeitig die Ansiedlung einer großen Firma verhindern will. Arbeitsplätze kontra Denkmalschutz – ein regelrechter Krieg mit Intrigen, Bestechungen und Verleumdungen wird entfacht. Für Margareta wird es zunehmend schwerer, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden …

Margit Kruse wurde 1957 in Gelsenkirchen geboren. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre Revier-Krimis »Eisaugen«, »Zechenbrand«, »Hochzeitsglocken« und »Rosensalz«. Sie ist ein echtes Kind des Ruhrgebiets. Seit 2004 ist die Gelsenkirchenerin als freiberufliche Autorin tätig. Neben etlichen Beiträgen in Anthologien hat sie bislang zahlreiche Bücher veröffentlicht. Labrador Enja ist stets dabei wenn sie sich auf Recherche-Tour begibt. Besonders der Hauptfriedhof ihres Heimatortes hat es der Autorin angetan. Margit Kruse ist Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: René Stein

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © GBV-Gelsenkirchen e.V.

ISBN 978-3-8392-4084-7

Prolog

Ruhe und Frieden.

Wie eine kleine Stadt.

Historische Backsteingebäude, leere Hallen und Maschinen­häuser, ein ehrfürchtiges Verwaltungs­gebäude.

Verlassene Straßen, Wege, Plätze,

überwucherte Hinterhöfe.

Platz zum Feiern, unendliche Weite.

Spaß haben, einfach Spaß haben.

Warum machst du das?

Mein Kopf platzt vor Schmerzen.

Entsetzte Augen schauen mich an.

Jemand läuft weg.

Bleib’ stehen, hilf mir, hilf mir!

Kommt er zurück?

Wird er mir helfen?

Ein Schatten über mir.

Ein erhobener Arm.

Entsetzen.

Wieso gerade du?

Schlag’ zu.

Bleierne Dunkelheit.

1.

Graue Doppel- oder Reihenzechenhäuschen mit steilen Giebeldächern zwischen altem Baumbestand. Erbaut Anfang des 19. Jahrhunderts für die Arbeiter der Zeche Bergmannsglück. Unterschiedlich große Gärten hinter jenen Häusern, meistens ein Stall in einem Anbau und oft ein Gartenhaus. Hier und da gurrende Tauben auf den Dachfirsten. Deutsche und türkische Nachbarn in friedlichem Nebeneinander.

In dem kleinen Garten eines 66 Quadratmeter großen Zechenreihenhauses in der Hasseler Körnerstraße ging an diesem Samstagnachmittag, trotz Hitze, die Post ab. Die Fahne von Schalke 04 an dem mindestens fünf Meter hohen Mast wehte fröhlich im seichten Wind. Gerade hatte die 2. Halbzeit begonnen, was dem krächzenden Radio zu entnehmen war, das auf der ins Häuschen führenden Steintreppe stand. Margareta hätte am liebsten den Stecker gezogen und den Kasten über die Hecke geworfen, direkt auf das alte Zechengelände. Es hörte sowieso niemand hin, alle redeten gleichzeitig, laut und erbarmungslos durcheinander.

Ihr Bruder Gisbert hatte zum Grillen geladen. Ein Highlight für ihre Mutter Waltraud. Sie hatte sich riesig gefreut, als er gestern anrief, um sie und seine Schwester zu informieren. Margareta hatte den Braten sofort gerochen. Gisbert wollte sie verkuppeln. Es war jedoch kein Bratenduft, der soeben herüberzog. Es war der Geruch von mittelprächtigem Männerschweiß, gepaart mit dem Odeur von vergossenem Bier. Nur Norbert Koslowski konnte so riechen. Er stand in voller Pracht vor ihr – mit einer Hand hielt er sich am Fahnenmast fest – und schwang Reden, dass ihr schlecht vom Zuhören wurde. Seit Gisberts Holde ihren Bruder einschließlich der beiden Gören verlassen hatte, hing er mit seinem Nachbarn, diesem Frührentner, ab. Sie hatten etwas gemeinsam. Auch Koslows­ki war von seiner Gattin verlassen worden. Er lebte jetzt allein mit seinem Sohn Kevin. Irgendwann hatte Gisbert wohl den kranken Gedanken gesponnen, ihr diesen ollen Pott andrehen zu wollen. Sie ist allein, er ist allein, da bringen wir die beiden zusammen, wird er gedacht haben. Puste­kuchen, ohne mich, sagte sich Margareta und zog ein grimmiges Gesicht.

Ihre Mutter sprengte fast den weißen Zehn-Euro-Kunststoffsessel, mit ihrem in eine gelbe Capri-Hose gepressten Hintern, der in den letzten Wochen dank Ferrero Küsschen und Muschelpralinen ordentlich an Umfang gewonnen hatte. Bei jedem ihrer Lacher wackelte der Stuhl bedenklich und schrappte über die Waschbetonplatten, was ein nerviges Geräusch verursachte. Tinnitus sei gegrüßt!

Gisberts Rathauskollegin Bettina Malicki war es zu verdanken, dass auf dem Grill Schweinefilets, Hacksteaks und Geflügelwürstchen lagen. Wohlwollend schaute die aufgetakelte Bettina auf den danebenstehenden Tisch, wo sie ihre mitgebrachten Salate drapiert hatte: Tomatensalat in der Tupper-Schüssel Eleganzia, Nudelsalat in der großen Tafelperle und den Feldsalat mit gehäuteten Mandarinenspalten in der Servierschale Allegra. Alles fettarm zubereitet, wie die Gestylte in ihrem kleinen Schwarzen aus Kunststoff mehrfach betonte. Ihr zu Ehren grillte Gisbert heute im gelben Lacoste-Polohemd und langbeiniger Jeans statt im Koslows­ki-Outfit – Feinrippunterhemd mit blauen Boxershorts.

»Letzte Woche gabet hier noch Schweinebauch und grobe Bratwurst. Gipptet heute kein Kartoffelsalat?« Mit lüsternem Blick starte Koslowski Bettina in den tiefen Ausschnitt und grinste.

»Ich hätte dir gerne eine Schüssel Kartoffelsalat gemacht, mein Junge«, meldete sich Waltraud zu Wort. »Da hat der Norbert nun mal recht. Grillen ohne Kartoffelsalat ist kein Grillen. Nicht wahr, Norbert?«

Freudig erregt gluckste Koslowski los. »Genau, so ’ne neumoderne Kacke, datt ist doch nix. Fettarm, pfui Teufel!«

Seine Reaktion war Waltraud wiederum peinlich. Sie senkte den Blick, denn sie wollte es sich nicht gleich mit der neuen Freundin ihres Sohnes verderben und schwieg lieber. Margareta sah keine Notwendigkeit, sich auf irgendeine Seite zu schlagen. Sie mochte die hohle Bettina ebenso wenig wie Norbert Kosloswki, der irgendwie Angst vor ihr hatte, was unschwer zu erkennen war. Erst neulich hatte sie ihn dabei erwischt, wie er mit sichtlichem Wohlgefühl und bei eintretender Dämmerung seinen Urinstrahl gegen seine Hecke hinten im Garten richtete.

Wenn er endlich verschwinden würde, dachte sie und starrte auf Koslowskis Füße, die in zerfledderten Birkenstocklatschen steckten. Ihr Blick blieb an seinen Parmehacken hängen und sie hätte würgen können. Sie hasste Männer mit Parmehacken. Sie fand, diese gelblich vertrocknete Hornhaut sah genauso aus wie Parmesan am Stück. Auch diese Masse konnte man mit einem Hobel bearbeiten: statt Käseraspel mit der Hornhautfeile. Die Konsistenz beider Streuselarten wäre die gleiche, ob vom Fuß oder vom Käsestück.

»Kevin is mit seine Kumpels auf Schalke«, versuchte Koslowski Margareta ein Gespräch aufzuzwingen.

»Dort ist er doch bei jedem Heimspiel, oder etwa nicht?«

»Ja, eigentlich schon. Ich mein’ ja nur.«

»Und du, was hast du heute noch vor?« Margareta schaute auf seinen hervorstehenden Bauch, der in einem besudelten Unterhemd Halt fand. Sie überlegte, ob er in dieser Kluft heute seinen Taubenstall gereinigt hatte und es sich bei den Flecken wohl um Kot seiner gefiederten Lieblinge handelte. Für Margareta völlig unverständlich, dass man in der heutigen Zeit noch Tauben hielt. Galten sie in den 1970er Jahren als die Rennpferde des kleinen Mannes, waren die meisten Taubenställe – soweit welche auf den Dachböden vorhanden waren – heute verwaist.

»Ja, gar nix hab ich vor. Gisbert hat mich zum Grilln eingeladen«, kam es patzig aus seinem mit Bierschaum verschmierten Mund.

»Ach wie nett.« Margareta und Bettina sahen sich an und waren ausnahmsweise einer Meinung.

Der verärgerte Koslowski drehte das Radio lauter und lauschte der aufgeregten Männerstimme, die live aus dem Stadion das Spiel moderierte.

»Hoffentlich zeigen se heute ma den Schwatzgelben, wo et lang geht«, ließ er gehässig verlauten.

»Ist doch egal, wer gewinnt, ob die Schalker oder die Borussen«, meinte Margareta gelangweilt und streckte sich auf ihrem Stuhl aus. Kaum ausgesprochen, konnte sie lautstarke Proteste aus vier Männer- sowie zwei Frauenmündern vernehmen.

Was mache ich hier eigentlich, fragte sie sich, während sie ihren Blick über das weite Hochplateau schweifen ließ, welches sich ihr hinter dem Gartenzaun präsentierte. Im Anschluss an das 90.000 Quadratmeter große stillgelegte Gelände der Zeche Bergmannsglück, mit seinen teilweise mystisch aussehenden Bauwerken, konnte man hinter den E.ON-Gebäuden an der Bergmannsglückstraße die Ruhröl-Chemie erkennen. Dieses Werk, wie es da in der Abendsonne lag, hatte Margareta schon als Kind fasziniert, wenn sie im Fahrradkorb mit Opa auf dem Drahtesel Streifzüge durch ihre Heimatstadt unternahm. Der Qualm aus den langen Schornsteinen, der für kurze Zeit auf ihnen thronte wie Sahnehäubchen, um anschließend in den Wolken zu verschwinden, war ein beruhigender Anblick. Daneben die vielen Kessel, kugel- oder zylinderförmig, aus denen es brodelte, endlos lange Rohre, rund und dick oder dünn und schmal, die diese Kessel miteinander verbanden.

Türme aus Stahl, die aussahen wie die Türme, die Gisbert früher als Kind aus seinem Trix-Baukasten gebastelt hatte. Dahinter befanden sich die sogenannten Halden, die später begrünt worden waren.

Die Realität holte sie ein. Sie wurde gefragt, ob sie lieber ein Hacksteak oder eine Geflügelwurst wollte. ›Nichts von beiden‹, hätte sie am liebsten geantwortet, ›ich würde jetzt lieber mit einem tollen Mann in einem italienischen Lokal bei einem guten Wein und meinem Lieblingsessen sitzen, statt hier in einem mickrigen Zechenhausgarten begrillt zu werden‹. Stattdessen redete sie sich ein, dass ihr Bruder es gut mit ihr meinte und entschied sich für eine Wurst.

Koslowski hatte derweil bewaffnet mit zwei groben Bratwürstchen auf der Steintreppe Platz genommen, was Margareta einen freien Blick zwischen seine geräumigen Hosenbeine gewährte. Wieso immer ich?, fragte sie sich, während sie einen Schluck aus ihrem Bierglas nahm. Waltraud und Bettina unterhielten sich über die Vor- und Nachteile der legendären Tupperware. Während Bettina behauptete, es gäbe keine Nachteile, hielt Waltraud dagegen, dass diese Plastikpötte, wie sie diese Behältnisse nannte, viel zu teuer wären.

Gisbert, Koslowski sowie die zwei anderen Grillgäste, die Nachbarn Heinz und Hubert von gegenüber, die nicht so krasse Ruhrpotturgesteine wie Koslowski waren, hatten nur Fußball im Kopf und gaben Prognosen ab, wer denn gewinnen würde.

Na ja, vielleicht besser hier zu sein, als allein in deiner Wohnung, tröstete Margareta sich. Da würde sie wahrscheinlich von Fenster zu Fenster laufen, um schlussendlich am Schlafzimmerfester stehen zu bleiben und rüber zu Karols ehemaligem Domizil zu starren, in der Hoffnung, die Zeit ein Jahr zurückdrehen zu können und ihn dort sitzen zu sehen. Schuhe reparierend, eingesperrt, um von ihr entdeckt zu werden. Doch Karol war Vergangenheit. Seine plötzliche Legalität, sein Emporkommen aus der Welt des kleinen Schuhmachers zu einem angesehenen Mann, der es beruflich in kürzester Zeit zu etwas gebracht hatte, war ihm zu Kopf gestiegen. Margareta, die er angeblich über alles liebte, genügte ihm plötzlich nicht mehr. Er ließ an seiner Potenz seine neue Sekretärin teilhaben, jung, blond und blöd, was Margareta gar nicht witzig fand. Als sie dahinterkam, war er wenigstens offen gewesen und gestand ihr alles. Noch am gleichen Abend flog er samt seinen wenigen Habseligkeiten aus ihrer Wohnung und zog zu Frau Jung-Blond-Blöd. Vergiss ihn, hämmerte sie sich zum hundertsten Mal ins Hirn. Vergiss ihn endlich. Lieb gemeint, dass Gisbert sich seitdem rührend um sie kümmerte, doch schließlich saßen sie in einem Boot: Zwei betrogene, ausgenutzte Seelen schipperten in einem maroden Kahn auf dem Rhein-Herne-Kanal. Wobei Gisbert gerade dabei war, ihr den alten Kahn alleine zu überlassen. Hatte er doch Bettina entdeckt. Bettina, bei der Margareta nicht zu sagen vermochte, wieso sie sich ausgerechnet Gisbert ausgesucht hatte. Er war weder vom Äußeren her der Brüller, noch verfügte er über herausragende innere Werte. Sie fragte sich oft, ob sie eine Spionin war, die vom Bürgermeister oder wer weiß wem auf ihn angesetzt worden war, um zu erfahren, was in der Bergmannsglücker Nachbarschaft in Bezug auf die geplante Firmenansiedlung für Meinungen vorherrschten.

Bevor Margareta jedoch den Kahn verlassen würde, um sich mit Koslowski zu verbünden, ruderte sie lieber weiter den Kanal entlang. Norbert Koslowski ging eindeutig zu weit. Einen Mann, der noch in den 70ern lebte, konnte sie nicht gebrauchen. Mochte sein, dass er ein gutes Herz hatte, doch wenn sie ehrlich war, interessierte sie an einem Mann momentan am allerwenigsten sein Herz.

Schließlich habe ich noch meine Mutter, sagte sie sich. Nervig, aber für mich da.

»Der Salat ist abba echt kein Schmackofatz«, ließ Koslowski soeben verlauten, wobei er mit seiner Gabel in der großen Tafelperle herumstocherte, um Nudelsalat zu Tage zu befördern. »Sowatt von mager schmeckt datt. Rutscht gar nich.«

Bettina schüttelte mit dem Kopf und grinste. Zum Glück nahm sie Koslowski mit Humor. Wenn sie Gisbert wollte, musste sie sich schließlich irgendwie mit seinem Nachbarn und gutem Freund arrangieren.

Den besser erzogenen Nachbarn von gegenüber, Hubert und Heinz, verging das Lachen, nachdem Margareta ihnen einen bösen Blick geschenkt hatte. Artig aßen sie ihre Hacksteaks mit Nudelsalat und tranken ihr Bier, ausnahmsweise aus Gläsern statt aus Flaschen.

Plötzlich ertönten markerschütternde Schreie aus sämtlichen Gärten der Zechenhaussiedlung. Koslowski sprang auf und hüpfte in seinen Boxer-Shorts wie ein Irrer durch den Minigarten, als führe er einen Befruchtungstanz auf. Gisbert warf die Arme gen Himmel. Ein Tor war gefallen: Einsnull für Schalke. Die Lautsprecher des Brüllwürfels krächzten, als würden sie gleich den Geist aufgeben. Waltraud schlug sich freudig erregt auf ihre Schenkel. Die beiden verschüchterten Nachbarsmänner freuten sich eher unauffällig.

Margareta schüttelte nur den Kopf.

»Ach, freu dich, ist doch schön«, meinte Bettina zu Margareta und gab dabei Gisbert einen Kuss auf die verschwitzte Wange.

»Was soll daran schön sein?« Margareta konnte der Fußballleidenschaft nichts abgewinnen. Ein Grund mehr, wieso Koslowski niemals für sie infrage käme.

Es blieb bei dem 1:0 für die Schalker. Wenige Minuten später war das Spiel zu Ende und Bettina trug den Nachtisch nach draußen. Eine große Schale Tiramisu, wie Margareta wohlwollend registrierte. Sie freute sich, dass es für sie einen Hauch von italienischem Flair gab. Sie nahm sich eine ordentliche Portion dieser göttlichen Speise und aß sie mit Appetit.

»Watt is datt denn?« Norbert Koslowski war entsetzt, als er die Nachspeise betrachtete. »Wieder sonn neumodischen Kram. Hättse ma Vanillepudding gekocht«, riet er Bettina.

Sie lachte und Margareta fragte sich, wie man als Frau derart in sich ruhen konnte. Wieso sie sich überhaupt für Gisbert interessierte, wollte nicht in ihren Kopf. Ihrer Meinung nach lebten sie in völlig verschiedenen Welten. Doch eine Spionin? Ihre einzige Gemeinsamkeit war das Buersche Rathaus und die Amtsstube, die sie teilten, nachdem Gisberts Kollege Walter – Waltrauds ehemaliger Lover – wegen eines Burn-outs vorzeitig in Ruhestand gegangen war.

Eine Stunde später – das Grillfeuer war bereits erloschen – stürmten knapp zehn Jugendliche in blauweißen Schalke-Outfits grölend den Nachbargarten. Allen voran Kevin, Koslowskis Sohn.

»Näh, näh, näh. Datt gipptet heut nicht. Nich wieda bei uns.« Völlig ungehalten sprang Koslowski über den kleinen Zaun auf sein Grundstück, wobei sein Bauch einen Hüpfer machte. Kurzerhand schmiss er die Meute feierfreudiger junger Männer aus dem Garten.

Kevin nahm es mit Humor. »Dann gehen wir eben aufs Zechengelände.« Und schon war die fröhliche Clique – einschließlich eines vollen Bierkastens – über den Zaun verschwunden, der Koslowskis Garten von dem Gelände trennte.

»Ihr wisst, datt datt verboten iss«, rief Koslows­ki den Jungs hinterher. Doch schon waren sie fort. Mehrmals kam Kevin zurück, um verschiedene Dinge aus dem Stall, der sich im Anbau des Zechenhäuschens befand, zu holen. Margareta mochte den freundlichen Jungen. Er war stets höflich, hatte gute Umgangsformen und sah zum Anbeißen aus, wie sie fand. Sie war der Überzeugung, dass er als Baby im Krankenhaus vertauscht worden war und niemals ein Abkömmling Norbert Koslowskis sein konnte.

Gisbert holte gut gelaunt eine Flasche Weißherbst aus dem Keller, die ihm Margareta sofort aus der Hand riss.

»Endlich mal was Gescheites zu trinken«, rief sie erfreut. Sie labte sich an dem guten Tropfen und ließ Bettina und Waltraud weiter ihr Bier trinken.

Die Ehefrauen von Heinz und Hubert hatten ihre Männer per Handy nach Hause beordert. Hinter der Halde sah man, wie die Sonne sich langsam verabschiedete. Aus dem Radio erklangen deutsche Schlager, was Margareta allerdings kaum mehr wahrnahm, da sie die Weinflasche nach und nach geleert hatte. Die Plastikstühle wurden so angeordnet, dass man die Jungs beobachten konnte, die inzwischen ein Lagerfeuer entzündet hatten und den Sieg ihrer Fußballmannschaft gebührend feierten.

»Wenn datt man gut geht. Irgendeiner geht doch bestimmt wieder Streife und dann gipptet Ärger. Ich hab den Kevin …«

»Lass gut sein, Norbert«, unterbrach Gisbert seinen Nachbarn. »Damit ist sowieso bald Schluss. Wenn tatsächlich die Rohrfirma das Gelände bekommt, haben die Jungs die längste Zeit dort gefeiert.«

»Datt glaubze doch selba nich. Die vonne Bürgerdingsda werden sich schon wehren.«

»Das wird ihnen wenig nützen. Die Stadt und die RAG sitzen am längeren Hebel. Allein die Aussicht auf die vielen neuen Arbeitsplätze. Da werden die paar Leutchen wenig ausrichten«, war Gisbert sich sicher. »Nur weil Anwohner sich durch den LKW-Verkehr der Firma gestört fühlen, geben die ihre Pläne nicht auf.«

»Die wolln doch datt Begegnungszentrum.«

»Mensch, Norbert, das Gelände ist riesig. Da wird doch eine alte Halle für sie abfallen.«

»Datt geht nie gut, beides. Entweder oder, sach ich.«

»Dich fragt aber keiner.« Gisbert reichte seinem Nachbarn eine Bierflasche und die beiden stießen an, bevor sie sich die kalte Flüssigkeit in die Hälse laufen ließen.

»Hass ja recht. Hier hinter datt Gelände sind wir ja weit vom Schuss und werden den Krach nicht so mitbekommen. Trotzdem bin ich für die neue Firma. So, wie jetzt, allet brach liegen lassen, iss auch keine Lösung.«

»Wo du recht hast, hast du recht, Norbert.« Da waren sich die beiden völlig verschiedenen Nachbarn einig.

Koslowski verschwand mit einem Blick auf das Lagerfeuer der Jugendlichen in sein Haus und Waltraud hastete um 22 Uhr zur Bushaltestelle, um den letzten 244er Richtung Buer zu bekommen. Margareta streikte, obwohl sie den gleichen Weg hatte. Sie hasste öffentliche Verkehrsmittel und war nach drei Gläsern Bier und einer Flasche Wein kaum in der Lage geradeaus zu laufen, geschweige denn Auto zu fahren. So nahm sie das Angebot Gisberts, in einem der Kinderzimmer zu nächtigen, ausnahmsweise an, obwohl sie seine Zigarrenkiste hasste. Zigarrenkiste war ihre Bezeichnung für Gisberts Eigenheim.

2.

Hans Meisel, ein Nachbar aus der Arndtstraße, sah eine Gestalt am Boden liegen, als er gegen sechs Uhr um die Ecke der großen Lagerhalle bog. Bodo, sein Rauhaardackel, trippelte mit eiligen Schritten genau darauf zu.

»Bodo, bei Fuß, komm sofort zurück!«, rief Meisel seinem Hund hinterher. Tatsächlich blieb der Hund stehen und schaute sein herannahendes Herrchen an. Herrchen im blauen Jogginganzug wusste, dass das Betreten des Geländes streng verboten war. Es war jedoch praktisch, den Vierbeiner in aller Früh dort seine Runden drehen zu lassen. Er sparte sich eine Plastiktüte und eine Menge dummer Sprüche seiner Mitmenschen hinsichtlich der Hinterlassenschaften seines Dackels. Er nutzte oft und gerne das Gelände, das er durch ein verstecktes Loch im Zaun problemlos betreten konnte.

Als er die Gestalt erreicht hatte, sah er, dass es sich um einen jungen Mann aus der Nachbarschaft handelte, den er zwar vom Sehen, nicht aber mit Namen kannte.

Er beugte sich zu ihm herunter. »Hallo, ist Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?«

Da der junge Mann ein Schalke-Trikot trug, nahm der Hundebesitzer an, dass er es wohl nach der Siegesfeier nicht mehr bis nach Hause geschafft hatte und in der lauen Sommerluft hier seinen Rausch ausschlief.

Die wachsweiße Haut des jungen Mannes und das angetrocknete Blut, welches aus einer Wunde am Kopf gelaufen war, die Meisel zwischen der zu kleinen Stacheln hochgegelter Haarpracht erspähte, machten ihm jedoch eines klar: Er war tot. Erst jetzt nahm er die Fliegen wahr, die sich auf den halb geöffneten Augen des Leichnams tummelten. Das Blut rauschte in Meisels Ohren, ihm wurde übel. Am liebsten hätte er seinen Hund geschnappt und sich davon gemacht. Erst jetzt sah er das kleine Rinnsal Blut, das vom Kopf bis hinter den Rücken des Opfers gelaufen und bereits geronnen war. Hier wimmelte es ebenfalls von Fliegen.

Hau ab, sagte eine Stimme laut und erbarmungslos in ihm. Sie werden Fragen stellen, was du hier zu suchen hattest. Es wird Belehrungen hageln. Und das heute. An diesem herrlichen Sonntagmorgen, wo er zum Schwimmen fahren wollte, mit seiner Frau und seinem Hund. Widerwillig zog er sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer der Polizei. Er gab den Fundort der Leiche an und musste sich jetzt schon die Frage gefallen lassen, was er überhaupt auf dem alten Zechengelände zu suchen hatte. »Gassi mit dem Hund«, sagte er. »Soso«, meinte der Polizeibeamte. Er sollte warten, bis die Polizei einträfe. Er leinte Bodo an und ging einige Meter an der Lagerhalle entlang. Auf der linken Seite befanden sich die Häuser der Körnerstraße. Alles war ruhig, die Anwohner schliefen. Bis vor kurzem wurden die Hallen zur Materiallagerung der RAG, der Ruhrkohle AG, genutzt, nachdem die Zeche in den 1960er Jahren stillgelegt wurde. Der Übertage­betrieb war allerdings bis zum Jahre 2008 weiter gelaufen. Nun war hier niemand mehr.

Er hatte das Gittertor an der Körnerstraße erreicht und sah die ersten Polizeiautos mit Blaulicht und Martinshorn vorfahren. Wozu solch ein Krach?, fragte er sich. Davon wird der Tote nicht mehr lebendig. Ein grün-weißer Polizeibus hielt direkt vor dem Tor. Ihm entsprangen drei Uniformierte und ein Mann in Zivil, der das Schloss öffnete. Für so schnell und pfiffig hatte Meisel die Polizei gar nicht gehalten, gleich den richtigen Mann dabei zu haben. Als das Tor offen war, fuhren die Polizeifahrzeuge auf das übersichtliche Gelände, bis sie ungefähr zwanzig Meter vor der Leiche zum Stehen kamen. Der grün-weiße Bus parkte direkt dahinter. Das Gewusel der Polizeibeamten und das Gezische und Gepiepse des Funkverkehrs, welches aus den offenstehenden Wagen drang, machten Bodo nervös. Er begann zu zittern, sodass Herrchen ihn zur Beruhigung auf den Arm nahm.

Einer der uniformierten Beamten gab ihm freundlich die Hand und fragte ihn nach seinem Ausweis, den er natürlich nicht dabei hatte. Meisel beantwortete geduldig alle Fragen, gab seine Personalien an und schilderte, wie er den Toten vorgefunden hatte. Einige der Beamten erspähten das abgebrannte Lagerfeuer, umgeben von zahlreichen Bierflaschen und Unrat, etwa zehn Meter von der Leiche entfernt, mitten auf dem asphaltierten Platz.

Sie redeten von Kripo und Spusi, während andere den Fundort, samt Feuerstelle, mit rotweißem Flatterband großräumig absperrten. Obwohl Bodo zitterte wie Espenlaub, wollte man Meisel nicht gehen lassen. Er sollte das Eintreffen Kommissar Blauländers abwarten.

»Bodo geht es echt nicht gut«, versuchte er verzweifelt dem Polizeibeamten, der seine Personalien aufgenommen und sich mit Breitmeier vorgestellt hatte, klarzumachen.

»Das tut mir zwar leid für Ihren Bodo, ein paar Minuten wird er sich jedoch gedulden müssen.«

Zwanzig Minuten später fuhr ein schwarzer BMW auf das Zechengelände und parkte zwischen den anderen Polizeifahrzeugen. Das musste Kommissar Blauländer sein, der mühselig dem Fahrzeug entstieg und auf den Hundebesitzer zuging, gefolgt von einem Kollegen.

»Helmut Blauländer, Kripo Gelsenkirchen«, stellte sich der gewichtige Kommissar dem jungen Mann vor und deutete auf seinen Assistenten. »Das ist mein Kollege Kornblum.«

»Sie haben den Toten gefunden? Sie wissen, dass Sie das Gelände hier nicht betreten dürfen?«, beschuldigte dieser sogleich Meisel.

»Das stimmt, ich habe den Toten gefunden. Das habe ich alles schon dem Beamten dort drüben erzählt. Ich weiß, dass ich hier nicht sein darf. Hätte ich mich lieber aus dem Staub machen und nicht die Polizei rufen sollen?« Den Tränen nahe drückte der Mann seinen zitternden Hund an sich. »Bodo hat Hunger. Es ist halb acht. Normalerweise isst Bodo um sieben.«

»Nun mal langsam, junger Mann. Ihr Name ist?«

»Hans Meisel. Ich wohne in der Arndtstraße.«

»Bodo wird nicht verhungern«, meinte Blauländer mit einem Blick auf den Rauhaardackel. »Außerdem isst ein Hund nicht, sondern er frisst.«

»Bodo frisst nicht, er isst«, widersprach Meisel vehement. Der dicke Kommissar mit seinem Blätterteiggesicht war ihm äußerst unsympathisch und er bereute bereits, nicht einfach abgehauen zu sein. Dann säße er jetzt schon satt und zufrieden mit Bodo und seiner Frau in seinem Wagen und würde dem Silbersee in Haltern entgegensteuern.

Das Gestell der Goldrandbrille, die neu zu sein schien, drückte sich in die fleischigen Wangen des Kommissars. Seine nervösen, grasgrünen Augen flitzten hinter den getönten Gläsern hin und her. Komischer Kerl, dachte Meisel, im Fernsehen sehen die Kommissare viel besser aus.

Helmut Blauländer taxierte Meisel von unten nach oben und wandte sich anschließend an seinen Kollegen. »Breitmeier hat gesagt, dass der Mann keine Papiere bei sich hat. Sie begleiten ihn nach Hause und lassen sich den Ausweis zeigen, Kornblum. Na los!«, setzte er hinzu, nachdem sein Untergebener ihn verschlafen anstarrte.

Meisel hatte die Faxen dicke. »Hören Sie, was soll ich denn alles mitnehmen, wenn ich um sechs Uhr morgens mit dem Hund Gassi gehe? Vielleicht noch mein Familienstammbuch?«

»Schon gut, schon gut. Hätten Sie nicht verbotenes Gelände betreten, hätten Sie jetzt keinen Ärger. Ihr Hund keinen Hunger und so weiter und so weiter.« Ich rede Unsinn, musste Blauländer sich eingestehen. Hätte er den Toten nicht gefunden, dann ein anderer. Wütend gab er Kornblum einen kleinen Schubs, der ihm ein ›Komm’ jetzt endlich und mach hinne!‹ signalisieren sollte.

Meisel drehte sich um. »Hätte ich das Gelände nicht betreten, wären Sie jetzt gar nicht hier.«

Wo er recht hat, hat er recht, dachte Blauländer und musste schmunzeln. Dann läge ich nämlich jetzt noch in meinem Bett, würde Kaffeeduft wahrnehmen, Anni in der Küche werkeln hören, langsam aufstehen, hinunter in die Küche gehen und mich zu meiner Frau an den Tisch setzen. Wie an jedem Sonntagmorgen. Während ich mein Rührei mit Speck verzehrte, würden wir über die Erlebnisse der letzten Woche plaudern, über die Kinder, die Enkel und über klitzekleine Nichtigkeiten, die das Leben interessant machten. Stattdessen musste ich mich heute Morgen eiligst in meine Klamotten schmeißen, die wegen meines Bereitschaftsdienstes direkt neben dem Bett auf dem Stuhl lagen, und ohne Frühstück los. In meinem Alter – immerhin werde ich nächste Woche 55 Jahre alt – und bei den Zipperlein, die mich quälen, gar nicht mehr so einfach.

Die Spusimänner, die inzwischen eingetroffen waren, machten sich in ihren weißen Anzügen an ihre Arbeit.

Verdammt jung, dachte Blauländer, als er sich den hübschen, am Boden liegenden Jungen anschaute. Wer hatte ihn auf dem Gewissen? Lagerfeuer, Bierflaschen und Scherben, alte Eimer, die wohl als Sitzgelegenheit gedient haben, ein Schalke-Schal. Allesamt Indizien für eine Feier unter Jugendlichen.

»Hier ist die Geldbörse des Jungen, in der der Ausweis steckt. Dazu Scheckkarte, reichlich Geldscheine, also kein Raubmord.« Polizeiobermeister Breitmeier reichte Blauländer die Börse. Der Kommissar nahm den Ausweis in die Hand. Kevin Koslowski, 1986 geboren, also 25 Jahre alt, wohnhaft in der Körnerstraße. Ein Steinwurf von hier, dachte Blauländer.

»Ein Mord aus Eifersucht vielleicht. Wer weiß«, sprach er eher zu sich selbst.

Polizeisirenen, Autotürenschlagen, Stimmengewirr, sowie das monotone Gurren zweier Tauben samt deren Gescharre an der Dachrinne direkt über dem Fenster rissen Margareta aus dem Schlaf. Sie fuhr hoch und musste sich erst orientieren. Schräge Wände, Wappenmuster an den Wänden, winzig kleine Fenster, die offen standen, Geruch von sauren Nierchen. Richtig! Ich bin bei meinem Bruder, fiel ihr plötzlich ein, habe in einer seiner winzigen Nisthöhlen im Dachgeschoss übernachtet, weil ich die Hacken abhatte.

Die beiden Tauben gurrten ungeachtet Margaretas Kopfschmerzen weiter Liebeslieder und brachten sie fast zur Weißglut. Taumelnd ging sie zum Fenster und klatschte in die Hände, worauf das verliebte Pärchen davonflog. Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass es erst kurz nach sieben war. Trotzdem schien die Sonne bereits jetzt erbarmungslos, was einen warmen Sommertag ankündigte. Sie zog die vergraute Gardine auf und konnte die Äste des Apfelbaumes im Garten sanft hin und her wogen sehen. Was sie erblickte, ließ sie sofort hellwach werden und ihren Rausch vom Vorabend vergessen. Keine hundert Meter weiter auf dem Zechengelände wimmelte es von Polizei. Hatte sie die Sirenen und das Türenschlagen doch nicht geträumt? Ein Haufen Polizeibeamter in Uniform und in Zivil rannten um eine am Boden liegende Gestalt herum. Nun erkannte sie, trotz der Entfernung, eine stattliche Person, die Erinnerungen in ihr wach werden ließen, die besser im Verborgenen geblieben wären. War die wohlgenährte Gestalt in der blauen Stoffhose und dem weißen Hemd nicht Kommissar Blauländer? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Sie lehnte sich aus dem Fenster, schaute rüber zu Koslowskis Haus. Der Herbert-Knebel-Verschnitt schien noch zu schlafen. Im Zimmer blickte sie sich nach einem Fernglas um. Auf dem Schreibtisch zu ihrer linken lag zwar allerhand Krimskrams, ein Feldstecher war jedoch nicht dabei.

Sie schob ihre Füße in die Sandalen, verließ das Zimmer und wollte ins Bad gehen, um geradewegs Gisbert in die Arme zu laufen, der aus seinem Schlafzimmer kam.

»Sag mal, was ist denn das für ein Scheißkrach draußen? Ich dachte, wir wollten ausschlafen?« Gisbert machte in seinem schwarzen Slip gar keine schlechte Figur, stellte Margareta fest.

»Das frag’ die Tauben deines Nachbarn und die Heerschaaren von Polizisten drüben auf dem Zechengelände. Du, Gisbert, ich habe ein komisches Gefühl.« Margareta ging ihm voraus die steile Treppe hinunter ins Erdgeschoss.

»Nicht schon wieder, Miss Marple. Du und deine Vorahnungen.«

Sie riss die Zwergentür zum Hof auf, nachdem sie diese entriegelt hatte, und stürzte in T-Shirt und Slip in den Garten. Ihre übervolle Blase war vergessen.

»Wo willst du hin?« Gisbert starrte sie verwundert an. »Zieh, dir erst mal ’ne Buxe an.«

Sie schaute ihren Bruder verdutzt an. Seine rötlichen Haare standen ihm zu Berge. Seine Haut sah so käsig aus, dass man seine Sommersprossen fast nicht sah. Er denkt das gleiche wie ich, wusste Margareta. Unausgesprochen waren ihrer beider Gedanken: Etwas Furchtbares musste passiert sein. Sie gingen durch den kleinen Garten bis zur Hecke und schauten hinüber. Margareta sah, wie Gisbert einen alten Metallkanister aufhob, der vor der Hecke in seinem Garten lag.

»Was ist das für ein Kanister?«

»Was weiß ich, gestern war er noch nicht da.« Gisbert schraubte den Verschluss ab und schnupperte an der Öffnung des Behälters. »Riecht nach Benzin.«

»Das müssen wir der Polizei melden. Vielleicht hat der was mit dem dort drüben zu tun.« Margareta zeigte in die Richtung der Polizeibeamten und einer Horde von Presseleuten, die inzwischen wie aus dem Nichts aufgetaucht waren und sich dreist ins Geschehen drängten.

»Lass’ uns abwarten. Erst mal sehen, was da drüben los ist.«

Obwohl Margareta die am Boden liegende Person aus der Perspektive gar nicht erkennen konnte, wusste sie, um wen es sich handelte. Ihre Intuition ließ sie ausrufen: »Es ist Kevin. Dort liegt Kevin!«

»Halt den Mund. Wenn Norbert dich hört. Woher willst du das denn wissen? Du machst uns noch alle verrückt.« Wütend schüttelte Gisbert seine Schwester an der Schulter. »Lass uns reingehen, muss ja nicht jeder mitkriegen, was ich für eine spleenige Schwester habe.«

Als Margareta eine Viertelstunde später angezogen und halbwegs frisch aus dem Bad kam, saßen Gisbert und Bettina schweigend am Küchentisch. Aus der Kaffeemaschine kamen glucksende Geräusche.

Kaum eine Minute später vernahmen die drei einen markerschütternden Schrei aus dem Nebenhaus. »Neeein, Neeein … Nich Kevin! Nich mein Kevin!« Es folgten Laute, die wie das Aufheulen eines verletzten Wolfes klangen. Ein völlig verzweifelter Klagelaut, dass einem angst und bange wurde.

Gisbert sah Margareta an. »Du wirst mir immer unheimlicher.«

Tränen liefen ihr die ungeschminkten Wangen herunter. »Du tust gerade so, als hätte ich ihn umgebracht.«

Fritz Bommer saß auf einem maroden Stuhl in seinem mit Schleiflackmöbeln bestückten Schlafzimmer und lugte mit dem Fernglas durchs Fenster nach draußen. Er trug eine graue Jogginghose und ein rotes T-Shirt, das schon bessere Tage erlebt hatte. Sowohl Hose als auch Shirt waren total verdreckt und voller Löcher. Weil er keine Lust hatte, sich abends umzuziehen, behielt er dieses Outfit nachts ebenfalls an. Er besaß eine weitere Jogginghose in blau sowie zwei weitere T-Shirts. Zu seiner Garderobe zählte auch eine kurze Popelinhose, die ebenfalls stark verschmutzt war.

Seit seine Mutter, mit der er zeitlebens diese kleine Zechenhaushälfte bewohnt hatte, gestorben war, fehlte ihm die Lust und die Kraft für den Haushalt. Mutti hatte ihm beigestanden, als er krank wurde und seine Arbeit verlor. Tag und Nacht hatte sie sich sein Gejammer angehört und versucht, ihn aufzumuntern. Gegen seine starken Depressionen kam die alte Frau jedoch nicht an. Irgendwann lag sie morgens tot in ihrem Bett. Alle meinten, es sei ein schöner Tod gewesen. Nimm es nicht so schwer, sie hatte ihr Alter, versuchten seine Verwandten und Nachbarn ihn aufzumuntern. Er war nun allein. Seine Geschwister kamen auf kurze Stippvisiten vorbei, gaben mit gerümpften Nasen gut gemeinte, aber nutzlose Tipps und verschwanden wieder.

Er hatte den Absprung aus dem Elternhaus – trotz dreijähriger Ehe – nie geschafft, war Muttis Verbündeter, als sein Vater auf der Zeche Bergmannsglück verunfallte. Nun war er ein 55-jähriges Wrack, das sich zu nichts mehr aufraffen konnte.

Sein Lieblingsplatz befand sich seither am Schlafzimmerfenster. Sein Lieblingsgegenstand: das Fernglas, mit dem er das alte Zechengelände beobachten konnte. Fast 40 Jahre seines Lebens hatte er auf dem Gelände bei der Ruhrkohle AG verbracht, das er täglich von seinem Fenster aus in Augenschein nahm. Zu Anfang unter Tage als Berglehrling, später, als die Schächte verfüllt waren, über Tage als Schlosser. Als die Werkstatt den Betrieb einstellte, beschäftigte man ihn als Lagerarbeiter, bis er krank wurde und Erwerbsunfähigkeitsrente beantragen musste. Seitdem lebte er von 812 Euro Rente plus 112 Euro Wohngeld mehr schlecht als recht. Seine Geschwister wunderten sich, wie er den alten Daimler, der vor seiner Tür stand, unterhalten konnte. Von dem würde er sich jedoch nie trennen. Mutti hatte die Ausflugsfahrten mit dem blauen Wagen geliebt. Außerdem hatte Mutti eine gute Bergmannsrente bezogen, als sie noch lebte und der Sparkasse nie getraut. Ihr Kissen – samt kaufkräftigem Inhalt – besaß nun er.

Er spürte kaum Mitleid, als er den Toten auf dem Gelände liegen sah. Mit dem Feldstecher beobachtete er Kevin Koslowskis Leiche und die vielen Polizeibeamten um ihn herum. Man wird mich befragen. Sollen sie ruhig kommen. Sie gehen wieder, dachte er und schlurfte hinunter in die Küche, um sich dort einen Kaffee aufzubrühen.

Wer hatte Mitleid mit mir, als meine Mutter starb? Ein paar fromme Worte, ein Händeschütteln, ein Schulterklopfer. Das war’s. Wieso sollte ich jetzt Mitleid haben? Er schaltete den Fernseher an und ließ sich vom Kinderprogramm einlullen.

3.

Rudi Thannhäuser wohnte in einem der sogenannten Steigerhäuser an der Bergmannsglückstraße, einer Straße mit hübschen Vorgärten, unweit des Verwaltungsgebäudes des alten Zechengeländes. Seine Doppelhaushälfte verfügte über 110 Quadratmeter und einem für Großstadtverhältnisse riesigen Garten von 800 Quadratmetern. Als die Zeche Hugo im Ortsteil Beckhausen vor einigen Jahren geschlossen wurde, ging der ehemalige Bergbauingenieur in den Vorruhestand. Der groß gewachsene Mann mit dem grau gewellten Haar war mit seinen 53 Jahren noch äußerst fit. Zum körperlichen Ausgleich spielte er in der Altherrenmannschaft des örtlichen Vereins SC Hassel Fußball. Geistig fit hielt ihn sein Posten als 1. Vorsitzender der Bürgerinitiative, die vor einiger Zeit entstanden war. Die Verbundenheit zur Zeche, auf der sein Vater und sein Großvater unter Tage gearbeitet hatten, sorgte für einen Zusammenschluss mit weiteren Nachbarn, um das Zechengelände Bergmannsglück mit seinen historischen Gebäuden vor dem Verfall zu bewahren. Ihr Wunschtraum war, diese alten Gemäuer unter Denkmalschutz stellen zu lassen und in einigen von ihnen ein Begegnungszentrum für die Bewohner der Umgebung zu errichten. Als es hieß, die Firma Wessel Rohr & Co. KG mit Hauptfirmensitz in Dortmund wolle sich auf dem Gelände ansiedeln, um eine neue Produktionsstätte zu bauen, kochte es in der Bürgerinitiative. Neue Mitglieder stießen hinzu, man traf sich zu Krisensitzungen, an der gelegentlich auch der Bürgermeister sowie der Firmenchef der Wessel Rohr KG, Peter Wessel, und sein Co. Raimund Fischer teilnahmen. Den Bürgermeister begeisterten die vielen neuen Arbeitsplätze, die in Aussicht gestellt wurden. Die Anwohner hingegen fürchteten den Abriss der alten Gebäude sowie den Lärm, der durch den LKW-Fuhrpark des Unternehmens in die Siedlung Einzug hielte. Schluss mit der idyllischen Ruhe, dachten sie. Eine Einigung schien nicht in Sicht. Der Stadtplaner Heribert Stempel, ein lockenköpfiger Brillenträger, versuchte zu vermitteln und die Belange beider Parteien unter einen Hut zu bringen. Seiner Ansicht nach wäre die Lärmbelästigung das kleinere Übel. Auch sah er kein Problem darin, zwei der alten Hallen für ein Begegnungszentrum bereitzustellen, was Peter Wessel jedoch ein Dorn im Auge war. Wenn es nach ihm ginge, würde er die alten Gebäude, obwohl Denkmalschutz bereits beantragt war, abreißen und neue Hallen bauen lassen. Doch da biss er bei der Bürgerinitiative auf Granit.

Unterstützt bei seiner neuen Aufgabe wurde Rudi Thannhäuser von seiner Gattin Annegret, die bis im Jahre 2008 in dem alten Verwaltungsgebäude der Ruhrkohle AG gearbeitet hatte. Stets war sie mit Leidenschaft ihrem Chef Hubertus Löschke, heute 75 Jahre alt und von allen in der Siedlung ›Der Professor‹ genannt, zu Diensten gewesen, bis er im Jahre 2000 den wohlverdienten Ruhestand antrat. Annegret war fortan als Sachbearbeiterin beschäftigt. Am letzten Arbeitstag 2008 war sie dabei gewesen, als die Lichter in dem Gebäude erloschen. Wie ein guter Kapitän auf einem sinkenden Schiff verließ Annegret als Letzte ihre Arbeitsstätte. Hubertus Löschke wurde von ihr in all den Jahren seines Ruhestands auf dem Laufenden gehalten. Außerdem schlug er drei Mal die Woche in seiner alten Abteilung auf, um nach dem Rechten zu sehen, hier und da Tipps zu geben oder einen Kaffee zu trinken. Annegret bot man 2008 einen anderen Verwaltungsposten einer auswärtigen Zeche an, den sie ablehnte. Sie nahm die kleine Abfindung und starrte seitdem aus dem Dachfenster ihres Hauses voll Trauer auf das Gelände. Fast täglich träumte sie sich in die alten Zeiten zurück. Gelegentlich traf sie sich mit ihrem alten Chef auf einen Kaffee bei ihm oder bei sich zu Hause. Sie kannten nur ein Thema: Wie schön war es damals … Löschke hatte noch einen Schlüssel zu dem alten Gebäude. So verschafften sich die beiden Zugang zu ihren alten Büros, in denen es mittlerweile verheerend aussah. Das Mobiliar war größtenteils entsorgt worden, die Wände und Böden waren verdreckt, Armaturen aus den Wänden gerissen. Trotzdem spielten sie alle paar Wochen Chef und Sekretärin, schlichen durch die Räume, platzierten sich dort, wo ihre alten Schreibtische standen und schwelgten in Erinnerungen. Von ihren Stippvisiten erzählten sie niemanden, es war ihr kleines Geheimnis.

Doch nicht nur in seiner Annegret hatte der toughe Rudi Unterstützung. Sein Nachbar, der schüchterne Udo Urbat, den er kurzerhand zu seinem Stellvertreter in der Bürgerinitiative ernannt hatte, stand ihm treu zur Seite.

Seit Udos Frau Ingrid das Weite gesucht hatte, war er froh um ein klein wenig Abwechslung. Er mochte Rudi und Annegret und die beiden liebten den stillen Udo, den blonden 49-jähringen Wechselschichtler der Ruhr-Öl AG. Seit seine Ingrid fort war, suchte er in seinem Hirn nach Gründen, wie das geschehen konnte. Er war sich keiner Schuld bewusst, ging stets fleißig seiner Arbeit nach, versorgte Haus und Garten ordentlich, war mit Ingrid im flaschengrünen Astra durch die Gegend gefahren, hatte versucht, ihr etwas zu bieten.

Ingrid hingegen war das irgendwann nicht mehr genug. Sie bekam graue Haare, wenn sie ihn nur mit seinem Spießerauto nach der Schicht die Auffahrt hinauffahren sah. Wenn er nach zwölf Stunden Maloche gebeugt aus dem Auto stieg, sich seine olle Ledertasche schnappte und mit tiefen Augenschatten die Tür aufschloss, hätte sie laut schreien können. Dass er zu allem Ja und Amen sagte, brachte sie auf die Palme. So packte sie eines Tages ihre Sachen und verschwand mit dem Tiefkühlkost-Verkaufsfahrer auf Nimmerwiedersehen.

Sie hatte es einfach zu gut gehabt, waren alle Freunde und Nachbarn sich einig. Man versuchte den lieben Udo aufzubauen. Er würde eine andere finden, eine, die besser zu ihm passe als die wilde Ingrid, meinten alle. Doch seit fast vier Jahren geschah in der Hinsicht gar nichts.

Niedergeschlagen saßen Rudi, Annegret und Udo im jämmerlichen Licht der alten Laterne im Garten der Thannhäusers. Die Sonne war fast untergegangen, das Feuer im kleinen Grill längst erloschen. Auf dem Teller daneben lag reichlich Grillgut in Form von Frikadellen, Nackenkoteletts und Würstchen. Auf dem Tisch warteten schmutziges Geschirr und eine halb volle Schüssel mit Kartoffelsalat darauf, abgeräumt zu werden.

»Soll ich uns einen Kaffee machen?«, fragte Annegret die beiden Männer. Sie schüttelten jedoch ihre Köpfe. Appetitlosigkeit und keine Lust auf einen Kaffee waren ein schlechtes Zeichen.

»Wer macht so was? Wer bringt so einen netten Jungen um? Und warum?«, fragte Rudi mehr sich selbst als die beiden Anwesenden.

Annegret schloss ihre Strickweste und verschränkte die Arme. Ein kalter Schauer fuhr ihr den Rücken hinunter, der weniger von der Außentemperatur herrührte, als von der großen Abscheu vor der Tat.

»Ein netter Junge, der Kevin«, sinnierte sie, »immer freundlich, immer höflich. Er hat mit der Kati von nebenan in einem Büro gesessen. Im nächsten Jahr hätte er seine Abschlussprüfung gehabt.«

»Was feiern die auch auf dem Gelände.« Udo schaute aus glasigen Augen phlegmatisch in die Gegend.

»Mensch, erzähl’ nicht so einen Mist«, regte Rudi sich auf. »Hast du in dem Alter nicht mal was Verbotenes gemacht? Häh?«

»Doch schon. Ob es einer von seinen Kumpels war?« Udo öffnete eine weitere Flasche Pils und ließ einige Schlucke glucksend in seinen Hals laufen.

»Kann ich mir schlecht vorstellen. Sonst hätte der Kommissar einen Verdacht geäußert.« Rudi bediente sich ebenfalls an dem Bierkasten. Wenn er schon nichts aß – was äußerst selten vorkam –, ertränkte er seinen Kummer wenigstens im kühlen Bier.

»Ich werde den Verdacht nicht los, der Mord hat was mit der geplanten Firmenansiedlung zu tun«, meinte Annegret.

»Jetzt spinn’ nicht rum. Wem sollte dieser unschuldige Junge im Weg gewesen sein?« Wütend schaute Rudi seine Frau an.

»Vielleicht wollte jemand ein Zeichen setzen?«

»Du spinnst, Annegret! Du hockst zu viel mit dem alten Löschke zusammen, diesem senilen Greis. Du warst vorgestern wieder im Verwaltungsgebäude. Ich möchte wissen, was ihr da treibt. Wenn der Kerl nicht 75 wäre und total ab von der Rolle, könnte man denken, ihr schiebt da ’ne Nummer.«

Tränen traten in Annegrets Augen. »Woher weißt du, dass wir drüben waren?«

»Das pfeifen die Spatzen bereits von den Dächern. Ihr beide seid jedenfalls nicht normal. Seit drei Jahren ist die Bude dicht. Wann geht das endlich in deinen Schädel? Such dir was anderes, wenn du es zu Hause nicht aushältst.« Rudi schlug mit der Faust auf den Tisch, woraufhin sich Annegret einen Teil des schmutzigen Geschirrs schnappte und weinend ins Haus trug. Die grobe Art und das mangelnde Verständnis ihres Mannes kränkten sie.

Udo sank wie ein nasser Sack zusammen. Auf seinem karierten Partyleibchen, welches er eigens für Annegret angezogen hatte, vereinten sich Flecken von Ketchup über Senf bis Kartoffelsalat. Dabei hatte er kaum etwas gegessen. Nervös knabberte er an seinen Fingernägeln. »Hättest sie ja nicht gleich so anzufurzen brauchen. Sie kann schließlich nichts dazu, dass der Junge tot ist.«

Rudi stand auf, fuhr sich mir der Hand durch sein volles Haar und stöhnte. Vom Tischchen neben dem Grill nahm er sich eine Frikadelle und schlang sie mit zwei Bissen hinunter.

»Die beruhigt sich schon wieder. Ist doch auch wahr. Was kraucht sie da dauernd in dem alten Bau rum? Damit erweckt sie die Firma nicht wieder zum Leben.«

Udo erhob sich ebenfalls und wankte zum Gartenzaun. Zum Glück hatte er es nicht weit, brauchte nur das kleine Törchen zu öffnen und befand sich auf seinem Grundstück.

»Komm Filou, ab ins Körbchen«, sagte er liebevoll zu seinem wuscheligen Vierbeiner, der seinem Herrchen brav hinterhertrottete.

»Vielleicht sollten wir mal wieder eine Versammlung einberufen? Besser die kotzen sich da alle aus, als bei irgendwem unter vorgehaltener Hand. Vielleicht erfährt man was.« Rudi schien von seiner Idee begeistert. »Lass uns das kurzfristig machen, drüben vor den Torhäusern. Ganz zwanglos, ein paar Bierzelttische und -bänke. Fertig.«