Holzklotzmisere - Marion Stadler - E-Book

Holzklotzmisere E-Book

Marion Stadler

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Beschreibung

Essing, im unteren idyllischen Altmühltal gelegen, hat eine tolle Touristenattraktion: den Tatzelwurm, eine Hängebrücke aus einer raffinierten Holzkonstruktion. Jene Brücke war und ist Schauplatz mehrerer Verbrechen – in der Vergangenheit und Gegenwart. Dorfkommissarin Mary Weidinger arbeitet zwar nur noch halbtags, aber ein Leichtsinniger, der Holzklötze von dieser Brücke auf fahrende Autos wirft, hält sie und ihre Kollegen in Atem. Erst recht, als es sogar ein Todesopfer gibt und auch noch ein Selbstmord geschieht.

Zur gleichen Zeit muss sich ihr Kollege Erdem Alemdaroglu um eine besorgte Komikerin kümmern, die verstörende Gedichte von einem anonymen Poeten erhält. Eigentlich hatte sie sich in Essing ihren heimlichen Rückzugsort vor dem Fantrubel schaffen wollen. Allerdings ist der Schwiegervater von Mary, der Opa, der größte Fan dieser Komikerin und gründet einen Fanclub. Das und die Vorkommnisse beim Tatzelwurm bringen das Dorf in Unruhe.

Mary hat das Gefühl, dass ihr Partner, der Bär, etwas aus seiner Anfangszeit als Polizist verschweigt. Und dann wird auch noch seine Frau beim Nordic Walking überfahren. War es ein Unfall oder Absicht? Der Fahrer ist flüchtig und auch beim Selbstmord tauchen Ungereimtheiten auf. Es gilt, vielen verwirrenden Spuren nachzugehen und endlich aufzudecken, wer der Gedichteschreiber ist. Oder stecken er und der Holzklotzwerfer unter einer Decke?

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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Nachwort
Weitere Veröffentlichungen

Marion Stadler

Holzklotzmisere

Über die Autorin:

 

 

© Mirjam Landfried, Kameraflimmern

 

Marion Stadler hält dem Altmühltal schon seit ihrer Kindheit die Treue. Sie lebt und schreibt dort, wo andere Urlaub machen, und ihre Krimis spielen: in Essing bei Kelheim in Niederbayern.

Als Agatha-Christie-Fan lässt sie sich von der großen Krimiautorin inspirieren. Durch ihre Arbeit zuerst in der Gastronomie und dann im Verkauf begegnet ihr außerdem immer wieder allzu Menschliches, was in ihre Krimis miteinfließt, wobei es in ihrer Heimat eher idyllisch und friedlich zugeht. Diese Idylle und die Sehenswürdigkeiten baut sie als Schauplätze in ihre Krimis mit ein. Inzwischen sind sechs Essingkrimis entstanden. Ihre Kommissarin Mary Weidinger und deren eigensinniger Schwiegervater erfreuen sich bei ihrer Leserschaft großer Beliebtheit.

Sie ist nicht nur Autorin, sondern auch Kunsthandwerkerin und leidenschaftliche Hobbygärtnerin.

 

 

Buchbeschreibung:

 

Essing, im unteren idyllischen Altmühltal gelegen, hat eine tolle Touristenattraktion: den Tatzelwurm, eine Hängebrücke aus einer raffinierten Holzkonstruktion. Jene Brücke war und ist Schauplatz mehrerer Verbrechen – in der Vergangenheit und Gegenwart. Dorfkommissarin Mary Weidinger arbeitet zwar nur noch halbtags, aber ein Leichtsinniger, der Holzklötze von dieser Brücke auf fahrende Autos wirft, hält sie und ihre Kollegen in Atem. Erst recht, als es sogar ein Todesopfer gibt und auch noch ein Selbstmord geschieht.

 

Zur gleichen Zeit muss sich ihr Kollege Erdem Alemdaroglu um eine besorgte Komikerin kümmern, die verstörende Gedichte von einem anonymen Poeten erhält. Eigentlich hatte sie sich in Essing ihren heimlichen Rückzugsort vor dem Fantrubel schaffen wollen. Allerdings ist der Schwiegervater von Mary, der Opa, der größte Fan dieser Komikerin und gründet einen Fanclub. Das und die Vorkommnisse beim Tatzelwurm bringen das Dorf in Unruhe.

 

Mary hat das Gefühl, dass ihr Partner, der Bär, etwas aus seiner Anfangszeit als Polizist verschweigt. Und dann wird auch noch seine Frau beim Nordic Walking überfahren. War es ein Unfall oder Absicht? Der Fahrer ist flüchtig und auch beim Selbstmord tauchen Ungereimtheiten auf. Es gilt, vielen verwirrenden Spuren nachzugehen und endlich aufzudecken, wer der Gedichteschreiber ist. Oder stecken er und der Holzklotzwerfer unter einer Decke? 

 

Marion Stadler

Holzklotzmisere

 

Dorfkommissarin Mary ermittelt 7

 

 

 

Kriminalroman

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© November 2023 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Daniela Guse – https://www.danibakerbooks.com/lektorat

Korrektorat: Julia Kuhlmann – https://www.juliesbookhismus.de/Korrektorat/

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

https://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock 599630428

 

 

Kapitel 1

 

Sonntag, 2. März 2003

 

Nscho-tschi zupfte in ihrem sexy kurzen Wildlederkleidchen mit Fransen und einer schwarzhaarigen Perücke wieder einmal am Kostüm von Old Shatterhand. Dieses Mal schon deutlich grantiger als vor einer halben Stunde. »Jetzt trink halt endlich aus. Ich will heim, Eisy. Ich bin saumüd!«

Ihr Freund, eben jener Eisy in dem Old Shatterhand-Kostüm, fühlte sich sichtlich in der Unterhaltung mit seinen Freunden an der Kellerbar gestört.

»Geh halt no-hochmal rauf in den Saal und ta-hanz noch eine Runde mit der Tina«, versuchte er hörbar lallend, sie, wie zuvor schon ein paar Mal, abzuwimmeln.

»Die Band hat doch schon vor zwei Stunden aufgehört zu spielen und die Tina ist schon längst mit dem Bernd heim«, schimpfte sie und boxte ihn auf seinen muskulösen Oberarm, dass die Fransen seines Wildlederhemdes wackelten.

Er jaulte übertrieben auf.

»Was jammerts denn sch-ho wieder, deine Sandy?«, fragte Sebastian neben Eisy, ebenfalls mit deutlichem Zungenschlag und genauso wie alle aus ihrem Freundeskreis als Cowboy verkleidet.

»Hei-heim wills«, antwortete der Befragte und verdrehte die Augen.

»Ah, geh, Sandy! Grad jetzt, wo’s so gemü-hütlich da in der Bar ist«, wandte sich Sebastian der Freundin Eisys zu, um sie zu beschwichtigen. »Geh h-her! Ich geb di-hir einen Batida aus.«

Aber Sandy wollte keinen Schnaps mehr. »Es ist gleich halb fünf in der Früh. Ich mag heim.«

»Also, dei Oide ha-hast du nicht im Gri-hiff, Eisy«, spottete Thomas, ebenfalls ein Freund aus der Clique im Cowboykostüm und mit schiefem Schnurrbart, genauso angetrunken.

Die anderen hinter und neben ihm lachten zustimmend.

Der Verhöhnte grinste breit und süffisant. »Die ha-hat halt noch was vor …«

Lautstarkes Grölen ließ ihn nicht zum Ende kommen.

»Du bringst heut doch sowie-hieso keinen mehr hoch«, stichelte Thomas wieder.

Doch Eisy wollte sich keine Blöße geben. »Du vie-hielleicht nimmer. Aber ich bin allzeit berei-heit.« Er wandte sich seiner genervt und ungeduldig wartenden Nscho-tschi zu, die inzwischen ihre schwere Perücke mit den beiden langen, schwarzen Zöpfen heruntergezogen hatte. Die blonden Haare darunter klebten an ihrem verschwitzten, hübschen Kopf.

»Freilich, Eisy!«, frohlockte sie übertrieben und grinste breit. »Du bist wie immer der Beste.«

Es gelang ihrem hochgelobten Freund mit seinem Alkoholpegel nicht wirklich, seine schmale Brust stolz zu schwellen wie Old Shatterhand seinerzeit im Film, doch immerhin schaffte er es, sie triumphierend an sich zu ziehen. »So-ho kenn ich meine Sa-handy.«

Während sie alle Mühe hatte sein schwankendes Gewicht, mit dem er sie mit seiner besitzergreifenden Geste belastete, auszutarieren, johlten die Freunde wieder. Sie knickte in ihren hohen Stiefeletten um und konnte sich gerade noch an der Theke abstützen.

»He-he, Sandy, hascht wohl auch ein bisserl zu viel de-herwischt, was?«, scherzte Ludwig, alias Sheriff Baxter, und kippte sein Glas mit Wodka Red Bull in einem Satz hinunter.

An ihnen vorbei, aus den Tiefen der inzwischen leeren und mit Luftschlangen und Girlanden verzierten Kellerbar, zwängte sich ein großer, ziemlich stattlicher Kerl.

»He, Jungs! Für euch wirds aber auch langsam Zeit«, mahnte er zum Aufbruch, den auch er offenbar im Sinn hatte. »Der Hubert hinter der Bar will zusperren. Es war eine lange Nacht.«

An seiner Hand hatte er eine zierliche, junge Frau, die so gar nicht zu dem Trumm Mannsbild passen wollte.

»Hey, Bärnreu-heuther!«, begrüßte ihn Thomas freudig und streckte die Hand nach ihm aus, um ihn festzuhalten. »Du wirscht doch nicht scho-ho schlapp machen? So ein Mannsbild wie du.«

»Mir langts für heut. Und euch auch, wie ich seh. Also lasst es gut sein und gehts heim«, versuchte der Bärnreuther ihnen ins Gewissen zu reden.

»Seit du bei der Po-holizei bischt, kann man mit dir auch nix mehr anfangen«, motzte Eisy.

»Ja, der Bär ist anschtändig gewo-horden …«, fügte Thomas hinzu. »Oder liegts an dei-heiner Karin?«

»Klein, aber ohoooo …«, gab Ludwig seinen Senf dazu.

Höhnisches Gelächter von sämtlichen Cowboys und Old Shatterhand folgte.

Der Bär kommentierte das Gespött nur mit einer abwinkenden Geste und ging mit seiner Freundin ungerührt weiter. »Dass mir keiner von euch in eurem Zustand Auto fährt. Ich glaub, meine Kollegen kontrollieren heut …«

Sandy, alias Nscho-tschi, die sich inzwischen aus der unangenehmen Umklammerung ihres Freundes befreit hatte, rannte ihnen hinterher und winkte mit einem Autoschlüssel, den sie Eisy unbemerkt aus der Gesäßtasche seiner Lederhose gezogen hatte.

»Ich fahr dann auch! Du kannst ja noch hierbleiben …«

Verdutzt, wie seine Freundin an seinen Autoschlüssel kam, schrie er auf. »He, schpinnst du! Das ist mei-hein Auto, du blöde Kuh!«

Er rumpelte ihr stolpernd hinterher, während wieder schadenfrohes Gelächter hinter ihm aufbrodelte.

Erst oben an der Garderobe neben der Eingangstür zum Festsaal des Wirtshauses, in dem vergangenen Abend der Faschingsball der hiesigen Feuerwehr stattgefunden hatte, holte er sie ein. Sie zog gerade ihre Jacke an.

Sandy wusste genau, wie wertvoll ihm sein Auto war und wie er es hasste, wenn jemand, insbesondere sie, ihm in seine Autoliebe dreinpfuschte. Manchmal fragte sie sich, was er mehr liebte: seinen Audi TT oder sie?

Er riss ihr grob den Schlüssel aus der Hand und fauchte sie jetzt ganz ohne zu lallen an: »Du blöde Schlampn! Mach das nie wieder!«

Damit hatte sie die Antwort und es gelang ihr kaum, ihre Tränen zurückzuhalten. All ihr Hoffen, er würde endlich weniger Alkohol trinken, sein Leben ein bisserl besser auf die Reihe bringen und sie endlich so lieben wie sie ihn, schmolzen wieder einmal dahin. Sie nahm sich vor, endlich Schluss zu machen, so wie ihre Freundin es ihr schon lange riet. Aber heute noch nicht, schließlich musste sie ja noch irgendwie heimkommen.

Als Eisy ihre Miene sah, wandelte er sich, streichelte ihr liebevoll eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, auf der das rotbraune Make-up glänzte.

»Hey, sorry …«, säuselte er ihr dann ins Ohr, als er sich an sie drängte.

Ihr erster Reflex war, ihn von sich zu stoßen, doch dann ließ sie sich seine Annäherung gefallen. Er konnte doch auch so liebevoll sein.

»Ich weiß, du magst es nicht, wenn ich beso-hoffen bin, aber wenn ich mit den Jungs unterwegs bin, gehts ha-halt nicht anders …« Zärtlich küsste er ihr Ohr und arbeitete sich dann an ihrem Hals hinunter. »Du könntest doch heut Nacht bei mir bleiben …«

Sie roch seinen miesen Atem und spürte an ihrer Hüfte seine wachsende Männlichkeit. Nein! Er durfte sie doch nicht benutzen, wie er es grad brauchte. Sie wollte ihn nüchtern haben, mit vollen Sinnen, aber das kam leider in letzter Zeit immer weniger vor. Darum wand sie sich aus seinen Armen, schlüpfte geschickt an ihm vorbei und lief durch die Tür endlich ins Freie. Es war eisig kalt und es schneite leichte, kleine Flocken.

»Also gut, ich bri-hing dich heim«, bot er an, als er ihr genervt hinterherrannte.

An seinem aufgemotzten, schwarzen Audi TT am Straßenrand angekommen, fragte sie lakonisch: »Es bringt wohl nix, wenn ich sag, dass es besser wär, wenn ich fahr.«

Er lachte nur hämisch, entriegelte die Türen mit der Fernbedienung und stieg wankend auf den Fahrersitz. Sie seufzte nur und nahm neben ihm Platz.

»Willst du nicht den Schnee erst von der Scheibe kratzen?«, fragte sie unsicher, als er den Motor aufheulen ließ.

Er betätigte den rechten Hebel hinter dem Lenkrad. »Hey, wozu hab ich Scheibenwischer?«

Doch die schafften es nicht, die angefrorenen Schneeflocken vollkommen von der Windschutzscheibe zu kratzen. Er sprühte Frostschutzwasser dazu. Bei jedem Wischer erweiterte sich ihr Sichtfeld und er fuhr los.

Sie wunderte sich wie jedes Mal, wenn sie mitfuhr, wie gekonnt er trotz seines Rausches sein Fahrzeug lenkte. Aber irgendwie war es kein Wunder, denn er verbrachte mehr Zeit mit dem blöden Audi als mit ihr. Wieder verfestigte sich der Entschluss, dem allem ein Ende zu machen. Sie hatte wirklich etwas Besseres verdient. Und ein gutaussehender Freund mit einem tollen Auto war eben auch nicht alles, das war ihr inzwischen klar geworden. Wieder rannen ihr Tränen über die Wangen und verschmierten ihr Make-up, während sie in zerrissener Feinstrumpfhose frierend neben ihm saß.

So früh am Sonntagmorgen war noch kein Schneeräumer unterwegs. Hier auf den Nebenstraßen zwischen den Dörfern lag der Schnee also noch einige Zentimeter hoch. Immer wieder schlitterte das Auto in einer Kurve, aber es gelang ihm stets, es in den Griff zu kriegen.

»Eisy, willst du nicht ein bisserl langsamer fahren?«, bat sie ängstlich.

»Jetzt stell dich nicht so an! Mei Audi und ich sind eins.«

Die frische kalte Luft hatte ihn offenbar ernüchtert, denn er lallte nicht mehr.

Endlich kamen sie zur Staatsstraße ins Tal. Hier lag weniger Schnee und es fuhren auch mehr Autos. So waren zumindest Spurrinnen auf der Fahrbahn. Und das verleitete ihn dazu, mehr Gas zu geben.

»Fahr langsamer, Eisy!«, bettelte sie wieder.

Doch er grinste nur und drückte noch mehr aufs Pedal. Vor ihnen oben auf dem Felsmassiv thronte die beleuchtete Ruine der Burg Randeck hoch über Essing.

Nur noch ein paar Meter, dachte sie sich erleichtert, dann bin ich endlich daheim.

Das Heck des Fahrzeuges schlingerte immer wieder gefährlich. Ihre spitzen, künstlichen Fingernägel gruben sich jedes Mal in seinen Arm, an den sie sich klammerte, und mit dessen Hand er den Schalthebel festhielt.

»Eisy, bitte, langsamer!«

Genervt von ihrer Jammerei und den piekenden Krallen, entzog er ihr wirsch den Arm und verriss dabei das Lenkrad, grad als sie unter dem Tatzelwurm, der geschwungenen Hängebrücke, durchfuhren. Wieder geriet der Audi ins Schlingern, brach auf der glatten Fahrbahn aus und schleuderte auf die Gegenfahrbahn, auf der gerade aus der Ortseinfahrt nach Essing ein roter Ford Fiesta einbog.

Eisy sah zwar in Sekundenbruchteilen und im Scheinwerferkegel das rote Ding auf sich zukommen, doch sein hektisches Gegenlenken und Bremsen zeigten diesmal keinerlei Wirkung. Das einschießende Adrenalin verdrängte den Alkohol in seinen Adern. Auf einen Schlag war er ganz klar, doch das nützte nichts. Sein TT gehorchte ihm nicht mehr. Als der Wagen sich seitwärts drehte, wartete er auf den Aufprall, der unweigerlich kommen würde.

»Eisyyyyyyy …«, kreischte Sandy neben ihm.

Dann krachte es und alles wurde schwarz.

Kapitel 2

 

Mittwoch, 22. Februar 2023 – 20 Jahre später

 

»Also da hat jemand tatsächlich mitten in der Nacht und mit voller Absicht einen Holzprügel vom Datzlwurm auf die Straß darunter geworfen?«, frage ich ungläubig nach, nachdem die beiden Kollegen Niedermayer und Strobl dem Bär und mir über die Ereignisse der vergangenen Nacht Bericht erstattet haben.

Ich wundere mich, dass ich davon nix mitgekriegt habe, wohne ich doch, wie auch der Bär, in Essing, wo diese Brücke steht. Ich allerdings im Ortsteil Altessing am anderen Ende, doch ich hätte zumindest die Sirene der Feuerwehr hören müssen, denn die ist sicher zum Unfallort ausgerückt. Anscheinend habe ich so tief geschlafen.

Mein Partner, der Bär, mit richtigem Namen Markus Bärnreuther, sitzt mir gegenüber an den zusammengestellten Schreibtischen in unserem Büro in der Polizeiinspektion Kelheim und wir wechseln erstaunte Blicke.

Der Niedermayer, mit Anfang dreißig einer meiner jüngsten Kollegen und Polizeimeister, der nicht nur musikalisch, sondern auch optisch erkennbar ein Fan von Elvis Presley ist, nickt zustimmend.

»Der Fahrer, der uns verständigt hat, ist frontal in den Holzklotz gekracht. Er sagt, der ist aus heiterem Himmel von oben herunter direkt vor seine Motorhaube gefallen. Es hat auch nix mehr geholfen, dass er sofort in die Eisen gestiegen ist. Als wir eingetroffen sind, war niemand mehr auf der Holzbruck.«

An dieser Stelle sollte ich erst mal erklären, um was es sich beim Datzlwurm eigentlich handelt. So wird nämlich in meinem Heimatdorf Essing eine der längsten Holzhängebrücken Europas im Volksmund genannt, wohl angelehnt an einen sagenumwobenen Lindwurm oder Drachen, dem die geschwungene Fußgängerbrücke ähnlich schauen soll. Sie überspannt mit ihren knapp 190 Metern den Rhein-Main-Donaukanal, der hier im unteren Altmühltal im sechs Kilometer entfernten Kelheim in die Donau mündet, und ist wegen ihrer optisch beeindruckenden Holzkonstruktion eine der Haupttouristenattraktionen des Marktes Essing. Unter der Fußgängerbrücke führt auch die Staatsstraße 2230 hindurch, auf der sich der Verkehr durch das Altmühltal hinauf und hinab an Essing vorbeiwälzt. Es ist schon ein faszinierendes Bild, wie sich diese außergewöhnliche Brücke quer durch das idyllische Tal spannt.

»Ist dem Fahrer was passiert?«, sorge ich mich.

»Sein Airbag hat ihn vor Schlimmerem bewahrt, aber sein Auto ist Schrott. Die ganze Front und die rechte Vorderradaufhängung samt der Achse sind hinüber«, erklärt mir der Strobl mit tief gerunzelter Stirn und fährt sich mit der Hand durch sein blondes, lichtes Haar. Er ist Polizeiobermeister und mit seinen 40 Jahren schon ein erfahrener Kollege. »Der Geschädigte hat echt Glück gehabt. Wenn der Werfer den Holzklotz nur eine Sekunde später fallen lassen hätt, dann wär der in seine Windschutzscheibe gekracht.«

»Wer macht denn so was?«, regt sich der Bär mir gegenüber auf und bekommt einen roten Schädel. »Das ist ja wie Russisches Roulette.«

»Also wenn du mich fragst, ist das ein totaler Spinner, oder jemand, dem ziemlich langweilig ist«, kommentiert der Strobl, und schüttelt ungläubig den Kopf. »Aber es muss jemand sein, der kräftig ist, weil der Holzklotz doch ein ganz schönes Gewicht hat.« Mit beiden Armen, die er vor sich zu einem Kreis zusammenführt, deutet er den Durchmesser des unfallverursachenden Corpus Delicti an. »Der Eichenstamm ist bestimmt 60 Zentimeter dick und wiegt gut und gern 30 Kilo. Schlepp den mal auf die Brücke rauf und hiev den dann auch noch über das Geländer.«

»Es könnten also auch zwei Täter gewesen sein?«, grübelt der Bär laut.

»Gut möglich«, stimmt ihm der Strobl zu. »Aber wie gesagt, haben wir weit und breit keine Menschenseele gefunden.«

»Keine Spuren im Schnee?«, hake ich nach, denn es hat in den letzten Tagen ziemlich viel geschneit und der Schnee ist bestimmt auch auf den Holzdielen der Hängebrücke liegen geblieben.

»Spuren jede Menge, aber da gehen jeden Tag ein Haufen Leut drüber«, liefert der Niedermayer weiter seinen Bericht ab. »Außerdem wars ja um halb sechs noch dunkel und wir haben nur mit Taschenlampen ein paar Spuren verfolgt, die sich aber unter all den anderen verloren haben.«

»Hat der geschädigte Autofahrer denn jemanden gesehen?«

Der Niedermayer schüttelt den Kopf. »Schock! Der Notarzt hat ihn vorsichtshalber ins Krankenhaus bringen lassen.«

»Was habt ihr mit dem Holzklotz gemacht?«, will der Bär wissen.

»Liegt in unserem Kofferraum«, erklärt der Strobl. »Da wollt ich dich eh noch fragen, wie wir mit der ganzen Sache weiter verfahren.«

Die drei Männer schauen mich abwartend an.

»Zwei Kollegen von der Nachtschicht sollen die kommenden Tage in Essing Streife fahren und die Brücke im Aug behalten.«

»Also der Pollinger und die Anke?«

Ich nicke zustimmend. Der Pollinger ist genau wie der Elvis-Niedermayer mit Ende Zwanzig einer der jüngsten in meiner Dienstgruppe. Ein halbstarkes Bürscherl, wie der Bär ihn ab und zu betitelt, aber ziemlich durchtrainiert und fit. Wenn den Holzklotzwerfer also jemand stellen kann, dann er. Und Anke, die sich aus Flensburg hierher versetzen hat lassen, und erst seit letztem August bei uns ihren Dienst tut, hat das Know-how dazu. Sie hat ein helles und auch hübsches Köpfchen.

»Ja, die zwei passen perfekt«, verkünde ich zufrieden. »Und ihr zwei liefert mir noch den Bericht zu dem Unfall.«

Der Niedermayer und der Strobl nicken mit unzufriedenen Mienen und gehen.

Immer wieder hört man im Radio Warnungen vor Steineschmeißern, die sich auf Autobahnbrücken ihren makabren und oft tödlichen Spaß erlauben. So was hatten wir hier meines Wissens im Landkreis Kelheim noch nie und in meinem beschaulichen, idyllischen Heimatort Essing schon gleich gar nicht.

Der Bär lehnt sich in seinem alten, abgewetzten Bürosessel zurück, der unter seinem jetzt wieder doch recht ansehnlichen Gewicht qualvoll knarzt: »Das sind bestimmt zwei halbstarke Rowdies, die sich einen Nervenkitzel holen wollen, wenn sie da so mir nichts dir nichts Holzklötze auf Autos werfen.«

Ich erinnere mich an einen ähnlichen Fall, der vor ein paar Jahren in der Presse ziemlich hohe Wellen geschlagen hatte, bei dem zwei junge Männer im Rausch und Übermut Pflastersteine von einer Autobahnbrücke geworfen hatten. Eine Autofahrerin war damals ums Leben gekommen, mit im Auto ihre beiden Kinder und ihr Ehemann.

So weit soll es hier bei uns aber niemals kommen!

»Hoffen wir, dass denen vergangene Nacht beim Anblick des kaputten Autos klargeworden ist, was sie da tun.«

Kapitel 3

 

Samstag, 25. Februar 2023

 

Ich bin von der Feuerwehrsirene, die im Tal widerhallt, schon wach, als mein Handy auf meinem Nachtkastl die Bayernhymne spielt. Also ist was Schlimmeres passiert, schwant mir. Ich setze mich auf und nehme das Gespräch an, das aus der PI in Kelheim kommt, wie mir mein Display anzeigt. Ich schiele nebenbei auf meinen Radiowecker: 00:11 Uhr.

»Servus, Mary«, begrüßt mich der Kollege Obeth. Er ist unser Zuständiger für Pressemitteilungen und meist auch für die Telefonzentrale.

»Was gibts?«

»Sorry, dass ich dich aufweck, aber wir haben schon wieder einen Holzklotzwerfer beim Datzlwurm.«

»Kruzinesn!«, fluche ich und schlüpfe aus dem Bett. Diesmal will ich vor Ort sein. »Hat es jemanden erwischt?«

»Nur das Dach eines SUV. Der Pollinger und die Anke sind schon dort. Sie haben gesagt, ich soll dich hinbestellen.«

»Bin schon unterwegs.«

»Was … passiert?«, murmelt mein Mann Toni in seinem Bett, als ich zur Tür husche.

»Schon wieder ein Holzklotzwerfer.«

Er grummelt unzufrieden und kuschelt sich wieder in seine Daunendecke. Der hats gut, ich muss jetzt raus in die klirrende Kälte. Obwohl! Als Hauptkommissar im Polizeipräsidium Regensburg hat er auch nicht grad die besten Arbeitszeiten.

Nur eine Viertelstunde später bin ich schon an der Abzweigung nach Neuessing. Nordwestlich talaufwärts gelegen, ist es der bekanntere Ortsteil des Marktes Essing, zu dem auch Altessing, wo ich wie gesagt wohne, gehört. Über zwei Kilometer Länge erstrecken sich die beiden zusammengewachsenen Ortsteile zwischen den monumentalen Felsenwänden, der Altmühl, dem Rhein-Main-Donaukanal und unzähligen Radwegen auf dem Boden des unteren Altmühltals. Es gibt eine Dorfstraße, die sich durch den Markt zieht, und eben die parallel verlaufende Staatsstraße 2230, die außerhalb daran vorbeiführt. Kaum auszudenken, wenn heute noch, wie vor dem Bau des Kanals und der dazugehörigen Infrastruktur, der ganze Verkehr durch den engen Ort führen würde.

Jene Abzweigung beim Datzlwurm von der Staatsstraße auf die Dorfstraße ist aber schon immer sehr unfallträchtig. Eben weil viele Autofahrer vom Anblick der Brücke abgelenkt sind und es eine Abbiegespur und keine Geschwindigkeitsbegrenzung gibt. Außerdem meinen viele Radfahrer, sie müssen an dieser heiklen Stelle die Straße zum Zugang zur Brücke überqueren, obwohl es ein paar hundert Meter auf- und abwärts des Radweges Unterführungen gibt. Aber jemand, der was von der Brücke auf darunter durchfahrende Autos wirft, ist dann doch mal was Neues.

Ich parke meinen roten Fiat 500, den ich nun schon seit einem halben Jahr stolz mein Eigen nennen darf, am Straßenrand hinter dem Notarzt und Feuerwehrfahrzeug und schlängle mich am Warndreieck und den orangen Pylonen, mit denen die Kollegen bereits die Unfallstelle abgesperrt haben, vorbei. Einige Feuerwehrler der Essinger Wehr sichern ebenfalls den Ort des Geschehens und leiten den Verkehr, der in dieser späten Nachtstunde überschaubar ist, vorbei. Ich grüße sie und gehe zielstrebig weiter zu Anke und dem Pollinger. Sie stehen am Sanka, oberhalb des Unfallautos, das halb im Straßengraben liegt. Schon von Weitem sehe ich die zerborstene Heckscheibe des SUV, und einen großen Holzklotz, der auf der Fahrbahn liegt. Offenbar ist die Presse auch schon da, denn eine in einen riesigen Schal eingemummte junge Frau schießt Fotos.

»Guten Morgen«, grüße ich und stelle mich dem Ersthelfer vor.

Meine Kollegen und der noch recht junge Notarzt grüßen zurück.

»Dr. Hirsch klärt uns gerade über seinen Patienten auf«, zieht mich Anke in ihrem reinsten Flensburger Hochdeutsch in das Gespräch mit ein, das ich unterbrochen habe.

Der Arzt fühlt sich dadurch in der Pflicht, mit seinem Bericht noch einmal von vorn anzufangen:

»Der Fünfundfünfzigjährige hat einen schweren Schock erlitten. Soweit ist er stabil. Nach eigenen Angaben hatte er bereits einen Herzinfarkt. Darum lass ich ihn zur Beobachtung ins Krankenhaus bringen.«

Ich bin erleichtert.

»Wir haben schon die Personalien aufgenommen«, fügt der Pollinger hinzu.

»Mir wärs lieber, ihr hättet den Werfer schon festgenommen und in eurem Dienstwagen verstaut«, zeige ich meinen Unmut darüber, dass sie ihrem Auftrag, die Brücke im Auge zu behalten, offensichtlich nicht nachgekommen sind. Ich schiele zu ihrem Auto, das in der Parkbucht an der Dorfstraße parkt. »Oder sitzt er etwa da drin?«

Verlegen weichen mir Anke und der Pollinger aus. Ich stopfe meine Hände in die Taschen meiner Daunenjacke. Kruzinesn, ist das kalt! Die Temperaturanzeige in meinem Auto hat eben minus sechs Grad angezeigt.

Erstere beteuert entschuldigend: »Wir haben Wache gehalten, aber wir haben niemanden gesehen.«

Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie langweilig so eine Observierung, wenn man sie denn so nennen mag, sein kann, und dass man da gern mal eine Zeitlang ins Handy glotzt oder einem die Augen zufallen. Ehrlich gesagt, hatte ich auch nicht mehr damit gerechnet, dass es der Werfer noch einmal wagen würde. Wir wurden eines Besseren belehrt.

»Ist schon das zweite Mal«, gibt auch Dr. Hirsch zu verstehen, dass er im Bilde ist, und fügt für meinen Geschmack ein bisserl zu spöttisch hinzu: »Ich hoff, das wird jetzt keine neue Sportart.«

Einer der Sanitäter öffnet kurz die Hecktür und gibt dem Notarzt Bescheid, dass sie bereit für den Abtransport sind. Daraufhin verabschiedet er sich und haut ab, genau wie der Sanka gleich darauf. Gott sei Dank! Der gschaftige Arzt hat sich gleich mit seiner blöden Bemerkung unsympathisch bei mir gemacht.

»So, und jetzt ganz von vorn«, beginne ich und stoße dabei Atemnebel aus. »Habt ihr den Fahrer befragen können?«

Die zwei schütteln verschämt ihre Köpfe.

Die blonde, schlanke Anke, die sich dick in ihren dunkelblauen Polizeianorak gepackt hat, antwortet aber schneller: »Ging nicht. Der hat nur geschlottert, die Augen verdreht und nach Luft gejapst, das war grausam.«

Ich sehe ihr an, dass sie von der Situation immer noch mitgenommen ist. Mit knapp dreißig und frisch ausgebildet, ging es mir ähnlich. Wieder einmal vergleiche ich mich mit ihr vor zwanzig Jahren. Damals sah ich genauso schmächtig aus, war genauso alt, unsicher und unerfahren wie sie. Noch bis heute, wo ich kurz vor meinem Fünfzigsten stehe und schon über dreißig Dienstjahre hinter mir habe, warte ich auf die Routine und die Abgebrühtheit, wenn wir im Dienst verletzte oder verstörte Unfallopfer oder Tote sehen, Schlägereien schlichten oder andere brenzlige Situationen meistern müssen. Meine älteren Kollegen meinten damals immer, dass ich mich schon dran gewöhnen würde, aber das ist nicht passiert. Es gelingt mir vielleicht, es nicht gleich an mich heranzulassen und gelassen zu bleiben, aber berühren tut mich immer noch alles. Darum spare ich mir auch weitere Vorwürfe oder Anschuldigungen. Vor den Augen meiner beiden Kollegen ist ein Unfall passiert, den sie eigentlich verhindern hätten sollen. Das ist schon Strafe genug für die zwei.

Nachdenklich schaue ich zu dem Holzklotz hinüber. Er stimmt mit der Beschreibung des ersten Falles überein: eindeutig Eiche. Also wieder eine Trumm Baumscheibe mit gut und gern 50 cm Durchmesser und genauso hoch. Er sieht ein bisserl ramponiert aus: An einer Stelle fehlt ein Stück Rinde, hier ist eine Kante abgeschürft und dort eine große Delle. Mein Blick wandert weiter zum Unfallfahrzeug. Bei dem silbernen Nissan ist das hintere Dach ziemlich demoliert und die Heckscheibe eingedrückt. Sie ist in tausend Teile zerborsten, aber ansonsten noch ganz. Anscheinend ist der Holzklotz diesmal zuerst auf dem Dach aufgeschlagen und dann weiter auf die Fahrbahn geprallt.

»Was habt ihr gesehen?«

»Der Fahrer ist aus Richtung Riedenburg gekommen. Auf einmal hat es gekracht, dann Reifenquietschen und dann ist das Auto vor uns über die Straß geschlittert«, berichtet mir der Pollinger.

Anke fährt fort: »Wir sind sofort ausgestiegen. Ich hab erste Hilfe geleistet und der Pollinger ist gleich zur Brücke gesprintet.«

»Ja, aber da kam mir niemand entgegen und auch als ich raufgelaufen bin, war weit und breit niemand zu sehen.«

Forschend blicke ich zu der Stelle der Brücke hoch, wo der Werfer über der Fahrbahn gestanden haben muss. »Schritte hast du auch keine gehört?«

Immerhin könnte der Täter auch über die Brücke zur anderen Seite des Tals gelaufen sein. Aber es gibt dort drüben nur Wald, Wiesen und ein paar Holzschuppen.

»Da war niemand, glaub mir«, bleibt der Pollinger eisern. »Und wenn er rüber gelaufen wär, hätt ich ihn sehen müssen.«

Seit einigen Tagen ist es sonnig und trocken, aber nachts auch sehr kalt. Der wenige Schnee von letzter Woche ist in der Sonne geschmolzen und so können wir Spuren ebenfalls vergessen.

»Ich schicke trotzdem den Niedermayer und den Strobl rüber. Die sollen sich dort mal in den Schuppen umsehen«, beschließe ich.

Der Pollinger deutet auf die Staatsstraße hinüber, auf der die Feuerwehrler dabei sind, das Abschleppauto einzuweisen. Die Frau von der Presse fotografiert immer noch.

»Wir haben die Bremsspuren schon vermessen. Der Fahrer wird ungefähr 100 km/h gefahren sein, als ihn der Holzklotz getroffen hat.«

»Da wills aber jemand wirklich wissen«, grüble ich, denn offensichtlich versucht es der Werfer immerhin schon das zweite Mal.

Ein weiteres Mal muss ich unbedingt verhindern, bevor es noch zu was Schlimmerem als Sachschaden kommt.

»Es passiert immer im Dunkeln …«, fällt mir auf und schaue dem Feuerwehrkommandanten Doblinger Fritz dabei zu, wie er dem Abschleppfahrer wild gestikulierend und lautstark Anweisung gibt. Das Unfallauto bewegt sich und wird an einem Seil auf die Ladefläche gezogen.

»Kurz nach Mitternacht«, informiert mich Anke genau.

»Es wird wohl nicht anders gehen, als dass immer zwei von uns auf der Brücke patrouillieren«, bestimme ich und es fröstelt mich.

»Da frieren wir uns ja den Arsch ab«, schimpft der Pollinger.

»Ihr könnt euch ja abwechseln. Einer im Auto zum Aufwärmen und einer auf der Brücke. Und ich lös euch auch mal für ein paar Stunden ab«, biete ich mich an.

Der Niedermayer und der Strobl treffen mit ihrem Dienstfahrzeug ein und kommen mit dem Fritz zu uns her, während der Abschlepper seine Fracht auf der Ladefläche sichert.

Wir grüßen uns kurz.

»Wenn ihr den Holzklotz noch braucht, müsst ihr den sicherstellen«, informiert uns Fritz und deutet auf das Corpus Delicti. »Wir geben die Straße gleich wieder für den Verkehr frei, wenn ihr nix mehr zu beanstanden habt.«

»Sicherstellen!«, befehle ich und gebe dem Pollinger und dem Niedermayer per Kopfbewegung zu verstehen, das zu übernehmen.

Missmutig machen sie sich daran.

»Wo ist eigentlich der erste Holzklotz geblieben?«

Der Strobl ist verlegen. »Liegt noch in unserem Kofferraum.«

Ich fass es ja nicht!

»Heißt das, ihr fahrt den seitdem spazieren?«, empöre ich mich.

Er zuckt unschuldig mit den Schultern. »Vergessen.«

»Das ist ein Beweisstück.«

»Ja, wo sollen wir das denn hinbringen?«, wird er nun auch grantig.

»Na, zur Spusi halt! Wohin denn sonst?«

»Du hast uns keine Anweisung gegeben«, motzt der Strobl frech.

Ich glaubs ja nicht! Kaum bin ich nicht jeden Tag in der PI, meinen die, sie können den Schlendrian einziehen lassen.

»Dann schauts, dass ihr alle zwei Klötz sofort zur Untersuchung bringt und zwar pronto!«

Damit eilt der Strobl seinen Kollegen zu Hilfe, die grad das Corpus Delicti von der Straße hieven.

»Ich hoff, ihr habt alle Handschuhe an, sonst kriegt ihr Ärger mit der Spusi«, rufe ich, aber sie lassen sich davon nicht ablenken.

Die Pressefrau kommt zu mir her. »Kommissarin Weidinger? Neugebauer von der Mittelbayerischen Zeitung. Kann ich ein paar Infos bekommen?«

Mittlerweile bin ich es gewohnt, dass mich viele Leute kennen, und ich weiß, dass die von der schreibenden Zunft Fragen stellen müssen, damit sie ihre Zeitungsberichte fertigbringen. Trotzdem mag ich sie nicht gern beantworten. Ich ahne, dass diese Ereignisse mit den Holzklötzen in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stoßen werden. Der erste Wurf vor drei Tagen war der Zeitung, für die die junge Frau arbeitet, nur ein kleines Gesetzchen unter der Rubrik Polizeibericht wert gewesen.

»Kein Personenschaden, Täter flüchtig«, halte ich mich kurz.

»Das ist schon das zweite Mal«, bemerkt die Neugebauer und ihre dunklen Augen, die von dichten, stark getuschten Wimpern eingerahmt sind, funkeln mich forschend an. Sie reckt mir ihr spitzes Näschen und ihre roten Wangen entgegen, so als wollte sie mir damit zeigen, dass sie sich nicht so einfach von mir abspeisen lässt.

»Richtig«, bestätige ich ihr und mir ist unwohl. Ich will meine Kollegen nicht denunzieren. »Wir haben den Datzlwurm im Auge, aber wir können halt auch nicht überall sein.«

Sie zieht sich ihre Strickmütze tiefer ins Gesicht und ich bemerke, dass die schmale Frau trotz ihrer Vermummung mit dem flauschigen Schal und dem dicken Parka ziemlich friert. Trotzdem zückt sie einen Notizblock samt Kuli aus ihrer großen Handtasche, die sie zusammen mit der Kamera um ihre Schulter hängen hat. Ihre kleinen Hände stecken in Strickhandschuhen.

»Sie haben also damit gerechnet, dass es der oder die Werfer noch einmal versuchen?«

»Damit mussten wir rechnen, ja.«

Sie notiert kurz und fragt dann weiter: »Und was werden Sie jetzt unternehmen? Könnt ja sein, dass der oder die es wieder probieren.«

»Hören Sie, Frau Neubauer …«

»Neugebauer«, korrigiert sie mich eifrig.

Ich kann es mir nicht unterdrücken, die Augen zu verdrehen. Diese Sorte von überambitionierten Journalisten kenne ich nur allzu gut. Sie wollen aus allem eine Sensation machen, nur um für ihre Zeitung Quote zu erreichen. Da ist sie allerdings bei der Mittelbayerischen gänzlich falsch, denn das ist ein regionales, neutral und unabhängig berichtendes Blatt. Wahrscheinlich ist der Job dort für sie nur ein Sprungbrett.

»Frau Neugebauer, ich werde Ihnen sicher nix über polizeiinterne Ermittlungsarbeit …«, setze ich neu an, aber sie unterbricht mich schon wieder.

»Ich frage Sie das nicht, um Ihre Kompetenz anzuzweifeln, Frau Weidinger. Ich weiß, dass Sie eine hervorragende Kommissarin sind. Aber wenn ich schreiben würde, dass die Polizei jetzt die Brücke Tag und Nacht im Auge behält, könnte das eventuell den oder die Täter abschrecken.«

Dumm ist sie also schon mal nicht.

»Dann schreiben Sie das«, bin ich einverstanden. »Kann ja nicht schaden.«

Das Lächeln um ihren schmalen Mund wirkt zufrieden. »Sicher nicht.«

»Alles weitere erfahren Sie dann aus dem Polizeibericht von unserem Pressesprecher«, beende ich dieses Gespräch und verabschiede mich.

Und siehe da, sie lässt mich in Ruhe.

Kapitel 4

 

Montag, 27. Februar 2023

 

Zwei Tage später bekomme ich von Jo, meinem Schwager in spe, die Mappe mit den Untersuchungsergebnissen der Spurensicherung ins Büro gebracht. Normalerweise lasse ich mir solche Berichte immer einfach zusammengefasst von ihm oder auch den anderen Kollegen vortragen, aber heute nehme ich ihm den Schrieb ab und beginne, nachdem ich mich bei ihm bedankt habe, zu blättern.

»Keine Zusammenfassung von mir?«, will Jo irritiert wissen.

Ich schüttle den Kopf. »Ich hab heut Zeit.«

Aber er geht immer noch nicht, sondern bleibt neben meinem Schreibtisch stehen. Groß, breitschultrig und seit neuestem mit einer wuchtigen Brille auf der schlanken Nase. Ich finde ja, dass dieses Ding sein langes Gesicht mit dem eleganten, immer korrekt getrimmten Vollbart entstellt, aber Ulli, meine Schwester und seine Lebensgefährtin, hat sich über meine Meinung empört. Sie habe die Sehhilfe mit ausgesucht und in modischen Dingen würde ich mich sowieso nicht auskennen. Sie allerdings schon, denn sie arbeitet als Modeberaterin in einem großen Bekleidungsgeschäft im Kelheimer Einkaufszentrum.

»Alles okay bei dir?«, forscht er.

Ich schaue zu ihm auf. »Wieso denn nicht?«

»Mein nur. Du wirkst so gechillt in letzter Zeit und das ist eher ungewöhnlich.«

Ich lächle zufrieden. »Was so ein bisserl mehr Freizeit alles bewirkt.«

Jo ist beeindruckt. »Hätt nicht gedacht, dass du das durchziehst mit deinem Halbtagsjob.«

»Ich auch nicht«, pflichtet der Bär, der unser Gespräch interessiert verfolgt, ihm missmutig bei.

Ich ahne, dass es ihm gar nicht passt, dass er die halbe Zeit ohne mich arbeiten muss. Breit grinsend zucke ich mit den Schultern, was jetzt nach unzähligen Yoga- und Gymnastikübungen wieder fast schmerzfrei funktioniert. »Tja, so kann man sich täuschen.«

Nach meinem Unfall und meiner langwierigen Schulterverletzung hatte ich letzten August einen schwierigen Fall mit einem toten Sektenguru zu klären. Der und mein körperlich angeschlagener Zustand hatten mir damals aufgezeigt, dass ich einfach nicht mehr so weiterarbeiten konnte wie bisher. Außerdem bin ich fast fünfzig, Oma geworden und hatte eine ziemliche Krise mit dem Toni. Ich wollte mehr Zeit für meine Familie, meinen Mann und auch für mich haben, aber ganz aufgeben konnte ich meinen Beruf dann doch nicht. Das war mir in der beruflichen Auszeit bis Oktober letzten Jahres klargeworden. Also habe ich im November eine Wiedereingliederung angefangen und meine Arbeitszeit auf 20 Stunden die Woche reduziert. Seitdem fühle ich mich viel ausgeglichener und gelassener. Die gewonnene Zeit für mich und mit meinem inzwischen sieben Monate alten Enkel Michi tut mir so gut, und die mit dem Toni sowieso.

Jo grunzt anerkennend und geht. Ich widme mich wieder dem Bericht.

Der Bär, der mir gegenüber seinen Schreibkram erledigt, oder zumindest so tut, ist genauso neugierig wie ich, das merke ich an seinem prüfenden Blick. Geduld ist wahrlich nicht seine Stärke, genau wie Selbstbeherrschung. Aber halt! Da tue ich ihm direkt ein bisserl Unrecht, denn letztes Jahr hat er sage und schreibe 25 Kilo abgenommen. Sein neues, schlankes Ich hat ihm gutgestanden, aber seit seine Motivation, die neue Staatsanwältin, in die er sich verguckt hatte, weg ist, sind seine alten Essgewohnheiten wieder zurück und seine Wampe langsam auch wieder. Soviel zum Thema fehlende Selbstbeherrschung, die sich auch noch anderweitig bei ihm zeigt: Er kann keine Leichen und kein Blut sehen, hasst Gefühlsduselei und Streitereien und geht ihnen vehement aus dem Weg. Außerdem ist er bei Zeugenbefragungen und überhaupt nicht sehr taktvoll, sondern lässt immer direkt raus, was er sich denkt. Insgesamt also keine besonders dienlichen Eigenschaften für den Polizeidienst. Aber mit mir im Team kommt er damit durch. Jetzt, wo ich nicht mehr so viel arbeite, muss er allein oder mehr mit den Kollegen klarkommen, besonders mit dem neuen Kommissar Erdem Alemdaroglu, und das wurmt ihn. Zuerst hatte ich gedacht, der Bär missgönnt mir mein neues Leben, aber inzwischen bin ich mir sicher, dass er einfach keine Veränderungen mag. Genauso wenig wie er Erdem leiden kann. Der neue Kommissar, der letzten Sommer als meine Krankheitsvertretung in die PI Kelheim beordert worden war, ist dem Bär zu gschaftig, zu ehrgeizig und zu wichtigtuerisch. Erdems selbstsicheres und präsentes Auftreten hat ihm von Anfang an nicht gepasst.

Erdem dagegen kommt nicht mit der Lässig- und Behäbigkeit vom Bär zurecht. Zwei völlig gegensätzliche Typen also. Darum kracht es auch immer wieder zwischen den beiden. Doch Erdem hat seit diesem Jahr sein eigenes Büro nebenan und ist somit schon einmal räumlich vom Bär getrennt. Und er bearbeitet auch seine eigenen Fälle. Nur manchmal berate und unterstütze ich Erdem, wenn er mich um Hilfe bittet, aber das kommt nur noch sehr selten vor.

»Und?«, fragt der Bär dann ungeduldig, obwohl ich noch vertieft in das Geschreibe der Spurensicherung bin.

»So wie es ausschaut, sind die beiden Holzklötze von ein- und demselben Baum: eindeutig Eiche. Nur ein paar Faserspuren. Wahrscheinlich von einem Hanfseil.«

»Und dafür musst du solange lesen?«

Ich werfe ihm die Mappe hinüber auf seine Schreibunterlage. »Das ist die lange Fassung, bitte schön!«

Er nimmt sie und schmökert darin, während ich nachdenke.

»Neben dem Datzlwurm lagert doch ein Haufen Brennholz.«

»Ja, da sind mehrere Holzstöße«, stimmt er mir zu. »Einer davon gehört mir.«

Der Bär hat einen Kachelofen, genau wie ich und fast jeder Essinger. Viele Einheimische heizen im Winter ihre Wohnzimmer damit, weil sie selbst Wald und somit Brennholz besitzen. Meistens fehlt ihnen aber der Lagerplatz für das geschnittene Holz und darum gibt es solche Plätze wie die Wiese neben der Holzbrücke, wo sich einige zusammengetan haben und ihre Meterprügel stapeln. Schön geordnet in Reihen und nach dem Besitzer.

»Und die anderen?«

Der Bär überlegt. »Dem Mooslechner, dem Zitzelsberger und dem alten Ambros.«

»Der alte Ambros macht sein Holz noch selbst?«, stutze ich.

Der alte, gebückt daherkommende Witwer kann unmöglich noch Holz hacken oder mit der Motorsäge umgehen. Das letzte Mal, als ich ihn gesehen hab, ich glaub, das war im Kramerladen am Marktplatz, war er mit einem Stock unterwegs und hat sehr ungepflegt ausgesehen. Soweit ich mich erinnere, ist seine Frau vor ein paar Jahren gestorben. Seitdem verwahrlost auch sein Haus immer mehr.

»Ich helf ihm«, gesteht mir der Bär. »Bin ja sein Nachbar.«

Er wohnt gleich neben dem kleinen Häuschen vom Ambros im Ortsteil Weihermühle. Der liegt wiederum am westlichsten Zipfel Neuessings nicht weit weg vom Datzlwurm.

»Du?«, staune ich noch mehr.

»Ja, ich«, ist er stolz, fügt aber dann kleinlaut hinzu: »Er drückt mir dafür immer mal wieder einen Hunderter in die Hand.«

Darum also! Für umsonst würde sich der Bär nie so abplagen.

»Wir sollten mal zu dem Holzlagerplatz fahren und schauen, ob wir noch mehr von den Eichenklötzen finden.«

»Und was willst du damit tun? Sie alle beschlagnahmen, damit sie der Werfer nicht mehr verwenden kann?«, bezweifelt der Bär meinen Vorschlag. »Dann nimmt er halt einen anderen. Da liegt genug Auswahl rum.«

Erdem unterbricht uns, als er hereinkommt. Wie sein Vorname und sein Nachname Alemdaroglu verraten, ist er türkischer Herkunft. Seine Eltern besitzen eine große Bäckerei in Ingolstadt, die türkische Brote herstellt. Zuerst hatte ich den überaus attraktiv in Edeljeans, weißen Sneakers, Hemd, Lederjacke und geschniegelt und gestriegelt daherkommenden jungen Kommissar völlig falsch eingeschätzt. Zwar ist er sehr auf sein Äußeres bedacht und sich seiner Wirkung auf andere bewusst, aber ansonsten kein Angeber, kein südländischer Macho oder gar ein Schönling. Kurz nachdem er hierher versetzt worden war, ist er mit Anke zusammengekommen. Außerdem beißt er sich richtig in seine Fälle und schiebt einen Haufen Überstunden, wenn es sein muss. Er ist sehr ehrgeizig und zielstrebig.

»Servus, Mary«, begrüßt er nur mich und ignoriert den Bär.

Das bemängelt der auch gleich. »Guten Morgen, mein lieber Kollege.«

Erdem scheint den ironischen Unterton nicht zu bemerken, denn er nickt ihm nur kurz zu. Anscheinend steckt er schon wieder tief in einem Fall. Das zeigt mir auch umgehend sein Anliegen, das er sofort loswird:

»Du, ich hab grad eine gewisse Babsi Zimmermann am Telefon gehabt. Sie wohnt in Essing. Ist vor Kurzem dahin gezogen, hat sie mir erzählt.«

»Kenn ich nicht«, sage ich nur.

»Ja, freilich«, mischt sich der Bär begeistert ein. »Kennt ihr die Babsi Zimmermann nicht?«

Fragend schauen wir ihn an.

»Nein, kenn ich nicht«, gestehe ich.

»Na, die Komikerin«, klärt der Bär uns weiter auf. »Sagt mal, schaut ihr kein Fernsehen? Die ist echt lustig und die sagt immer grad heraus, was sie sich denkt. Drum kommt sie auch so gut bei den Leuten an. Die ist voll berühmt.«

»Und die wohnt jetzt im popeligen Essing und nicht am Starnberger See?« Ich kann es nicht ganz glauben.

»Hast du das denn nicht mitgekriegt?«, wundert sich mein Partner und seine Augen werden immer größer. »Am Keltenberg, die neu gebaute Villa.«

Der Keltenberg ist eine Straße in Neuessing, an der einige Häuser am Talhang aufwärts stehen. Natürlich habe ich den hypermodernen Neubau dort oben am Ende der Straße schon auf meinen Walkingrunden am Kanal entlang bemerkt und ihn als nicht passend für unser Ortsbild abgefunden. Manchmal frage ich mich schon, was unser Bürgermeister samt seinen Markträten da so genehmigt. Aber Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden und außerhalb des historischen Ortskerns spielen die peniblen Bauvorgaben wohl keine Rolle, vor allem, wenn ein Promi im Spiel ist.

Erdem bestätigt jedenfalls die Adresse: »Am Keltenberg 15. Die Adresse hat mir die Dame genannt.«

Der Bär hat noch mehr Infos für uns und lässt sich auch nicht davon abhalten, sie uns umgehend zu berichten: »Es heißt, die hat das alte Haus von den Steiners gekauft, es abreißen und das neue hinbauen lassen. Aber es sollt nicht publik werden, dass sie jetzt hier wohnt, weil ihr der Rummel und das Medieninteresse um ihre Person zu viel geworden ist.«

»Was du alles weißt«, kommentiere ich, weil dieses Gerücht wieder mal komplett an mir vorüber gegangen ist. Wobei ich dazu sagen muss, dass ich auch nicht den Bedarf nach solchen Neuigkeiten habe. Außer es betrifft natürlich meine Familie oder meine Arbeit. In dem Fall aber eher nicht.

»Da hat sich diese Zimmermann ihren Rückzugsort schon gut ausgewählt«, bestätige ich. »Am Ende vom Keltenberg kann sie unbehelligt leben, weils eine Sackgasse am Waldrand ist. Da kann ihr wegen der exponierten Lage niemand über den Zaun schauen und es fahren auch nur die Anwohner rauf.«

»Was wollte sie denn?«, hakt der Bär neugierig beim Erdem nach.

»Sie hat angefragt, ob ein gewisser Markus Bärnreuther nicht als Bodyguard für sie arbeiten kann«, erklärt Erdem und verdrückt sich das Grinsen.

Ich bemerke es, aber der Bär nicht, denn der kann sich kaum noch auf seinem Stuhl halten und sein rundes Gesicht mit den Pausbacken wird immer roter vor Aufregung. »Sie will mich als Bodyguard? Echt jetzt?«

Erdem schnaubt spöttisch und schiebt einen Seufzer hinterher. »Mensch, Bär! Das war ein Scherz!«

Sofort sackt der Bär in sich zusammen, sodass sein Bürostuhl kläglich knarzt. Seine eben noch weit aufgerissenen Augen werden zu funkelnden Schlitzen. »Du Depp!«

Da hat er sich ja noch direkt gewählt ausgedrückt.

Dann rumpelt er in die Höhe und verlässt wutschnaubend das Büro.

»Kruzinesn, Erdem! Brauchts das?«, schimpfe ich meinen neuen Kollegen.

»Sorry!«

Sein südländisches, immer gebräuntes Gesicht mit der perfekten Symmetrie aus dunklen, mandelförmigen Augen, energischem Kinn und vollen Lippen spiegelt ehrliches Bedauern. Aber nur kurz.

»Der forderts aber auch immer wieder heraus.«

»Was wollt jetzt diese Zimmermann?«, kehre ich zum Grund seines Besuchs zurück.

Er räuspert sich. »Sie bekommt komische Gedichte. Ziemlich hochtrabend und geschwollen geschrieben. Zuerst hat sie gedacht, es wäre ein Fan, aber im letzten steht irgendwas von Liebe und Rache drin. Sie kann sich nicht vorstellen, was der Verfasser damit bezwecken will und ihr ist mulmig geworden. Darum hat sie mich gebeten, dass ich mir das Geschreibe mal anseh.«

»Und warum kommst du dann zu mir?«

»Du bist doch eine Essingerin und du bist eine Frau.«

»Das trifft beides zu, aber es qualifiziert mich nicht automatisch als Analytikerin für schwulstige Gedichte von einem Spinner«, will ich ihm klarmachen. »Außerdem hab ich grad selbst einen Fall. Schnapp dir die Anke, wenn du unbedingt eine Frau bei dem Thema dabeihaben willst, und fahr mit ihr hin. Ich bin raus.«

»Ich weiß, das mit dem Holzklotz«, erinnert er sich. »Na gut, dann eben mit Anke.«

Das klang nicht sehr begeistert. »Alles okay zwischen euch?«

»Schon.«

Höre ich da einen unzufriedenen Unterton heraus? »Aber?«

»Ich hab eigentlich vorgehabt, Berufliches und Privates zu trennen.«

»Das hättest du dir früher überlegen müssen.«

Er verdreht die Augen. »Keine altklugen Ratschläge, bittschön!«

»Sehr gern«, bestätige ich und erhebe den mahnenden Zeigefinger. »Und von dir dann bitte keine Hilfsgesuche mehr, wenn deine Arbeit irgendwas mit Essing zu tun hat und vor allem keine Scherze mehr mit dem Bär.«

Erdem schnauft tief durch. »Geht in Ordnung.«

Dann haut er ab. Und ich kann mich jetzt wohl auf die Suche nach dem Bär machen und schauen, wie ich ihn wieder besänftigen kann.

 

»Warum tut er das immer und immer wieder?«, fragt er mich, als ich endlich neben ihm in unserem Dienstfahrzeug in Richtung Essing unterwegs bin.

Die Sonne hat sich verabschiedet und es schneit kleine, federleichte Flocken.

»Ich habs ihm schon gesagt, dass er das endlich bleiben lassen soll.«

»Das wievielte Mal?«, spottet er immer noch sauer. »Spätestens heut Nachmittag, wenn du Feierabend hast, hat er das wieder vergessen.«

»Dann lass dich nicht ärgern und ignorier ihn.«

Ich hatte wirklich angenommen, wenn Erdem ein anderes Büro hat und wir getrennt arbeiten, würde sich das regeln, aber da habe ich mich wohl getäuscht.

»Ts! Das ist doch keine Lösung«, schimpft er weiter und wird dann auf einmal bedrückt. Dann druckst er heraus: »Die Karin hat gemeint, ich soll mich versetzen lassen.«

Erstaunt starre ich zu ihm hinüber und er weiter stur aus der Windschutzscheibe auf die Straße.

»Wohin?«

Der Bär schiebt schon seit der Ausbildung in München und Landshut seinen Dienst in der PI Kelheim. Das sind bestimmt an die zwanzig Jahre. Und außerdem würde er in jeder anderen Dienststelle untergehen. Wie gesagt, mit seinen Charaktereigenschaften und seinen körperlichen Defiziten würde er auch mit den dortigen Kollegen aneinandergeraten. Er ist ja meistens auch nicht ganz unschuldig. Und das weiß er ganz genau.

»Keine Ahnung. Vielleicht kann mir der Toni weiterhelfen, er ist ja schon weit rumgekommen.«

Ich lache sarkastisch auf. »Da kann ich dir Halle empfehlen.«

Dort nämlich war Toni als Spion in einer Neo-Nazi-Gang, bis er aufgeflogen und brutal zusammengeschlagen worden war. Und fast hätten die ihn auch noch nach seiner Rückkehr nach Essing umgebracht, um sich zu rächen.

»Sehr witzig!«, motzt der Bär. »Du nimmst mich überhaupt nicht ernst. Tolle Kollegin bist du mir.«

»Das sagt ausgerechnet der Kollege, oder besser gesagt sogar Partner, der mich nach meinem Unfall drei Monate lang nicht besucht hat.«

»Du weißt genau, dass ich Krankenhäuser hass.«

»Und ich hass Kollegen, die in Selbstmitleid zerfließen.«

»Dann solltest du in Zukunft lieber mit dem Erdem zusammenarbeiten. Der ist ja sehr überzeugt von sich und seinem Können«, wird der Bär immer lauter.

»Du bist also eifersüchtig auf ihn?«, analysiere ich eifrig.

»Pah! So ein Schmarrn! Ich und eifersüchtig! Mich nervt nur, dass er es immer so raushängen lässt.«

»Tut er doch gar nicht«, verteidige ich den abwesenden Kommissar. »Er ist einfach sehr …« Mir will nicht der richtige Ausdruck einfallen.

»Was?«

»Er hängt sich halt immer voll rein. Das tu ich doch auch und das hast du mir noch nie vorgeworfen.«

Darauf weiß der Bär nicht mehr, was er sagen soll und stottert rum. »Aber du … ich mein, bei dir …«

»Jetzt gib endlich eine Ruh!«, verbiete ich ihm das Rumeiern. »Erdem ist da und wird es auch bleiben. Und bei dir wird es genauso sein. Also müsst ihr irgendwie miteinander klarkommen. Und das liegt auch an dir.«

Ich sehe seinem wütend gerunzelten und mit roten Flecken übersäten Gesicht an, wie es in ihm rumort und wie er sich zusammenreißt. Er schweigt bis wir am Datzlwurm angekommen sind, am Straßenrand der Dorfstraße neben der Wiese mit den Holzstößen parken und aussteigen.

Inzwischen schneit es immer stärker und die Landschaft um uns ist weiß überzuckert. So finde ich das Tal hier noch schöner, als das winterliche, fade Grau. Ich schaue mich um. Von hier sieht man auch den Talhang hinauf zu dem hässlichen Betonklotzhaus von dieser Komikerin.

Der Bär folgt meinem Blick. Die Neugier besiegt sein eingeschnapptes Schweigen. »Was war jetzt eigentlich mit der Zimmermann?«

»Sie hat komische Gedichte von einem unheimlichen Verehrer gekriegt und die machen ihr ein bisserl Angst.«

Der Bär grinst breit. »Das ist doch mal ein Fall für den Erdem. Da kann er sich voll reinhängen.«

Mein mahnender Blick vertreibt sein Grinsen und es wird zu einer Lätschn, auf Hochdeutsch auch Schnute genannt.

Er schaut sich um. »Was wollen wir jetzt also hier?«

»Nach ähnlichen Baumscheiben wie unsere beiden beschlagnahmten suchen.«

»Und was bringt uns das genau?«

»Kruzinesn«, fluche ich. »Warum bist du dann überhaupt mitgefahren, wenn du nur rumstänkern kannst. Fällt dir was Besseres ein, wo wir ansetzen können, um den Werfer ausfindig zu machen?«

»Griaß eich«, werden wir von einer dunklen, rauen Stimme unterbrochen, die hinter einem der Holzstöße zu hören ist. Dann wird der alte Ambros sichtbar, als er mit dem Gehstock dahinter erscheint. Seine Schritte sind mehr ein Trippeln, nur langsam kommt er so vorwärts und auf uns zu.

»Servus, Ambros«, begrüßt ihn der Bär freundlich und laut, dass es mir in den Ohren dröhnt. »Was machst denn du bei dem Sauwetter da heraußen?«

Offenbar ist der alte Mann schwerhörig. Überhaupt ist er einer Mumie ähnlicher denn einem Menschen. Er hat kaum mehr Zähne im Mund und somit eingefallene Wangen und schmale Lippen. Seine ledrige Haut ist übersät mit Altersflecken und Falten und seine Augen wirken trüb und leer. Er trägt nur ein dünnes, blaukariertes Hemd und eine viel zu große Bundfaltenhose, die nur von speckigen, ausgefransten Hosenträgern an Ort und Stelle gehalten wird. Beide Kleidungstücke sind voller Flecken, von deren Herkunft ich lieber nix wissen will. Völlig verwahrlost, gebückt und zitternd vor Kälte steht er – ich glaubs ja nicht – in seinen Pantoffeln vor uns.

»Ich wollt nur nach meinem Holz schauen.«

»Aber doch nicht, wenn es so schneit«, gibt sich der Bär verständnislos, zieht seinen Polizeianorak aus und wirft ihm dem Alten über die schmalen, hängenden Schultern. »Da holst du dir ja den Tod.«

Der alte Ambros lacht auf. »Der kommt noch lang nicht zu mir! Den hab ich nämlich ausgeschmiert. Der oide Depp hat sich von mir beim Karteln bescheißen lassen. Vierzig Jahre hab ich für mich rausgehandelt. Vierzig Jahre!«

Sein schallendes, kehliges und derbes Gelächter ist mir direkt unheimlich, genau wie sein Gerede. Es erinnert mich schon sehr an den Film vom Brandtner Kaspar. Obwohl, wenn ich mir den Ambros so anschaue, dann könnte man die Geschichte von den geschenkten Lebensjahren fast glauben. Wie alt mag er sein? Was mir aber noch mehr Sorgen macht, ist, dass er offensichtlich nicht mehr Herr seines Verstandes ist. Ich wechsle bedauernde Blicke mit dem Bär, der mir mit einem Nicken andeutet, dass er das schon regelt.

»Ja, die G’schicht hast du mir schon oft erzählt, Ambros. Aber jetzt musst du heim in deine warme Bude.«

»Wir bringen dich«, biete ich an.

Er mustert mich mit Gefallen. »Ah, du bist die Meierhofer Ulrike, gell?«

»Fast. Ich bin die große Schwester, die Maria«, berichtige ich.

Meierhofer war mein Mädchenname, von Ulli ist er es noch.

»Ah ja, die Ulli war scho immer eine Schnalln«, gibt er seine abfällige Meinung über meine jüngere Schwester kund und lacht wieder dreckig. »Aber aus dir ist wenigstens was Gescheites geworden.«

Ulli war früher wirklich mal nymphomanisch veranlagt, allerdings dachte ich immer, das wüsste hier in ihrer alten Heimat, der sie kaum volljährig schon den Rücken gekehrt hatte, niemand. Nach ihrer Sturm- und Drangzeit, in der sie in der Welt herumgetingelt war und sich ausgelebt hatte, wohnt sie seit ein paar Jahren mit Jo in Kelheim, ist zweifache Mutter und brave Hausfrau mit Nebenjob in einem Modehaus.

Er stiert mich geifernd an. Mir kommts fast eine Spur zu sexistisch vor und sein anzügliches Lächeln mit seinem spröden Mund gefällt mir gar nicht.

»Bist ein fesches Derndl. Hast die Kurven genau an der richtigen Stell.«

Ich trage eine dicke, gesteppte Winterjacke. Kann ja sein, dass ich darin wie ein Michelin-Männchen aussehe, aber meine Figur darunter kann er unmöglich beurteilen, auch weil ich nicht gerade die Schlankste bin.

»Komm, Ambros!«, bearbeitet der Bär den Alten wieder. »Heim jetzt.«

Er packt ihn vorsichtig, aber bestimmt am Arm und dann wird erst deutlich, wie dünn seine Gliedmaßen wirklich sind. Mumie sag ich nur.

Ich nehme den anderen Arm, obwohl es mich graust, und führe den alten Mann zu unserem Auto. Auch sein Körpergeruch ist nicht gerade angenehm.

Was aber noch unerträglicher für mich ist, ist seine Anschmachterei. Während er einen kleinen Schritt um den anderen macht, lässt er den Blick nicht von mir.

»Wo treibst du dich denn die ganze Zeit herum, Maria? Weil ich dich schon so lang nicht mehr gesehen hab? So eine schöne Frau wie du darf sich doch nicht verstecken«, fängt er eindeutig an, mit mir zu flirten.

Schnell rede ich mich heraus. »Mei, ich wohn halt in Altessing und arbeiten tu ich in der PI in Kelheim.«

»Wo arbeitst du?«

»In der Polizeiinspektion Kelheim«, sage ich lauter.

Energischer, als ich es von ihm erwartet hätte, befreit er sich aus meinem Griff. »Ja, ich weiß schon, dass du eine Kommissarin bist.«

Der Bär öffnet die hintere Tür. »So, und jetzt musst du den Kopf einziehen, wenn du einsteigst.«

Brav befolgt der Ambros das und setzt sich mühsam ächzend auf die Rücksitzbank.

Wieder lächelt er mich an. »Die Maria muss unbedingt noch auf einen Kaffee mit reinkommen.«

»Das geht leider nicht. Ich bin im Dienst«, weiche ich aus und werfe dem Bär einen hilfesuchenden Blick zu.

»Ich brauch sie noch zum Ermitteln, Ambros«, erklärt er ihm und haut die Tür zu.

---ENDE DER LESEPROBE---