3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 0,99 €
In dem idyllischen Dorf Essing, im unteren Altmühltal gelegen, ist Betti Bögerl für ihren unsteten Lebenswandel und ihr Alkoholproblem allseits bekannt wie berüchtigt. Kommissarin Mary steckt mitten in den Hochzeitsvorbereitungen mit Hauptkommissar Toni Weidinger, als eben jene Betti in ihrer heruntergekommenen Bruchbude tot aufgefunden wird. Ihre Todesumstände scheinen zuerst mysteriös und eine halbblinde Zeugin gibt an, drei Besucher bei Betti gesehen zu haben, die es zu identifizieren gilt. Schnell meinen einige Einheimische zu wissen, wer die Säuferin um die Ecke gebracht hat. Natürlich mischt dabei auch wieder der Opa, der umtriebige Schwiegervater von Mary, mit und sorgt im Dorf für Aufruhr. Noch dazu bekommt sie vom Staatsanwalt Druck, den Mörder schnellstmöglich zur Strecke zu bringen, und springt für ihren fünf Monate alten Neffen als Babysitterin ein. Außerdem soll sie den Frieden im Ort wieder herstellen, bis zuerst der Opa und dann auch noch der Hauptverdächtige spurlos verschwinden. Die gestresste Mary weiß nur zu gut: Sie steckt mitten in einem Mordsdorfdrama.
Der zweite Teil der Dorfkommissarin-Mary-Reihe ist ein in sich geschlossener Fall. Der Krimi ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem Titel Preußenmörder.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Marion Stadler
Über die Autorin:
© Mirjam Landfried, Kameraflimmern
Marion Stadler hält dem Altmühltal schon seit ihrer Kindheit die Treue. Sie lebt und schreibt dort, wo andere Urlaub machen, und ihre Krimis spielen: in Essing bei Kelheim in Niederbayern.
Als Agatha-Christie-Fan lässt sie sich von der großen Krimiautorin inspirieren. Durch ihre Arbeit zuerst in der Gastronomie und dann im Verkauf begegnet ihr außerdem immer wieder allzu Menschliches, was in ihre Krimis miteinfließt, wobei es in ihrer Heimat eher idyllisch und friedlich zugeht. Diese Idylle und die Sehenswürdigkeiten baut sie als Schauplätze in ihre Krimis mit ein. Inzwischen sind sechs Essingkrimis entstanden. Ihre Kommissarin Mary Weidinger und deren eigensinniger Schwiegervater erfreuen sich bei ihrer Leserschaft großer Beliebtheit.
Sie ist nicht nur Autorin, sondern auch Kunsthandwerkerin und leidenschaftliche Hobbygärtnerin.
Buchbeschreibung:
In dem idyllischen Dorf Essing, im unteren Altmühltal gelegen, ist Betti Bögerl für ihren unsteten Lebenswandel und ihr Alkoholproblem allseits bekannt wie berüchtigt.
Kommissarin Mary steckt mitten in den Hochzeitsvorbereitungen mit Hauptkommissar Toni Weidinger, als eben jene Betti in ihrer heruntergekommenen Bruchbude tot aufgefunden wird. Ihre Todesumstände scheinen zuerst mysteriös und eine halbblinde Zeugin gibt an, drei Besucher bei Betti gesehen zu haben, die es zu identifizieren gilt. Schnell meinen einige Einheimische zu wissen, wer die Säuferin um die Ecke gebracht hat. Natürlich mischt dabei auch wieder der Opa, der umtriebige Schwiegervater von Mary, mit und sorgt im Dorf für Aufruhr. Noch dazu bekommt sie vom Staatsanwalt Druck, den Mörder schnellstmöglich zur Strecke zu bringen, und springt für ihren fünf Monate alten Neffen als Babysitterin ein. Außerdem soll sie den Frieden im Ort wieder herstellen, bis zuerst der Opa und dann auch noch der Hauptverdächtige spurlos verschwinden. Die gestresste Mary weiß nur zu gut: Sie steckt mitten in einem Mordsdorfdrama.
Marion Stadler
Dorfkommissarin Mary ermittelt 2
Kriminalroman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Juni 2023 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Lektorat: Andreas Dick
Korrektorat: Julia Kuhlmann – https://www.juliesbookhismus.de/Korrektorat/
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de/
Prolog
»Fass mich nicht an!«, schreit er sie an. Seine Haut prickelt unangenehm an der Stelle am Unterarm, wo sie ihn gerade berührt hat und er schnell zurückgezuckt war.
Doch sie tut es wieder.
Er entzieht ihr seinen Arm erneut und weicht zurück. Ihre Berührung ist ihm äußerst unangenehm, lässt ihn panisch werden. Er will von dieser hässlichen, ungepflegten und stinkenden Frau nicht berührt werden!
Es ekelt ihn an.
Sie ekelt ihn an.
»Geh weg!«, brüllt er wieder.
Warum war er nur hergekommen? Scheiß auf das Geld!
Aber sie gibt nicht auf, sondert tut es wieder, kommt ihm näher und bringt sein Blut zum Überkochen. Ihre krächzende um Mitleid heischende Stimme tut ihr Übriges dazu.
Völlig außer sich schubst er sie von sich weg. Aber auch das bringt sie nicht zur Raison. Es kommt ihm so vor, als verzöge sich ihr Gesicht zu einer schadenfroh grinsenden Fratze, als sie wieder auf ihn zugeht und die Arme nach ihm ausstreckt.
Dann stößt er sie mit all seiner Kraft und sie taumelt zurück, verliert das Gleichgewicht, stürzt nach hinten um und knallt mit einem dumpfen Schlag mit dem Hinterkopf an die Tischkante. Dann bleibt sie reglos am Boden liegen. Eine Blutlache breitet sich um ihren Kopf aus. Sie bewegt sich nicht mehr und ihre Augen starren leer und reglos gen Zimmerdecke.
Kapitel 1
»Dieses Dirndl steht Ihnen wirklich perfekt!«, ist die Verkäuferin in dem Trachtenmodengeschäft, die ich auf Mitte dreißig schätze, begeistert, als ich mich vor dem lebensgroßen Spiegel neben der Umkleidekabine betrachte.
Und ich muss zugeben, dass sie recht hat.
»Zu dem schwarzen Dirndl können S’ immer wieder eine andere Schürze oder eine andere Bluse kombinieren. Sie sind farblich also nicht gebunden und Sie können mit der Mode gehen, je nachdem welche Farb grad in ist«, bezirzt sie mich weiter. »Nur mit dem Balkon, müss ma uns noch was einfallen lassen!«
Sie schiebt und zupft an dem geschnürten Mieder herum, das mit einer kunstvollen Kette verziert ist.
»Ist das nicht ein bisserl zu eng?«, will ich wissen, weil ich mir wirklich eingezwängt vorkomme und mir nicht vorstellen kann, damit zu sitzen, geschweige denn, etwas zu essen. Zugegeben habe ich nicht die perfekten Maße für so ein figurbetonendes Kleidungsstück und mein Hormonwechsel, der sich unweigerlich in mir vollzieht, und auch mein gesunder Appetit, lassen meine Speckröllchen stetig wachsen.
Sie schüttelt den Kopf. »Ach wo! Ein Dirndl muss eng sitzen.« Dann fragt sie mich, schon während sie es tut: »Ich darf doch da mal hineingreifen?«
Sie grabscht mit ihrer Hand von oben in meinen Ausschnitt und rückt mir meinen Busen zurecht, der zugegeben fast ein bisserl zu mickrig ist für einen gescheiten Balkon. Kurz gesagt, ich habe zu wenig Holz vor der Hütt’n! Ich trage ein einfaches B-Körbchen.
Ihr Tatendrang überrumpelt mich, so dass ich ihre Grabscherei einfach über mich ergehen lasse.
»So, jetzt schaut die Sach schon gleich ganz anders aus!«, ist die resolute Verkäuferin, die übrigens Besitzerin eines sehr ausladenden Balkons in einem extrem engen Dirndl ist, mit ihrem Werk zufrieden und betrachtet mich stolz.
Und tatsächlich schaut meine Oberweite auf einmal aus, als hätte sie mir Silikon implantiert. Ich bin baff!
»Zu welchem Anlass brauchen S’ denn das Dirndl?«, will sie wissen.
»Für meine Hochzeit.«
Ich bemerke ihren verwunderten, fragenden Blick, der so viel sagt wie: Du alte Schachtel heiratest? Den wievielten Mann?
»Er ist … er wird mein zweiter Mann«, fühle ich mich zu einer Erklärung gezwungen. »Mein erster ist mit seinem Motorrad tödlich verunglückt.«
Sie ist verlegen. »Na hoffentlich hat ihr Zukünftiger ein ungefährlicheres Hobby.«
»Hobby nicht, aber er ist bei der Polizei«, gestehe ich lakonisch. »Genau genommen bei der Kriminalpolizei.«
»Oh!«
»Ich übrigens auch«, füge ich nicht ohne ein bisserl Stolz hinzu.
Wieder ein »Oh!« Dann schaut sie mich genauer an und stellt fest: »Ich dacht mir doch, dass ich Sie irgendwoher kenn! – Da war doch das mit dem toten Baby aus dem Kanal letztes Jahr, gell? Und Sie sind die Kommissarin mit Herz!«
Ich nicke. Damals habe ich durch den Presserummel traurige Berühmtheit erlangt. Aber das ist eine andere G’schicht …
Dann ist Bayernhymne!
An dieser Stelle muss ich dazu erklären, dass es sich dabei um den Klingelton meines Handys handelt, gespielt von einem original bayrischen Blasorchester. Ich bin halt eine Patriotin und lebe gern in Bayern!
Gott mit dir du Land der Bayern, deutsche Erde Vaterland ... tönt es aus meiner geliebten, alten Jeansjacke, die in der Umkleidekabine hängt. Ich fische es, ein altes, ziemlich zerschundenes Tastenhandy, aus der Brusttasche heraus. Der Bär, eigentlich Markus Bärnreuther, mein Kollege und Partner, ist dran.
»Servus Bär! Was ist los?«
»Wo treibst denn du dich schon wieder während deiner Dienstzeit rum?«, will er wissen.
»Das geht dich nix an! – Was gibts?«
»Wir haben grad einen Anruf aus unserem schönen Heimatort gekriegt.«
»Jetzt red nicht lang um den heißen Brei herum!«, fordere ich ihn auf, weil er das immer so macht, wenn es was Wichtiges mitzuteilen gibt. Mit seiner Hinhaltetaktik will er mich auf die Folter spannen, aber das passt mir grad gar nicht, weil ich gleich Schnappatmung kriege in dem engen Dirndl.
Er gibt seufzend nach. »Die Reitinger Res aus Essing hat in der PI angerufen.«
Wir beide als Essinger kennen sie natürlich. Res, eigentlich Therese Reitinger, ist eine alte Frau. Schon, als ich noch ein Kind war, ist sie in Ausübung ihres Amtes als Ober-Ratschkathl mit ihrem Gehstock gebückt in Essing unterwegs gewesen. Sie war damals schon ein altes, verhärmtes Weiblein, das inzwischen auf die Neunzig zugehen müsste, stets Kopftuch und Kittel-Schürze trägt, und immer auf dem neuesten Stand der Essinger Gerüchteküche ist. Sie ist auch eine von diesen überaus besorgten Bürgerinnen, die wegen jeder Kleinigkeit in der PI anruft und sich beschwert, Anzeige erstatten will oder ihr sonst was nicht nach ihrer Nase steht.
Ich stöhne genervt. »Und wegen so was rufst du mich an?«
»Jetzt hör doch erst mal zu!«
Wieder seufze ich. »Also, was wollt sie diesmal?«
»Die Bögerl Betti ist doch ihre Nachbarin und, weil sie sie schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen gehabt hat, hat sie nach ihr geschaut.«
»Und?«
»Sie hat sie gefunden! – Tot auf dem Küchenboden!«
»Tot?«, bin ich einigermaßen überrascht.
»Ja, mehr weiß ich auch noch nicht. Ich bin grad mit ein paar Kollegen auf dem Weg dahin. Auf jeden Fall hat die Res gejammert, dass die Betti nicht mehr gut ausschaut und ziemlich viel Blut am Boden ist.«
»Kruzinesn!«, fluche ich alarmiert. »Ich bin schon unterwegs!«
An dieser Stelle muss ich dazu erklären, dass im Landkreis Kelheim, wo ich zuständig bin, oder auch im landkreiszugehörigen Markt Essing, in dem ich lebe, nur eher selten ein Mord passiert. Bei uns beschränkt sich die Kriminalität auf Einbruch, Diebstahl, häusliche Gewalt, Verkehrsunfälle, ein paar renitente, betrunkene Kneipenbesucher, kleinere Drogendelikte oder Autofahrer, die mit überhöhter Geschwindigkeit unterwegs sind. Eigentlich bin ich als Kommissarin dafür überqualifiziert, aber meine Versetzung hierher ist eine andere G’schicht …
Allerdings hatten wir vor über einem Jahr eine Babyleiche! Aber diesen Fall habe ich damals mit Hilfe von Toni, meinem Zukünftigen, bravourös gelöst. Das ist allerdings auch wieder eine andere G’schicht …
Jedenfalls leiste ich hier in der ländlichen Idylle des unteren, niederbayerischen Altmühltals einen ruhigen Dienst als Kommissarin und Dienstgruppenleiterin von zwölf Kollegen in der Polizeiinspektion Kelheim ab. Und deshalb nehme ich es mit meinen Dienstzeiten nicht immer so genau und mir die Freiheit, auch private Dinge währenddessen zu erledigen. Schließlich habe ich einen herzkranken, grantigen Schwiegervater daheim, zwei Söhne, die schon erwachsen sind und beide studieren, und einen zukünftigen Ehemann, der als Hauptkommissar in Regensburg unterschiedliche Arbeitszeiten hat. Zusätzlich zu meinem Vollzeitjob als Kommissarin muss ich mich also auch noch um sie und den Haushalt kümmern. Meine beiden Jungs wohnen zwar mit ihren Freundinnen in Regensburg, müssen aber natürlich von mir finanziell unterstützt werden. Gut, seit Toni in mein Haus eingezogen ist, ist es leichter geworden, weil er zum Haushaltsgeld beisteuert und auch mal einkauft oder kocht, aber die meiste Hausarbeit hängt dann doch an mir.
Höchstwahrscheinlich ist Betti eines natürlichen Todes gestorben, so nehme ich es zumindest an, denn durch ihren Lebenswandel war vorhersehbar, dass ihr Leben kein gutes und ein eher frühes Ende nehmen würde. Doch was mir an Bärs Beschreibung Sorgen bereitet, ist das Blut. Und deshalb schwant mir, dass es mit dem ruhigen Dienst die nächste Zeit wohl vorbei sein wird, weil mir nämlich unser zuständiger Staatsanwalt mit dem passenden Namen Übelacker wieder im Genick hockt. Aber bevor ich noch weiter spekuliere, muss ich erstmal vor Ort nach dem Rechten sehen.
Die Trachten-Verkäuferin hilft mir also, mich aus dem Dirndl zu schälen, und ich atme erleichtert wieder durch. Ich bitte sie, mir das gute Stück bis morgen zurückzulegen und schon flitze ich mit meinem schwarzen Beatle und Blaulicht auf dem Dach aus der Kelheimer City ins sechs Kilometer entfernte Essing.
Als ich zu dem heruntergekommenen Haus von Betti komme, das im historisch geprägten Ortsteil Neuessing liegt, sind die Techniker von der Spurensicherung mit ihrem weißen Kleinbus schon da, genau wie ein paar Kollegen, ein Krankenwagen samt Notarzt und einige Schaulustige.
Bettis Bruchbude, die direkt an die neu gepflasterte Hauptstraße durch den Markt grenzt, an der sich ein Haus an das andere direkt an der Felswand entlang aufreiht, ist ein Schandfleck für den touristisch gut besuchten historischen Ortskern. Überall um das Gemäuer, von dem der Putz bröckelt, liegt Müll und Unrat herum. Von den Holzfenstern blättert die weiße Lackfarbe und die Scheiben darin sind trübe und undurchsichtig von Dreck und Staub, von außen wie innen. Unkraut sprießt aus allen Fugen. Da kann auch der wilde Wein, der neben der Haustür an der Wand völlig ungezähmt hinaufrankt, und jetzt im Herbst buntes Laub trägt, nichts verstecken oder gar beschönigen.
Auch die Mahnungen an Betti vom Bürgermeister Manfred Weinzierl und dem gesamten Marktrat, diesen Zustand zu ändern, waren erfolglos, wie ich gehört habe. Wie könnte sie auch, wenn sie sich als dorfbekannte Säuferin und Schnalln nicht einmal um sich selbst kümmern kann? Es bleibt also so ziemlich jeder Tourist, der den historischen Marktplatz besucht, kopfschüttelnd vor Bettis Bruchbude stehen. So gesehen ist es auch eine Touristenattraktion. Andere Orte bemühen sich um die Werke moderner Künstler, wir in Essing bekommen das frei Haus!
An dieser Stelle sollte ich vielleicht dazu erklären, dass Essing etwa sechs Kilometer vor Kelheim im unteren Altmühltal direkt am Rhein-Main-Donau-Kanal liegt und aus zwei Ortsteilen besteht: Neu- und Altessing. Hier wälzen sich im Sommer Scharen von Fahrradtouristen auf den gut ausgebauten Radwegen entlang des Kanals das Tal hinauf oder hinunter. Mit seinen steil aufragenden, grauen Felsen, der Ruine der Burg Randeck oben darauf, dem alten Ludwig-Donaukanal mit seinem türkisblauen Wasser, der einst längsten geschwungenen Holzbrücke Europas, dem alten Tor-Turm als Eingang zum idyllischen Marktplatz samt historischem Rathaus und Brunnen ist Neuessing eindeutig ein Touristenmagnet. Und da ist so ein Schandmal wie Bettis Bude halt gänzlich unpassend.
Aber im Grunde kann sie, die eigentlich Barbara Bögerl heißt, und die ich schon seit meiner Kindheit kenne, nix dafür. Sie ist ein paar Jahre jünger als ich, Anfang vierzig, und stammt aus schwierigen Verhältnissen, wie es heute so schön heißt. Sprich, der Vater war ein Säufer und die Mutter eine Schlampn in jeglicher Hinsicht. Betti hat dann gleich alle Laster ihrer Eltern übernommen und so ziemlich jedem Mannsbild, das ihr über den Weg gelaufen ist, Tür, Tor und ihr naives, liebesbedürftiges Herz geöffnet. Mich als Mann hätte es so was von gegraust, weil sie nicht grad eine Schönheit oder gepflegt war. Aber das konnte man von ihren häufig wechselnden Männern auch nicht gerade behaupten. Gleich und gleich tut sich halt zusammen.
Wie es oft bei solchen Frauen ist, hat sie ein Kind nach dem anderen gekriegt, welche ihr alle wegen Verwahrlosung weggenommen worden sind. Bettis älteren Söhnen, die inzwischen im Alter zwischen 19 und 22 wie meine eigenen sein müssten, hat dieses Schicksal schon vor meiner Versetzung nach Kelheim ereilt. Allerdings waren der Bär und ich beim Kindesentzug der beiden Töchter vor fast zwei Jahren beteiligt. Mit zwei Mitarbeitern vom Jugendamt haben wir die Mädchen, damals elf und acht Jahre alt, aus dem Saustall rausgeholt. Ich erinnere mich noch gut an den dramatischen Tag. Die beiden Mädchen haben gekreischt und geweint, weil sie trotz allem nicht von ihrer Mutter wegwollten, und die hat wiederum mich hasserfüllt angebrüllt und übelst beschimpft. Seitdem war ich ihre Erzfeindin, was ich schon auch irgendwie verstehen kann. Mir ist die Sache damals auch mehr an die Nieren gegangen, als mir lieb war. Dass sie ihre Kinder geliebt hat, war offensichtlich, obwohl sie durch ihre Sucht kaum fähig dazu war, sich anständig um sie zu kümmern. Allerdings bin ich ihr glücklicherweise nicht mehr begegnet, weil sie ihr Haus kaum verlassen hat, außer zum Bier- und Zigarettenkaufen ein paar Häuser weiter in dem kleinen Supermarkt der Zitzelsbergers. Dieser Kramerladen ist heute die einzige Einkaufsmöglichkeit in unserem beschaulichen Marktfleck.
Das letzte Mal, als ich mit Betti Kontakt hatte, habe ich sie als Verdächtige wegen des ermordeten Babys vernommen. Ich erinnere mich mit Grauen an die Zustände im Haus und ihren eigenen.
Die Sanitäter, die ihre Sachen wieder in den Sanka gepackt haben, steigen ein und fahren weg, genau wie der Notarzt, was mir in der engen Gasse einen Parkplatz direkt gegenüber dem Bögerl’schen Wohnhaus und hinter dem Bus der Spurensicherung und den beiden Dienstautos meiner Kollegen bietet. Bevor ich aussteige, schnaufe ich tief durch, weil ich ahne, dass mich Unangenehmes erwartet.
Die Nachbarn und noch ein paar neugierige Essinger stehen am morschen Jägerzaun, der den verwahrlosten, kleinen Vorgarten zur Straße hin abgrenzt, und gaffen. Ich grüße sie, weil ich die meisten von den Schaulustigen kenne und das Getuschel wird aufgeregter. Der Schubert und der Koller, zwei von meinen dienstältesten, erfahrensten und zuverlässigsten Kollegen, halten Wache. Ich grüße auch sie, während mir der Schubert das rotweiße Trassenband, das dort gespannt ist, wo einmal das Gartentürl gewesen ist, hochhebt, damit ich unten durch kann.
»Spusi ist schon da, wie ich seh!«
Der Koller verzieht das Gesicht und nickt. »Und der Leichendoc auch.«
»Viel Spaß da drinnen!«, ruft mir der Schubert schadenfroh hinterher, als ich auf dem verunkrauteten, krummen Pflaster weiter zur Haustür gehe.
Ich hole noch einmal tief Luft und gehe dann hinein. Kaum durch die Haustür, rennt mich der Bär, einen Mundschutz, wie sie die Spusis immer tragen, auf Mund und Nase gepresst, fast um und dann in einem von ihm ungewohnt schnellen Tempo an mir vorbei hinaus, dass ich total überrumpelt bin. Ich kann mich nicht lang über sein Verhalten wundern, weil mir ein dermaßen süß-säuerlicher Verwesungsgeruch in die Nase steigt, dass es mir fast den Atem raubt. Also folge ich ihm bereitwillig hinaus an die frische Luft.
Finden tue ich ihn zwischen dem Haus und einem heruntergekommenen, angebauten Stadl, an dessen bröselnder Sandsteinmauer er, den Mundschutz immer noch auf seinen Mund gepresst, schwer atmend lehnt. So schaut er einem großen, sanftmütigen Bären noch ähnlicher, als hätte er eine Schnauze, denn seinen Spitznamen hat er ja schließlich nicht umsonst. Er ist ein gemütlicher, gelassener und einfacher Polizist und Familienvater von drei Kindern, der sich nicht leicht stressen lässt. Noch dazu ist er ein Bär von einem Mann, was seine Körpergröße und auch seinen stetig zunehmenden Körperumfang betrifft. Nur sein blonder Pelz auf dem Kopf wird immer lichter, was aber sein pausbäckiges, rundes Gesicht vorteilhaft in die Länge streckt. Das sympathischste an ihm ist aber, dass er sein Herz am rechten Fleck hat. Ich arbeite wirklich gern mit ihm zusammen, wenn er auch manchmal sehr schnell eingeschnappt und empfindlich ist. Darum kann er auch kein Blut sehen. Warum und wie er mit diesen Eigenschaften überhaupt Polizist werden hat können, ist mir ein Rätsel.
Ich gehe zu ihm hin. »Gehts wieder?«
Er schaut mich entsetzt an und schluckt schwer. »Das ist das Schlimmste, was ich je gesehen hab!«
Zwar weiß ich, dass er gern übertreibt, vor allem bei allem, was mit Tod und Leichen zusammenhängt, aber mir schwant trotzdem nix Gutes. Er ist dermaßen verstört und bleich, dass ich mir wirklich Sorgen mache.
»Brauchst du einen Arzt, Markus?«
Bei seinem richtigen Vornamen nenne ich ihn nur, wenn die Lage wirklich ernst ist.
Er schüttelt energisch den Kopf. »Wird schon wieder!« Dann schaut er mich mit großen, fast flehenden Augen an. »Ich geh da nicht mehr rein! Das sag ich dir gleich!«
Ich schnaufe tief durch. Dann werde ich wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und mir den Tatort selbst anschauen müssen. Hilft ja nix!
An dieser Stelle sollte ich vielleicht dazu erklären, dass ich natürlich schon Leichen gesehen habe. Muss ja, denn was wäre ich sonst für eine Kommissarin? Aber erstens waren diese in meiner bisherigen Laufbahn, bis auf das tote Baby natürlich, eher unspektakulär und rar, besonders seit meiner Versetzung in die heimische Pampa. Und zweitens habe ich diese Toten nicht gekannt, im Gegensatz zu Betti.
Als ich grad gehen will, hält mich der Bär zurück und reicht mir seinen Mundschutz: »Warte! – Den wirst brauchen!«
Angeekelt wende ich mich ab. Da ertrage ich ja lieber den Gestank!
In einer unheilvollen Erwartung trabe ich also widerwillig ins Haus.
Als Leichendoc bezeichnen wir intern den Rechtsmediziner, der die Leiche schon am Fundort untersucht, um erste Erkenntnisse zu gewinnen, damit wir unsere Arbeit machen können. Heißen tut er Leo Zucker, ist noch recht jung und erst seit knapp einem Jahr in Regensburg in der Rechtsmedizin. Er hat sie mit modernster Computer- und Analysetechnik auf Vordermann gebracht, aber auch mit seiner überaus fachlichen Kompetenz, so hört man jedenfalls. Angeblich war er auch schon ein paar Mal in Amerika auf einer sogenannten »Body Farm«, einer Forschungsanstalt, wo sie Leichen bei der Verwesung in freier Natur zuschauen. Der Typ muss dermaßen auf Zack sein, was seinen Beruf angeht, dass es schon fast zum Fürchten ist. Offenbar hat er keine Freundin oder auch sonst kein Privatleben und sich sogar ein Notfall-Schlafzimmer in seinem Institut eingerichtet. Das muss man sich mal vorstellen: Er schläft mit seinen Leichen unter einem Dach! Absolut gruselig!
Ich hatte allerdings bisher noch nicht das Vergnügen, ihn persönlich kennenzulernen, weil wir hier, wie gesagt, wenig ungeklärte Todesfälle haben, bei denen ich einen Rechtsmediziner hinzuziehen muss. Und das ist auch gut so!
Ich finde den Zucker also im Erdgeschoß in der Küche, wenn man diesen Raum so bezeichnen möchte. Von der alten Küchenzeile selbst ist nicht viel zu sehen, weil sich auf der gesamten Arbeitsfläche Massen von dreckigem Geschirr und Essensresten samt verendeten Schädlingen stapeln. Der Tisch mit der Essecke gegenüber ist übersät mit Schnaps- und Bierflaschen von allen möglichen Brauereien und Zigarettenkippen. Seit meinem letzten Besuch hier hat sich also nicht viel verändert oder gar verbessert. Bei jedem Schritt auf dem Fliesenboden bleibe ich fast mit den Schuhsohlen kleben, so dick ist der Dreck darauf. Wie in alten Häusern so üblich, ist die Zimmerdecke erdrückend niedrig und vom Zigarettenrauch vergilbt, genau wie die ehemals weißen Wände. Glücklicherweise hat schon jemand das einzige Fenster, das zur Straßenseite geht, geöffnet.
Die beiden Techniker der Spurensicherung in ihren weißen Ganzkörperanzügen sind fleißig am Spurensichern und Fotografieren. Ihrer Statur nach zu vermuten sind es Klaus und Ludwig, mit denen ich schon an einigen wenigen Tatorten das Vergnügen gehabt habe. Seltsamerweise kenne ich sie nur bei ihren Vornamen, obwohl es hier in der Gegend und unter uns Kollegen so üblich ist, sich beim Nachnamen zu nennen. Außer natürlich, man hat einen wohlklingenden Spitznamen so wie ich oder der Bär!
Ich grüße so flach atmend wie es geht in die Runde, werde aber weitestgehend ignoriert, weil alle drei Männer konzentriert arbeiten. Dann dringt der Verwesungsgestank erneut durch meine Nasenflügel. Und schließlich bleibt mein Blick gezwungenermaßen auf Bettis Leiche hängen, die vor der rustikalen Essecke mitten im Zimmer seitlich daliegt. Sie trägt nur ein Nachthemd und ihr Körper ist aufgedunsen, obwohl sie schon lebend nicht gerade schlank gewesen war. Die Haut auf ihren Armen und Beinen schimmert wächsern grün und blau. Und dann wandert mein Blick weiter zu ihrem Kopf und ein angeekelter Schauder durchjagt mich. Er ist umgeben von einer braun gewordenen, eingetrockneten Masse, was ihr Blut gewesen sein könnte. Was jedoch noch viel ekelhafter ist, dass in allen Öffnungen weiße Maden herumwuseln: in ihrem halb offenstehenden Mund, den Augen- und Nasenhöhlen und den Ohrmuscheln. Sofort würgt es mich und ich renne zum Fenster der Frischluft entgegen. Ich sauge sie tief in meine Lungen und schlucke mehrmals. Draußen steht der Bär immer noch ziemlich blass und mitgenommen. Sein Blick zu mir ist fast zufrieden schadenfroh, als wollte er sagen: »Siehst, grauenhaft! Hab ich dir doch gleich gesagt!«
»Sind Sie Kommissarin Spangler?«, begrüßt mich der Leichendoc hockend, ohne mich eines Blickes zu würdigen und von seiner Untersuchung an der Leiche abzulassen.
»Ja …«, stammle ich und versuche angestrengt, den Gestank und die Leiche auszublenden.
Er erhebt sich, kommt zu mir ans Fenster und reicht mir seinen rechten Ellbogen. »Leo Zucker! – Ich kann Ihnen leider nicht die Hand schütteln, aber es freut mich, Sie kennenzulernen!«
Ich drücke kurz seinen Ellbogen, der, wie der ganze Zucker, in einem weißen Einweganzug steckt, samt Latexhandschuhen, Schutzbrille und Mundschutz. Darum kann ich auch gar nicht richtig erkennen, wie der Mann eigentlich ausschaut.
»Ich halts mit den Lebenden gern ein bisserl persönlicher. Ich bin also der Leo!«, bietet er gleich freundschaftlich an.
»Maria. – Aber nenn mich ruhig Mary«, stelle ich mich vor und füge hinzu: »In meiner Jugend waren englische Spitznamen voll cool.«
»Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit dir, Mary«, sagt er noch, grinst wohl unter dem Mundschutz, weil sich seine Augenlider gen Schläfen verziehen, und wendet sich dann wieder seiner Leiche zu, über deren Kopf er sich geschäftig beugt.
»Ich auch …«, bin ich zögernd, weil ich mir wirklich eine erfreulichere Ausgangslage als eine stinkende Leiche für eine Zusammenarbeit vorstellen kann. Andererseits: wie käme ich auch sonst in diesen Genuss?
»Das Entwicklungsstadium einer Fliegenlarve, hierbei dürfe es sich um eine Gattung der Schmeißfliege handeln, dauert von der Eiablage bis zur Verpuppung ungefähr sieben Tage, je nach Umgebungstemperatur«, beginnt er, mich aufzuklären, und holt mit einer Pinzette eine Made aus der Mundhöhle der Toten. Er gibt das sich windende, weiße Insekt in einen kleinen, durchsichtigen Plastikbecher und schraubt ihn mit einem Deckel zu. »Dabei frisst sie sich an dem Kadaver vierundzwanzig Stunden am Tag pausenlos von zwei Millimetern auf die zehnfache Größe von zwei Zentimetern.« Interessiert beobachtet er das eingeschlossene Insekt in dem Becher. »Die hier ist schon ziemlich fett, also kurz vor der Verpuppung, würd ich sagen. Folglich Exitus vor ungefähr einer Woche, wenn man freilich davon ausgeht, dass ihre Mutter ihre Eier noch auf der warmen Leiche abgelegt hat. Und das dürfte in dem Saustall hier mit Sicherheit der Fall gewesen sein. Aber ich werde einen befreundeten forensischen Entomologen hinzuziehen, der kann genauere Daten dazu feststellen.«
Offensichtlich begeistert legt er den Becher in seinen aufgeklappten Edelstahlkoffer neben ihm am Boden. Während er die Tote fasziniert betrachtet, als wäre sie eine halbnackte Blondine, die sich lasziv unter ihm räkelt, um ihn zu verführen, fährt er fachmännisch fort: »Doch auch der Verwesungsgrad der Leiche lässt mich auf circa sieben Tage schließen. Die Gase, die dabei entstehen, wenn Bakterien Eiweißstoffe im Körper in Aminosäuren zerlegen, haben den Thorax schon ziemlich anschwellen lassen.« Dann deutet er auf ihre bläulich schimmernden, nackten Beine, die ein netzähnliches Muster überziehen. »Die roten Blutkörperchen lösen sich auf und setzen Hämoglobin frei.«
Seine detaillierte Schilderung hat meine Übelkeit weiter ansteigen lassen, die ich angestrengt durch Schlucken zu unterdrücken versuche. Es kommt mir so vor, als würde Leo das hier richtig Spaß machen. So ein Untersuchungsobjekt hat er wohl bisher nur auf dieser Body Farm gehabt. Aber er kennt sich aus, das muss ich schon sagen!
»Des Weiteren hab ich ein stumpfes Trauma am Hinterkopf feststellen können. Wahrscheinlich ist sie gegen die Tischkante da gestürzt.« Er zeigt auf die Ecke des Küchentisches mit den Bierflaschen darauf. »Sehr wahrscheinlich die Todesursache.«
Klaus untersucht die Stelle grad.
»Blut und Haare«, erklärt der dann und hebt seine Pinzette hoch, mit der er eine Probe genommen hat.
Ich nicke nur und wende meinen Kopf wieder gen Fenster. »Also ist sie im Suff gegen die Tischkante gestürzt?«
»Möglich«, räumt Leo ein. »Könnt aber auch gestoßen worden sein.«
Mir fällt auf die Schnelle niemand ein, der Betti umbringen wollte. Warum auch? Sie hat am alltäglichen Leben ja praktisch nicht teilgenommen. Und Raubmord schließe ich in Anbetracht ihrer erbärmlichen Lebensumstände aus.
»Das war bestimmt ein Unfall!«, sage ich entschieden. »Sie ist eine bekannte Alkoholikerin.«
»Wie man sieht«, stimmt Klaus mir zu und schaut sich um. »Ich hab schon viel gesehen, aber das ist ja direkt unmenschlich. Sie hat hier drin gehaust wie ein Schwein!«
»Sie wollt sich nicht helfen lassen«, erkläre ich und erinnere mich wieder daran, als ich vor über einem Jahr hier war und sie wegen des toten Babys vernommen habe. Ich hatte ihr vorgeschlagen, einen Entzug zu machen und neu anzufangen. Aber sie hatte überdrüssig und verächtlich abgelehnt. Jetzt ist sie tot.
Leo streift sich die Gummihandschuhe ab, schließt seinen Edelstahl-Koffer und erhebt sich. »Ich ruf dich an, sobald ich mit ihr fertig bin.«
Und dann ist er weg. Es schaut fast so aus, als könnte er es kaum erwarten, die Leiche auseinanderzunehmen.
Ich wende mich an den kleineren und untersetzteren Techniker Ludwig, der an der dreckigen Türklinke nach Fingerabdrücken sucht. »Habt ihr schon was Interessantes gefunden?«
Ludwig schüttelt den Kopf. »Keine Chance bei dem Saustall! Die Türklinke hat auf jeden Fall schon seit Jahren keinen Putzlappen mehr gesehen.«
»Spuren eines Einbruchs?«
Wieder ein Kopfschütteln. »Nein, nix.«
Von draußen kommt der Bär ans offene Fenster, an dem ich immer noch stehe. »Willst du die Reitinger Res noch befragen, weil sie nämlich was zu erledigen hätt, drängt sie.«
Ich nicke und verlasse dieses Höllenloch erleichtert, nicht ohne noch einen letzten Blick auf die Leiche zu werfen. So was habe ich wirklich noch nie gesehen!
Res kommt in ihrer geblümten, altmodischen Kittelschürze, dem schwarzen Kopftuch, das ein runzeliges, faltiges und verhärmtes Gesicht umrahmt, und mit ihrem Rollator schlurfend zu mir her, während ich vor dem Haus ein paar Mal tief Luft schnappe und mich langsam wieder fange. Wenn ich sie so sehe, könnte man glauben die Zeit wäre stehen geblieben, denn das alte Weib kommt daher wie einer Nachkriegsdokumentation in Schwarzweiß entsprungen. Nur ihre Gehhilfe passt nicht so ganz dazu.
»Was ist jetzt? Willst du noch was von mir wissen, Maria? Weil ich muss dringend zum Kramer! Da warten sie doch bestimmt schon alle auf mich …«
Typisch alte Ratschkathl! Ich kenne diese Gattung ganz genau und kann mir gut vorstellen, wie ihr die Neuigkeit unter den Nägeln brennt und wie gern sie die Sensation von Bettis tragischem Ableben jetzt beim Ratschkathl-Treff beim Kramer weitererzählen und ausschmücken möchte. Der Opa, also mein Schwiegervater, ist nämlich eine Kopie von ihr, allerdings eine männliche: sensationslüstern, populistisch, neugierig und gschnappig, wie es bei uns so schön heißt. Inzwischen weiß er allerdings, dass ich mein Berufsethos sowie meine Schweigepflicht nie verletze. Er beißt also auf Granit, wenn er von mir etwas über das selten kriminelle Geschehen im Markt oder dessen Grenzen hinaus erfahren will. Aber trotzdem versucht er immer wieder, mir auf die abwegigsten und verblümtesten Arten und Weisen etwas zu entlocken. Doch inzwischen durchschaue ich ihn ganz gut.
Mich interessiert der Dorftratsch eigentlich nicht. Ich mag es nicht, wenn über Leute geschimpft, spekuliert und aufgebauschte Unwahrheiten erzählt werden. Darum sucht er sich seine Informationen unter seinesgleichen wie der Katzmeier Rita, Achhammer Kathi oder eben der Reitinger Res, die für den Ortsteil Neuessing zuständig ist. Allesamt Rentnerinnen oder Witwen, die viel Zeit haben zum Ratschen. Somit ist er über die Geschehnisse im Dorf immer bestens informiert, enthält mir diese aber weitestgehend vor. Nach über sechs Jahren unter einem Dach kennt er mich halt inzwischen recht gut, genau wie ich ihn.
»Dann sag mir halt, was du weißt, Res!«, gebe ich mich geschlagen, obwohl ich mir von dem alten Weib nicht viel Verwertbares erwarte.
»Also die Betti hat letzte Woch’ einen Haufen Männerbesuche gehabt!«, legt Res eifrig los, als hätte sie nur auf mein Kommando gewartet. Ihre kleinen, grünen Augen blitzen hinter hutzeligen Liedern auf.
»Das ist bei ihr nix Ungewöhnliches«, fällt mir dazu nur ein.
Doch Res winkt energisch ab und lässt dabei die Griffe ihrer Gehhilfe los. Offenbar kann sie sich auch ohne ganz gut auf den Beinen halten, trotzdem sie so gebrechlich ausschaut oder auch nur vorgibt, es zu sein. »Ihrem horizontalen Gewerbe ist die doch schon lang nicht mehr nachgegangen! Welches Mannsbild treibt’s schon mit so einem heruntergekommenen Weibsbild?«
Ich bin erstaunt über die direkte Ausdrucksweise der Alten. »Und, was waren das für Männer?«
Res sammelt sich und zählt auf: »Also am Dienstag war der andere Nachbar da, der Herr Lemke. Das ist der Preiß, der das Haus von den Reichls gekauft hat.« Sie deutet hinter sich auf das kleine Nachbarhaus, das sehr gepflegt ausschaut und somit im krassen Kontrast zu Bettis Haus dasteht. »Am Mittwoch dann der Weinzierl.«
»Unser Bürgermeister?«, hake ich ungläubig nach.
»Ja, ja! – Ich hab mich auch gefragt, was der schon wieder von der Betti will«, gesteht die Res geschäftig. »Am Donnerstag dann niemand, aber dafür am Freitag gleich drei!«
»Drei Männer?«, frage ich erstaunt.
»Ja, ja!«, ereifert sie sich und fällt dabei fast über die Sitzfläche ihres Rollators. »Zwei davon in Anzug und Krawatte! Und gekommen sind die ein jeder mit einem sündteuren Auto.«
»Marke und Kennzeichen?«, will der Bär wissen, der alles in sein zerfleddertes Notizheft notiert.
Res schaut ihn anklagend an. »Was weiß denn ich! Ich kenn mich doch mit Autos nicht aus! – Interessiert mich ja auch nicht!«
Am Freitag also! Das ist eine Woche her. Das könnte mit dem vom Zucker angegebenen Todeszeitpunkt übereinstimmen, kombiniere ich. »Und der dritte?«
»Der, glaub ich, war ein Jüngerer, weil, der hat so eine schwarze Kapuzenjacke angehabt und weiße Turnschuhe.«
»Kannst du uns die Männer genau beschreiben?«, fragt der Bär. »Und wann und in welcher Reihenfolge die gekommen sind?«
Unsere Zeugin durchforstet übertrieben angestrengt ihre Erinnerung. »Also als erstes kam der kleine Mann. Seine schwarzen Haare haben bis zu mir in meinen Vorgarten her geglänzt. Der muss sich ein Haufen Pomade, oder wie man das Zeug nennt, reingeschmiert haben. Er hat fast ausgeschaut wie der Al Capone in den alten Gangsterfilmen.«
Ich kenn nur einen im Landkreis, der wie ein Mafioso ausschaut, und das ist Giovanni Gallo. Die Kollegen vom Zoll und der Drogenfahndung haben bereits des Öfteren seine Pizzeria, die er in der Kelheimer Innenstadt betreibt, gefilzt, konnten ihm aber weder Drogenbesitz, illegalen Zigarettenhandel, Geldwäsche oder sonst welche üblen Geschäfte nachweisen. Außerdem steht er schon lang im Verdacht, Geld zu horrenden Zinsen zu verleihen. All das, was halt einen Kleinstadt-Mafioso so ausmacht. Im Grunde ist er ein nettes Kerlchen, allerdings ein bisserl zu aufgeplustert und übertrieben freundlich. Toni und ich essen gern in seiner Pizzeria, weil die Pizzen wirklich die besten der Stadt sind.
Der Bär und ich wechseln Blicke und er schreibt auf.
»Um welche Uhrzeit war der da?«, frage ich.
»So um zehn rum. Weil, da hab ich grad dem Morle seine Frühstücks-Milch in die Schale an meiner Haustür gegossen, und als ich mich wieder aufgerichtet hab, seh ich das dicke Auto herfahren.«
Ich kann mir richtig bildlich vorstellen, wie sie dann zum Zaun geschlichen ist, um auch ja nix zu versäumen. »Gehört hast aber nix, oder?«
»Nein!«, ärgert sie sich. »Bei der Betti sind ja immer alle Fenster zu! Und der war ja auch nicht lang drin bei ihr.«
»Der nächste kam wann?«
»Nach dem Mittagessen, weil ich da grad meinen Kompost vom Kochen in die grüne Tonne in meiner Schupfa geschmissen hab.«
Komischerweise ist sie immer draußen, wenn es was zu sehen gibt, stelle ich fest. Das ist schon ein Zufall! Oder einfach nur übereifrige Neugier?
»Wie hat der ausgeschaut?«
»Jackett und ein Hemd drunter, noch recht jung und fesch, weil ich mir noch gedacht hab, wie sich ein so junger Hüpfer so ein Drum-Auto leisten kann.«
»Du hast ihn also nicht gekannt?«, forscht der Bär nach.
Sie nickt eifrig. »Gekannt nicht, aber der war schon öfter da. – Und gehört hab ich wieder nix, außer, dass er nach ein paar Minuten wieder rasant abgehauen ist mit seiner teuren schwarzen Karosse.«
»Die Autonummer hast du dir nicht zufällig gemerkt?«
Res schüttelt den Kopf. »Ich bin doch kurzsichtig!«
»Mann Nummer drei!«, fordere ich sie auf, weiter zu berichten.
»Der junge Schwarzjackerte ist so um fünfe nachmittags gekommen, weil ich da grad meinem Morle sein Abendessen vor die Haustür gestellt hab!«
»Auch mit einem Auto?«
»Nein! Mit einem Motorradl, das dermaßen laut war und gestunken hat! Pfui, Teufel!«, ist Res empört. »Den solltet ihr mal filzen! Das Vehikel war sicher nicht verkehrstauglich, oder wie man das nennt!«
»Ich nehm an, du hast wieder nix gehört?«
»Das nicht, aber der ist zur Haustür rein und nach ein paar Sekunden gleich wieder rausgekommen und davongebrettert, wie von der Tarantel gestochen, weil mein Morle so erschrocken ist, dass er gleich auf den Apfelbaum hinaufgeflüchtet ist.« Sie deutet zu dem alten Apfelbaum in der hintersten Ecke ihres kleinen Vorgartens, der jetzt im Oktober gelbe Blätter hat.
»Das heißt, es konnte jeder hinein, weil die Haustür immer offen war?«, forsche ich nachdenklich.
Das eifrige Nicken von Res bestätigt meine Vermutung. »Sie hat nie abgesperrt. Warum auch? – Und sonst hätte ich ihre Leich’ ja gar nicht finden können.«
»Sonst noch was Auffälliges?«, hakt der Bär nach.
»Eben nicht! Drum hab ich mir ja jeden Tag mehr Sorgen um die Betti gemacht«, gesteht die Res eindringlich. »Es ist gar nix mehr passiert.«
»Du hast also öfter Kontakt mit ihr gehabt?«
Res schüttelt missmutig den Kopf. »Na ja, sie ist ja nicht viel aus dem Haus gegangen, aber sie hat mich immer grüßt, wenn sie mich gesehen hat. Und sie hat sich letzten Winter um meinen Morle gekümmert, als ich im Krankenhaus war. Ihre eigenen Katzen hat ihr ja der Tierschutz weggenommen, genau wie das Jugendamt ihre Kinder. Wobei ich sagen muss, dass sie sich schon wirklich gut um den Morle gekümmert hat. Der war quietschfidel, wie ich ihn nachher wieder abgeholt hab«, erzählt sie ohne Punkt und Komma. »Und leid getan hat sie mir schon auch irgendwie. Die blöde Sauferei und Hurerei hat ihr ganzes Leben kaputt gemacht, aber sie wollt sich partout nicht helfen lassen. Nicht vom Sozialamt oder sonst wem …«
»Gut«, will ich das Verhör beenden, weil mir ihre unnützen Infos jetzt reichen. »Danke dir Res!«
Aber sie denkt gar nicht daran, ihr fleißiges Mundwerk zu halten. Sie kommt näher zu mir her und dämpft ihre Stimme. »Aber ich könnt dir noch viel mehr erzählen. Vom Lemke da drüben zum Beispiel!« Sie deutet auf das schmucke Nachbarhaus.
»Ja, ja, Res!«, wehre ich sie ab. »Wenn ich noch was wissen will, dann komm ich gern auf dich zurück.«
»Aber …«, wendet sie ein und verstummt prompt.
Während wir uns mit ihr unterhalten haben, sind die Bestatter in ihrem schwarzen Leichenwagen vorgefahren und mit einem grauen Plastiksarg ins Haus gegangen. Jetzt kommen sie damit wieder heraus und laden ihre stinkende Fracht ein. Ein gedämpftes Geraune geht durch die umstehenden Gaffer. Viele bekreuzigen sich. Auch Res. Sogar mehrmals.
»Das ist ja wie im Mittelalter!«, kommentiert der Bär und folgt mir zum Auto. »Willst du noch andere Zeugen befragen?«
»Gibt es noch welche?«, bin ich irritiert.
Der Bär zuckt mit den Schultern. »Ich dacht nur, weil grad so viele rumstehen. Vielleicht hat noch jemand etwas gesehen oder so.«
»So lang ich nicht weiß, ob die Betti einen Unfall gehabt hat oder vorsätzlich gegen den Tisch gestoßen worden ist, frag ich gar niemanden mehr.«
So informativ das Gespräch mit Res auch gewesen sein mag, warum soll ich mir jetzt möglicherweise umsonst Arbeit machen, wenn sich herausstellen sollte, dass Bettis Tod selbstverschuldet ist und die Männerbesuche gar keine Bedeutung haben.
Der Bär schmunzelt. »Dann hoffen wir mal, dass es ein Unfall gewesen ist.«
»Aber die Angehörigen müssen wir informieren.«
Diese eine Bemerkung lässt sein Schmunzeln zerfließen, weil ich natürlich weiß, dass er es überhaupt nicht mag, schlimme Nachrichten an Angehörige zu überbringen und diesen unbequemen Part unseres Berufs immer mir überlässt.
»Glaubst du, dass ihr Tod überhaupt irgendjemanden juckt?«
»Sie ist … war die Mutter von vier Kindern. Schon vergessen?«, erinnere ich ihn mahnend. »Ich werd die Ruchotzky vom Jugendamt anrufen. Die weiß sicher, wo die vier jetzt leben.«
Ich schwinge mich also wieder in meinen schwarzen Beatle und folge dem Bär in seinem alten Dienst-Audi in die Polizeiinspektion in die Bahnhofsstraße nach Kelheim. Unser Arbeitsplatz befindet sich im ehemaligen Bahnhofsgebäude der Stadt, das vor Jahren zur Inspektion umgebaut und modernisiert worden ist. Der Bär und ich teilen uns ein Büro, das trotz der Renovierung ziemlich karg und zweckmäßig mit zwei sich gegenüberstehenden Schreibtischen und ein paar Aktenschränken eingerichtet ist. Einzig ein Wandkalender mit Fotos seiner Familie, den der Bär zu Weihnachten von seinen drei Kindern geschenkt bekommen hat, und ein paar Zimmerpflanzen, die ich pflege, verschönern diesen Raum, der sich gleich an die Amtsstube im vorderen Bereich des Gebäudes anschließt. Ansonsten ist es eine Inspektion, wie sie jeder aus den Krimis kennt, mit einem Empfang, der anschließenden Amtsstube, Umkleiden, Arrestzellen, Büros, einem Konferenz- und einem Aufenthaltsraum.
Andrea Ruchotzky, meine Ansprechpartnerin vom hiesigen Jugendamt, mit der ich damals schon die beiden Mädchen aus dem Haus von Betti geholt habe, bedauert ihren Tod und fügt hinzu, dass es mit ihr ja mal so enden hatte müssen. Den beiden Mädchen Bettina und Lydia ginge es aber in ihrer Pflegefamilie gut, wo sie zu zweit untergekommen seien. Sie wolle ihnen die Nachricht vom Tod ihrer Mutter lieber selbst überbringen, bittet sie mich eindringlich, denn, obwohl die Kinder mit ihr keinen Kontakt mehr gehabt hätten, wäre es doch ein gewisser Schock. Das ist mir zugegeben auch ganz recht so.
Zu den beiden Jungs, die inzwischen volljährig seien, habe sie inzwischen keinen Kontakt mehr, informiert mich Frau Ruchotzky weiter. Sie wisse nur, dass der Ältere, also Bernd, sich positiv entwickelt und sich beruflich selbstständig gemacht hätte. Sein Geschäft habe wohl irgendwas mit Internetverkauf zu tun. Und der jüngere, auch weitaus schwierigere der beiden Söhne, Jürgen, wäre von Pflegefamilie zu Pflegefamilie weitergereicht worden, weil er immer rebelliert hatte. Er habe wohl mit Drogen und Alkohol Probleme gehabt und wohne jetzt nach einem Entzug in einer Sozialeinrichtung in Regensburg.