Mordssautrog - Marion Stadler - E-Book

Mordssautrog E-Book

Marion Stadler

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Beschreibung

Auf dem alten Ludwigkanal in Essing im Altmühltal findet das Sautrogrennen statt. Am nächsten Morgen wird der Guru einer gerade im Ort heimisch gewordenen Sekte tot und aufgebahrt in einem Sautrog gefunden. Der außergewöhnliche Tote reißt die noch von ihrem Unfall angeschlagene Dorfkommissarin Mary Weidinger aus ihrer Lethargie. Tatsächlich ergeben die ersten Ermittlungen, dass es bei der Glaubensgemeinschaft nicht so keusch und fromm zugeht, wie es den Anschein haben sollte. Eine schwangere Sektenschwester verschwindet, der Schwiegervater von Mary, von allen nur Opa genannt, verursacht Aufruhr im Dorf und der neue Kommissar der Polizeiinspektion Kelheim, Erdem Alemdaroglu, macht Mary das Leben schwer. Als dann auch noch ihr vermeintlich untreuer Ehemann Toni als Spion in die Sekte eingeschleust wird und ein blutiges Attentat geschieht, läuft alles aus dem Ruder. Doch sie bekommt unerwartete Tipps von einem ungewöhnlichen Helfer …

Der sechste Teil der Dorfkommissarin-Mary-Reihe ist ein in sich geschlossener Fall. Der Krimi ist eine Neuauflage und erschien ursprünglich unter dem Titel Sautrog.

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Nachwort
Weitere Veröffentlichungen

Marion Stadler

Mordssautrog

Über die Autorin:

 

 

© Mirjam Landfried, Kameraflimmern

 

Marion Stadler hält dem Altmühltal schon seit ihrer Kindheit die Treue. Sie lebt und schreibt dort, wo andere Urlaub machen, und ihre Krimis spielen: in Essing bei Kelheim in Niederbayern.

Als Agatha-Christie-Fan lässt sie sich von der großen Krimiautorin inspirieren. Durch ihre Arbeit zuerst in der Gastronomie und dann im Verkauf begegnet ihr außerdem immer wieder allzu Menschliches, was in ihre Krimis miteinfließt, wobei es in ihrer Heimat eher idyllisch und friedlich zugeht. Diese Idylle und die Sehenswürdigkeiten baut sie als Schauplätze in ihre Krimis mit ein. Inzwischen sind sechs Essingkrimis entstanden. Ihre Kommissarin Mary Weidinger und deren eigensinniger Schwiegervater erfreuen sich bei ihrer Leserschaft großer Beliebtheit.

Sie ist nicht nur Autorin, sondern auch Kunsthandwerkerin und leidenschaftliche Hobbygärtnerin.

 

 

Buchbeschreibung:

 

Auf dem alten Ludwigkanal in Essing im Altmühltal findet das Sautrogrennen statt. Am nächsten Morgen wird der Guru einer gerade im Ort heimisch gewordenen Sekte tot und aufgebahrt in einem Sautrog gefunden. Der Tote reißt die noch von ihrem Unfall angeschlagene Dorfkommissarin Mary Weidinger aus ihrer Lethargie. Tatsächlich ergeben die ersten Ermittlungen, dass es bei der Glaubensgemeinschaft nicht so keusch und fromm zugeht, wie es den Anschein haben sollte. Eine schwangere Sektenschwester verschwindet, der Schwiegervater von Mary, von allen nur Opa genannt, verursacht Aufruhr im Dorf und der neue Kommissar der Polizeiinspektion Kelheim, Erdem Alemdaroglu, macht Mary das Leben schwer. Als dann auch noch ihr vermeintlich untreuer Ehemann Toni als Spion in die Sekte eingeschleust wird und ein blutiges Attentat geschieht, läuft alles aus dem Ruder. Doch sie bekommt unerwartete Tipps von einem ungewöhnlichen Helfer …

 

Marion Stadler

Mordssautrog

 

Dorfkommissarin Mary ermittelt 6

 

 

 

Kriminalroman

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© Oktober 2023 Empire-Verlag

Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer

 

Lektorat: Daniela Guse – https://www.danibakerbooks.com/lektorat

Korrektorat: Julia Kuhlmann – https://www.juliesbookhismus.de/Korrektorat/

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –

nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

 

Cover: Chris Gilcher

https://buchcoverdesign.de/

Illustrationen: Adobe Stock ID 56492852, Adobe Stock ID 548735693, Adobe Stock ID 99749990

 

Prolog

 

Quirin schaut aus dem großen Fenster des Wohnzimmers im ersten Stock hinunter in den Garten. Summend wiegt er seinen kleinen, neugeborenen Sohn Michael an seiner Brust, während seine Vroni geräuschvoll in der Küche herumwerkelt. Der Kleine ist eingeschlafen, nachdem er ihm sein Milchfläschchen gegeben und er aufgestoßen hat. Quirin genießt diese Zweisamkeit mit seinem Sohn. Dieses süße Wesen hat sein Leben komplett verändert, seit es vor einer Woche auf die Welt gekommen ist. Noch nie hat er für jemanden auf einen Schlag so viel Liebe und Wärme empfunden. Er war verdammt glücklich und sein Beschützerinstinkt lief auf Hochtouren.

Doch für dieses Glück schämt er sich fast, denn beim Blick in den Garten sieht er seine Mutter, die grad gänzlich gegenteilige Gefühle durchmacht. Zusammengesunken sitzt sie da auf der rustikalen Gartenbank am kleinen Teich. Um ihre rechte Schulter und die Brust die Bandage, die ihre lädierten Knochen, Muskeln und Sehnen stützt. Der Unfall vor mehr als zehn Wochen hat sie komplett aus dem Leben gerissen. Sie hat abgenommen und wirkt ausgezehrt und matt. Quirin will ihr so gern helfen, fühlt sich aber so hilf- und machtlos. So hat er seine Mutter noch nie erlebt – oder doch? Damals, als sein Vater tödlich verunglückt war. Damals vor nunmehr acht Jahren hatte es ihr genauso den Boden unter den Füßen weggezogen.

Erst jetzt, da er selbst Vater geworden ist, erkennt er, dass nur sein Bruder und er der Grund dafür gewesen waren, dass ihre Mutter weitergekämpft hatte. Doch wofür sollte sie jetzt kämpfen? Lukas und er waren längst erwachsen und lebten ihr eigenes Leben. Und Toni …

»Na, ist er eingeschlafen?«, reißt ihn Vroni, die sich von hinten angeschlichen hat, aus seinen schweren Gedanken. Liebevoll streichelt sie über den mit zartem, blondem Flaum bedeckten Kopf des Kleinen.

Zufrieden lächelt Quirin sie an. »Ja, er hat sein Fläschchen fast ganz ausgetrunken, gerülpst und ist dann sofort ins Land der Träume abgehauen.«

Vroni drückt ihm schmunzelnd einen Kuss auf die Wange. »Bist ein prima Daddy.«

Doch das Lob hört Quirin nicht. Gedankenverloren starrt er wieder aus dem Fenster. Vroni folgt seinem Blick hinunter zur Gartenbank mit ihrer Schwiegermutter darauf.

»Die Mama gefällt mir gar nicht«, stellt er dann sorgenvoll fest.

»Es wird seine Zeit dauern, bis alle Wunden verheilt sind«, bedauert sie.

»Sie kommt mir so schwach vor. Ich weiß nicht, ob sie das alles packen wird, Vroni.«

Tränen sammeln sich in seinen Augen und er versucht, sie hinunterzuschlucken. Das ist auch eine neue Seite seiner noch jungen Vaterschaft. Er kann seine Gefühle nicht mehr so gut im Zaum halten und ist viel sentimentaler als früher.

Tröstend tätschelt sie ihm die Schulter. »Aber wir sind doch hier und sie hat jetzt ein Enkelkind. Wirst sehen, wenn sie Michi erst kennengelernt hat, dann wird sie aufblühen.«

Nickend stimmt er ihr zu. »Ja, sie liebt Kinder. Und sie hat den Nepi vor ein paar Jahren mit großgezogen«, erinnert er sich an seinen dreijährigen Cousin, den Sohn seiner Tante Ulli. Damals war sie alleinerziehend und seine Mutter hatte sie mit dem Baby aufgenommen, als Ulli mit ihrem plärrenden Sprössling nicht mehr zurechtgekommen war.

So eine große Einmischung wünschte sich Vroni zwar nicht von ihrer Schwiegermutter, aber das würde sich zeigen. Die ganze Familiensituation hatte sich in den letzten Wochen gravierend verändert. Jeder musste darin erst wieder seinen Platz finden.

 

Kapitel 1

 

Ich bin durch meinen Garten geschlendert, nachdem mich Quirin, mein Ältester, grad aus der Reha-Klinik in Bad Füssing abgeholt hat. Die lange Fahrt heim nach Essing hat mich geschlaucht. Darum habe ich ihn auch gebeten, mir ein wenig Ruhe zu gönnen, obwohl er es kaum erwarten kann, mir seinen eine Woche alten Sohn vorzustellen und die grad ausgebaute Wohnung im Obergeschoss zu zeigen. Zum Abendessen werde ich zu ihm und seiner frisch gebackenen Familie hinaufgehen, habe ich ihm versprochen.

Aber jetzt brauche ich Zeit zum Ankommen und sitze auf der verwitterten Gartenbank an meinem kleinen Teich, der mit Unkraut ganz zugewuchert ist. Genau wie der Rest meiner Blumenbeete, stelle ich fest. Aber wenigstens hat Quirin noch schnell den Rasen gemäht, bevor ich heimgekommen bin. Er weiß, wie wichtig mir mein Garten ist. Doch im Moment stört mich das wild zwischen meinen Rosen und Stauden wachsende Unkraut wenig. Ich bin nur froh, endlich wieder daheim zu sein. Nach zehn Wochen endlich wieder in meinen vier Wänden. Obwohl - nun sind es gar nicht mehr meine vier Wände! Mein Haus hat sich verändert. Es hat einen neuen Anstrich verpasst gekriegt. Anstelle des satten Sonnengelbs ist nun ein dezentes Beige getreten. Gefällt mir sehr gut und lässt das eineinhalbstöckige Satteldachhaus gleich wieder viel moderner und neuer aussehen. Aber im Grunde ist es mir eigentlich wurscht, wie es ausschaut. Aus dem Dach ragt eine neue, große Gaube mit zwei Fenstern. Dort soll das neue Wohnzimmer von Quirin und Vroni sein. Sie haben mich während meiner Klinik- und Reha-Aufenthalte immer in den Umbau miteinbezogen, mich gefragt, ob mir dies oder das recht wäre, weil es ja immer noch mein Haus ist. Aber ich wollte ihnen keine Vorschriften machen – und im Prinzip war es mir egal. Hauptsache sie haben es schön!

In mein Reich im Erdgeschoss haben sie nun mein Schlafzimmer in das ehemalige Zimmer vom Opa verlagert, weiß gestrichen und sogar die ganzen Familienfotos wieder aufgehängt, bis auf das Hochzeitsfoto von mir und Toni. Dort werde ich also jetzt allein schlafen. Wieder einmal allein! Ohne Toni! Wenn ich an ihn denke, versetzt es mir wieder einen Stich ins Herz. Wobei, ein Herz habe ich eigentlich gar keins mehr. Es ist vielmehr ein kalter, harter Klumpen, der da in meiner Brust schlägt. Noch nie hat mich ein Mann so verletzt, hintergangen und betrogen. Und das Schlimmste daran ist, dass ich es ihm niemals zugetraut hätte. Ich war so dumm, so blind vor lauter Liebe, dass ich ganz vergessen hatte, dass Toni schon immer ein Weiberer war und immer einer bleiben wird. Nicht einmal drei Jahre hat er seine Triebe unterdrücken können.

An die Autofahrt damals vom Präsidium in Regensburg und heim nach Essing und den Unfall selbst kann ich mich nicht mehr erinnern, aber die Kussszene in seinem Büro mit ihm und der Schneidhart, die ich kurz davor beobachtet hatte, bekomme ich einfach nicht aus meinem Schädel. Und auch seinen Auftritt im Krankenhaus werde ich so schnell nicht vergessen: Auf einmal war er mit zerknirschter und besorgter Miene neben meinem Bett gestanden, als ich noch auf der Halbintensivstation gelegen war.

»Dass du dich noch hierher traust …«, habe ich zu ihm gesagt und war selbst darüber erschrocken, wie kalt meine Stimme geklungen hat.

Energisch hatte er dann auf mich eingeredet: »Es war nicht so, wie es ausgesehen hat, Maria! Die Susanne ist vielleicht zu aufdringlich geworden, aber ich hab ihr nie Hoffnungen gemacht und ihre Gefühle niemals erwidert …«

»Ich will das nicht hören!«, habe ich ihn barsch unterbrochen und die Zähne zusammengebissen vor lauter Schmerzen, körperlichen und seelischen. »Verschwind einfach!«

Und das hat er dann getan. Er ist verschwunden. Aus meinem Haus. Aus meinem Leben.

Der Bär hat mir peinlich berührt erzählt, dass er gehört habe, Toni habe die Stelle in Halle angenommen und sei dorthin gezogen. Mein Partner, Markus Bärnreuther, hält mich als Polizeihauptmeister über die Polizeiinspektion Kelheim, in der ich bis zu meinem Unfall Dienstgruppenleiterin und Kommissarin war, einigermaßen auf dem Laufenden. Zwar hat er mich nie besucht, denn er hasst Krankenhäuser und die ganze Gefühlsduselei, die mit einem Krankenbesuch zusammenhängt, aber er hat mich wöchentlich angerufen. Von ihm weiß ich auch, dass ein Ersatz für mich neu in die PI beordert worden ist. Erdem Alemda … Dingsbums. Ich kann mir den türkischen Nachnamen einfach nicht merken! Er ist ein noch ziemlich junger und, laut Bärs Beschreibung, auch schneidiger Kommissar aus Landshut. Freilich mit deutscher Staatsbürgerschaft, sonst könnte er den Dienst bei uns gar nicht antreten, aber eben mit ausländischen Wurzeln. So schnell wird man also, wenn man auf die Fünfzig zugeht und krankheitsbedingt ausfällt, ersetzt!

Ich muss die Tränen hinunterschlucken. Ich will nicht schon wieder rumheulen! Das habe ich die letzten Wochen oft genug getan, ob aus Liebeskummer oder aus körperlichem Schmerz. Diesen habe ich die letzten Wochen wahrlich ausdauernd ertragen müssen und es ist immer noch nicht vorbei. Immer noch nehme ich täglich mehrere Schmerztabletten. Die Ärzte haben mich vorgewarnt, dass ich meinen rechten Arm wohl nie wieder so bewegen werde können. – Dieser vermaledeite Unfall!

Wie gesagt, kann ich mich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich Toni und diese Schneidhart küssend in seinem Büro erwischt habe und blindlings, aufgewühlt und wütend mit dem Auto abgehauen bin. Auf der ST2394, die nach Viehhausen in Richtung Kelheim mitten durch ein großes Waldgebiet führt, bin ich von der Straße abgekommen und frontal in eine Fichte gekracht. Glücklicherweise haben vor diesem Nadelbaum einige kleinere Bäume und Sträucher gestanden, die meinen Aufprall vorher abgebremst haben, aber einer jener schmäleren Fichtenstämme ist dabei gebrochen und hat sich durch meine Windschutzscheibe, den aufplatzenden Airbag und meine rechte Schulter gebohrt. Alle anderen Prellungen und Schürfwunden sind inzwischen verheilt und ich habe aus vielen Mündern und immer wieder gehört, wie viel Glück ich gehabt habe, denn der gebrochene Stamm hätte mich auch ganz woanders aufspießen können. Manchmal zweifle ich daran, ob es Glück war, besonders dann, wenn es mir wieder besonders dreckig geht.

Mein schöner Beetle ist jedenfalls Schrott. Quirin hat mir Fotos von dem Wrack und auch eins von der Unglücksstelle gezeigt, die er mit dem Handy gemacht hat. Die Feuerwehr musste mich mit der Motorsäge von dem Baumspieß befreien. Beim Anblick der Bilder konnte ich es selbst kaum fassen, dass ich das überlebt habe.

Jedenfalls hat es jene schwache Schulter erwischt, die bei einer Geiselnahme schon einmal angeschossen worden war. Nun ist sie jedenfalls ganz hinüber. So ziemlich alle Muskeln, Knochen und Sehnen darin sind in Mitleidenschaft gezogen. Ich musste insgesamt zweimal operiert und wieder zusammengeflickt werden. Nach fünf Wochen Krankenhaus folgten fünf Wochen Reha in Bad Füssing. Natürlich hätte ich meine Rehabilitation auch in einem Kurbad bei uns in der Nähe im Landkreis Kelheim machen können, aber ich wollte möglichst weit weg vom Mitleid und der Überbesorgtheit meiner Söhne, meiner Schwester, meines Schwiegervaters und meiner Arbeitskollegen, und vor allem weg von Toni. Immer wieder hatten mich Quirin, Lukas, Ulli, der Opa und sogar der Bär bearbeitet, mich doch mit ihm auszusprechen, mir wenigstens seine Version des unglücklichen Kusses mit dieser Staatsanwältin anzuhören, bis ich ihnen wütend verboten hatte, seinen Namen auch nur noch einmal zu nennen.

Indirekt ist er schuld an diesem verdammten Unfall! Seitdem ist alles anders. Seitdem ist mein Leben ein völlig anderes. Ich werde wohl nie wieder als Kommissarin meinen Dienst tun können. Wie auch, wenn ich als Rechtshänderin mit meinem kaputten rechten Arm nicht einmal jemanden verhaften, geschweige denn eine Pistole zücken kann.

Könnte ich nur die Zeit bis zu jenem Abend im Mai zurückdrehen, als das erste Frühsommergewitter vorüber war und Toni und ich mit einem Glas Rotwein auf der Terrasse gesessen hatten. Damals war ich das letzte Mal bewusst glücklich an seiner Seite, als er mir versichert hat, dass ihm meine wachsenden Speckröllchen egal sind … Könnte ich ihn doch noch fragen, ob er genauso glücklich war, oder ob er damals schon die Schneidhart im Kopf gehabt hat … Könnte ich es doch ungeschehen machen, dass ich davongelaufen bin, als er mir einen Tag später offenbart hat, dass er unzufrieden ist in seinem Beruf und sich nach Halle versetzen lässt, ohne mit mir vorher darüber geredet zu haben … Könnte ich doch all die Fehler, die er, und bestimmt auch ich, gemacht haben, ungeschehen machen! Könnte ich doch …

Aber ich kann nicht, Kruzinesn!

Ich fühle mich ohnmächtig gegenüber dem, was passiert ist, und dem, was mir bevorsteht. Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen wird. Vielleicht bekomme ich ja wenigstens einen Schreibtischjob in unserer PI, dann kann ich meinen Kollegen zuarbeiten. Vom Polizeipräsidenten Aschenbrenner aus Landshut habe ich jedenfalls ein Angebot für eine Wiedereingliederung bekommen, allerdings muss ich zuerst vor einem Amtsarzt wenigstens bedingt einsatzfähig beurteilt werden. Immerhin bin ich ihm so wichtig, dass der Aschenbrenner sich meines Falls persönlich angenommen hat. Ich bin ja auch eine seiner besten Leute, denn meine Aufklärungsrate bei den Morden hier im Landkreis liegt bei hundert Prozent.

Es kam auch schon der Vorschlag, mich wieder psychologisch betreuen zu lassen. Bernhard Leikam ist, beziehungsweise war, mein Psychiater schon bei vorhergehenden Traumata, die ich durchgestanden habe. Ich selbst hätte niemals psychologische Hilfe in Anspruch genommen, wenn sie mir nicht von Vorgesetzten verordnet worden wäre. Doch inzwischen habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Therapie helfen kann. Andererseits komme ich aus einer zutiefst konservativen niederbairischen Gesellschaft, in der es immer noch verpönt ist, wenn man zu einem Seelenschrauber geht. Hier wird man allein mit seiner geschundenen Seele fertig und heult und jammert nicht rum!

Und genauso werde ich es auch handhaben. Ich heule nicht rum und jammere schon gleich gar nicht. Ich muss irgendwie schauen, dass ich wieder Fuß fasse und in mein neues Leben hineinfinde. Jeder um mich herum beschwört mich dazu, bemuttert und befürsorgt mich. Es wird von mir erwartet, dass ich weitermache, nur verspüre ich überhaupt keine Motivation. Doch ich will sie natürlich nicht enttäuschen und ihnen nicht noch mehr Kummer verursachen, als sie die letzten Wochen schon mit mir erlitten haben. Ich muss also tapfer sein!

Auf einmal setzt sich Quirin zu mir. Er hat seinen Sohn, meinen Enkel, im Arm. Ich hatte sie gar nicht kommen sehen, so in Gedanken war ich.

»Schau mal!«, begrüßt er mich stolz. »Ich bring dir deinen ersten Enkel. Darf ich vorstellen: Michael Martin Spangler.«

Beim ersten Anblick des kleinen Würmchens geht mir mein erstarrtes Herz auf. Es wird von einer lange vermissten Wärme und Freude überflutet, dass ich vollkommen überwältigt bin. Auf so eine starke Gefühlsregung war ich nicht gefasst. Ich muss schlucken. Martin war der Name meines ersten Mannes und damit von Quirins Vater.

»Ich wusst nicht, dass ihr ihm einen zweiten Namen gegeben habt …«

Voller Entzücken und Neugierde betrachte ich meinen Enkel in der großen, behaarten Armbeuge von Quirin. Auch er hat Tränen in den Augen.

»Nach seinem Großvater.«

Ich bin tief bewegt und nun ist es mir egal, ob mir die Tränen über die Wangen laufen. Dann küsse ich vorsichtig die Stirn des schlafenden Michael. »Willkommen, mein Kleiner!«

 

Kapitel 2

 

Ich hocke gerade auf dem Klo, als das Telefon klingelt. In dieser Situation und mit meinem Handicap werde ich sowieso nicht rechtzeitig abheben können, also ignoriere ich es. Nach zwei Wochen daheim habe ich mich endlich an mein neues Schlafzimmer und meine neue Wohnsituation gewöhnt. Als Seitenschläferin war es anfangs für mich schwierig, nur auf dem Rücken zu schlafen und sogar jetzt passiert es mir noch jede Nacht, dass ich mich auf die Seite drehe – mit schmerzhaften Folgen. Aber der unruhige Schlaf ist das geringste Problem …

Das Standardklingeln des Haustelefons verstummt und kurz darauf höre ich die Anruf-Melodie meines Handys. Es ist immer noch die Bayernhymne. Quirin hat mir allerdings eine andere Version draufgespeichert, weil alle die Schnauze voll hatten vom Blasorchester. Darum tönt es also jetzt ganz rockig mit E-Gitarre. Mir gefällts jedenfalls! Irgendwann muss man halt mal was Neues ausprobieren.

Dass der Anrufer nicht aufgibt und nun auch noch auf meinem Handy anruft, macht mich schon neugieriger, während ich mir als Rechtshänderin mit der linken Hand die Zähne putze. Ich werde zurückrufen …

Toni wäre längst zu mir ins Bad gekommen und hätte mich geschimpft, weil ich nicht ran gehe.

Ich ziehe mit meinem Zahnpastamund eine Lätschn vor dem Spiegel und verbanne ihn wieder einmal aus meinen Gedanken. Ist mir das im Krankenhaus und der Kurklinik noch einigermaßen gut gelungen, weil er nicht zu meinem dortigen Alltag aus Physiotherapie, Wassergymnastik, Untersuchungsterminen, langen Spaziergängen, Essen im Speisesaal und Yoga gehört hat, fällt es mir daheim umso schwerer. Es erinnert mich so viel an ihn, obwohl er alles, was ihm gehört, mitgenommen hat und mein Schlafzimmer jetzt ganz woanders ist. Er ist aus meinem Leben gelöscht, als wäre er nie hier gewesen. Nur seinen Nachnamen trage ich noch: Weidinger. Mein Ehering hat den Unfall nicht überlebt, denn meine rechte Hand war so angeschwollen, dass sie ihn aufzwicken haben müssen, damit mein Ringfinger nicht abstirbt.

Schon bevor ich mich daran mache, mich anzuziehen, breche ich in Schweiß aus. Es ist jedes Mal eine überaus schmerzhafte Tortur. Inzwischen hatte ich mich daran gewöhnt, ohne BH herumzulaufen. Meinen Hängebusen sah man unter der Bandage, die meinen angewinkelten Arm an den Brustkorb fesselte, sowieso nicht. Aber seit einer Woche trage ich das blöde Ding nicht mehr. Es war mir einfach zu umständlich. Außerdem will ich meinen Arm unbedingt wieder bewegen, statt ihn ruhigzustellen. Und ich will nicht immer auf Quirin angewiesen sein, der mir dieses Geschirr jeden Tag anlegt und abnimmt. Meine Physiotherapeutin hat gemeint, ich muss sogar jeden Tag mehr versuchen, wieder beweglicher zu werden, um so meine Muskeln wiederaufzubauen. Also beiße ich die Zähne zusammen. Höher als bis zu meinem Ohr kann ich meinen Arm immer noch nicht heben, aber ich habe mir inzwischen eine Technik zugelegt, mit der das Anziehen mittlerweile ganz gut klappt.

Mehrmals am Tag hat Quirin die letzten Wochen nach mir gesehen und auch Lukas hat immer wieder vorbeigeschaut. Ersterer hat Elternzeit und wird nun zwei Monate zu Hause sein. Zweiterer studiert ab Herbst das fünfte Semester Maschinenbau in Regensburg und wohnt auch da in einer WG. Aber ich habe meine Söhne und Vroni beschworen, dass sie sich nicht so sehr um mich kümmern brauchen. Ich will ihr trautes Familienglück und Lukas’ Semesterferien nicht stören und ich muss lernen, allein zurechtzukommen.

Natürlich habe ich bemerkt, wie glücklich mein Ältester ist, wenn er mit Vroni und seinem Sohn zusammen ist und wie er sich versteift, wenn er mit mir allein ist, genauso wie Lukas. Sie wissen noch nicht so recht, wie sie mit mir umgehen sollen. Darum mache ich auch gute Miene, als ich auf meinem Handydisplay Quirins Namen unter den eingegangenen Anrufen finde.

Ich rufe zurück und er hebt gleich ab. »Mama! Endlich!«

»Keine Sorge, es geht mir gut«, beschwichtige ich ihn sofort.

»Wir haben eine Leich gefunden!«

Ich halte die Luft an. »Eine Leich?«

»Ja, an der alten Schleuse im Ludwigkanal. Da war gestern dieses Sautrogrennen. Ich hab dich doch gefragt, ob du mit mir und Lukas hingehen willst. Grad haben wir uns zum Aufräumen getroffen und ihn gefunden …«

Die beiden hatten mich tatsächlich gestern nach dem Mittagessen gefragt, ob ich zu diesem Spektakel mitkommen will, aber ich hatte abgelehnt. Ich fühle mich noch nicht in der Lage, den neugierigen und gaffenden Essingern zu begegnen, die sich hinter mir ihre Mäuler zerreißen. Obwohl ich natürlich auch wirklich netten Zuspruch und sogar Besuche von einigen meiner einheimischen Schäfchen bekommen habe, seit ich wieder daheim bin.

Schon seit Jugendtagen gehören Quirin und auch Lukas, zum Burschenverein Essing und sie waren gestern Nachmittag ein paar Stunden zum Helfen auf dem Fest eingeteilt.

Meine kriminalistischen Synapsen regen sich aus ihrem aufgezwungenen Schlaf.

»Wer ihn?«

»Der Oberguru von der Sekte vom Steininger-Hof.«

Ich bin baff. »Der Engelbert vom Reinen Licht?«

»Du kennst … hast ihn gekannt?«

»Erklär ich dir später«, bestimme ich. »Ich bin schon unterwegs!«

»Aber du kannst doch gar nicht Autofahren, Mama!«, protestiert er.

»Ich komm zu Fuß. – Ist ja nicht weit.«

»Soll ich auch noch in der PI anrufen?«, fragt Quirin zögernd. »Ich mein, du bist ja eigentlich noch krankgeschrieben …«

»Ja, ruf an! Ich brauch sowieso Verstärkung.«

Schnell schlüpfe ich in meine Sneakers. Ich habe mir während der Reha welche gekauft, die ich, ohne Schuhbänder zu binden, anziehen kann. Draußen ist es nicht so warm, wie ich gedacht hatte. Jetzt Ende August macht sich morgens und abends schon der nahende Herbst bemerkbar. Doch ich gehe so schnell ich kann und bald spüre ich die kühle Luft vor lauter Anstrengung gar nicht mehr. Meine Kondition, die ich mir all die Jahre durch Nordic Walking antrainiert habe, ist beim Teufel, und ich merke, wie sehr mir dieser Sport fehlt.

Während ich also zuerst die Dorfstraße entlang und dann weiter durch die neue Siedlung am alten Ludwigkanal eile, die sich südöstlich an das alte Dorf anschließt, erinnere ich mich schnaufend und schwitzend an meine Begegnung mit diesem Engelbert. Er ist mit seinen Gleichgesinnten vor ungefähr fünf Monaten nach Essing gekommen. Steininger Christine hat ihm ihren Hof verkauft, nachdem eine Hotelkette davon abgesehen hatte, aus dem großen Anwesen ein Hotel machen zu wollen. Der Aufruhr im Dorf war groß gewesen, als sich herausgestellt hatte, dass es sich bei den neuen Bewohnern auf dem Steininger-Hof um eine Art Sekte handelt. Natürlich war damit auch meine Neugier geweckt und irgendwie fühle ich mich als Dorf-Gendarm verantwortlich für meine Schäfchen und ergründe, was sie bewegt. Und nicht zuletzt war dann der Opa die ausschlaggebende Kraft, die mich dazu gedrängt hat, diese Leute mal genauer unter die Lupe zu nehmen, als immer den Gerüchten Glauben zu schenken.

»Schau dir diesen Sauverein mal an, bevor was passiert!«, hat der Opa mir befohlen.

Die, die meine Lebensumstände inzwischen kennen, wissen, dass Vinzent Spangler der Vater meines ersten, vor nunmehr acht Jahren tödlich verunglückten, Mannes Martin war. Damit ist er quasi mein Ex-Schwiegervater und nicht nur für meine Söhne der Opa, sondern auch für alle in dem Tausendseelenmarkt Essing. Im ganzen Dorf ist er bekannt wie ein bunter Hund und das nicht nur wegen seiner umfangreichen Ratschtätigkeit, sondern auch, weil er sich überall einmischt und irgendwelche dummen Aktionen veranstaltet. Aber das ist eine andere G’schicht …

Ich bin dann also zum Steininger-Hof, um mir das Ganze einmal anzuschauen. Das war ungefähr vier Wochen vor meinem Unfall und, was soll ich sagen: Ich bin wirklich freundlich empfangen worden!

Es wohnen dort zwölf Männer und Frauen in dem alten Bauernhaus auf ziemlich spartanische Art und Weise zusammen. Sogar auf dem Dachboden haben sich ein paar ihren einfachen Schlafplatz eingerichtet. Sie bewirtschaften gemeinsam den Hof, bauen haufenweise Obst und Gemüse an und halten in den Stallungen rund um das Haus ein paar Kühe, Schweine, Ziegen, Schafe, Hühner und Enten für den Eigenbedarf. Alles Bio natürlich! Eigentlich ist der vom vorhergehenden Besitzer modernisierte Milchkuh-Betrieb viel zu groß für die, aber die großen Geräte für die Feldarbeit und die Felder selbst hat Engelbert an die umliegenden Bauern verpachtet oder verkauft.

Er hat mich herumgeführt und mir alles gezeigt. Er ist mir in seinem Erscheinen, seiner Person und seinem Alter vorgekommen wie der leibhaftig gewordene Jesus, so wie man ihn aus Sandalenfilmen kennt, in weißer Leinenkutte, Vollbart und einem imaginären Heiligenschein über dem erhabenen Haupt. Seine angenehm einnehmende Ausstrahlung, sein ruhiges, ausgeglichenes Wesen, seine Erklärung über sein Wirken und Denken und nicht zuletzt seine leuchtenden, blauen und tiefgründigen Augen haben mich in seinen Bann gezogen. Fast hätte ich meinem katholischen Glauben abgeschworen und wäre seiner Gemeinschaft beigetreten. Seine sanfte und wohlklingende Stimme und auch der Sinn und die Logik, mit der er mir seine Aufgabe hier auf Erden und seine Überzeugungen erklärt hat, haben mich eingelullt und irgendwann kam ich mir völlig losgelöst von allem Weltlichen vor. So stelle ich mir Jesus im Neuen Testament vor, wie er im Heiligen Land die Menschen für seinen Vater im Himmel und dessen Lehren begeistert und in seinen Bann gezogen hat.

Im Prinzip sind seine Grundsätze dieselben wie in der katholischen Kirche. Er und seine Glaubensbrüder und -schwestern halten sich zwar streng an die zehn Gebote, allerdings scheinen sie das sechste Gebot vollkommen außer Kraft gesetzt zu haben. Die Ehe in dem Sinne gibt es nicht und auch keine Beziehungen zwischen Mann und Frau. Der Engelbert hat mir lang und breit erklärt, dass es gerade dabei die meisten Zwistigkeiten und Streitereien gebe, ausgehend von Eifersucht, Rachsucht, Begierde und Gewalt. Also üben sie sich in strenger Enthaltsamkeit. Wie in einem Kloster also, aber eben einem gemischten Kloster. Kann das funktionieren?

Das habe ich ihn dann natürlich auch gefragt und er hatte mit einem schelmischen Schmunzeln gemeint, dass das jeder seiner Gläubigen selbst löse. Die von der katholischen Kirche verurteilte Selbstbefriedigung ist also bei den Mitgliedern des Reinen Lichts, wie sich die Glaubensgemeinschaft vom Engelbert nennt, offenbar gängige Praxis. Mir sind dabei allerdings einige Zweifel geblieben.

»Was ist denn, wenn sich eines deiner Schäflein in ein anderes verliebt?«, habe ich ihn dann noch gefragt.

Und er war wie bei meinen vielen Fragen davor um keine Antwort verlegen: »Gott hat uns die Liebe gegeben. Er liebt jeden Menschen gleich, egal ob er reich oder arm ist, schwarz oder weiß, sündig oder rein. Und genauso lieben wir uns alle mit der gleichen Hingabe und Erfülltheit.«

Damit habe ich mich zufriedengegeben, obwohl es in meinen Ohren schon sehr weit hergeholt geklungen hat. Der Mensch ist nun mal nicht so selbstlos, so stark oder so loyal, sich derart von seinen Gefühlen zu befreien. Und die Liebe ist eins von den stärksten Mächten, die unser Leben bestimmt. Davon kann ich ein Lied singen!

Und nun ist er offenbar tot, der Engelbert, trotz der ganzen Liebe!

Ich passiere grad das letzte neugebaute Haus, das noch ein Rohbau ist, am hintersten Ende des Baugebietes am Ludwigkanal. Hier schließt sich vor dem alten Schleusenhaus eine brache Wiese und ein rundes Pumpenhaus an, in dem das Essinger Abwasser unterirdisch zur Kläranlage nach Kelheim weitergepumpt wird. Auf dieser Wiese findet seit einigen Jahren dieses Sautrogrennen statt. Das heißt, das Rennen an sich spielt sich auf dem Wasser ab. Es handelt sich dabei um ein ungefähr 500 Meter langes, schnurgerades Teilstück des alten Ludwig-Donau-Main-Kanals, der damals beim Bau des neuen Rhein-Main-Donau-Kanals erhalten geblieben ist. Von noch teilweise alten, hohen Kastanien- und Eschenbäumen gesäumt wie eine Allee, ist dieser Kanal das Postkartenmotiv schlechthin. Ein vielbefahrener Radweg verläuft entlang des Ufers.

Bei dem Gaudi-Wettkampf muss ein Zweier-Team, meist in lustigen Kostümen und mit humorigem Namen, einen Hindernis-Parcours in einem Sautrog, der quasi als Boot dient, durchlaufen. Und das in zeitlicher Konkurrenz mit einem anderen Team.

Für alle die, die jetzt nicht wissen, was ein Sautrog ist: Er schaut im Prinzip aus wie die untere Hälfte von einem Sarg, nur etwas breiter und einfacher. Früher, als Hausschlachtungen noch Gang und Gäbe waren, landete darin das gerade vom Hausmetzger getötete Schwein und wurde mit kochendem Wasser übergossen, damit sich die Borsten auf der Haut der Sau mit einer Eisenkette abschaben ließen.

Man kann sich bei der nicht gerade stromlinienartigen Form dieses Troges vorstellen, dass die Insassen früher oder später im Wasser landen, wenn sie über dem Kopf hängende Luftballons zerplatzen, einen Tennisball in einen baumelnden Korb werfen oder eine kleine Insel umrunden müssen.

Zwei Polizeiautos parken schon neben dem Festzelt, das verwaist dasteht. Biertischgarnituren warten auf ihren Abbau, der verkrustete Grill auf das Putzen und stapelweise Bier- und Getränkekisten auf ihren Abtransport. Nur wenige Helfer, fünf junge Männer vom Verein, haben sich zum Aufräumen hier eingefunden, stelle ich fest. Ihre gebannte Aufmerksamkeit richtet sich auf einen der beiden Sautröge, den sie bedrückt, schweigend und fast andächtig am Ufer umstehen. Schon von hinten erkenne ich den Bär etwas abseits stehend, obwohl er eindeutig schmaler geworden ist. Die anderen beiden Polizisten sind der Elvis-Verschnitt Niedermayer und der blonde, rundkopferte Strobl.

Neugierig trete ich näher, und die Männer werden auf mich aufmerksam.

Der Bär kommt als Erster auf mich zu und weiß gleich gar nicht, wie er mich begrüßen soll. Wie gesagt, hat er es vermieden, mich zu besuchen. Die Gefahr von Gefühlsausbrüchen fürchtet er wie der Teufel das Weihwasser. Wir haben uns also seit dem Tag meines Unfalls nicht mehr gesehen. Ich kann mir vorstellen, dass er ein schlechtes Gewissen hat, weil er mich damals allein nach Regensburg fahren hat lassen. Wäre er dabei gewesen, wären wir mit unserem Dienstauto unterwegs gewesen und er auf der Heimfahrt hinter dem Steuer gesessen. Dann wäre der Unfall nie passiert. Aber ich mache ihm deshalb überhaupt keine Vorwürfe. Ihm nicht!

Jedenfalls hat er in den letzten Monaten wahnsinnig abgenommen. Damals steckte er mitten in einer Diät, die er anscheinend die letzten drei Monate weitergemacht hat. Ich staune nicht schlecht, denn er sieht jünger, vitaler und besser aus denn je!

Und obwohl er keine Gefühlsduseleien mag, erkenne ich Tränen in seinen Augen, als er mir verlegen gegenübersteht.

»Mary! Was tust du denn da?«

»Ich freu mich, dass wir uns endlich mal wiedersehen, heißt das, du alte Kameradensau!«, begrüße ich ihn einigermaßen außer Puste mit einem verzeihenden Grinsen und breite die Arme aus, um ihn zu drücken.

Doch er scheut diesen Körperkontakt mit mir. »Darf ich dich … Kann ich?«

»Hey, ich bin nicht aus Glas!«

Dann endlich wagt er es und umarmt mich, zwar zurückhaltend und vorsichtig, aber immerhin.

Als ich ihn loslasse, schnieft er verstohlen.

»Du schaust verdammt gut aus«, lobe ich ihn und versuche, mir meine Überanstrengung nicht anmerken zu lassen. »Ich hab nicht geglaubt, dass du deine Diät durchziehst.«

Sichtlich stolz seinen inzwischen fast flachen Bauch streichelnd, grinst er mich an. »26 Kilo sinds bis jetzt.«

Lobend klopfe ich seinen Rücken. »Respekt!«

Ich habe auch Gewicht verloren, allerdings eher ungewollt. Doch das gehört jetzt nicht hierher.

Hinter ihm warten schon der Strobl und der Niedermayer, die mir aber nicht so nahestehen, dass ich sie gleich umarmen will. Es reicht, dass wir uns herzlich die Hände schütteln. Das kann ich mittlerweile wieder schmerzfrei.

»Servus, Chefin! Tja, was so eine rassige Staatsanwältin alles ausmacht«, kommentiert der Strobl zweideutig.

Doch er bekommt sofort böse Blicke von seinen Kollegen zugeworfen. Ihm ist seine Bemerkung augenblicklich zuwider, denn es hat sich inzwischen bestimmt herumgesprochen, dass eben jene rassige Staatsanwältin das Gspusi meines Mannes war. Und nicht nur das: Die Schneidhart, blond, sexy, kurvig und wahnsinnig anziehend auf Männer, war auch so was wie die Motivation für den Bär und seine leidige Diät. Denn, nachdem wir sie während unserer Arbeit in einem verzwickten und zuständigkeitsübergreifenden Fall mit den Regensburger Kollegen kennengelernt hatten, war er direkt verzaubert von ihr und wollte ihr gefallen. Und das, obwohl der Bär glücklich mit seiner Karin verheiratet ist. Alle Kollegen hatten ihn wegen seiner lächerlichen Verliebtheit aufgezogen. Seine Schwärmerei hat auch mich wahnsinnig genervt, war mir die Staatsanwältin doch von Anfang an zu aufdringlich, zu aufgedonnert und zu überfreundlich. Wieder einmal fühle ich mich bestätigt darin, dass mein erster Eindruck von einem Menschen meistens richtig ist.

»Also ich glaub, es ist eher die neue Kollegin, wegen der der Bär sich so kasteit«, überspielt der Niedermayer verlegen, fährt sich durch seine Elvis-Tolle und erklärt mir dann: »Falls es dir dein Partner noch nicht erzählt hat: Wir haben Verstärkung gekriegt – und zwar weibliche! Anke Janssen heißt die. Weil doch der Schubert und der Koller in Pension gegangen sind.«

Schon wieder eine Neuerung! Ich hatte ganz vergessen, dass die Pensionierung von zwei meiner ältesten und langjährigsten Mitarbeiter bevorgestanden hat. Jetzt habe ich sie verpasst, ohne mich anständig bei den beiden bedanken und verabschieden zu können. Kruzinesn!

»Dann hat sich ja in den letzten drei Monaten viel getan in der PI«, stelle ich fest und bedauere, dass ich gefehlt habe.

»Den Erdem wirst du bestimmt gleich kennenlernen«, versichert mir der Bär schnell. »Ich hab ihm schon Bescheid gegeben, dass wir einen Einsatz haben und er kommt nach.«

Der Niedermayer und der Strobl lachen kurz auf.

»Ja, der nimmts mit seinen Dienstzeiten nicht so genau«, kommentiert der Niedermayer scherzhaft.

»Ich will ja euer freudiges Wiedersehen nicht unterbrechen, aber wir hätten da ein Problem«, ruft Quirin von seinem Standort am Sautrog dazwischen und deutet hinein. »Und zwar das da!«

Der Bär räuspert sich und wir folgen der Aufforderung meines Sohnes.

Und da liegt er drin, der Engelbert in seiner Kutte wie in einen Sarg gebettet. Gut, er ist ein wenig käsig unter seinem gepflegten Vollbart und die Lippen sind schon blau angelaufen, aber sein Leichnam strahlt doch etwas Würdevolles, fast Übersinnliches aus. Fehlt nur noch der Heiligenschein! Ich kriege eine Gänsehaut. Was allerdings diesen unheimlichen Anblick zerstört, ist die große Menge Blut, die sich auf Brusthöhe unter seinen gefalteten Händen und Unterarmen auf seinem Gewand ausgebreitet hat und sogar bis auf den Boden des Trogs gesickert ist. Jede Menge Blut also.

»Der schaut aus wie Jesus persönlich«, fällt dem jungen Niedermayer betreten ein.

»Der Bachhofer Tom und ich waren die ersten heut früh und wir haben das Aufräumen angefangen, bis ich den Sautrog im Wasser treiben gesehen hab«, erklärt uns Quirin, während ich, wie die anderen, gebannt auf den Toten schaue.

»Habt ihr was verändert?«, will der Bär ganz professionell wissen.

»Der Sigi und ich sind mit dem anderen Sautrog hin gepaddelt und haben nachgeschaut, weil wir gedacht haben, der schläft«, erklärt uns Bachhofer Tom.

Er und seine Freunde verdrücken sich das Lachen bei der Erinnerung daran. »Dabei hats den Sigi ins Wasser gehauen.«

»Der Mooslechner Sigi ist der Vorstand vom Burschenverein«, fügt Quirin erklärend hinzu. »Er ist heim, um sich umzuziehen.«

»Aber als wir dann näher hingekommen sind, haben wir das viele Blut gesehen«, fährt Tom mit seinem Bericht fort. »Es hat so unwirklich ausgeschaut und wir haben ihn samt dem Sautrog ans Ufer gezogen, um ihm zu helfen. Aber da war nix mehr zu machen.«

»War der Tote denn gestern auf eurem Fest?«, forsche ich nach.

Die jungen Männer schauen sich an und schütteln dann die Köpfe.

»Nein«, sagt Wimmer Sebastian, der mir vor zwei Jahren in einem Mordfall einmal eine große Hilfe war, dann. »Was tät so einer auch auf unserem Fest?«

Wo er Recht hat!

Dann rauscht ein schwarzer 3er BMW über den Feldweg heran und parkt mit einem gekonnten Schwenk in der Wiese hinter uns.

»Ah, der Kommissar erscheint auch endlich am Tatort«, mault der Niedermayer zynisch.

Diese jungen Kollegen haben keinen Respekt mehr vor den Vorgesetzten, denke ich noch so bei mir und beobachte, wie eben jener Kommissar aus seinem Auto steigt. Mir bleibt fast die Luft weg bei seinem Anblick, verkörpert er den typisch machohaften Südländer bis ins kleinste Detail mit seiner muskulösen, hochaufragenden Statur, die in einer schwarzen Lederjacke, weißem Hemd, enger Jeans und strahlend weißen Sneakers steckt. Die schwarzen und dichten Haare trägt er korrekt nach hinten gekämmt. Jede Kammzinke hat durch die Festigung mit Gel eine perfekt geschwungene Linie hinterlassen. Seine dunklen Augen stehen weit auseinander und bilden mit seiner spitzen Kinnpartie ein optisch äußerst attraktives Dreieck. Seine Mimik und auch seine Körpersprache zeugen von Selbstbewusstsein und Tatendrang, als er zu uns herkommt.

»Servus, beinand!«, begrüßt er uns und ich stutze noch mehr. Er spricht bairisch!

Verhaltenes Zurückgrüßen unsererseits.

Mit zusammengepressten Lippen mustert er uns der Reihe nach. An mir bleibt sein Blick schließlich hängen. Und es ist ein Wahnsinnsblick, der mich da trifft. Dunkle, mandelförmige Augen scannen mich zwischen langen, dichten Wimpern, was mir ein Magenflimmern verursacht. Auf einmal komme ich mir in meinen Schlabberklamotten, fettigen, zu einem Pferdeschwanz zusammengeknoteten Haaren und ausgelatschten Turnschuhen vor wie eine Neandertalerin.

Ich strecke ihm freundschaftlich meine Rechte entgegen, um meine Scham zu überspielen, und stelle mich vor: »Kommissarin Maria Weidinger. Ich bin Ihre Kollegin im Krankenstand …«

Sein Gesicht erhellt sich und belohnt mich mit einem breiten, einnehmenden Lächeln, hinter dem ebenmäßige, schneeweiße Zähne zum Vorschein kommen, während er meine Hand ergreift und kräftig schüttelt. »Ah, hab schon viel von dir gehört! Mary, nicht wahr?«

Ich nicke überrumpelt, weil er gleich zum Du übergegangen ist. »Ja …«

»Erdem Alemdaroglu. Aber sag einfach Erdem. Meinen Nachnamen kann sich sowieso keine Sau merken.«

»Denk dir nix«, meint der Niedermayer flüsternd zu mir. »Der ist immer so drauf.«

Er und der neue Kommissar scheinen sich schon angefreundet zu haben. Haartechnisch sind sie jedenfalls auf dem gleichen Level mit dem Haufen Gel.

Ohne Scheu oder Ehrfurcht vor dem seltsamen Toten vor uns, überprüft Erdem die offensichtlich nicht mehr vorhandenen Vitalfunktionen am Hals der Leiche.

»Der ist bestimmt schon ein paar Stunden tot. Er ist kalt …«

Immer noch befangen schauen wir ihm dabei zu. Ich weiß nicht, wovon ich mehr irritiert bin: von dem übermotivierten Kollegen oder der bizarren Leiche.

Dann hat Erdem anscheinend etwas entdeckt und beugt sich weiter nach vorn. Vorsichtig hebt er mit Daumen und Zeigefinger einen Arm der Leiche ein wenig hoch.

»Ist er erstochen worden?«, will Bachhofer Tom gespannt wissen.

Erdem runzelt die braune Stirn. »Aufgeschnittene Pulsadern.«

»Du meinst Selbstmord?«, staunt der Bär, der schon wieder ganz grün im Gesicht ist. Er kann eigentlich kein Blut sehen und auch keine Toten, aber vor den anderen reißt er sich wohl zusammen.

Forschend sucht der neue Kommissar nach etwas in dem Sautrog. »Hm, ich kann aber kein Messer hier drin finden …«

»Vielleicht hat er es ins Wasser geworfen, als er sich schon geritzt hatte«, gibt auch der Strobl seinen Senf dazu.

»Warum sollt er das tun?«, überlege ich laut.

»Und dann hat er sich einfach so hingelegt und auf den Tod gewartet, während er ausgeblutet ist?«, stellt Quirin ebenfalls ungläubig fest. »Das ist doch komisch!«

»Ja, ein bisserl viel Theatralik für einen Selbstmord«, stimme ich ihm nachdenklich zu. »So was hätt ich ihm nicht zugetraut …«

»Du hast ihn gekannt?«, staunt diesmal Erdem und mustert mich argwöhnisch.

»Engelbert vom Reinen Licht …«, informiere ich ihn. »Er ist der Oberguru von einer Sekte, die sich hier in Essing niedergelassen hat.«

»Es hat in der letzten Zeit immer wieder Beschwerden bei uns über die von ein paar Essingern gegeben, und natürlich sind wir dem nachgegangen«, gibt dann auch der Bär von seinem Wissen preis. »Aber wir haben bei denen nix zu beanstanden gefunden. Soweit ich weiß, waren der Obeth und der Pollinger mal auf dem Hof.«

»Was für Beschwerden?«, hakt Erdem nach.

»Laute Musik, Getrommel, monotoner Gesang oder Glockengeläut. Die haben in ihrem Garten meditiert oder so was. Die Nachbarin hat sich gestört gefühlt, weil das offenbar auch nachts vorgekommen ist. Einmal sind ein paar Ziegen von denen ausgebüxt und haben beim Gumplinger nebenan das Inventar seiner Schupfa verwüstet, aber der Guru hat ihm den Schaden sofort bezahlt und sich mords entschuldigt. Ist eh lauter altes Glump, was der Gumplinger hat! – Und dann war da mal ein anonymer Anruf, dass die hinter dem Haus angeblich eine Leiche verscharrt hätten, aber es waren nur die Überreste von ein paar geschlachteten Hühnern. Laut dem Obeth und dem Pollinger, die den Sektenguru überprüft haben, hat er mit bürgerlichem Namen Helmut Brandtner geheißen. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern. Ist schon eine Zeitlang her und ich hab den Fall ja auch nicht bearbeitet.«

»Helmut Brandtner also«, stellt Erdem fest und zückt sein Handy. »Dann ruf ich mal die Spusi und einen Rechtsmediziner.«

»Schon geschehen«, bremst der Bär seinen Eifer grantig aus. »Wir wissen schon auch, was wir zu tun haben.«

Oha! Da liegt doch was im Argen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass der motivierte Kommissar zu eifrig für den Bär ist. Und mein Gefühl wird weiter bestätigt, als Erdem sich umschaut und anklagend meint: »So, und warum ist dann der Tatort nicht sauber abgesperrt und warum stehen hier so viele Zeugen herum und zertrampeln eventuell Beweise, die hier rumliegen könnten?«

Der Bär verdreht demonstrativ die Augen, atmet tief durch und bittet dann die fünf Burschen vom Verein, zurück zum Feldweg zu gehen und dort zu warten, bis ihre Zeugenaussagen aufgenommen werden.

Dann kommt auch schon ein weißer Kleinbus auf die Wiese gefahren. Die Spurensicherung!

Klaus und Ludwig steigen aus. Sie haben mich seit ich in der PI Kelheim meinen Dienst tue an allen Tatorten begleitet. Ich freue mich direkt, sie wiederzusehen, wobei sie auch ziemlich pingelig und leicht reizbar sein können, wenn man gegen ihre Vorschriften wie Einweghandschuhe und disziplinierte Zurückhaltung bei Spuren verstößt. Und auch sie scheinen mich in guter Erinnerung behalten zu haben, denn der lange, schlaksige und blondgelockte Klaus haut mir ein freundliches »Servus!« her.

»Na, wieder im Dienst?«, fragt Ludwig, sein stämmiger und dunkelbärtiger Kollege, als ich mich zu den beiden ans Heck ihres Kleinbusses geselle.

Mir entgeht nicht, wie die beiden mich mustern. Wieder fühle ich mich unwohl in meiner ungepflegten Haut. Aber glücklicherweise fragt keiner, wie es mir geht.

»Eigentlich nicht …«

»Kannst es nicht lassen, hm?«

»Ich kann nix dafür, wenn in meinem Dorf jemand tot aufgefunden wird«, verteidige ich mich und deute hinüber zum Sautrog, um den Erdem immer noch emsig wie eine Biene herumwuselt.

Ludwig stöhnt. »Der schon wieder.«

Ich stecke die Hände in die ausgebeulten Taschen meiner Jogginghose. »Habt ihr den Erdem denn schon kennengelernt?«

»Allerdings!«, stöhnt Klaus, während er in seinen Anzug schlüpft. »Schon bei der kleinsten Kleinigkeit ruft der uns. Ein bisserl zu überambitioniert, der Typ.«

»Mei, der ist jung und motiviert. Solche Leute braucht die bairische Polizei«, springe ich für den neuen Kollegen in die Bresche.

Ludwig zieht die Kapuze seines Einweganzugs über seinen Kopf mit der Halbglatze und schaut mich stichelnd an. »Ach, hat er dir auch schon den Kopf verdreht, der rassige Südländer?«

Mir entgeht nicht, wie Klaus seinem Kollegen einen mahnenden Blick zuwirft.

Verlegen stottert er: »Sorry, Mary, … ich wollt nicht …«

Ich winke leichtfertig ab, vergebe ihm mit der bairischen Allround-Antwort: »Passt schon!« und füge lapidar hinzu: »Momentan hab ich die Schnauze voll von Kommissaren.«

Klaus schnappt sich seinen Edelstahlkoffer und lenkt eilig ab: »Wir haben gehört, der Jesus liegt hier tot bei euch rum?«

»Eher Engelbert vom Reinen Licht«, berichtige ich ihn und begleite sie zum Sautrog. »Ein Sektenguru.«

Beide staunen beim Anblick der Leiche erstmal nicht schlecht.

»Wow!«

Klaus greift mit seiner behandschuhten Hand nach Ludwigs Arm. »Halt mich fest! Ich glaub, ich bin in einem Sandalenfilm gelandet. Ben Hur, oder so …«

Erdem kommt auf mich zu. »Der Bär sagt, du kennst … kanntest den Toten näher?«

Ich seufze, weil der Bär mal wieder übertrieben hat. Dann erzähle ich Erdem die ganze Geschichte von meinem Besuch auf dem Steininger-Hof. Die Spusis lauschen ihr ebenfalls, während sie anfangen, ihre Arbeit zu machen.

»Das ist doch der Hof, wo wir letztes Jahr den vergifteten Bauern und den abgestürzten Kraxler gehabt haben?«, stellt Klaus fest, als ich fertig bin.

Ich fühle mich dazu verpflichtet, den Fall von damals kurz zu erwähnen. »Werner und Michael Steininger, Vater und Sohn, waren damals die beiden Opfer. Die Frau und Mutter von den beiden wollt den Hof zuerst an eine Hotelkette verkaufen, aber daraus ist nix geworden und dann hat wohl der Engelbert mit seinen Jüngern den Zuschlag gekriegt.«

»Dann wird der nicht so arm und bescheiden sein, wie du ihn und seine Lebensumstände auf dem Hof beschreibst, Mary«, schlussfolgert Erdem nachdenklich.

»Ganz bestimmt nicht«, mischt sich der Strobl ein, der endlich damit fertig ist, mit dem Niedermayer und einem rotweißen Trassenband den Tatort großräumig abzusperren. Er ist sichtlich stolz, dass er offensichtlich zu dem Thema mehr weiß als wir, und fährt fort: »Mir ist grad was eingefallen, woher ich den Toten kenn: Vor ein paar Tagen haben die Anke und ich diesen Engelbert bei einer Verkehrskontrolle angehalten. Da hat er aber ganz normale Klamotten getragen und drum hab ich ihn nicht gleich wiedererkannt.« Seine Stirn runzelt sich in nachdenkliche Falten, als er uns weiter berichtet: »Na, jedenfalls werdet ihr nicht glauben, mit was für einem sündhaft teuren Flitzer er die Geschwindigkeitsbegrenzung um stattliche 24 km/h überschritten gehabt hat …«

Vier Augenpaare schauen den überheblichen Strobl gespannt an.

Erdem fordert als Erster: »Na, raus mit der Sprach!«

»Ein schwarzer BMW X6 mit allen Schikanen«, ergibt er sich strahlend.

Beeindruckt grübelt Erdem. »Der kostet gut und gerne mal schlappe 100.000 €. Von der Versicherung und dem Benzinverbrauch will ich gar nicht erst reden.«

Wenigstens ich fühle mich dazu verpflichtet, dem Strobl einen anerkennenden Blick für seine Erinnerungsgabe zuzuwerfen, als ein weiterer Kleinbus heranfährt und direkt hinter dem Absperrband parkt. Der Rechtsmediziner ist eingetroffen. Auch der ist der gleiche geblieben: Leo Zucker. Ich freue mich, auch ihn wiederzusehen.

An dieser Stelle muss ich erklären, dass Leo nun schon seit über drei Jahren unser zuständiger Leichendoc ist. Nun, Leichendoc ist jetzt nicht grad die korrekte Bezeichnung für einen Pathologen oder Rechtsmediziner, oder wie auch immer. Aber es trifft zumindest zu, dass er der Doktor für die Menschen ist, die es hinter sich haben, auch wenn die gar keinen Doktor mehr brauchen. Wie gewohnt schaut er aus wie Harry Potter in erwachsen mit runder Brille, Sommersprossen auf der kecken Nase und bravem Haferlschnitt. Und er kleidet sich immer noch altbacken wie ein betagter Professor in Kordhose und Karohemd, stelle ich fest, während auch er ausgestiegen ist und in seine Arbeitsmontur schlüpft.

»Mensch, Leo, wo bleibst du denn so lang?«, empfängt ihn der neue Kommissar ungeduldig.

Die beiden kennen sich also bereits.

»Ich wollt erstmal abwarten, ob ich hier wirklich gebraucht werd«, entschuldigt sich der Zucker energisch und macht sich an die Arbeit.

Er kommt mir ziemlich gestresst vor. Als er an mir vorbeigeht, grüßt er mich mit einem kurzen »Servus, Mary!«

»Was soll das?«, regt sich Erdem auf. »Wir haben eine Leiche mit unbekannter Todesursache! Was muss man da abwarten?«

Der Bär neben mir flüstert: »Der Erdem hat den Leichendoc schon ein paar Mal umsonst zu einem vermeintlichen Tötungsdelikt gerufen. Der Notarzt hatte noch gar nix festgestellt …«

»Was gibts da zu tuscheln?«, fährt Erdem den Bär und mich an.

Ergeben hebt mein Partner die Hände. »Ich kläre die Mary nur über deine Ermittlungsarbeit auf.«

Der neue Kommissar baut sich grantig vor ihm auf. »Ich weiß, dass dir meine Methoden nicht passen, aber ich mag es nicht, wenn hinter meinem Rücken geschimpft wird. Ich bin immer offen und ehrlich, also erwart ich das auch von euch, verstanden!«

Während seiner Standpauke haben alle aufgehört zu arbeiten und irritiert zugehört.

Direkt eingeschüchtert und verdattert nickt der Bär und auch ich folge seinem Beispiel einigermaßen betreten. Ich würde sagen, dass beim Erdem eindeutig der vielgerühmte südländische Stolz durchbricht.

»Jetzt bleib mal locker«, mischt sich der Niedermayer beruhigend ein, der offenbar einen so guten Draht zu unserem Neuen hat, dass er sich das erlauben kann.

Und anscheinend wirkt diese Aufforderung, denn Erdem schnaubt nur noch einmal kurz und wendet sich dann Leo zu, der neben dem Trog kniend den Toten weiter untersucht. »Und?«

Leo blickt anklagend zu Erdem hoch. »Ich hab grad erst angefangen, verdammt!«

Aber Erdem bleibt abwartend neben ihm stehen und beobachtet jede seiner Handbewegungen. Leo hebt die Augenlider der Leiche. Dann begutachtet er den Hals, danach die gefalteten Hände und Unterarme und wird wie Erdem fündig. »Der Länge nach aufgeschnittene Pulsadern.«

Ungeduldig nörgelt Erdem: »Das hab ich auch schon gesehen.«

Nun ist es der Leichendoc, der aufgebracht ist und sich vor dem Kommissar aufbaut: »Wenn du eh schon alles weißt, warum hast du mich dann herbestellt?«

»Das war der Kollege Bärnreuther, soviel ich weiß«, kontert der Angesprochene gelassen und lässt den Rechtsmediziner einfach stehen.

Ziemlich angespannte Atmosphäre hier, Kruzinesn! Der neue Kommissar bringt mit seiner Übermotivation und seinem empfindlichen Stolz alle gegen sich auf.

Quirin schlüpft unter dem Absperrband zu mir durch. »Mama, kann ich hier abhauen? Ich will der Vroni den Michi abnehmen, damit sie fürs Grillen herrichten kann. Du bist übrigens herzlich eingeladen.«

»Geh nur heim. Deine Aussage haben wir ja schon zu Protokoll genommen, oder?«

Mein Ältester nickt. »Wenn ich noch was beitragen kann, ihr wisst ja, wo ihr mich findet.«

»Danke übrigens, für die Einladung, aber ich werd nicht mitessen. Ich fahr mit dem Bär in die PI«, kündige ich an.

Quirin grinst. »Ah, ich seh schon, die Kommissarin hat Witterung aufgenommen.«

Lobend tätschelt er meine gesunde Schulter und geht.

Ich kriege mit, wie der Zucker sich schon wieder seine Handschuhe abstreift, seinen Koffer schließt, zu Erdem hingeht und ihm gelangweilt berichtet: »Todeszeitpunkt zwischen drei und vier Uhr nachts. Todesursache, wie du ja selbst schon herausgefunden hast, ist höchstwahrscheinlich Verbluten. Genaueres dann nach der Obduktion. – Allerdings nicht vor morgen früh.«

»Also Selbstmord?«

»Schaut ganz danach aus, allerdings hat die Spusi bis jetzt kein Messer in der Nähe der Leiche finden können.«

»Wir lassen einen Taucher kommen«, ruft Klaus aus dem Hintergrund uns zu.

Aber mich stört etwas an dieser ganzen Selbstmord-Theorie. »Der Engelbert war nicht der Typ für so einen großartig arrangierten Selbstmord. Er war überhaupt nicht der Typ für so was.«

»Was für ein Typ war er denn dann?«, hakt Erdem direkt schnippisch nach.

»Na, bescheiden, besonnen, tief gläubig. Er strotzte nur so vor Energie und Tatendrang, sein Lebenswerk zu verwirklichen. Und er war glücklich, dass er hier endlich die ideale Bleibe für seine Glaubensgemeinschaft gefunden hat«, erkläre ich sinnierend in Erinnerung an meine Begegnung mit Engelbert. »Kein einziger Grund also, um sich das Leben zu nehmen.«

Erdem grunzt hämisch. »Du meinst also, er war so was wie ein Heiliger?«

»Aber wie passt das mit seinem protzigen Auto zusammen?«, wirft der Strobl ein, der von seinem Posten am Absperrband herüberruft.

»Und wer sollt einen Heiligen umbringen wollen?«, mischt sich auch der Bär wieder ins Gespräch ein, nachdem er neugierig nähergekommen ist.

---ENDE DER LESEPROBE---