Honky Tonk Pirates - Das verheißene Land - Joachim Masannek - E-Book

Honky Tonk Pirates - Das verheißene Land E-Book

Joachim Masannek

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Beschreibung

»Wilde Kerle« meets »Fluch der Karibik« – das actiongeladene Piratenabenteuer

Höllenhund Will, Regentropfen-fallen-auf-dich-Jo, Moses Kahiki, der Chevalier du Soleil: Das sind ein 14jähriger, unerschrockener Junge, ein genialer Erfinder und Pechvogel vor dem Herrn, und ein Spinner und Lügner. Die drei werden zu Freunden, zu Freunden von Honky Tonk Hannah, der atemberaubendsten und verwegensten Piratin, die man sich vorstellen kann. Sie werden die Honky Tonk Pirates und dort wo sie auftauchen, rockt die Karibik.

…Berlin, 1760: Der clevere Waisenjunge Will kämpft als raffinierter Meisterdieb ums tägliche Überleben – und knöpft den Reichen so manchen Taler ab. Dabei hat er nur ein Ziel vor Augen: Er will Pirat in der Karibik werden! Sein Wunsch scheint sich zu erfüllen, als er dem düsteren Baron de Talleyrand einen Teil eines geheimnisvollen Amuletts stibitzt und dieser ihn daraufhin auf die Pirateninsel New Nassau verschleppt! Doch nicht nur der Baron, sondern auch eine gefährliche Piratenhorde ist dort auf der Suche nach dem zweiten Teil des Amuletts, das zu einem sagenumwobenen Schatz führen soll. Die einzige Hoffnung für Will und seinen Freund Jo ist die wunderschöne und verwegene Piratin Honky Tonk Hannah. Doch man kann niemandem trauen, denn: Pirat bleibt Pirat. Und so beginnt eine atemberaubende Jagd ...

Für alle, denen der Horizont nicht weit genug ist!

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Seitenzahl: 272

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis
Titel
TEIL EINS – Der Pirat von Berlin
HÖLLENHUND WILL
REGENTROPFEN-FALLEN-AUF-DICH-JO
DER SCHWARZE BARON
WILLS LETZTER COUP
WETZENDE QUALLE UND FLIEGENDES SCHWEIN
FRAUEN AN BORD
DAS UNGLÜCK BEGINNT
EINE MÜTZE VOLL MUT
HÄNGEN SOLLST DU BEI SONNENAUFGANG
DER CHEVALIER DU SOLEIL
DER PAKT MIT DEM TEUFEL
TEIL ZWEI – Die schwimmende Stadt
LE REQUIN DU ROI
DAS GEHEIMNIS DES ROTHAARIGEN SOLDATEN
TALLEYRANDS TRIUMPH
AUF ZWEI TOTEN MANNES KISTEN
IM LAND DER PIRATEN
NEW NASSAU
BLIND BLACK SOUL WHISTLE
HONKY TONK HANNAH
NICHT IN DIESEM LEBEN
TEIL DREI – Der Fliegende Rochen
DER WERD ICH’S ZEIGEN
PATT
WILL IST VERLIEBT UND JO WIRD NICHT MUTIG
DIE STUNDE DER WAHRHEIT
UNTERNEHMEN KANONENKUGEL
PIRAT IST PIRAT
ALLES AUF EINE KARTE
DER BESTE PIRAT DER WELT
ES GIBT KEINE SCHIFFE, DIE FLIEGEN KÖNNEN
Copyright
TEIL EINS
Der Pirat von Berlin
HÖLLENHUND WILL
Wenn man in einem lichtlosen, stinkenden Keller eine Kerze anzündet, verziehen sich die Asseln, Kakerlaken und Ratten durch Löcher und Ritzen an einen Ort, an den selbst das Feuer der Hölle nicht mehr vordringen kann. Dieser Ort heißt Berlin. Berlin, am 5. November des Jahres 1760, im vierten Winter dieses von Gott und Teufel verfluchten Krieges, in dem es jetzt schon seit zwei Wochen nicht mehr richtig hell werden wollte. Lumpengrau hingen die Wolken in den engen Straßen und Gassen. Ein nebliger Nieselregen, der sich durch alles hindurchfraß: durch Fenster, durch Wände, durch Kleider und bis unter die Haut, wo er sich mit Angstschweiß vermischte. Denn Angst war das einzige Gefühl, das in dieser Stadt existierte und das dieses arme, verzweifelte Pack, das sich in ihren Mauern vor den Russen versteckte, am Leben hielt.
Doch die Angst vor dem Tod reicht zum Leben nicht aus. Dazu braucht man mehr. Man braucht einen Traum. Einen Traum, den man um jeden Preis dieser Welt wahr werden lassen will. Genau so einen Traum lebte Willfried Zacharias Karl Otto Stupps und dieser 14-jährige Junge gab einen Flitzfliegenschiss darauf, dass sein Traum weder zu seinem Alter noch zu seinem Namen oder der Stadt passen wollte, in der er lebte.
Ja,Will lebte, während alle um ihn herum nur versuchten, irgendwie zu überleben. Und weil das so war, nahm er sein Schicksal selbst in die Hand: jeden Tag, jede Nacht und auch am Abend dieses 5. Novembers, an dem er genau zu der Stunde, in der es offiziell dunkel wurde, in der sich der lichtlose Höllentag in die lichtlose Höllennacht verwandelte, auf Beutezug ging. Aber genau in so einer Nacht fühlte sich Willfried Zacharias Karl Otto Stupps erst richtig zu Hause.
Er tanzte durch den Regen. Er sprang über die buckligen, windschiefen Dächer der Stadt, als wär es ein Gischt spritzendes, stürmisches Meer. Und wie ein Adler die Wolken als Deckung benutzt, glitt er durch den eisigen Nebel, bis er in den Schluchten der Straßen und Gassen auf sein Opfer stieß.
»Eulenfels.« Will grinste und wischte sich mit einer verwegenen Geste den Rotz von der Nase. »Du mieser Sohn einer übergewichtigen Qualle. Dir hab ich schon seit Tagen kein Gold mehr aus der Tasche stibitzt.«
Er blies die fransigen Haarsträhnen aus dem frechen, sommersprossigen Gesicht, holte tief Luft, ließ sich auf den Allerwertesten fallen und rutschte auf ihm und der ledernen Schürze, die er für solche Manöver trug, die Dachschräge hinab. Dort nutzte er die Gaube des Daches als Schanze und sprang in zehn Metern Höhe über die enge, kopfsteingepflasterte Gasse hinweg auf das gegenüberliegende Haus.
Wunderwind wirbeliger Augenblick!, dachte der Junge und lachte. Er legte sich flach vor den Giebel, sodass man nur seinen strohblonden Haarschopf und die himmelhellblauen Augen über den First hinweglugen sah, und beobachtete, wie die aus purem Silber bestehende Sänfte von zwei Dutzend in goldweiße Livreen gekleideten Dienern aus der Gasse heraus und auf den Platz getragen wurde.
Dort tauchte sie ein in ein Meer aus hungrigen, frierenden und vor Dreck starrenden Menschen. Die hatten sich vor den plündernden Russen in die Hauptstadt gerettet und hofften darauf, dass sie der König von Preußen mit Nahrung versorgen würde. Doch der König war weg, sein Heer war besiegt, und der, der jetzt für ihn in der Stadt regierte, hieß Eulenfels: Freiherr von Eulenfels, der Geheime Minister des Reichs.
Will ließ die Sänfte nicht aus den Augen.An einem Seil, von denen er viele überall auf den Dächern der Stadt versteckt oder angebracht hatte, ließ er sich auf den Marktplatz hinab und mischte sich ins Gedränge der Menschen, die sich wie ein Strudel um Eulenfels’ Sänfte zusammenzogen. Stumm, mit eingefallenen Wangen und riesigen Augen, stapften sie durch den aufgeweichten Boden des Mittelmarkts und umschlossen Eulenfels’ Sänfte wie eine mächtige Python, deren hungriger Körper im Begriff war, sich um die letzte Ratte zu wickeln, die es auf dieser Welt gab.
Ja, macht ihn fertig!, schoss es Will durch den Kopf.Wir sind viel mehr und wir sind im Recht. Ohne uns kann dieser Fettsack keinen Tag überleben!
Für einen wundersamen Augenblick fühlte sich der Junge mit den wildfremden Menschen auf dem Platz eins. Sie sahen so aus wie er. Nasse Haare trieften unter durchnässten Mützen heraus. Aschgraue Wolljacken klebten auf den geflickten Hemden aus dreckigem Leinen. Die Beinkleider waren von einem stumpfen Novemberschwarz, und die nackten Füße steckten in groben, löcherigen Schuhen, oder, wenn diese schon gegen einen Kanten Brot getauscht worden waren, in alten zerrissenen Lumpen.
Wir sind viel stärker als er.Warum darf er uns dann befehlen? Allein mit dem Silber, aus dem seine Sänfte geschmiedet wurde, könnten wir uns so viel Essen kaufen, dass wir alle ein Jahr lang satt werden würden. Also, warum holen wir es uns nicht?, dachte Will.
Und genau davor schienen sich die beiden weiß gepuderten Frauen mit ihren meterhoch toupierten und perlendurchwirkten Frisuren zu fürchten. Sie saßen in der kutschgroßen Sänfte und ließen die hungrigen Menschen, die sie umdrängten, nicht aus den Augen.
»Gütiger Himmel!«, flüsterten sie und schmiegten sich ängstlich an Eulenfels’Walrossleib. »Warum sagen die nichts? Scheuch sie weg, Eulenfels, damit sie uns am Ende nicht packen und töten. Die riechen so grässlich«, jammerten sie und hielten sich ihre parfümierten Taschentücher vor die Nase, als könnten sie sich dahinter verstecken.
Der Geheime Minister lachte sie aus.»Wollt Ihr mich beleidigen?«, lachte er heiser und sein in Seide gehüllter Dreizentnerbauch schwappte dabei durch die Sänfte. »Meine Damen, das hier ist meine Stadt. Und das da draußen ist nur ein Geschäft. Wie sonst soll ich Eure Kleider, Perlen und anderen exquisiten Wünsche bezahlen? Passt jetzt gut auf!«
Er nahm das Taschentuch einer der Frauen und hielt es lässig aus dem Fenster der Sänfte. Im nächsten Moment hielten sie an, und nach einem das Blut in den Adern gefrieren lassenden Augenblick der Stille zerrissen Musketensalven die letzten Nerven der Frauen.
Doch Eulenfels lachte, und während er lachte, marschierten Soldaten auf, teilten die eingeschüchterte Menge und führten eine Karawane von mit Säcken beladenen Eseln zur Sänfte.
»Kartoffeln«, rief der Minister des Königs, während er für sein enormes Gewicht durchaus behände aus der Sänfte schlüpfte und ein kleines Podest erklomm. »Kartoffeln für die Untertanen des Königs. Für die Getreuen von Preußen, die bereit sind, für ihre Freiheit mit ihrem Leben zu bezahlen.«
»Du kannst mich mal da lecken, wo keiner es will!«, zischte Will, zog den Rotz aus der Nase und hielt dann erschrocken inne, weil das das einzige Geräusch auf dem Mittelmarkt war.
Die kleinen steingrauen Augen des Geheimen Ministers starrten ihn an.
Hat der mich etwa gehört? Will schoss das Blut in den Kopf und er verfluchte den frechen und vorlauten Teil seines Charakters.
Da wandte sich Eulenfels von ihm ab. »Einen Sack Kartoffeln für jeden Mann«, rief der Minister großspurig, »der sich freiwillig meldet, um morgen mit mir zusammen gegen die Russen zu ziehen. Damit wir die Stadt endlich von dieser Geißel befreien, oder …«, Eulenfels hob hilflos die Arme, »… einen Groschen für eine Knolle.«
Ein Seufzen und Stöhnen ging durch die Menschenmenge. Der Preis war Wucher. Doch Eulenfels lachte. Er brauchte die Männer und er gierte nach Geld, nach den letzten Reserven, die diese armen Schlucker irgendwo eingenäht im Saum ihrer Lumpen vielleicht noch besaßen.
»Männer von Preußen, was ist mit euch los?« Der Geheime Minister nahm die pechschwarz gelockte Perücke vom Kopf und kratzte sich seine von einem weißen und schütteren Haarkranz umrahmte Glatze. »Ich dachte, ihr seid bereit, für eure Lieben zu sterben. Und falls ihr die Schlacht morgen Nachmittag überlebt, schenke ich jedem von euch noch einen Sack, Männer von Preußen!«
Auf dem Platz wurde es noch stiller, als es zuvor schon gewesen war. Und Will, der sich umsah, entdeckte einen Mann, der etwa zwei Meter rechts vor ihm stand. Der Kerl hatte feuerrote Locken und abstehende Ohren. Doch das war es nicht, was die Aufmerksamkeit des Jungen erregte. Der vielleicht 24-jährige Fremde fasste sich jetzt an den Hals. Seine Faust umschloss einen mit einem fremdländisch bunten Muster verzierten Beutel, den er an einem Lederband trug. Für einen Moment schien der rothaarige Bursche darüber nachzudenken, wie viele Kartoffeln er wohl für dessen Inhalt bekam. Doch dann entschloss er sich anders. Er ließ den Beutel los und trat einen Schritt vor.
»Nein!«, riefen die beiden kleinen Mädchen und hielten ihn fest. »Nein, Papa, nicht!« Sie klammerten sich an seine Knie, so wie viele andere Kinder es in diesem Augenblick überall auf dem Platz bei ihren Vätern taten, und flehten ihn an: »Bitte, bleib hier! Wir sind sonst allein.«
Da hielt der Mann inne, wandte sich um und ging in die Hocke.
»Mama ist tot und wenn du auch …«
»Psst«, lächelte der Vater und legte jedem der Zwillingsmädchen, die rothaarig gelockt und mit abstehenden Ohren ganz sein Ebenbild waren, einen Zeigefinger auf den Mund. »Aber ich werde nicht sterben, das verspreche ich euch. Und solange ich fort bin, wird euch das hier beschützen.«
Er nahm das Lederband mit dem bunten Beutel vom Hals und legte ihn in ihre Hände. »Der ist von einer Insel, weit weg in der Südsee, wo es noch Elfen und Zauberer gibt und wo alles verkehrt herum ist.«
»Verkehrt herum?«, fragten die Zwillinge.
»Ja, da hängen die Menschen mit den Köpfen nach unten und den Füßen nach oben in den Himmel hinein und dort sind die, die nichts haben und schwach sind die Starken.« Der Vater schloss die Hände der Kinder fest um das Amulett, schluckte und riss sich zusammen: »Und jetzt holen wir uns die Kartoffeln. Kommt.«
»Dort, wo die Schwachen die Starken sind?«, flüsterten die plötzlich ganz furchtlosen Mädchen, folgten dem Vater und entschwanden aus Wills Blickfeld im Gewühl der verzweifelten Menschen, die sich Richtung Eulenfels schoben.
Der sah amüsiert zu, wie sich bei den Ärmsten der Armen Väter aus den Umarmungen ihrer Kinder befreiten und Frauen, die keine Männer mehr hatten, ihre Rocksäume aufrissen, um ihr letztes Erspartes zu geben. Doch manch anderen blieb keine andere Wahl, als die Knollen zu stehlen. Drei, vier, nein, fünf zählte Will, die Glück dabei hatten, dann zog der Geheime Minister eine mit Elfenbein besetzte Pistole aus dem Gürtel und schoss in die Luft. Er hatte den sechsten, einen zwölfjährigen Jungen, beim Diebstahl erwischt, und während der totenblasse Kerl von den Soldaten in Ketten gelegt und abgeführt wurde, verkündete Eulenfels:
»Was ist nur los mit den Kindern aus Preußen? Haben sie keinen Respekt? Wir müssen doch alle zusammenhalten wie Pech und Schwefel.Wir sind ein Volk, eine große Familie. Und wer die Familie bestiehlt, hat es nicht mehr verdient, weiterzuleben. Der baumelt am Galgen, sobald die Sonne aufgeht.«
Will schloss die Augen. Er ballte die Fäuste und er spürte die Ohnmacht, die sich über ihn legte. Über ihn und die anderen Menschen um ihn herum. Selbst die Soldaten waren geschockt. Die Stille, die auf dem Platz lag, erstickte jedes Geräusch. Doch dann siegte der Hunger und unter Eulenfels’ zufriedenem Lächeln nahm der Verkauf seinen ab sofort ungestörten Lauf. 487 Männer im Alter zwischen 16 und 70 Jahren verkauften ihr Leben für eine Handvoll Kartoffeln. Und die Groschen, Schmuckstücke und Uhren, mit denen die anderen zahlten, füllten bereits drei Säcke, als die letzte Kartoffel ihren Besitzer fand: eine alte Frau. Sie stand vor Will in der Reihe, und als der endlich drankam, hielten ihm die Soldaten nur ihre Musketen vor die Brust.
»Das war’s!«, blafften sie. »Mach, dass du wegkommst! Verschwindet jetzt alle!«, befahlen sie barsch, doch im Gegensatz zu den ängstlich zurückweichenden Menschen um ihn herum ließ Will sich nicht vertreiben.
»Ich habe drei Schwestern und zwei kranke Mütter. Die werden jetzt sterben. Und die fünfVäter auch. Ich bitte Euch! Erbarmt Euch. Sie haben ihre Arme und Beine für Preußen verloren.«
»Wie bitte?« Die Soldaten stutzten und wurden dann zornig. »Machst du dir einen Spaß mit uns?«
»Das würde ich nie!«, beeilte sich Will, sie zu beruhigen. »Denn elf meiner anderen zwei Dutzend Väter sind als brave Soldaten gefallen. So wie Ihr morgen fallen werdet, wenn Euch die Kanonen der Russen zerreißen.« Er lächelte mitleidig, doch die Soldaten hatten keinen Sinn für seinen Humor.
»Mach, dass du wegkommst! Sonst zerreißen wir dich!«
Sie spannten die Hähne ihrer Musketen und schüchterten Will damit ein.
»Aber ich hab einen Taler«, stammelte der ängstliche Junge. »Nein, ich hab davon zwei, und die sind aus Silber.«
Er schielte zu Eulenfels. Der kletterte gerade in seine silberne Sänfte.
»Wartet!«, rief er. »Eure gnädige Heiligkeit. Ich habe zwei Taler und ich zahle sie beide für Euer Hühnchen.«
Er zeigte mit dem Finger in die Sänfte hinein und lief auf sie zu. Dort nagten die beiden Damen, die den Minister begleiteten, gelangweilt an zwei fetten Hühnerkeulen.
»Halt! Untersteh dich!« Die Soldaten packten ihn und einer von ihnen hielt ihm die Steinschlosspistole gegen die Stirn. »Noch einen Schritt weiter …«
»Ja, was passiert dann?« Eulenfels fiel ihm ins Wort.
»Der Kerl ist ein Gauner«, rechtfertigte sich der Soldat. »Er behauptet, dass er drei Mütter hat und mindestens …«
»… zwei silberne Taler«, sagte Eulenfels trocken.
»Nein, ich hab drei.« Will zauberte eine dritte Münze aus der Nase des Soldaten mit der Pistole hervor. »Und ich geb sie Euch alle drei für die beiden Keulen des Hühnchens.«
»Du bist aber großzügig«, lächelte der feiste Minister und gab den Soldaten ein Zeichen, den Jungen zu ihm durchzulassen.
»Komm in die Sänfte«, lud er Will ein. Und als der mit einem siegessicheren Grinsen in Richtung der Soldaten gehorchte, befahl Eulenfels seinen Dienern, ihn in die Festung zu tragen.
»Gefällt dir das?«, fragte er Will, der rotznäsig und dreckig zwischen den Damen saß. Die zogen sich angewidert hinter ihre Taschentücher zurück.
»Und gefällt es dir auch noch, wenn es mir einfällt zu fragen, woher du diese drei Taler hast?« Eulenfels zog einen Edelstein besetzten Dolch aus der Rüschenmanschette seines Hemdes und drückte ihn an die Kehle des Jungen. »Du siehst nicht gerade sehr wohlhabend aus.«
»Ich weiß«, antwortete Will, so ehrlich er konnte. »Und ich nehm’s Euch nicht übel, dass Ihr mir misstraut. Aber ich kann es Euch zeigen.«
Vorsichtig griff er nach Eulenfels’ Klinge und zog sie ganz langsam von seinem Hals weg.
»Ich finde sie, wisst Ihr, sie kommen zu mir.«
Er wandte sich an die ängstlichen Damen.
»Darf ich?«, fragte er artig und zog den verblüfften Frauen zuerst einen Taler aus einer Perücke und dann, während sie aufgeregt zu kichern begannen, aus den Spitzen umsäumten Dekolletés ihrer Kleider.
»Seht Ihr«, er grinste, »so ist das mit mir. Ich kann nichts dafür. Ich finde sie einfach. Glaubt Ihr das jetzt und … krieg ich das Hühnchen? Oder kostet es mehr?«
Blitzschnell packte er Eulenfels’ gelockte Perücke, zog sie ihm frech vom Kopf und zählte die Münzen in sie hinein.
»Kostet es mehr als diese sechs Taler?«
»Nein«, lachte der Minister und sein großer Bauch schwappte. »Nein, nimm es und geh.« Er packte die Keulen und gab sie dem Jungen.
Der küsste zum Dank die beringten Finger des Mannes. Er küsste die beringten Hände der Frauen, sprang aus der Sänfte in die Gasse hinaus und winkte dem sich entfernenden Eulenfels nach.
»Es war mir eine Freude, mit Euch Geschäfte zu machen.«
»Das gilt auch für mich«, rief der Minister und winkte spöttisch zu ihm zurück. »Und falls wir uns noch einmal sehen sollten, bringe ich zwei Hühnchen mit.«
»Und ich Eure Perücke!« Will lachte vergnügt, wartete, bis der erschrockene Eulenfels seine Glatze aus dem Fenster steckte, und setzte sich dann mit einer großen Verbeugung die lockige Haarpracht auf den eigenen Kopf. »Und Eure Ringe und die Eurer Damen!« Der Junge grinste und biss in die Keule. »Da bekomm ich bestimmt mehr als zwei Hühnchen dafür.«
Eulenfels starrte auf seine schmucklosen Finger und auf die ringlosen Hände der Damen, die ihre nach Wills Zauberkunststücken jetzt nackten Hälse absuchten. Sie waren kurz davor, in Ohnmacht zu fallen.
»Beim gütigen Himmel! Eulenfels, das war ein Räuber. Ein richtiger Räuber«, seufzte eine der beiden, gerade als die andere die schwarze Murmel entdeckte. Sie lag walnussgroß in Eulenfels’ Schoß.
»Nein«, murmelte sie mit funkelnden Augen. »Das war kein Räuber. Das war der Pirat.«
Sie drehte die Murmel in ihren Fingern und zeigte Eulenfels die Gravur: Pirat stand dort in sauberen Lettern, und der Geheime Minister lief puterrot an.
»Das ist jetzt schon die zweite Murmel, die ich von ihm habe«, säuselte die Frau und ihre Freundin verdrehte die Augen zum Himmel, wie es sonst nur verliebte Mädchen tun.
»Und ich hab schon drei. Oh, gütiger Teufel, was ist das für ein Kerl?«
»Das kann ich Euch sagen!«, lachte Will in der Gasse. »Ich bin Höllenhund Will! Der Pirat von Berlin! Vielleicht kennt Ihr mich ja?« Er drehte sich um und tat überrascht, als würde er den Steckbrief zum ersten Mal sehen. Der hing an der Hauswand und zeigte die Murmel.
»Oh, ähm, das konnt ich wirklich nicht wissen. Ihr kennt mich schon gut.«
»Packt ihn!«, schrie Eulenfels, der jetzt die Fassung verlor.
Und als die Soldaten seinen Befehlen gehorchten, stammelte Will: »O ja, Ihr kennt mich zu gut.Viel zu gut, denke ich.« Er schien jetzt nervös. Er trat auf der Stelle. Er sah die Soldaten. Acht kamen von rechts und sieben von links. Das Bajonett aufgepflanzt, näherten sie sich Schulter an Schulter und versperrten auf diese Weise den Ausgang der Gasse. Will wirkte fast hektisch, doch dann fand er das Seil. »Oder, halt, nein. Ihr kennt mich nicht gut genug.«
Er löste den Knoten, mit dem er und sein bester Freund Jo das Seil vor erst knapp einer Stunde an einem Ring an der Hauswand befestigt hatten. Er spürte den Ruck und dann sauste er schon, während drei Sandsäcke als Gegengewicht ein paar Meter weiter vor ihm in die Tiefe stürzten und dort gleich fünf der Soldaten niederstreckten, hinauf auf das rettende Dach.
»Oh, oh, oh ja!«, lachte der Junge begeistert. »Das ist wunderbar, Jo! Du bist ein verflixt verfuchstes Genie!« Er landete auf dem Hausdach und schaute hinab zum Minister.
Der sprang wie ein feuerroter Fettball aus seiner Sänfte heraus.
»Wo ist dieser Kerl?«, schrie er und packte einen Soldaten.
Der zeigte zum Dach, das im Nebel verschwand.
»Wo?«, schrie Eulenfels. »Ich kann ihn nicht sehen.«
»Das tut mir sehr leid. Aber Ihr könnt mich doch hören!« Will grinste frech. »Und das möchte ich ausnutzen. Ich will Euch was sagen. Ich mag Eure Stadt, Eulenfels. Ja, ich mag sie wirklich. Denn hier passiert wirklich nichts, was ich nicht will!« Er lachte, packte die Beute und die Perücke und verschwand in der Nacht.
REGENTROPFEN-FALLEN-AUF-DICH-JO
Zehn Minuten später huschte Will wie der Schatten eines Gespenstes über die südliche Festungsmauer, tanzte unsichtbar über die Dächer Alt-Köllns und überquerte die Spreeinsel der Länge nach Richtung Norden. Er wagte sich ganz nah an die Höhle des Löwen heran, denn während sich Eulenfels immer noch zornig und wütend in das Schloss des Königs verzog, kletterte Will kaum einen Steinwurf von ihm entfernt die Fassade des großen Doms empor. Er erklomm die mächtige Kuppel und stieg hinauf in den Turm, der diese wie einen Stachel verzierte. Dort, in der Turmspitze unter dem Kreuz, befand sich sein Nest, sein eigenes Tortuga, oder wie er es schwärmerisch nannte: die Schatzinsel des Piraten Höllenhund Will.
Will riss sich die nassen, dreckigen Kleider vom Leib, trocknete sich mit einem sauberen Leinentuch sorgfältig ab und wärmte sich am Feuer, das bereits für ihn brannte.
»Hallo, Jo.« Er lächelte. »Wie ich sehe, bist du schon da.«
Er schaute sich suchend in dem runden Raum um. Sein Blick flog über die Teppiche, Kisten und Truhen, die den Boden bedeckten und sich an den Wänden auftürmten. Die waren mit bunten Malereien verziert. Bilder von Palmen, Sandstrand und Meer, die sein Freund Jo selbst dort aufgebracht hatte und die Will so sehr liebte.
»Hey, ich weiß, dass du hier bist«, grinste Will und ging zu den beiden Hängematten, die, von halb durchsichtigen Schleiern geschützt, zwischen den steinernen Säulen hingen. »Und du bist ein Genie.Verfuchst, das muss ich dir sagen. Der Aufzug und die Sandsäcke waren ein riesiger Spaß!«
Er zog die Decke aus der Hängematte, doch Jo war nicht da.
»Also gut«, sagte Will und nahm einen Degen, der immer griffbereit neben seinem Bett hing. »Ich habe verstanden. Der Feind war im Lager und er hat dich entführt.«
Er warf das Leinentuch weg und stieg in eine saubere Hose. Dann packte er ein Hemd mit Rüschen am Kragen, zog es blitzschnell und geschickt über den Kopf und schlüpfte danach in eine rote, reichlich mit Gold und Silber bestickte Jacke, die einmal einem Offizier gehört hatte.
»Oder nein«, raunte Will. Er sah sich argwöhnisch um. »Der Feind ist noch da und ich habe ihn überrascht. Ich, Käpten Höllenhund Will, und ich knüpfe ihn auf.«
Will blieb jetzt stehen. Sein Gesicht war todernst.Von Spaß keine Spur. Er umschloss den Griff seines Degens mit beiden Händen und drohte: »Ich knüpfe jeden auf, der sich unerlaubt in meiner Höhle befindet.«
Dann drehte er sich langsam, ganz langsam im Kreis, und die einzigen Geräusche, die seine Ohren vernahmen, waren das Knistern des Feuers und seine eigenen, fast lautlosen Schritte: das Schaben der nackten Sohlen auf dem flauschigen Teppich, auf dem er so oft schon gelegen hatte; ja, zusammen mit seinem kleinen Freund Jo.
»Wer ist da?«, fragte er scharf. »Und was habt Ihr meinem Jo angetan?« Doch es kam keine Antwort. Natürlich kam keine Antwort. Da hielt Will die Luft an und lauschte in die knisternde Stille hinein.
Verflucht!, dachte er. War er heute zu übermütig gewesen? Hätte er sich Eulenfels vielleicht doch noch nicht zeigen sollen? Jetzt wusste der Geheime Minister endlich, welches Gesicht sich hinter der schwarzen Holzmurmel verbarg. Aber wusste er auch, dass sich der Pirat von Berlin direkt vor seinen Augen und seinem Schloss ein Nest gebaut hatte?
Will spürte das Kribbeln auf seinem Rücken und er liebte dieses Gefühl. Nein!, lachte er in Gedanken. Nein, er bereute es nicht. Kein Pirat auf der Welt würde sich jemals verstecken. Das war doch gerade das Tolle daran. Ein Pirat war berühmt, er wurde gefürchtet, bewundert, und wenn man ihn endlich tatsächlich erwischte, wurde er meistens gehenkt.
Der Junge schluckte bei dem Gedanken und er holte vor Schreck wieder Luft. Da fiel plötzlich etwas von der Decke und blieb schreiend vor ihm hängen.
»Ich habe dich!«, schrie es. »Ich habe dich, hörst du?«
Will sprang zurück. Er schrie entsetzt: »Nein!«
Die Teufelsmaske, die da kopfüber vor ihm hing, war schrecklich und grässlich. »Und wenn du mich hast, wirst du’s nicht überleben!«
Will hob den Säbel und trennte das Seil, an dem der Angreifer hing, mit einem Schlag durch.
»Du stirbst!« Er sprang zu dem auf dem Rücken liegenden Zwerg und drückte ihm die Spitze des Degens auf die bemalte Maske. »Du stirbst oder du schwörst mir ewige Treue!«
Da lachte der Kerl, der selbst nicht bewaffnet war.
»Ich denk nicht daran,Willfried Zacharias Karl Otto Stupps. Wenn ich nicht erst zehn Jahre alt wär und nicht dein dich über alles liebender Jo, wärst du nämlich jetzt tot. Und einem, der mich nicht beschützen kann, dem schwör ich niemals die Treue.«
Er zog die Holzmaske vom Gesicht und schenkte Will einen zornigen Blick. Auf jeden Fall versuchte Jo zornig zu blicken, was ihm aber sehr schwerfiel. Nicht nur, weil er zu gut dafür war und jede Form der Gewalt einfach hasste. Nein, auch weil diese großen Augen in dem pechschwarzen Mohrengesicht einfach zum Lachen geboren waren. Und das, obwohl er ein Pechvogel war. Der größte Pechvogel auf der Welt. Deshalb hieß er auch Regentropfen-Jo oder ganz genau gesagt: »Regentropfen-fallen-auf-dich-Jo«. Denn als ihn ein Mönch als Findelkind fand, fiel ihm genau in dem Augenblick, trotz strahlendem Sonnenschein, ein dicker und fetter Regentropfen direkt auf die Nase.
»Ich schwöre niemandem Treue, der so dumm ist wie du!« Jo schob die Degenspitze zur Seite und sprang auf die Füße.
»Dumm? Wieso dumm?«, fragte Will überrascht. »Hier, schau dir das an.«
Er lief zu seinen nassen Klamotten und klaubte aus ihren Taschen den Schmuck und die Ringe, um die er Eulenfels und die Damen in der Sänfte erleichtert hatte.
»Ist das etwa dumm? Nein, das ist ein kleines Vermögen, und mit dem, was wir sonst schon besitzen …« Will verdrehte einem steinernen Wasserspeier am Fenster die Nase, wodurch sich eine Steinplatte im Boden aufschob. »… und mit dem, was wir sonst schon alles besitzen, ist das ein richtiger Schatz.«
Er nahm ein Holzscheit aus dem Feuer und leuchtete mit ihm in die verborgene Kammer. Dort lag eine Kiste, vielleicht einen Fuß lang und zwei Handflächen breit, und die war gefüllt mit Silber, Edelsteinen, Schmuck und Gold.
»Davon könnten wir leben«, grinste Will stolz. »Wenn wir wollten, Jo, könnten wir wie Eulenfels leben. Aber wir sind Piraten. Schau uns doch an!«
Er drehte sich vor seinem Freund im Kreis und die Säume der Knickerbocker, das Hemd mit den Rüschenärmeln und der rote Piratenrock flogen dabei um ihn herum.
»Sieht so ein echter Seeräuber aus?« Er lachte Jo an.
Wills freches Lachen war eine Waffe, das wusste sein bester Freund. Dem konnte man nicht so leicht widerstehen.
»Und du«, lachte Will und nahm Jo in den Arm, »du siehst aus wie ein Dieb aus dem Morgenland. Oder nein, warte! Ich hab erst vor Kurzem ein paar Bilder gesehen.«
Er stöberte in den Kisten und Truhen, fand einen roten, seidenen Schleier und wickelte ihn Jo wie einen Turban um den kraushaarigen Kopf und die alte, einstmals bunte, afrikanische Mütze. Die war das Wertvollste, was der Kleine besaß. Sie war Jos Glücksbringer, sein Talisman, und er setzte sie selbst dann nicht ab, wenn er schlafen ging.
»Du siehst aus wie der Prinz aller Diebe!«
Jos große Augen begannen unter dem roten Turban zu strahlen.
»Ja!«, lachte Will. »Das ist perfekt. Und sieh dir die Bilder an. Die hast du selbst gemalt. Siehst du die Palmen? Und da ist das Meer. Kannst du es riechen? Spürst du den Wind? Jo, wir sind die größten und besten Piraten der Welt. Und das da draußen«, er zeigte zum Fenster, »das ist das Meer, in dem die Schätze und Abenteuer jeden Tag auf uns warten. Schätze, Jo, die wir uns nicht vorstellen können. Und Abenteuer, die nur die erleben werden, die mutig genug sind und …«
»… frei.« Jo schloss die Augen. Dieses Wort liebte er. Es erinnerte ihn an etwas, das er nicht kannte. An seine Heimat vielleicht. An die weiten Steppen in Afrika, die er niemals gesehen hatte. Auch wenn er nicht mutig war, auch wenn er kein Dieb sein wollte und erst recht kein berühmter und von allen gejagter Pirat: Das war das Wort, das ihn Will folgen ließ, und der Grund, warum er bis jetzt bei ihm lebte.
»Frei sein!«, flüsterte Jo und Will gab ihm recht:
»So frei wie der Wind! Nein, wie ein Segel, Jo, ein schneeweißes Segel, das sich in diesem Wind aufbläht und uns an den Horizont bringt.«
Da fiel dem Prinz aus dem Morgenland, obwohl er mitten im Piratennest stand, ein fetter Tropfen aufs Gesicht.
Jo zuckte zusammen und der schöne Traum war zerplatzt.
»Nein«, sagte er leise. »Das wird niemals so sein. Da draußen ist man nicht frei. Da ist Berlin. Da ist Eulenfels, Will. Und da gibt es keine Piraten.«
»Ach, ja? Und was sind wir dann?« Will packte den Jungen, zog ihn zum Fenster und zeigte auf das dunkle und finstere Berlin.
»Da unten hungern die Leute. Und wenn man eine Kartoffel klaut, wird man gehängt. Willst du dort leben, Jo, willst du so sein wie die?«
Der kleine Kerl schniefte und wischte sich das Regenwasser aus dem Gesicht.
»Nein«, sagte er. »Nein. Aber trotzdem geht’s uns nicht besser. Das Gold, was wir haben, können wir nicht essen, Will. Und wenn sie uns erwischen, werden wir trotzdem gehängt. Deshalb bist du dumm, verstehst du mich jetzt.« Er schloss seine Augen und versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
»Du bist dumm, Willfried Zacharias Karl Otto Stupps, weil du einfach nicht einsehen willst, dass du nie und niemals ein Pirat sein wirst. Piraten sind groß, sie sind älter als 14, und weil das so ist, heißen sie anders. Anders als wir, Willfried Zacharias Karl Otto Stupps. Piraten heißen nicht ›Stupps‹, nein, niemals im Leben.«
Jetzt schluckte auch Will und er ballte die Fäuste. Er wusste, dass Jo die Wahrheit sprach. Doch er wollte sie einfach nicht hören. »Nein«, sagte er leise. »Ich werd’s dir beweisen. Ich werd es allen beweisen. Du musst mir nur noch einmal vertrauen. Und …«, jetzt lachte der Junge, »du musst die Hände von den Frauen weglassen.Versprichst du mir das?«
Jo sah ihn verdutzt und argwöhnisch an. »Frauen? Ich mag keine Frauen.« Er verzog das Gesicht. »Igitt, und Mädchen mag ich erst recht nicht.«
»Gut«, sagte Will. »Denn das ist das Einzige, wovor ich mich fürchte. »
Er ging zu der Jacke, die er getragen hatte, zog die beiden Hühnchenkeulen heraus, die er Eulenfels mit dem Silbertalerzaubertrick abgeluchst hatte, und warf Jo eine zu.
»Die Frauen, ja, und den Galgen«, grinste er, setzte sich in einen Schaukelstuhl, legte die Beine auf den Fenstersims und schaute, während er sein Hühnchen genoss, hinauf zu den hinter den Wolken verborgenen Sternen.
»Noch ein Ding«, sprach er leise. »Noch ein letztes Ding, Jo. Dann hab ich es allen bewiesen und …«
Er holte tief Luft.
»… dann hören wir auf.«
DER SCHWARZE BARON
Es war schon weit nach Mittag, als sich der Freiherr von Eulenfels und die beiden bei ihm schlafenden Damen endlich dazu bequemten, das ängstliche und zaghafte Klopfen ihrer Diener zu hören.
»Was ist?«, schimpfte der Geheime Minister, ertastete einen Stiefel neben dem Bett und schleuderte ihn gegen die Tür.
»Die Schlacht, Herr Minister«, hörte er die beflissene Antwort, »heute ist doch die entscheidende Schlacht.«
»Die was?«, fluchte Eulenfels. »Und deshalb weckt Ihr mich auf?!« Er suchte und fand seinen zweiten Stiefel. »Das ist die siebte verfluchte entscheidende Schlacht in den letzten zwei verregneten Wochen.«
»Und das Wetter ist graulig«, quengelte eine der Damen.
»Und es ist neblig«, lamentierte die andere. »Da können wir doch gar nichts sehen. Da sterben die armen Soldaten umsonst.«
»Bitte, mein Dickerchen«, säuselte die Erste, »erspar uns doch diese unschönen Dinge.«
»Oder wir kitzeln dich durch.« Die Zweite nahm den Stiefel und warf ihn gegen die Tür. »Und Ihr sucht das Weite. Der Minister wird nämlich von viel wichtigeren Dingen in Anspruch genommen als von einer entscheidenden Schlacht.«
»Ja!«, lachte Eulenfels unter den kitzelnden Fingern der Frauen. Da sprangen die Türen zu seinem Schlafzimmer auf.
»Diese Geschäfte möchte ich sehen!«, plärrte eine Frau, die noch älter war als ihre hochgeschlossenen spanischen Kleider aus dem Dreißigjährigen Krieg. »Theodor Wotan! Was fällt dir ein, deine arme und alte Mutter um die Bridgepartie mit ihrer Schwester zu bringen. Und um die köstlichen Kekse, die sie bei ihrem Tee immer serviert.«
»Mama, aber ich hab nicht …«, versuchte Eulenfels sich herauszureden. Doch da packten ihn schon die Diener aus dem Gefolge seiner Mutter und zerrten ihn und die beiden Frauen aus dem Schlafzimmer, durch die Flure des Schlosses und hinaus in den Hof, wo die vier Sänften schon warteten, die jede von zwei Dutzend Dienern getragen wurde.
Alles ging fürchterlich schnell und niemand bemerkte, wie einer dieser 96 in weiße Perücken und Livreen gesteckten Lakaien plötzlich verschwand. Niemand schaute unter die Treppe, die sich zum großen Ballsaal erhob, wo dieser arme Kerl nur eine Minute später gefesselt und geknebelt lag und sich noch nicht einmal traute, leise zu wimmern. Und niemand schöpfte bei dem dritten Träger von vorn an der rechten Stange vor Eulenfels’ Sänfte Verdacht, obwohl der anderthalb Köpfe kleiner war als die anderen Diener. Obwohl seine Perücke schlecht und schief saß und seine Schuhe anstatt in beschnallten Pantoffeln in klobigen Stiefeln steckten.