MARLON - Wenn Träume erwachsen werden - Joachim Masannek - E-Book

MARLON - Wenn Träume erwachsen werden E-Book

Joachim Masannek

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Beschreibung

Was machen die Wilden Kerle heute? 20 Jahre nach dem Spiel gegen den Dicken Michi + + + 18 Jahre nach Gonzo Gonzales + + + 17 Jahre nach den Biestigen Biestern + + + 16 Jahre nach Ragnarök + + + 15 Jahre nach ihrer Reise ans Ende der Welt? Hier erfahrt ihr es! Berlin. Heute. Die Wilden Kerle gibt es nicht mehr. Das Schicksal hat sie in alle Himmelsrichtungen verstreut. Keiner weiß, wo der andere ist. Leon gilt sogar als tot und Marlon, der heute Musiker ist, will die Vergangenheit vergessen. Er nennt sich jetzt Sparrow. Spatz. Er streift allein durch die Stadt. Er will unsichtbar sein. Doch wenn ihn seine Musik dazu zwingt, wenn er irgendwo in dem Meer aus Bars und Clubs auftaucht und auftritt, zieht er die Menschen in seinen Bann. Er verzaubert sie mit seiner Sehnsucht nach Freiheit, Leben, Liebe und mehr. Doch jede Nacht zwischen drei und vier Uhr holt Marlon die Vergangenheit ein. Ein Alptraum verfolgt ihn und dieser Alptraum wird Wirklichkeit, als der charismatische Angel Investor Tom Shepherd aus Dublin nach Berlin kommt. Shepherd, der Marlons totem Bruder Leon so gleicht wie ein Zwilling, der aber trotzdem so anders ist: gefährlich anders. Marlon ahnt nicht, dass aus dem Kindertraum von damals eine Kraft entwachsen ist, die die Ordnung der Welt, in der wir in Zukunft leben, in der unsere Kinder leben sollen, mehr als bedroht. Eine Zukunft, die Shepherd für uns gestalten und aus der er alles, was die Wilden Kerle jemals verkörpert haben, verbannen will. Marlon muss sich entscheiden: Ob er seine Vergangenheit für immer vergisst, oder ob er sie wieder aufleben lässt, auch wenn er dafür mit seinem Leben bezahlt. Doch es geht nicht um ihn. Es geht um die Zukunft von Nessie, der zwölfjährigen, rebellischen Fußball-Ballerina, ihrer Freunde Tippkick und Coke und der Zukunft des Jungen, in den sich Nessie verliebt. Für immer WILD!

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Erster Teil

Man kann das Leben nicht festhalten. Es passiert jetzt.

MARLON,

die Intuition. So hatte man ihn genannt. Vor einer Ewigkeit. Vor über anderthalb Jahrzehnten, angesichts derer sich jede Erinnerung doch endlich in Nichts auflösen sollte. Unwiderruflich. So hoffte es Marlon. Jede Nacht zwischen drei und vier Uhr in der Früh.

Doch jetzt hatte jemand die Türen und Fenster geöffnet. Der Sommerwind wehte durch die Menge zu ihm auf die Bühne empor. Er wob sich durch den Marihuana Rauch. Den Duft von Wein und Bier. Er strich Marlon über die Schläfen. Das heißt, hier hieß er ‚Sparrow‘, spürte es. Der Wind kühlte also Sparrows Schweiß. Er trug das letzte Lied von Sparrows Zugabe auf seinen Schwingen davon. Die Ballade der Surfer Nomaden. Und während Sparrow sang, während er mit seiner Musik verschmolz, während er die Herzen seines Publikums ein letztes Mal verführte, kehrte seine Seele in die Vergangenheit zurück.

Marlon, die Intuition spürte das sanfte Vibrieren des Neunhunderter Zweizylindermotors zwischen den Beinen. Er spürte ihn wie das Lachen seines Bruders Leon, der auf seiner Triumph schräg hinter ihm fuhr. Vor den anderen Kerlen: vor Vanessa, Markus, Maxi, Raban und Joschka. Sie alle hatten den Jahren getrotzt. Sie jagten den Horizont. Sie atmeten Freiheit. Sie lachten und schrien sie hinaus in die Welt. So wie die Surfer Nomaden …

„ … er nahm sie bei der Hand.

Der Ozean.

Er ließ sie Huckepack reiten

und warf sie empor.

In endlose Weiten.

Hinauf zum Tor

des Orion,

wo sie wie Gischt,

im letzten Licht

der Sterne verbrannten.“

Marlon genoss die Macht seiner Kunst. Er sah, wie die Träume in den Augen der Menschen vor ihm erwachten. Selbst bei denen an den hinteren Tischen. bei denen, die ihn zum ersten Mal hörten. Die vielleicht noch nicht einmal wussten, wie er hieß, wer er war. Selbst die ritten die Wellen und lachten in Freiheit. Er steckte sie an. Mit seiner Liebe und Lebenslust. Ihre Augen und Wangen leuchteten in den Farben seiner Kleidung: dem Rot, dem Gelb, Hellblau und Grasgrün. Sparrow war Hippie. Sparrow war Peace.

Dann war es still.

Ein letzter Gitarrenton verirrte sich in den dunstigen Schwaden der Boxhagener-Kneipe und als der Applaus endlich aufbrauste, als die Menschen von ihren Stühlen aufsprangen, um sich für das Glück, ihr Glück zu bedanken, war Marlon bereits von der Bühne verschwunden.

Er lief durch die Küche zum Hinterausgang. Er wollte raus. Er wollte den Frieden in sich so lange wie möglich beschützen. Es drängte ihn auf die Straße. Da holte ihn Icke, der Inhaber des Rum Bottle Bottom, kurz vor der Tür zum Hinterhof ein.

„Hey! Sparrow! Du hast was vergessen. Deine fünfhundert!“. Er schlang seinen Arm um Marlons Hals und hielt ihm die Fünfzigernoten vor die Nase.

„Ist schon gut, Icke. Ich hol sie mir morgen.“ Marlon versuchte sich freundlich aus Ickes Arm zu befreien.

„Na, lass dich doch drücken“, hielt dieser ihn fest. „Dreihundert kommen noch drauf. Deine Umsatzbeteiligung“ Er versuchte, das Geld in Marlons Taschen zu stopfen, doch der wehrte sich. „Achthundert pro Tag. Du bist ein Goldesel, Sparrow. Rechne mal aus. Wenn du jede Woche hier spielst.“ Icke grinste ihn an.

„Okay, ich überleg`s mir, Icke“, lächelte Marlon und schlüpfte durch die Tür hinaus in den Hof.

„Tust du das wirklich?“, rief Icke ihm nach „Nach deinem letzten Auftritt hab ich dich ‘n ganzes Jahr lang nicht mehr gesehen.“

„Aber irgendwann bin ich doch wieder gekommen.“ Marlon grinste ihn an. „Pass solang auf mein Geld auf!“

Er verschwand auf die Straße. Er lief durch die Nacht. Er sah die feiernden Menschen und der Nachhall seines Auftritts war der Soundtrack dazu. Marlon liebte diesen Moment. Er fühlte sich stark. Er stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Er fühlte sich angekommen. Jede seiner Bewegungen wurde Teil eines Tanzes, und er wusste, dass er in diesem Moment unwiderstehlich war. Er war Liebe, Lachen, Leben. Er war Teil der Seele der Welt.

„Hi!“, lachte sie. Sie tanzte wie ein Glockenspiel um ihn herum. „Ich hab dich gesehen. Ich meine: gehört. Im Rum Bottle Bottom. Oder nein. Eigentlich war ich nicht da. Du hast mich weggebeamt. Raus aufs Meer und hoch zu den Sternen. Doch jetzt bin ich da. Jetzt sehe ich dich. Jetzt will ich dich, Sparrow.“

Ihre Stimme war wie ihr Lachen. Kristallklar und rau. Und so schmeckten auch ihre Lippen, als er sie in den Arm nahm und küsste. So roch sie und so fühlte er ihre Haut, als er mit ihr zu ihr ging und sie sich dort liebten.

Susi war unverschnittene, reine Magie. Ihr Name klang wie ein Vers, eine Songzeile, die ihm nur einmal im Leben gelang. Susi, nicht Su, Susann oder Sannie. Nein, Susi war mehr. Sie war die Raumstation auf dem Weg zum Ende des Weltalls. Nach Jahren der Einsamkeit traf er hier einen Menschen. Ein Lachen, heißen Atem und eine Umarmung, die ein Zuhause versprach. Und vielleicht sogar Heilung.

Denn Marlon war krank. Und das schon seit Jahren. Nicht an Körper, sondern an Geist. Er, der paradiesfarbene Sparrow, der allen das Lachen und Lieben lehrte, zog einen dunklen Schatten hinter sich her und deshalb meinte Marlon es ernst. Es war kurz nach halb drei. Siebenundzwanzig Minuten vor der dunklen Stunde. Er schrieb einen Brief. Das heißt, einen Zettel. Aber in Anbetracht von Marlons Beziehungsfähigkeit war es ein Brief: „Hey Susi! Ich bin morgen zurück.“

Da sprach sie ihn an. Obwohl sie hinter ihm lag, spürte er ihre Tränen. Er konnte sie hören. „Warum gibt es von dir nichts im Netz? Nichts auf Spotify oder YouTube?“

Marlon erstarrte. Der Zettel in seiner Hand begann zu zittern.

„Es gibt dich noch nicht einmal auf Vinyl.“

Ihre Fingerspitzen kletterten seinen Rücken empor. Er spürte sie durch den Stoff seines Hemdes.

„Ich spiele nur live“, sagte er und seine Stimme war brüchig.

„Warum?“. Sie ging in die Knie. Ihre Hände massierten seinen steinharrten Nacken. Sie spielten mit der Blumenkette um seinen Hals.

„Weil man das Leben nicht festhalten kann.“ Er lächelte kurz. Er lehnte den Kopf zurück und genoss die Massage. „Es passiert jetzt!“

„Dann lass es uns leben.“ Sie umarmte ihn. Er spürte ihren nackten Körper durch den Stoff seines Hemdes. „Dann lass es uns leben, Sparrow“, forderte sie. Sie zog ihn zurück. Sie wollte ihn küssen. Doch Marlon stand auf.

„Man kann das Leben nicht anhalten.“ Er versuchte zu lächeln: Er sah ihre Offenheit, ihre Verwundbarkeit, ihre Zärtlichkeit, Wärme und Liebe.

Er zerknüllte den Zettel. Er war zornig auf sich.

„Und man kann nichts wiedergutmachen oder irgendwie korrigieren.“

Susi wollte was sagen, doch Marlon hob seinen Finger. Er gebot ihr zu schweigen. Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen.

„Ich …, Ich …“, hob er seine Stimme. Er spürte den Zettel in seiner Faust. ‚Ich komme zurück!‘ Das wollte er sagen. Er wollte sie küssen, umarmen und lieben. Doch er durfte es nicht.

Er durfte es nicht!

Er floh auf die Straße. Er warf den Zettel in den Rinnstein. Es hatte zu regnen begonnen und das Wasser drohte seine Versprechen in den Gully zu spülen: „Hey Susi! Ich bin morgen zurück.“

Marlon floh durch die Stadt, bis er in Friedrichshain sein Motorrad fand. Es schlug schon drei Uhr. Er weckte die Triumph aus ihrem Dämmerschlaf auf und floh ohne Helm durch die Stadt.

Ein bunter Farbklecks, der versuchte, der Nacht zu entkommen. Seine halblangen Haare wehten im Wind.

Nessie,

die Ballerina. So wurde sie von immer mehr Menschen genannt. Wie Messi, der Floh, Gerd Müller, der Bomber, oder Bastian Schweinsteiger Fußballgott. Nessie war zwölf, auch wenn immer mehr Menschen sie für fünfzehn hielten. Und Nessie war hübsch. Aufhorchend hübsch. Atemberaubend. Doch Nessie war das egal. Sie wollte nur eins: die Beste sein. Und das nicht für andere, sondern für sich. Die anderen waren nur Publikum. Um Geld zu verdienen.

Es war jetzt halb sieben. Eine gute Stunde vor Schulanfang. Die Sonne stand zwischen den Charlottenburger Altbauschlössern und tauchte die Luxus-SUVs auf der Kreuzung in gleißendes Licht. Nessie packte drei Fußbälle aus, von denen sich die Beschichtung an vielen Stellen schon löste. Sie startete die Bluetooth-Box. Eine Hardrock Version von Tchaikovskys Schwanensee verstörte Autofahrer und Passanten. Dann trat sie auf die Kreuzung. Direkt vor einen noch bei Rot über die Ampel rasenden Mercedes. Die Vollbremsung griff. Der Wagen hüpfte. Er bäumte sich auf und kam eine Viertel Handbreit vor ihr in den Stand.

Nessie fixierte die Fahrerin. Seelenruhig. Als wäre gar nichts passiert. Dann warf sie die Fußbälle in die Luft und begann in einer Mischung aus Hip Hop, Street Dance und Ballett mit ihnen zu tanzen. Nessie jonglierte die Bälle mit Füßen, Knien, Schenkeln, mit Bauch, Po. Schultern, Rücken und Kopf. Sie schlug Räder, Saltos und Flick Flaks. Sie zelebrierte Foot Works und Power Moves und endete schließlich in einem unglaublichen Freeze. Alle drei Bälle kamen auf Füßen und Schultern zum Liegen. Dann sprang sie auf und während die Passanten applaudierten und pfiffen, bat sie die Insassen der jetzt bei Grün wieder anfahrenden Autos um eine Spende.

Doch je größer die Limousinen und teurer die Sportwagen, umso verschlossener waren die Fenster. Nessie ging leer aus. Das Mädchen wischte sich die Demütigung wie Rotz von der Nase. Sie hob die Bälle vom Boden auf. Sie stellte sich für die nächste Rotphase auf. Da rollte eine Zweieuromünze vor ihre Füße.

„Mach das nochmal“, forderte eine freundliche Stimme. Nessie hörte das Lächeln. Dann sah sie den Motorradfahrer. Er trug keinen Helm. Seine halblangen Haare wehten im Morgenwind. Seine Augen leuchteten in der Sonne. Er stand vor ihr wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Sein buntes Hemd strahlte. Nessie sah die Kette aus Blumen um seinen Hals. Ihr stockte der Atem. Die Härchen auf ihrem Rücken stellten sich auf. Ihr wurde heiß.

„Mach das nochmal.“ Marlons Lächeln war sanft. Doch in Nessie bäumte sich irgendwas auf. Irgendwas, das ihr die Kehle zuschnürte. Den Atem nahm. Ihr Herzschlag stockte. Sie brauchte all ihre Kraft, um den Kopf zu schütteln. Dann sagte sie:

„Man kann im Leben nichts wiederholen.“

Marlon stutzte verblüfft. Sie spürte, wie er erschrak. Sie packte die Bälle. Sie drehte sich um. Sie lief zum Straßenrand. Sie griff nach dem Rucksack und rannte davon.

Erst an der nächsten Kreuzung hielt sie an. Sie hörte das Hupen. Atemlos. Sie drehte sich um. Sie sah, dass der Motorradfahrer immer noch stand. Die Ampel war grün. Doch er schaute ihr nach. Er hörte das Hupen hinter sich nicht. Er reagierte auch nicht, als ihn die ersten Autofahrer schimpfend passierten.

‚Wer bist du?‘ pochte es in ihrer Brust. Es schien nur noch diese eine Frage zu geben.

Dann fuhr Marlonlos. Er bog nach rechts ab und verschwand irgendwo zwischen den Bussen.

An diesem Morgen ging Nessie nicht in die Schule. Sie ging zu Coke. Coke war ihr Freund. Ihr einziger Freund. Der 10jährige Nerd lebte mit seinem Vater in einem Schrebergarten jenseits der Spree. Auf halbem Weg Richtung Spandau. Coke führte den Haushalt. Er wusch, putzte, kochte. Er pflegte den Garten und deshalb sah sein Schrebergarten auch nicht wie ein Schrebergarten aus. Es war ein Dschungel. In ihm versteckte sich das kleine Haus wie ein Dornröschenschloss und meistens war Coke dort allein. Sein Vater war auf dem Bau. Er arbeitete sechzehn Stunden am Tag und dazwischen schlief er seinen Rausch aus.

„Hi“, sagte Nessie. Sie ließ Rucksack und Bälle fallen und fläzte sich auf die Couch.

Coke saß am Computer mit dem Rücken zu ihr. Er las eine Vorlesung aus Oxford. auf Englisch. Nessie hob die Füße vom Tisch. Dort lag ein Brief von Cokes Schule: ‚Hiermit teilen wir Ihnen mit, dass Ihr Sohn den Unterricht immer noch nicht besucht und das Lernziel unserer sonderpädagogischen Einrichtung auch in diesem Jahr nicht erreichen wird.‘

„Sonderpädagogische Einrichtung“, brach der Junge das Schweigen. „Früher hieß das Brettergymnasium. Darunter gibt es nur noch den sozialen Absturz.“

„Okay.“ Nessie musterte ihn. „Aber ohne Abitur kommst du auch nicht nach Oxford.“

„Das will ich auch nicht.“ Er drehte sich um. Die dicken Gläser seiner Brille verwandelten ihn in eine Manga Figur: „Ich bin ein Nerd. Hast du das vergessen? Ich komme in der normalen Welt nicht wirklich zurecht.“

Er grinste sie an.

„Hast du Hunger, Nessie?“ Coke ging zum Ofen. „Ich hab Grünkohl gekocht.“

„Grünkohl im Sommer?“, fragte Nessie verwundert.

„Ich weiß“, seufzte Coke, „aber es ist das Lieblingsgericht meines Dads. Für den gibt‘s keine Jahreszeiten. Und ich bin froh, wenn er überhaupt etwas isst.“

„Okay. Dann gibt es Grünkohl zum Frühstück.“ Nessie versuchte ein Lachen und das alarmierte Coke. Jetzt war er bei ihr.

„Warum bist du hier? Du bist kein Nerd.“

„Und ich will nicht nach Oxford.“

„Aber trotzdem schwänzt du die Schule. Wenn das deine Mutter erfährt …“

„Sie kennt diesen Ort nicht.“

„Bist du sicher? Sie ist Polizistin.“ Coke wurde ernst.

„Absolut sicher.“ Nessie holte tief Luft. „Außerdem ist das zu wichtig.“

„Was?“, fragte Coke und setzte sich vor ihr auf den Tisch.

„Ich hab keine Ahnung. Es ist ein Gefühl. Da war ein fremder Mann auf einem Motorrad und der Klang seiner Stimme.“

„Wie alt ist der Mann?“

„Irgendwas über dreißig.“

„Und was bedeutet das alles?“ Cokes Augen wurden noch größer.

„Ich hab‘s doch gesagt. Ich hab keine Ahnung. Aber ich will es unbedingt wissen. Ich muss es, Coke, hörst du?“

Nessie sprang auf. Sie suchte begeistert nach den richtigen Worten. Sie tanzte sie schließlich.

„Es fühlt sich so gut an. Ich meine: richtig, Coke, nein. Es fühlt sich so an wie alles nachdem ich gesucht hab. Es fühlt sich so an wie … Glück.“

Sie strahlte ihn an: „Ja, Glück, vor dem ich auch Angst hab.“ Ihr Strahlen erlosch und ihr Blick bat Coke verzweifelt um Hilfe.

Ana

Wolf liebte das Meer. Immer noch. Trotz dessen Unbarmherzigkeit und Willkür. Für Ana Wolf war es das Leben. Unbändige Kraft. Geburtsort des Windes. Anna genoss ihn in ihrem Haar und in dem ihres Sohnes.

Christiano rannte vor den Wellen über den Strand. Der Ball klebte an seinen Füßen. Schwarze Locken umwehten sein Lachen, das seinen hellblauen Augen entsprang. Schweiß perlte auf bronzener Haut. Für einen Moment wurde die Ostsee zur Copacabana. Ihrer Heimat. Die dreißigjährige Brasilianerin umfasste das Geländer der Promenade. Sie musste sich festhalten. Dieser Moment sollte bleiben. Ihr Sohn überholte den Ball. Er lupfte ihn mit der Ferse hoch über den Kopf, drehte sich in vollem Lauf um die eigene Achse und versenkte die Kugel mit einem Fallrückzieher im Tor.

Noch im Fallen feierte Christiano seinen Triumph. Sein Blick traf den seiner Mutter. Stolz, Liebe und Gier nach noch mehr. Ich werde dich niemals enttäuschen! Das alles sagte sein Blick. Dann tauchte er in den Sand. Er surfte auf ihm wie auf einer sich brechenden Welle.

Ana schrie auf.

Nicht wirklich. In ihrem Herzen! Die erste Welle der Flut umspielte den Jungen. Gischt überspülte Körper und Kopf. Sie ließ Christiano für Augenblicke verschwinden. Ana hatte das Gefühl, sie müsste ertrinken. Sie presste das Blut aus ihren Fingern und Händen. Das Metall des Geländers glühte eiskalt. Ana sah Romeo. Ihren anderen Sohn. Den Zwillingsbruder Christianos. Wie er mit drei Jahren in den Wellen ertrank.

Da tauchte ihr Sohn aus dem schäumenden Wasser auf. Er sprang in den Stand. Er ballte die Faust. Er genoss diese Pose wie sein großes Vorbild Ronaldo und lief dann – spitzbübisch grinsend – zu den andern zurück. Das Spiel war zu Ende. Er hatte gewonnen. Verlierer und Sieger wurden wieder zu Freunden und während sie sich lautstark foppten und neckten, lief Christiano zu Ana.

„Hi, Mom“, küsste er sie auf die Wange. „Ich lieb dich dafür, dass du mir gerade zugeschaut hast. Dieser Trick ist mir heute zum ersten Mal gelungen.“ Ana strahlte ihn an. Er sah aus wie sein Vater, als sie sich Hals über Kopf in ihn verliebte. So berstend vor Freude. „Aber jetzt hab ich Hunger. Hast du oder hat Papa gekocht?“ Christiano lief schon voraus.

„Papa war dran!“, rief Ana ihm nach.

„Okay. Dann weiß ich Bescheid. Dann wird es deftig und schwer.“ Christiano erreichte das kleine Haus zwischen den Dünen. „Ich dusch mich nur eben.“

Ana fand ihren Mann Liam vor dem Computer. Sie umarmte ihn herzlich: „Das hättest du sehen sollen.“

„Nein, warte! Sag nichts!“, sagte er und nahm ihre Hand. „Ich will es dir sagen. Schau es dir an.“

Er öffnete das Fenster eines Programms: Mom’s Intuition. Das war ihr gemeinsames Baby. Das Produkt ihres Startups, an dem sie jetzt schon seit neun Jahren arbeiteten. Seit Romeos Tod. Eine Art Babyphone oder digitaler Mutterinstinkt.

Das Programm ploppte auf. Rote, blaue und gelbe Kurven jagten sich durch ein Koordinatensystem.

„Wo fangen wir an? Sie haben Fußball gespielt. Es stand zwei zu eins für das Team von Christiano.“ Er tippte auf eine blaue Spitze, die kaum merklich eine Welle durchbrach. „Hier. Das war der zwei zu zwei Ausgleich. Und da bist du auf die Promenade gekommen.“ Liam fuhr weiter zur roten Linie. Die stand für Ana und der Ausschlag, den er ihr jetzt zeigte, war viel höher als der beim Gegentor: „Siehst du? Da hat er bemerkt, dass du ihm zuschaust.“

Ana umarmte Liam, als würde sie das noch einmal erleben. „Er hat gelacht und mir zugewinkt.“

Liam nickte: „Und keinen Moment daran gezweifelt, dass er gewinnt.“

„Er ist dein Sohn.“ Ana gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange.

„Aber jetzt pass mal auf.“ Liam ignorierte den Kuss und beugte sich vor. Er scrollte die Linien durchs Koordinatensystem. „Das Signal wird von Tag zu Tag stärker. Der Algorithmus lernt und wird klüger. Die Kurven verwandeln sich langsam in Bilder.“ Er klickte auf einige Punkte und tatsächlich sah man verschwommene Fotos. Christianos Füße. Den Ball über seinen Kopf. Der Fuß der ihn traf. Der Torwart, der ihn nicht mehr erreichte.“

Ana musste sich setzen. Sie zog einen Stuhl neben den ihres Mannes. „Genau. Genau so ist es gewesen, Liam! Komm, zeig mir mehr“ Ihre Augen strahlten ihren Mann an. Doch der ignorierte auch das. Er nahm es nicht wahr. Stattdessen begann seine Hand zu zittern.

„Und dann kam die Angst.“ Die Kurven wurden jetzt spitzer. Die Wellen zu Zacken. Liam klickte auf eine von ihnen: Christiano glitt auf die Welle zu. Dann schlug das Wasser über seinen Kopf. Ein nächster Click zeigte einen dreijährigen Jungen. Romeo. Und Romeo schrie, als ihn eine große Welle wegriss. Er schrie in Christianos Unterbewusstsein.

Ana sprang auf: „Das reicht. Hör sofort auf. Das will ich nicht sehen!“

Da kam Christiano ins Büro. Er brachte ihnen das Telefon.

„Seid ihr taub?“, lachte er. Er hatte den Tod seines Bruders offensichtlich wieder vergessen. „Das hat bestimmt `ne halbe Stunde geklingelt. Und es ist für euch.“ Er gab Ana den Hörer, weil sie schon stand. „Aber beeilt euch. Ich sterbe vor Hunger und Papas Lamm Tajine Ali Baba ist eines meiner Leibgerichte.“

Ana führte den Hörer ans Ohr:

„Hallo, wer ist da?“

„Frau Wolf, sind sie das? Ich mag ihre Stimme.“

„Wie bitte?“ Ana zog die Stirn in Falten.

„Oh, entschuldigen Sie“, sagte der Anrufer. „Ich wollte nicht anzüglich sein. Aber wenn sie mich kennen lernen, werden sie es vielleicht verstehen. Ich bin sehr schüchtern. Ich rede ungern mit Fremden, …“

„Wer sind Sie?“, fragte Ana schroff.

„Oh, sehen Sie. Das genau hab ich gemeint. Ich bin es nicht gewohnt, mit Fremden zu sprechen.“

„Ich lege gleich auf!“, drohte Ana.

„Nein, bitte nicht. Mein Name ist Shepherd. Tom Shepherd. Und wenn sie damit nichts anfangen können, fragen Sie bitte Ihren Mann.“

„Das werde ich. Danke. Er steht direkt neben mir.“, sagte Ana und legte auf.

„Okay. Ich warte.“ Ana saß neben Liam im Bett. Doch ihr Mann schwieg. „Ich hab ihn gegoogelt. Shepherd ist ein Angle Ínvestor aus Irland. Er kauft Start Ups und schlachtet sie finanziell aus.“

„Er macht sie zu Geld“, widersprach Liam leise.

„Er verleibt sie sich ein. Er verdaut sie. Er verändert sie bis zur Unkenntlichkeit.“ Ana war wütend.

„Er erweckt sie zum Leben“, widersprach Liam erneut.

„Ha, das meinst du nicht ernst. Geld ist das Gegenteil von Leben. Das war dein Satz.“

„Aber kein Geld ist Tod.“ Liam schaute sie an.

„Nein.“ widersprach Ana. „Komm mir nicht so. Wir haben einen Deal.“

„Ich weiß“, sagte Liam.

„Wir wollen die Welt verändern. Geld ist tabu. Also erzähl mir was anderes.“ Das war keine Bitte. Anas Blick war Befehl.

„Okay“, sagte Liam. „Dann ist es jetzt aus. Wir sind pleite. Am Ende. Die Bank hat unsere´ Kredite gekündigt. Es wird alles beschlagnahmt und danach versteigert. Das Haus und das Start Up.“

Ana sah ihn nur an. Sie konnte noch nicht einmal mehr den Kopf schütteln.

„Ana, es tut mir leid. Und ich zwing dich zu nichts. Aber das hier ist unser großer Traum. Und unsere einzige Chance, unsere Schuld zu begleichen.“

‚Unsere Schuld!‘ dachte Ana. Eine Träne fiel auf ihre Wange, ihr Kinn. Sie sah ihren Mann an. Aus dem entwich alle Kraft. Seine Augen verwelkten.

„Ich bitte dich, Ana“, sagte dieser fremde Mann jetzt. „Lass uns zumindest einmal mit diesem Tom Shepherd treffen und reden. Danach entscheidest du, was wir tun.“

Ana sah den fremden Mann an. Sie berührte sein Gesicht mit den Fingern. Sie hoffte, dass er wieder zum Leben erwachte. Dass er wieder der Mann werden würde, der er vor 12 Jahren Jahren war. Der ihre Liebe mit dem ersten Blick erobert hatte. Von dem sie in der ersten Nacht die Zwillinge empfing. Christiano und Romeo.

Sie bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Sie wollte ihn ausziehen. Sie wollte ihn jetzt. Sie wollte ihr Glück und ihre Liebe zurück. Doch Liam wehrte sie ab. Sanft und ruhig und unwiderruflich.

„Nicht jetzt“, sagte er freundlich. „Noch nicht jetzt.“ Er nahm sie in den Arm, legte ihren Kopf auf seine Brust und dort spürte sie, wie er die Decke anstarrte.

„Okay“, sagte sie leise. „Aber wir tun alles, damit sich das Schicksal nicht wiederholt. Niemand soll so etwas noch einmal erleben. Niemand.“ Sie richtete sich auf. „Und wir beschützen Christiano.“ Sie packte Liams Gesicht. Sie zwang ihn, sie anzuschauen.: „Hörst du mich, Liam? Christiano darf nichts passieren!“

Sie sah die Tränen in Liams Augen. Tränen der Trauer, die Liebe tranken. Sie fraßen die Liebe wie Aliensäure. Ana suchte nach Liams Händen. Ihre Finger verzahnten sich mit seinen. Sie hielt ihn fest. Sie beugte sich über ihn und begann ihn zu küssen. Sie spürte, wie seine Tränen auf ihren Lippen verdampften. Sie tötete sie mit Liebe und Sex.

Sparrow,

der Spatz. So nannte sich Marlon jetzt. Einer von vielen. Aus einem Schwarm. Unsichtbar in der Menge. So wollte er leben. Einfach nur sein. Nichts von niemandem fordernd. Nur ab und zu, da musste er singen.

Der Juliabend trieb die Menschen in Berlin auf die Straße. Der James-Simon-Park war überfüllt. Überall spielten Musiker. Gaukler verzauberten erwachsene Kinder. Sie alle waren verdammt noch mal gut. Sie alle atmeten und verschenkten den Sommer. Doch niemand sah ihn. Obwohl er so bunt war. Ein Paradiesvogelspatz.

Marlon gefiel das. Er lehnte lächelnd an einem Baum. Er zupfte gedankenver-loren auf seiner Gitarre. Die Töne verwehten im Lachen der Menschen. Er hatte keine Bluetooth-Box. Keinen Verstärker. Marlon spielte für sich. Dann begann er zu singen.

Bob Dylan’s Blowing in the Wind.

Er schloss seine Augen. Er wurde eins mit dem Song und als ob der Wind sein Verbündeter wäre, trug er seine Musik zu den Menschen im Park. Die ersten von ihnen blieben stehen.

Die nächsten kamen hinzu. Sie verließen die anderen Künstler. Und als diese ihre Vorstellungen unterbrachen und ihrem Publikum folgten, hörte man ihn. Leise und klar trug der Wind seine Stimme über die Insel. Über die Insel aus Menschen um Marlons Baum. Und als der Song ausklang, als Marlon die Augen wieder aufschlug, sagte keiner ein Wort. Kein Applaus. Nur stumme Erwartung.

„Hi“, sagte Marlon. „Immer mehr von uns werden blind. Wir sind nur daran interessiert, gesehen zu werden. Keiner von uns sieht das, was vor ihm passiert. Und wisst ihr warum? Weil man sowas nur sehen kann, wenn man das tut, was man will. Wenn es einem egal ist, ob einem einer zuschaut oder was die anderen denken.“

Seine Finger kehrten zu den Seiten seiner Gitarre zurück. Er spielte die Töne, als fielen sie ihm gerade erst zu oder ein.

„Dieses Lied ist neu. Es ist noch gar nicht geschrieben. Ich weiß noch nicht, wie es heißt. Und wenn es ein Glas Wein wär, kann ich nicht versprechen, ob es euch schmeckt. Nach dem exzellenten Tropfen von Bob Dylan’s Geniestreich.“

Er entdeckte Susie in der Menge. Er strahlte sie an: „Das ist das Dilemma, in dem ich lebe. Ich möchte ein Spatz sein. Ein Teil eines Schwarms. Doch ich mache Musik. Die will gehört werden. Sie zwingt mich dazu. Deshalb muss ich mich manchmal verwandeln. In einen Paradiesvogel vielleicht. Oder …: in einen Kakadu.“

Sein Lächeln steckte seine Zuhörer an. Nur Susie blieb ernst:

„In einen Phönix“, flüsterte sie, „der aus der Asche steigt.“

Doch Marlon konnte sie nicht hören. Er konzentrierte sich auf sein Lied. Vor ihren Augen fing oder fischte er es aus dem Universum.

„Dieses Lied handelt von einer Begegnung. Mit einem Mädchen, das ich nur sehen konnte, weil ich in diesem Moment, der sein konnte, der ich war.“ Er strahlte Susie noch einmal an: „Dafür danke ich dir. Und das ist jetzt wichtig: das ist kein Liebeslied. Das ist ein Lied über jemandem, den man nur einen Augenblick sieht. Oder sehen darf. Mit dem man sich aber trotzdem verbunden fühlt. Von Anbeginn aller Zeiten. Und den man ausnahmslos bewundert. Bewundert, achtet und respektiert. Ich habe das Mädchen Die Ballerina genannt.“

Spacki,

so nannte Coke Nessie in ihren fünf tollen Minuten. Und die hatte Nessie sehr oft gehabt. In den letzten drei Wochen. Sie hatte sich mit ihrer Mutter gefetzt. Sie hatte bei Coke auf der Veranda geschlafen. Und sie hatte die drei Fenster ihres Zimmers mit ihren drei Fußbällen zerschossen, als ihre Mutter, die Polizistin, sie dort eingesperrt hatte. Nach der Schule, bis zum Schlafen gehen.

Erst seit fünf Tagen war sie raus. Und in diesen fünf Tagen jagte sie Coke durch die Stadt. Sie musste ihn finden. Einen Motorradfahrer ohne Helm und mit wehenden Haaren in einer Stadt wie Berlin.

„Drei Komma sieben Millionen Einwohner auf achthundertzweiundneunzig Quadratkilometern.“ Das war das Einzige, was Coke abends sagte, wenn sie wütend nach Hause ging. Wütend über sich, weil sie vor drei Wochen an der Kreuzung in Charlottenburg vor ihm weggelaufen war. Und Coke hatte Recht. Es wäre ein Wunder, wenn sie ihn noch einmal treffen würde.

Doch gestern hatten sie Glück. In Lichtenberg. An der Fassade einer Kneipe namens „Rum Bottle Bottom“ hing ein Plakat mit dem Bild, seinem Bild. Dem Bild des Motorradfahrers. Sparrow hieß er. Doch der Wirt namens Icke desillusionierte sie‚‚: „Der Kerl ist `ne Nadel im Heuhaufen, die jemand mit Schmierseife eingeschmiert hat. Den findet ihr nie. Der muss zu euch kommen.“

Doch davon wollte Nessie nichts wissen.

„Kennst du die Aborigines?“, fragte Coke sie danach.

„Die Ureinwohner Australiens?“, fragte Nessie zurück.

„Und weißt du, wie sie Kaninchen jagen?“

„Nein“, sagte Nessie. Das hieß: Ich will es nicht wissen. Doch Coke war ein Nerd.

„Sie setzen sich vor einen Baum. Sie lehnen sich an ihn und warten einfach. Bis das Kaninchen kommt. Dann packen sie es.“

„Das ist `ne Superidee. Aber was werden wir tun, wenn unser Kaninchen vorher in Schmierseife gebadet hat?“ Nessie rollte die Augen. „Bist du sicher, dass du nicht nach Oxford musst?“ Sie nahm seine Brille und setzte sie auf: „Oh, Mann. Und kannst du dadurch überhaupt etwas sehen?“

Coke schluckte und nickte.

„Dann tu es doch bitte.“ Sie gab ihm die Brille wieder zurück. „Coke. Ich bitte dich wirklich. Auch wenn das respektlos und genervt rüberkommt. Aber ich brauch deine Hilfe. Sonst drehe ich durch.“ Die Tram, in der sie fuhren, hielt am James-Simon-Park.

„Und hier müssen wir raus.“ Nessie konnte nicht sagen, woher sie das wusste. Eine Kompassnadel schlug aus. In ihrem Kopf. Ihrer Brust. Sie schulterte ihren Rucksack mit den drei Bällen und zog Coke hinter sich her. „Jetzt komm schon. Los Komm!

Sie sprang aus der Tram. Sie rannte quer über die Straße. Autos und Fahrradfahrer bremsten um sie herum. Nessie nahm das nicht wahr und Coke, der hinter ihr herflog, rannte zu schnell, um sich bei den Fahrrad- und Autofahrern für sie zu entschuldigen. Das stresste ihn sehr. Er versuchte zu bremsen.

„Was soll das?“, schimpfte Nessie. „Siehst du den Baum da zwischen den Menschen. Da müssen wir hin!“

Sie ließ Coke los. Sie rannte allein. Sie drängte sich durch die Menschen. Die sangen den Refrain des Liedes inzwischen mit. Den letzten Refrain und als sich Nessie endlich zum Baum durchgekämpft hatte. Als sie die erste Reihe durchbrach. Als sie im Rund herumlief, um den Sänger hinter dem dicken Baumstamm zu finden, war Marlon bereits wieder weg. Selbst Susi hatte nicht gesehen, wohin er verschwunden war. Doch jetzt sah sie Nessie. Sie sah Nessies Enttäuschung und ihren Zorn auf Coke.

„Warum warst du so langsam? Das war deine Schuld, Coke!“ Jetzt erst bemerkte sie das Fehlen des Freundes. „Coke? Wo steckst du?“

Sie drehte sich um. Sie lief im Kreis um den Baum.

„Coke! Verdammt! Ich bin nicht deine Nanny!“

„Dafür dank ich dem ‚Wen-Auch-Immer-Du-Willst‘!“ Sie hörte Cokes Antwort. Sie sah ihn noch nicht. „Weißt du warum?“

„Nein. Ich will es nicht wissen.“

„Aber ich sag es dir trotzdem. Nessie! Selbst ein Nerd wie ich will keinen Spacki wie dich als Kindermädchen haben.“

„Wow! Bist du cool. Und was soll ich damit?“

„Du könntest herkommen. Ich mein, du hast doch gewollt, dass ich meine Brille benutze.“

„Was? Heißt das, Du hast ihn? Aber ich kann dich nicht sehen. Coke!“

„Er sitzt in einem der Liegestühle.“

„Den blauweißen oder den roten?“

„Rot ist für mich grün. Aber sonst sind wir uns einig.“