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20 Geschichten aus den Bereichen Horror, Weird Fiction und Fantastik. Teil 1 + Teil2 der "Horrorgeschichten aus dem Abyss" in einem eBook. Darin enthalten: Wie die Götter speisen, Unauslotbare Tiefen, Morgenspaziergang, Die Bilder des Grafen, Dunkler Reigen, Die Armee der Anderen, Allein mit dem Guru, Der Träumer erwacht, Unter der Sonne von Yabalon-Xi, Ein Teufel, Frischer Fisch, Deus ex Machina, Der Eremit, Wald der Monster, Extinctor Fortis, Jagd auf den bösen Zwerg, Das Grauen vom Sacramental-Hill, Schnittergeist, Die Sammlung von Woith, Metamorphose
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Seitenzahl: 495
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HORRORGESCHICHTEN
AUS DEM ABYSSGesamtausgabe
Robert Grains
Wie die Götter speisen
Metamorphose
Unauslotbare Tiefen
Unter der Sonne von Yabalon-Xi
Die Armee der Anderen
Morgenspaziergang
Allein mit dem Guru
Wald der Monster
Der Träumer erwacht
Ein Teufel
Der Eremit
Frischer Fisch
Deus ex Machina
Dunkler Reigen
Jagd auf den bösen Zwerg
Schnittergeist
Die Sammlung von Woith
Extinctor Fortis
Das Grauen vom Sacramental-Hill
Die Bilder des Grafen
Der Pfad von St. Mephis (Leseprobe)
Impressum
Bis zum heutigen Tage habe ich den Weg zu jenem eigenartigen Ort und seinen Wundern nicht mehr gefunden. Ich erinnere mich noch vage, dass der Straßenname ein französischer war, ähnlich L'Opale oder St. Martin. Ein alter Bekannter hatte mich kurzfristig zu jener Veranstaltung eingeladen, und ich folgte seinem Vorschlag gerne.
Wir suchten den Ort des Geschehens zur Mittagsstunde auf, und bald schon ließen wir den Lärm der Stadt hinter uns, um in einem der verlassenen Außenbezirke der Metropole das Ziel zu erreichen. Dort, unweit eines alten Rangierbahnhofs, längs einer regennassen bordsteinlosen Kopfsteinstraße, erstreckte sich eine mächtige Fabrikhalle aus der Frühzeit der Industrialisierung. Im Inneren des Gebäudes wurde ich sogleich von einer wundervollen, ebenso wärmenden wie imponierenden Pracht überrascht. Schlanke, großformatige Außenfenster unterbrachen in regelmäßigen Abständen die mit edlem Mahagoni vertäfelten hohen Innenräume. Die tatsächliche Größe der Anlage war mir damals unmöglich zu bemessen, und heute noch vermute ich, dass der Bankettsaal, den wir bald betraten, einzig infolge des Abgehens einer spezifischen Kombination von Treppenläufen und steilen Stiegen sowie des Durchquerens bestimmter weiträumiger, mit musivischem Fußboden versehener Tanzhallen und Salons zu erreichen war. Hier und da war Geschäftigkeit zu erkennen; adrett gekleidetes Personal ordnete Kristallgläser zu beeindruckenden Champagnerpyramiden an und nahm dabei bloß beiläufig Notiz von uns.
Bald schon setzte ich mich meinem Bekannten zur Linken an den unteren Teil eines mit goldbestickten roten Seidentüchern dekorierten Tischarrangements in Hufeisenform. Mir gegenüber, im rechten Winkel, saß der Gastgeber. Er trug einen maßgeschneiderten schwarzen Anzug mit Gehrock, und sein glattgekämmtes, zu einem kurzen Zopf geflochtenes Haar ließ feine, aristokratische Züge in einem dunkeläugigen Gesicht mittleren Alters erkennen. Zu beiden Seiten, den weitläufigen Saal zur Gänze ausfüllend, waren weitere dieser Festtafeln zu sehen, an denen sich ebenfalls eine erlesene Gesellschaft eingefunden hatte. Rot, Gold und Elfenbeinweiß waren die hier vorherrschenden Farben, die nebst dunkelbraun schimmernden, im Empirestil verarbeiteten Tropenholzoberflächen von luxuriösen Kristallkronleuchtern erhellt wurden.
Als ich über meine Schulter spähte, erkannte ich, dass die hohe Wand hinter mir eine durchgängige Glaskonstruktion darstellte, die von kaum sichtbaren Messingstreben getragen wurde; und während es im Inneren des Bankettsaals taghell war, verwehrte mir das Zwielicht des mittlerweile angebrochenen Abends einen genauen Blick nach draußen.
Zur Rechten unseres Gastgebers hatte derweil eine von prächtigem Granatschmuck überreich gezierte Dame fortgeschrittenen Alters Platz genommen. Ihr anachronistisches, weitgeschnittenes Ballkleid war von hellorangener Farbe, und obschon sie für jenen Anlass einiges an Kosmetik aufgetragen hatte, ließ ihre braunrote Fontange sie wie eine Emissärin einer längst vergangenen Epoche wirken. Zu meiner Linken bemerkte ich Claude, eine junge Halbasiatin von hohem Wuchs und athletischer Statur. Ihr Collier war, wie auch ihr Fingerschmuck, mit dunklen Türkisen besetzt, und das tiefschwarze Haar eines dezenten Pagenschnitts umfasste ein wohlproportioniertes Gesicht von intelligentem Ausdruck. Sie war mit ihrem schulterfreien Oberteil um einiges moderner gekleidet als ihr Gegenüber und höchstens dreiunddreißig Jahre alt.
Ich war gute Gesellschaft durchaus gewohnt, doch der Umstand, dass meine verhältnismäßig gewöhnliche Kleidung dem namenlosen Ereignis augenfällig nicht entsprach, ließ eine subtile Barriere zwischen mir und den Anwesenden bestehen – die jedoch schon bald fallen sollte. Ich nahm wahr, wie die beiden Damen damit begannen, ihre Beine unter dem Tisch gegen etwas zu reiben. Nun kamen sie mit diesem Spiel zu mir herüber, und als ich mich noch wunderte, was für eine Merkwürdigkeit hier wohl vorbereitet wurde, sprang zu meiner großen Überraschung ein schwarzer Panther unter der Tischdecke hervor und kam mit seinem Oberkörper auf meiner Brust zum Liegen. Seine großen, im Lichterglanz des Bankettsaals hellgrün leuchtenden Augen mit ihren tiefschwarzen Pupillen blickten in die meinen, und die Aufmerksamkeit der Gäste verharrte ebenso erstaunt wie begeistert auf dem bemerkenswerten Vorgang. Das juvenile Tier trug eine metallene Krause um den muskulösen Hals, und während das Gewicht seines majestätischen, schwarz schimmernden Körpers warm und spürbar auf meiner Brust ruhte und sich einer kraftvollen Atmung folgend regte, wäre ich um ein Haar mit meinem Stuhl nach hinten gekippt; doch wie von Geisterhand gelang es mir, die akrobatische Lage zu meistern.
Nun war der Bann gebrochen und ich bemerkte, dass man mich nicht bloß in den illustren Kreis jener elitären Verbindung aufgenommen, nein, sondern, wie mit einem geheimnisvollen Mal versehen, als einen Artverwandten anerkannt hatte. Nachdem sich die Großkatze wieder dorthin zurückgezogen hatte, von wo aus sie jüngst zum Sprunge angesetzt, reichte der schwarz gekleidete Gastgeber die erste Speise des Abends. Dabei behielt er den Teller mit dem filetierten und fein säuberlich aufgeschichteten dunkelroten Fleisch beharrlich in der Rechten. Ich sollte zugreifen und sah, dass mir die reizende Mademoiselle, jene ältere Dame und auch mein Bekannter gespannt abwartend den Vortritt gewährten. Ich fasste eine der vorderen Scheiben und bemerkte, wie sich die eleganten türkisgezierten Finger Claudes bereits nach dem nächsten Stück streckten. Der sich anschließende Geschmack war mit nichts vergleichbar, was ich und, so wurde mir zwischen jenen Augenblicken bewusst, auch kaum ein anderer Mensch auf diesem Planeten je genossen hatte. Zuerst nahm ich an, es würde sich um Wildlachs handeln, doch als ich den tiefbitteren, zugleich hochedlen Geschmack auf meiner Zunge zergehen ließ, musste mich niemand der Anwesenden darauf hinweisen, dass es sich bei dieser Köstlichkeit um das rohe Fleisch eines Panthers handelte.
Nach dem Mahl hielt ich mich noch einige Zeit alleine in den langen Korridoren und aufwendig eingerichteten Räumen des Gebäudes auf. Überall suchte ich nach der schönen Claude, doch konnte ich sie nicht finden. Nachdem ich in einem der vielen holzvertäfelten, mit Pavé mosaique geschmückten Treppenhäuser ein großformatiges, aufwendig gestaltetes Emaillebild bestaunt hatte, das einem Triptychon verwandt das Leben eines Zirkuselefanten verherrlichte, führte mich mein ruheloses Wandern in die oberen Bereiche der Anlage, wo ich unvermittelt auf den dunkelgewandeten Gastgeber in seinen privaten Gemächern traf.
Hier würde ihn für gewöhnlich niemand aufsuchen, das wusste ich. Wir wechselten keine Worte, vielmehr übergab er mir wohlwollend eine frisch zubereitete Fleischplatte von augenscheinlich höchster Qualität. Unter einer Frischhaltefolie erkannte ich hauchdünne rosafarbene Scheiben, fein säuberlich angerichtet, ähnlich der exquisiten Delikatesse, die ich zuvor in seiner Gegenwart kostete.
Der Wert jenes Geschenks war mir bewusst; ich nahm es dankend entgegen und mit nach Hause. Dort verspeiste ich es … Wahrlich, ein Teil von Claude wird für immer bei mir sein, und ich weiß nun, wie die Götter speisen.
Es war bereits Nachmittag, als ich erwachte. Die wenigen Stunden meines ruhelosen Schlafes waren von luziden Albträumen geprägt gewesen, zudem das zu Beginn bezaubernde, doch mittlerweile bloß noch verstörende Polarlicht, das nach wie vor selbst in unseren Breitengraden unübersehbar prangte, dem nächtlichen Firmament einen ominösen Glanz verliehen hatte. Kurzum, die allgemeine Lage war anstrengend, ermüdend – bereits seit über einem Monat war dies der Fall. Letzteres galt auch für die mächtigen geomagnetischen Turbulenzen, über deren exakte Bedeutung in wissenschaftlichen Kreisen fortlaufend Uneinigkeit herrschte.
Nun, ich war mir indes sicher: Zwischen den fortwährenden Stromausfällen, der generell grassierenden Schlaflosigkeit, den unerhörten Gewaltexzessen und den gerne vertuschten Ausbrüchen spontanen Wahnsinns sowie überwunden geglaubter Seuchen würden Korrelationen unheiligster Couleur bestehen. Das Auftreten von Sonnenstürmen war natürlich kein Novum, doch die Frage, welche alarmierte Stäbe rund um den Globus mit Nachdruck an die Astronomen richteten, war ebenjene: »Wann endlich werden die massiven Eruptionen auf dem Zentralgestirn abflachen und die Dauerbombardements der Ionosphäre durch die hochenergetische Teilchen tragenden Plasmawolken stoppen?«
Die Ordnung der Opportunisten, die Herrschaft der Konzerne, das System, welches viele von uns nach wie vor als Zivilisation bezeichneten, hatte ohnehin mit einer Unzahl an ökologischen, wirtschaftlichen und technischen Problemen zu kämpfen, und man musste nicht zwangsläufig die Ansichten jener vermehrt auftretenden Untergangspropheten teilen, um in den aktuellen Vorgängen eine Art Damoklesschwert zu erkennen, welches nach Zeiträumen stummen Lauerns kurz davor war, das lepröse Haupt eines unheilbar Dahinsiechenden vollends zu verheeren.
Ich überlegte, ob es ratsam sein würde, heute noch fortzugehen, zugleich die unerträgliche Hitze der Nachmittagsstunden bleiern zwischen den hohen Betonfassaden der Arbeitersiedlung brütete – und wie sie so unerträglich verweilte, trieb sie mich schließlich auf die Straße hinaus. Ich verließ mein stickiges Quartier im dreizehnten Stock, um mich über eine der Pontonbrücken in Richtung urbanen Lebens aufzumachen. Die lichtreflektierenden Applikationen des wind- und wettergefurchten, mit verblassten Gebetsfahnen geschmückten Basalturms von Ud'ullan lotsten meine Schritte auf rostbefallenen, quietschenden Metallelementen über das übelriechende Wasser des von Algen befallenen, kaum noch strömenden Flusses, der einst die Lebensader dieses Distrikts bildete. Die geschäftigen Fischer waren verschwunden, Jünger eines unbekannten Gottes erschienen – lagernd, auf den ausgedorrten Wiesen vor der Stadt. Hier und dort hatten sie purpurfarbene, ornamentbestickte Prunkzelte sowie archaische, mit unbekannten Keilschriftzeichen behauene und reich beopferte Steinaltäre errichtet.
Während ich unter dem grellen Tagesgestirn, das seine sengenden Strahlen unnachgiebig durch eine schwindende Ozonschicht sandte, die Flusspromenade entlangschlenderte, nahm ich eine Duftkomposition aus feuchtem Safran und schmorenden Schlachtabfällen wahr, welche die in Erwartung eines reinigenden Unwetters ohnehin flirrende Hochsommerluft weiter korrumpierte, und sichtete einen Schwarm Wildgänse, wie er, den Fluss zügig überquerend, das wolkenlose azurblaue Firmament durchzog. Womöglich hatte ein gleichgültiger Zeitgeist die bemitleidenswerten Geschöpfe als ein weiteres, ein böses Himmelszeichen gesandt, erkannte ich doch schon von Weitem ihre verkrüppelten, von eitrigen Beulen geschlagenen Umrisse. Angewidert bedeckte ich den Mund und passierte gesenkten Hauptes einige Familien, die sich gehetzt und mit Rationen unter den Armen auf dem Rückweg zu ihren Quartieren befanden. Bei den brutalen Temperaturen dieser sonderbaren Tage war es kaum möglich sich ohne Anstrengung fortzubewegen, und während ich mir beißenden Schweiß von der Stirn wischte, bog ich entlang massiver grüngrauer Steinquader einer längst vergangenen Epoche von der Flusspromenade in eine der engen kopfsteingepflasterten Gassen der vorderen Altstadt ab.
Ebenda, in den Schatten altersmorscher Gebäude, gefiel es mir schon besser, und ich genoss die willkommene Abkühlung, wenn auch Echos enthemmt tönender Stimmen und bedrohlichen Bellens im architektonischen Durcheinander des Bezirks widerhallten. Einst lag hier der angenehme Geruch lokaler Köstlichkeiten in der Luft, doch seit aufgrund neuerlicher Unruhen und der Gerüchte von Seuchenausbrüchen in den Grenzgebieten die Lebensmittelrationierung wieder eingeführt worden war, zeugten lediglich vereinzelte Brotkrumen zwischen den unregelmäßigen Pflastersteinen von den aktuellen kulinarischen Vorlieben der Städter.
Für einige Zeit wanderte ich also durch die entvölkerten, schlauchartigen Gassen der Altstadt. Ihre bordsteinlosen Straßen zeigten sich von Automobilen befreit, und oftmals hielt ich ebenso erstaunt wie bestürzt inne, um eines klaffenden Loches ansichtig zu werden, das sich fortan anstatt eines unlängst noch an jeweiliger Stelle befindlichen Gründerzeitbaus dunkel gähnend auftat. Die meisten dieser offenbar künstlich entstandenen Schlünde führten in eine namenlose Tiefe, deren greifbare, das Tageslicht verzehrende Schwärze meine fragenden Blicke bannte. Überquellende Mülleimer, stinkende Exkremente und beschädigte Kleinmöbel säumten die steilen Passagen in diese unheimlichen Gruben, und als mein abermaliges Starren in eine der wirbelnden Dunkelheiten von dem kaum hörbaren Winseln einer Flöte erwidert wurde, erschauderte ich und setzte meinen Ausflug zügiger fort. Als sich dann das tieftönende Orgelspiel des Basalturmes von Ud'ullan, das Nahen der Abendstunden verkündend, wie eine Woge dunkler Strömung in den menschenleeren Altstadtgassen brach, plante ich einen raschen Abstecher in die Innenstadt. Ein solcher würde mich nicht mehr als vierzig Minuten kosten, und nach einem Blick auf die Uhr war ich zuversichtlich, mich bereits vor Einbruch der Dämmerung auf dem Rückweg zu befinden.
Um etwas Zeit zu sparen, durchquerte ich den zentral gelegenen Stadtbahnhof und bemerkte einen ungesund süßlichen Geruch, der sich hartnäckig zwischen den von verblassten Deckengemälden und zertrümmerten Kapitellen gezierten Rundbogenhallen des Verkehrsknotenpunktes zu halten schien. Auf dem von zahlreichen Obdachlosen bewohnten und durch Miliztruppen patrouillierten Vorplatz angekommen, störte ich mich sodann merkwürdigerweise an der angelehnten Türe zu einer augenscheinlich aufgegebenen Lebensmittelausgabe. Ich betrat die Einrichtung, um in einem der rückwärtig gelegenen Räume eine geöffnete, mit archaischen Zeichen gravierte Kellerluke zu entdecken. Finsterkeiten, von süßlichen Blutdämpfen gespeist, drangen nebst enigmatischen Frequenzen aus ihr hervor, und so sehr ich mich auch bemühte, dieses Mal konnte ich dem Winseln der Flöte nicht widerstehen. Auf schmalen Stufen ging ich ihm entgegen – hinab, hinab in die Unterwelt. Hier nun traf ich sie …
Solch hochgewachsene, feingliedrige Exoskelette mit peitschenlangen Kopffühlern waren typisch für den Entwicklungsstand ihrer Rasse zu Zeiten des Pleistozän. Im Schein eines hässlich verschmierten Oberlichts schälten sich die Chitinleiber dieser mich weit überragenden, sechsbeinigen Grazien schimmernd aus der Dunkelheit, und ein hinter den irisierenden Ommatidien der immensen Facettenaugen stoisch lauernder Geist nahm alsbald Platz in meinem Verstand – das verdrängend, was ich bei Tage auf solch erbarmungswürdige Weise meinen Willen nannte. Zwischen zahllosen aus Onyxmarmor gefertigten, bis zum Bersten mit abgetrennten menschlichen Arm- und Beinpaaren gefüllten, blutbesudelten Containern zeigten sie mir in einer gigantischen unterirdischen Lagerhalle die jüngst geborgenen Mumien ihrer Priesterkönige, säuberlich aufgereiht, von unfassbar altem, verglastem Sand bedeckt. Jene balsamierten Edlen verharrten bereits seit unzählbaren Sonnen, lange bevor der dunkle Pharao Tanotamun den Segen der Nebet-hut über die Dünen oberhalb der uranfänglichen Schwarmstadt herabgerufen hatte, in Wonneträumen von Wiederauferstehung, neuerlichem Leben, alter Herrschaft. Bald schon würden solare Emanationen, kosmische Verwerfungen ihre Prachtleiber mit urgeistigen Essenzen fluten und wiederauferstehen lassen. Dann wiesen mir die karmesinroten Prätorianer mit ihren sichelscharfen Fangarmen einen Weg hinab in die nicht enden wollende Tiefe – Gaias Schoß, steil und des Acherons Ufer verwandt –, weiter abwärts, in Richtung einer fremden, nie zuvor erträumten Welt …
Wie lange ich dort weilte, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Bloß so viel: Es war Nacht, als ich an ein rostiges Gitter der Flusspromenade lehnend wieder zu Bewusstsein kam. Es bedurfte Zeit und Kraft, um mich aufzurichten und einen sicheren Stand zu finden. Ebenso verwirrt wie taumelnd, machte ich mich zügig auf den Weg in Richtung Arbeitersiedlung. Vorbei an einem mittlerweile vollständig entwässerten und von übelriechendem, blasenschlagendem Schmutz sowie Algenresten bedeckten Flussgrund sah ich gigantische Flammennester auf den Wiesen vor der Stadt wie von typhonischer Wut geleitet lodern. Mit größter Anstrengung kletterte ich eiligst, ohne Zuhilfenahme meiner Hände, über eine kollabierte Behelfsbrücke, und im ängstigenden Schein ferner, die Altstadt vollends verheerender Vernichtungsfeuer gelang es mir schließlich, die andere Seite der sterbenden Metropole zu erreichen. Beißende Rauchgase, Asche und das unruhige Astralglimmen entfesselter Elementargeister stiegen in die ohnehin rabenschwarze Finsternis dieser kataklysmischen Nacht empor und verwehrten der vermutlich boshaft gleißenden Aurora Borealis einen zynischen finalen Tanz zu Ehren der nun ausklingenden Herrschaft des planetaren Usurpators. Lediglich die Annihilationsgeräusche verheerter Bausubsubtanzen, die dem erbarmungslosen Wüten des erstgeborenen Elements folgten, verliehen der gespenstischen Stille einen wenn auch zutiefst schockierenden Unterton.
Die finalen Meter zu meinem Quartier nahm ich tänzelnd und irre delirierend ob der befreienden Unausweichlichkeit des bevorstehenden Endes. Mehrmals ging ich in der Mitte dieses Tartarosinfernos in die Hocke und sprang wild brabbelnd, grotesk nickend wieder aus ihr hervor. Wäre mir ein bemitleidenswerter Überlebender in diesem Moment begegnet, ein derartiger Anblick hätte sein Ich mit der seelenschlachtenden Macht des wahrhaftgewordenen Wahnsinns gewiss aus seiner fleischlichen Hülle katapultiert oder für immer darin eingeschlossen. Ich rang nach Luft, mir wurde schwindlig, und mit unnatürlich langen Schritten preschte ich voran. Die Eingangshalle des Gebäudes zügig betretend und durchquerend, das gläserne Treppenhaus wie ein tollwütiges Tier durchzuckend, warf ich mich unter gewaltigster Anstrengung und wild keuchend von links nach rechts, nach oben strebend die engen Stufen hinauf. Der die Höhe des Horizonts einst dominierende Basaltturm von Ud'ullan war vergangen, und inmitten des Emporpeitschens avernalischer Feuerzungen, bereits bedrängt von allesvertilgender Glut, nahm ich die letzten peinigenden Meter in mein Quartier.
Hier nun werde ich mich zum Sterben betten. Die anderen sind längst vorausgegangen, und auch meine Zeit ist gekommen. Schweißgetränkt, von Rauch und Ruß umgeben, lasse ich mich ungelenk auf das glimmende Bett fallen …
Die karmesinroten Hexapoden, die gepanzerten Hüter der verborgenen Mastaba, hatten mich tief in ihr unterirdisches Reich geführt. Bloß ein flüchtiger Blick, gewiss, aber dennoch genug, um nicht völlig ahnungslos zu sterben – so wie meine Artgenossen. Auf weiten Ebenen kokonbestandener, von erkalteter Lava gedüngter Zuchtfelder bewunderte ich die blinden, breit grinsenden Brüterinnen des antediluvianischen und des nun anbrechenden neuen Zeitalters. In der Gegenwart hundsgroßer, exotisch gefärbter Prachtkäfer teilte ich die Fieberträume gestaltloser Spiralnebelbewohner, spürte ich deren ekstatische Vorfreude auf bevorstehende Inkarnationen in telepathisch begabte Hüllen aus dielektrischem Chitin und filigran vernetzten Ganglien. Während ich dem flötenhaften Nachtgesang der im Schlüpfen befindlichen Zucht andächtig lauschte, ließ ich inmitten einer blasphemisch aufgeblähten Vegetation aus ekelerregenden Pilzkolonien pervers glotzende, wanzenähnliche Bestien mein vor Furcht kochendes Blut einem süßen Nektar gleich genießen. Ich war Zeuge, als sich ein von einem mit zuckenden Rüsseln und öligen Käferaugen übersäten, fluoreszierenden Wechselbalgmonster angeführter Heereszug irrwitzig herausgeputzter, tausendfüßlerartiger Chimären in Richtung eines der dunklen Schächte zur Oberwelt zwängte, um auf einen bald schon zu ergehenden Befehl hin den Tod in das Reich der Menschen zu tragen. Dabei schwebten neonfarbene, riesigen Zikaden ähnelnde Schreckenskreaturen zwischen den Stalaktiten des subterranen Aufmarschgebiets und folgten den Landstreitkräften mit reich verzierten Kanopen voll des brandgebärenden Zorns einer aus äonenaltem Dunkel wiederauferstehenden Zivilisation in den Klauen.
Das Experiment, welches einst in Gaias paradiesischen, von artenreicher Vielfalt geprägten Urtropenwäldern unter vergessenen Konstellationen mit dem Aufrichten der Wirbelsäulen einiger Großprimaten begonnen hatte, sollte nun ein Ende finden. Benebelt, verstört, doch zugleich fasziniert aufgrund der enigmatischen Eindrücke und Andeutungen inmitten dieses abyssalen Refugiums chthonischer Mächte, durfte ich in einer der zahllosen, von künstlichen Polarlichtern illuminierten und von sporentragenden Orkusnebeln durchzogenen Nymphenkammern eine Auswahl ihrer blökenden Jungen beim Mahl beobachten. Ich war zugegen, als sie fraßen – diese Happen, diese furchtbaren Happen … Für einen flüchtigen Augenblick hatte ich in jenem ungeheuerlichen Abgrund der von biolumineszierenden Myzelien erhellten Gliederfüßer-Nekropole die bereits manifeste Zukunft des Planeten geschaut, und so erlosch in mir jeglicher Lebensmut. Da ich Verständnis für ihre nach kosmischen Zyklen ausgerichteten Absichten zeigte, gewährten sie mir einen letzten Wunsch. Ich bestand lediglich darauf, in einer mir vertrauten Umgebung sterben zu dürfen.
Und da liege ich nun, halb ohnmächtig, das nahende Ende erwartend. Der Übergang ist fast vollzogen. Ich werde meine irdische Manifestation in Frieden von reinigender Lohe hinwegtragen lassen. Die Dinge, die ich in jener verborgenen Welt gesehen, die tonlosen Stimmen, die ich in ihr weilend vernommen habe, verleihen mir im mitleidlosen Angesicht des Todes eine gewisse Gelassenheit. Denn nichts behält seine Form; kostbar ist bloß Erkenntnis – sie bleibt. Alles, was ich je sah und sehen werde, sind Masken, Myriaden bunter Masken des einen und allgegenwärtigen Geistes – ein gigantisches Spektakel changierender Zeitalter, ein kosmisch-flamboyanter Karneval!
Ja, mein Bewusstsein wird nun in die lichtlose Leere einer kurzweiligen Nichtexistenz eintauchen, um befreit und erneut seinen Platz zwischen den pilgernden Geisternomadenstämmen funkelnder Spiralnebel einzunehmen. Ich freue mich bereits darauf, eine dem Helios, dem Ra, dem feurig schwarz opalisierenden Sorath geweihte, eine den unbekannten Gott verherrlichende solare Traumflut berauscht zu durchschweben, um dann schon bald in neuer, verfeinerter Form meinen flötenhaften Nachtgesang auf geheimnisvollen Orkusnebeln durch die ewigen Tiefen des Planeten klingen zu lassen. Sattgefressen an jenen furchtbaren…, an jenen schmackhaften Happen, den verwertbaren Teilen der einstigen Erdenbewohner, werde ich an die transformierte Oberfläche hinaufkrabbeln, um unter den Konstellationen kosmischer Zyklen eine einzig dem Erhalt der Schöpfung gewidmete Existenz zu führen. Im Gefolge hochweiser Priesterkönige, deren Seelen einst zur Rechten des Großen Architekten durch die winkellosen Räume hinter der wägbaren Wirklichkeit wandelten, wird eine jede meiner vielgliedrigen Bewegungen im Einklang mit einer Wahrheit stehen, die weder einen Anfang noch ein Ende kennt. Doch zuvor gilt ein letzter, von einem Gefühl eigenartiger Dankbarkeit geleiteter, allzu menschlicher Gedanke wundersamen Schreckens dem Verstand der Herrscher des soeben angebrochenen neuen Weltzeitalters.
Hatte es doch nicht einmal gezwickt, als sie in einer ihrer Untergrundhallen Hand an mich legten. Das, was sie aufgrund des steten Hungers ihrer Jungen benötigten, so eifrig herbeischafften und klug bevorrateten, nahmen sie von mir und warfen es hinterrücks in einen der blutbesudelten Marmorcontainer; die beiden Wunden kauterisierten sie schnell und mit allerhöchster Präzision. Sie waren meinem Wunsch, dem unausweichlichen Ende in meinem Quartier begegnen zu dürfen, ebenso effizient wie verständig nachgekommen. Sie hatten mir die Wahl gelassen, und so – ja es war ohne Frage die richtige Entscheidung gewesen – durfte ich meine Beine behalten.
Die jüngste Episode stellte die bislang aufregendste meines jungen, den Meereswissenschaften gewidmeten Lebens dar, und durch die gedankliche Rekonstruktion der zurückliegenden Ereignisse versuche ich, die Verstandesklarheit wiederzuerlangen, die in einer derartigen, noch nicht vollends ausgestandenen Notsituation unentbehrlich ist. Mein Zeitgefühl habe ich wohl im Zuge des Auftauchmanövers eingebüßt, weshalb ich bloß mutmaßen kann, dass sich mein Erwachen aus einer dumpfen Bewusstlosigkeit vor Stunden zutrug.
Seit Wochen hatte Capitaine Dubais die Crew auf diesen besonderen Tauchgang vorbereitet, und dann, als es so weit war, bedurfte es bloß einer beliebigen Unvorhersehbarkeit … Kurz bevor mein Gefährt mit einem nicht näher definierbaren Objekt kollidierte, hatte ich die Ausläufer eines enormen Tiefseegebirges in den gleißenden Lichtkegeln der Suchscheinwerfer ausmachen können. Dann gab es einen plötzlichen Ruck, gefolgt von einer starken Turbulenz, einen metallischen Schlag auf schroffes Gestein, und bald darauf erwachte ich aus jener vorerwähnten dumpfen Bewusstlosigkeit. Aye, ich erwachte, gehüllt in Finsternis – Finsternis und Stille.
Die aus Stiftungsgeldern finanzierte Forschungsmission musste definitiv als gescheitert betrachtet werden. Der Aufprall hatte das Tiefseetauchboot mit der Bezeichnung FNRS-5 stark beschädigt, und ich saß gefangen, mich sorgenschwer fragend, ob der steinige Grund alsbald weiter nachgeben und mich in eine nie geschaute Welt absonderlicher Wunder hinabreißen würde. Die Unterseite des nautischen Gefährts war gefährlich zerbeult, fast durchschlagen, das Licht der daran angebrachten Scheinwerfer erstickt, das Antriebssystem irreparabel beschädigt worden; das Greifer-Paar und die kleineren, oberseitig montierten Lichtquellen befanden sich ebenfalls außer Betrieb. Der noch intakte Bordcomputer hüllte das Innere meines kalten, potentiellen Sarges in einen absonderlichen Grünspanglanz und beschwor so, gespeist vom unsteten Flackern einzelner Digitalanzeigen, eine phantasmagorische Atmosphäre, deren subtile Verheißung drohenden Unheils lediglich von jener mich umschließenden tiefschwarzen Finsternis übertroffen wurde, in der sich meine adrenalingepeitschten Blicke suchend verloren. Einzig einem gar befremdlichen Glimmen, einer geisterhaften Manifestation in schätzungsweise zwei Seemeilen Entfernung – vermutlich von ebendem submarinen Gebirgszug ausgehend, den ich kurz vor dem abrupten Absinken gesichtet hatte – wurde ich außerhalb meines Gefährts gewahr.
Von Zeit zu Zeit erschien sie, jene an einen illuminierten Bischofsstab erinnernde, scharlachrot und neon-blau leuchtende Silhouette. Entweder drang diese aus einem der vermutlich unzähligen, das Gebirge durchziehenden Schlünde, oder schob sich wie das Haupt einer mythologischen Seeschlange von unrealistischen Ausmaßen über dessen Kamm. Die genauen Dimensionen der Erscheinung abzuschätzen, stellte eine Unmöglichkeit dar, und ich gab mich mit dem willkommenen Einfall zufrieden, demnach es sich bei ihr um einen enormen Zusammenschluss biolumineszenter Polychaeta oder um eine Kolonie von Riftia pachyptila handelte, wie sie dem Anschein nach wohl selbst in diesen Tiefen des Hadopelagials vorkamen, zugleich augenfällig war, dass sie die von ewiger Nacht umwogte Höhe voraus ihr Domizil nannte und dabei von einer steten Meeresströmung bewegt wurde. Wie auch immer, beschriebene Ansicht trug logischerweise nicht zu einer notwendigen Verstandeskühle bei, au contraire. Hinzu kam, dass ich wie alle Tiefseeforschenden natürlich jenen einen speziellen Roman aus der Feder Jules Vernes kannte, in dem der Grandseigneur nicht bloß die Nutzung des Unterseebootes antizipierte, sondern in unison mit altbewehrtem Seemannsgarn sowie in vorauseilendem Gleichklang mit modernen kryptozoologischen Theorien Poseidons Reich mit ebenso enigmatischen wie monströsen Geschöpfen zu bevölkern wusste. Gewiss, gleichzeitig mein wissenschaftlicher und gegen jede Spielart der Thalassophobie gefeiter Verstand mich der zahlreichen Expeditionen gemahnte, während derer mir nie etwas unter die Augen gekommen war, das den Kopfgeburten fantasiebegabter Laien irgendein Fundament hätte verleihen können.
Dennoch, die Gesamtszenerie behagte mir ganz und gar nicht. Immerhin war die massive Frontscheibe unversehrt geblieben, gottlob, und über den Bordcomputer gelang es mir schließlich, einen Funkspruch abzusetzen. Ich wiederholte den Vorgang dreimal, wissend, dass der Zeitfaktor nicht auf meiner Seite war. Wie lange die Hülle infolge der erlittenen Beschädigungen noch intakt bleiben würde, konnten bloß Undinen oder die unerlösten Seelen ertrunkener Kaperfahrer raunen – ein Umstand, der Eile implizierte. Die Funksprüche wurden unterdessen nicht erwidert, und mit Ausnahme eines repetitiven Rauschens, das zeitweise von einem tieffrequenten Dröhnen und einem befremdlichen rhythmischen Krächzen überlagert wurde, drangen keinerlei Frequenzen aus der Empfangsanlage. Diese neuerliche Sonderbarkeit trug ihren Teil zur Strapazierung meiner Nerven bei, und mit zitternden Händen versuchte ich, mittels der eingebauten Peilvorrichtung die Koordinaten der Astéries zu bestimmen. Sie hätten dem anstehenden Abandonnieren eine Richtung verliehen, doch offenbar war auch diese technische Spielerei den Beschädigungen zum Opfer gefallen, denn laut Bordcomputer befand sich unser Forschungsschiff unweit meines eigenen Aufschlagpunkts, wenn auch etwas weiter östlich, in Richtung des Gebirgszugs.
Sämtliche Möglichkeiten waren ausgeschöpft. Ich wusste, dass die Luft zuneige ging, und der Fakt, dass sich die Sauerstoffanzeige während der letzten Minuten nicht bewegt hatte, mehrte in mir das Gefühl notwendiger Dringlichkeit. Doch einen Moment verharrte ich noch vor dem stabilen Rundfenster, das mich von der abyssalen Finsterkeit trennte, und ertappte mich erneut, wie ich jenes sich in relativer Ferne windende, gespenstisch glimmende Phantom gebannt beobachte. Soeben war es ein weiteres Mal hervorgekommen, um sich von einer unbekannten Kraft beseelt, einem kolossalen Borstenwurm verwandt, in der Lichtlosigkeit zu regen. Sein Umriss wurden unablässig durch das hypnotische Changieren rot-blauer Farbtöne definiert, und mir irrlichtete der peinigende Gedanke durch den Sinn, wonach es sich hierbei um den Fangarm eines aus leviathanischem Tiefseegigantismus hervorgegangenen Ungetüms handeln könnte, das möglicherweise hinter der Gebirgswand, dem Hort unzähliger Kopffüßer-Katakomben, versteckt lag.
Nun, sollte meine Rückkehr an die Oberfläche gelingen, so dachte ich, könnte ein abermaliger Tauchgang zu ebendieser Stelle lohnend sein. Vielleicht würden wir auf eine weitere Art Siboglinidae oder eine gar unbekannte Nesseltiervariante stoßen. In jüngster Zeit waren zwar einige neue Lebewesen in den spärlich erforschten Tiefen der Ozeane entdeckt worden, doch wurde mir in jenem Moment ein weiteres Mal bewusst, wie bescheiden es doch eigentlich um die Erkenntnisse hinsichtlich unseres zu70 Prozent von Wasser bedeckten Paradieses zwischen den Kadavern nie befruchteter Gestirne bestellt war. Zugegebenermaßen wäre mir wohler gewesen, vollkommen allein in der ohnehin nervenstrapazierenden Dunkelheit des Abgrunds zu erschaudern, denn obschon ich durchaus eine Gelehrtenmeinung dazu besaß, konnte ich nicht vollends sicher sein, welche Kreaturen das mich umgebenden Tiefseeareal letzten Endes durchziehen würden. Die Undefinierbarkeit des fernen Leuchtens machte mir dies schmerzlich bewusst.
Zu viel Zeit war bereits verstrichen, ich musste definitiv von Bord gehen, weshalb ich mich über die Schulter schauend nach achtern begab, hoffend, dass sich das ominöse Etwas wieder hinter den Gebirgskamm oder in seine angestammte Höhle zurückziehen würde. Die Kontrollanzeige neben dem Notfallmodul ließ dessen vorschriftsmäßigen Zustand erkennen. Dem vertrauend betätigte ich den Hebel, der die Luke zur Rettungskapsel entriegelte. Ein finaler forschender Blick in das pazifische Schattenreich, jenes unvergängliche … Fortan war nichts Merkwürdiges mehr auszumachen. Flüchtig spürte ich eine vage Erleichterung, denn es schien tatsächlich so, als sei die biolumineszente Ballung fremdartigen Lebens gewichen – ein Zeitfenster, das ich nutzen musste! Prinzipiell würde ich in ausreichender Entfernung zu dem Ursprung des geisterhaften Leuchtens aufsteigen, und so kletterte ich guten Mutes in die elliptisch geformte Rettungskapsel. Auf einer schmalen Bank fand ich in der von einem massiven Stahlrahmen durchzogenen Glaskonstruktion Platz, die einen situationsbedingt guten Ausblick garantierte, auf den es mir aber beileibe nicht ankam. Ungeachtet der fleischgewordenen Inspirationen eines jeden Surrealisten, welche mich in der Kälte des Abyssos womöglich lautlos blökend umgaben, schloss ich die Luke und hielt den roten Knopf im Inneren des Rettungsmoduls für drei Sekunden gedrückt. Anfänglich geschah nichts, dann gab es einen kurzen heftigen Ruck und die Kapsel löste sich geschmeidig von dem Wrack der einst so vielversprechenden technischen Errungenschaft.
Dass mein neues Gefährt über vier Scheinwerfer verfügte, die zudem automatisch aufflammten, erschrak mich außerordentlich, und ich kam nicht umhin zu bemerken, wie tief sich die Furcht vor dem vermeintlich intelligenten Bewohner des gegenüberliegenden Habitats bereits in empfindsame Schichten meines Unterbewusstseins eingegraben haben musste. Welche blinden oder mit Unmengen an geschlachtet glotzenden Spiegelaugen gesegneten Daseinsformen auch immer dort draußen existierten – mein Begehr, das Reich des Dreizacks zu verlassen, konnte ihnen nicht verborgen bleiben. Erfreulicherweise dauerte es bloß wenige Atemzüge, bis meine akademische Rationalität neuerlich antrat. Sicher, die ebenso scheuen wie seltenen Bewohner der Tiefsee würden das für sie so unvertraute künstliche Licht aus den Gefilden der Warmblüter verschmähen, weshalb kein Anlass zur Sorge bestand, und vermutlich war einzig das hinter mir liegende Desaster für die Häufung banger Empfindungen verantwortlich. Bald schon grübelte ich darüber nach, wie ähnlich sich ein Astronaut auf einem Flug durch die mitleidlosen Weiten des Weltenraums fühlen musste, gleichwohl dieses Szenario, aus dem ich dank einer gehörigen Portion Glück am entkommen war, einen unbarmherzigen Aspekt der unauslotbaren Tiefen unserer ureigenen Planetensphäre bildete. Die bloß noch flackernde Innenbeleuchtung des FNRS-5 erstarb in der Dunkelheit, als die Rettungskapsel dank des integrierten Flüssigkeitsgemischs langsam aber stetig zu steigen begann, zugleich ich instinktiv einen sorgenvollen Augenwinkelblick auf das Felsmassiv warf. Doch träumte es ruhig, farblos, in subaquatische Finsternisschleier gehüllt.
Der Beginn des Manövers verlief reibungslos, und mit einem konstanten Rauschen näherte ich mich gemächlich der noch fernen Wasseroberfläche. Es musste etwas Zeit in Anspruch nehmen, immerhin würde ein zu rasches Auftauchen für einen Menschen nicht zu bewältigen sein. Ich stellte mich also darauf ein, eine Weile auszuharren, hoffend, möglichst nahe der Stelle an die Oberfläche zu gelangen, an der mich die Crew unter Bemühung der besten Seefahrersegen vormals in die Wogen hinabgelassen hatte. Als ich während des Tauchgangs zum letzten Mal den Tiefenmesser geprüft hatte, zeigte er ungefähr achttausend Meter an. Nicht nur diese Distanz galt es nun also erneut zu überwinden, und mich überkam abermals ein ehrfurchtgebietendes Gefühl in Anbetracht der Verschiedenheit unserer alltäglichen Welt zu diesen unerschlossenen stygischen Räumen öliger Schwärze, die ich fortan wie ein gleißend aufsteigender Stern langsam durchzog.
Meine Überlegungen trieben derweil in vielerlei Richtungen. Immer wieder dachte ich an Florence und unser altmodisches Haus zwischen den weiten Lavendelfeldern der Heimat. Nach diesem Vorfall würde sie mir unentwegt in den Ohren liegen, aber die Erforschung der Weltmeere war nun mal meine Passion. Capitaine Dubais, die Crew und nicht zuletzt die Stiftung hatten sich so viel von den Möglichkeiten des hochmodernen FNRS-5 und der Erkundung dieser kaum kartographierten Tiefe versprochen, weshalb ich fest davon ausging, dass wir im Anschluss an meine Rettung erst einmal einen Plan zur Bergung des havarierten Goldstücks ausarbeiten würden.
Allmählich sammelten sich meine Gedanken, und ich nahm zufrieden Notiz davon, wie sich die Umgebung zu einem immer vertrauteren Panorama aus formschönen Fischschwärmen, kleinen Kopffüßern, diversen Algenarten, von Muränenhöhlen zernarbten Felsformationen und von schillernden Korallen besiedelten Großsteinen, die geradezu an archaisch behauene Monolithe erinnerten, fügte. Nicht mehr lange, und ich sollte die Wasseroberfläche durchstoßen … Augenscheinlich thronte die Nacht, denn als ich himmelwärts schaute, durchzog lunarer Glanz das pazifische Nass mit goldgelben Schleiern. Jäh und schneller als erwartet, schoss die Rettungskapsel zischend empor, um dann nach Augenblicken desorientierenden Schwankens endlich auf der Meeresoberfläche zu treiben. In diesem Moment dankte ich dem Himmel.
Als ich jedoch forschend umherblickte, sichtete ich überraschenderweise kein Schiff und auch keine Anzeichen irgendwelcher Aktivitäten. Nichts, nah und fern … Fast, denn der Schein des vollen Mondes und das Licht der kraftvollen Rettungskapsel-Scheinwerfer brachen sich auf einer großen Menge zersplitterter Planken und schwer definierbarer künstlicher Objekte. Mich beschlich die Sorge, vom Kurs abgekommen zu sein, denn bereits eine minimale Richtungsänderung hätte dies zur Folge gehabt. Auch am sternenklaren Horizont dieser pittoresken Pazifiknacht konnte ich weder Signale noch irgendetwas ausmachen, das auf die Anwesenheit der Kameraden hindeutete. Es schien gar so … Aye, ganz offenbar war ich in einem verlassenen Wrackgut-Feld an die Oberfläche gelangt! Nicht für einen Wimpernschlag war ich bereit, das Unvorstellbare ernsthaft anzunehmen. Eine derartige Zerstörung, eine Versenkung unseres Expeditionsschiffes wäre lediglich durch ein überraschendes Wetterphänomen oder einen Torpedoeinschlag möglich gewesen, doch Letzteres war schier absurd und fraglos vermochte die hochseetaugliche Astéries den natürlichen Unbilden der sieben Meere standzuhalten.
Alle diese Gedankenfetzen und Erinnerungen hielten meine Sinne bis zum jetzigen Augenblick eisern in Beschlag. Die beschworene Verstandesklarheit hat sich unterdessen nicht eingestellt …
Und ja, bei Gott, vorerst werde ich die Rettungskapsel nicht verlassen, denn unter mir beginnt sich das Meer widernatürlich zu regen; Myriaden von Luftblasen steigen ebenso rasant wie unheilverheißend empor; die sprudelnde See wird von unwahrscheinlichen Schwingungen durchzogen – die Wasseroberfläche bebt –, etwas naht, wie durch die Macht seltener Konstellationen entfesselt. Dann erscheint Licht, Licht aus der Tiefe, ein furchtbares, in hypnotisch changierenden Nuancen von Scharlachrot und Neon-blau glimmendes, blendendes, irremachende Bahnen ziehendes und die Konturen unzähliger zuckender, stürmisch fuchtelnder Fangarme erahnen lassendes Licht. Wie ein wimmelnder Schwarm typhonischer Abscheulichkeiten taucht es auf. Allmächtiger, alle Annahmen über die Tiefe und ihre Bewohner müssen überdacht werden!
Tierwilde Schläge gegen die Unterseite der Rettungskapsel! Ich halte mir die Ohren krampfhaft zu und versuche vergebens, meine bebenden Blicke abzuwenden. Glas und Stahl scheinen mich soeben noch von jener Ausgeburt des Wahnsinns zu trennen, doch nun bemerke ich, wie die Kapsel hinabgezogen wird, gefangen in einem biolumineszierenden Mahlstrom aus zahllosen Tentakeln, den blasphemischen Fortsätzen glotzaugenübersäten Grauens. Begleitet von dem seelenschlachtenden, tieffrequenten Dröhnen aus des Cephalopodenurahns geifernden Mäulern tauche ich wieder ab, zurück in des gottlosen Abgrunds ewige Nacht – immer schneller, immer tiefer, ich kenne das Ziel. Bald schon werde ich das Bewusstsein verlieren, um es hoffentlich niemals wiederzulangen – dort, wo Meerbischof und Nixe, wo Klabautermann und Hydra des dunklen Demiurgen wirbellose Brut krächzend lobpreisen.
Ein namenloser Schrecken. Unser Schiff, die Crew. Die leuchtenden Arme hinter dem Felsen …
Jenseits der profanen Welt und fernab menschlicher Sphären, weit entfernt von zu Hause, die mondlichtgetränkten Felder und Haine der Lande Sophias hinter sich lassend, begann John Barnabas Finch, Magus des Chorus der Sterne, in der übel beleumdeten Ketzerstadt Euryth seine Suche nach der Hohepriesterin von A'lon-Ka.
Es war nicht die erste Nacht, die er dieser hochheiligen Aufgabe widmete, wenn auch eine besondere. Der Ascheregen der in Reichweite kommenden Feuerberge hatte sich wie ein frühwinterliches Schneegestöber über die schmutzigen, mittelalterlich anmutenden Kopfsteinstraßen der fremdweltlichen Gassen gelegt, und John zurrte die Kapuze seiner erdfarbenen Pilgerkutte strammer, während er im Schein lilafarben glimmender Nachtfackeln mit festem Schuhwerk unauffällig und zugleich zielstrebig entlang heruntergekommener Wechselstuben, schummriger Tavernen und rußbedeckter amphibischer Nutztiere voranschritt.
In Euryth, soviel war sicher, wollte er nicht verweilen. Weder lud es dazu ein noch konnte er sich vorstellen, dass die einfach gestrickten und lasterhaften Daseinsfrister dieser Welt ihm etwas Sinnvolles mit auf den Weg zu geben vermochten. In seiner heimischen Sphäre führte der Chorus der Sterne in dieser Nacht zum ersten Mai die tiefbedeutsamen Rituale durch, welche im Laufe der bekannten Menschheitsgeschichte unzählige Namen getragen hatten und bereits Sophias erster humanoiden Saat wohlvertraut gewesen waren. Gegenwärtig und kraft des sorgsam gehüteten Namens jenes den A'lon-Ka beherbergenden Kosmos hütenden Archonten, so hatte es John ein erfahrener Bruder aus dem Orden der Silbernen Sothis des Ostens versichert, sollte es, einen natürlichen Energieschnittpunkt inmitten der Feuerberge von Euryth als Portal nutzend, tatsächlich möglich sein, Einlass in die sagenumwobene Sphäre zu finden, die sich die vollendete Meisterin der Mysterien einst aus den quantenformenden Gedankensträngen ihrer Selbsterkenntnis als heilige Ruhe- und Lehrstätte geschaffen hatte. Fragliche Eingeweihte, jene bedeutsame, residierte ebendort, frei von Zeit und Raum, im onyxschimmernden Sanktuariums-Turm von A'lon-Ka. Ob die Reise gefährlich sei? Darauf antworte Großmeister Krill etwas lethargisch: »Auf die Akolythen der Niedertracht wirst du dort sicher nicht stoßen; die Erkenntnisse unserer Dame besitzen keinerlei Bedeutung für sie. Ob jene aber zu verhindern suchen, dass ein Magus eines nach göttlicher Vervollkommnung strebenden Ordens diesem Wissen anteilig wird? Nun, es ist nicht auszuschließen, zumindest nicht völlig. Wie dem auch sei, vertraue stets auf die Götter unserer Gemeinschaft, Bruder, sie werden dich auch und besonders auf dieser wichtigen Reise leiten … Ja, ganz gewiss.«
Fürwahr, John vertraute stets auf die Götter. Stolz blickte er auf Jahrzehnte des Wirkens in unterschiedlichen, wenn auch in gewissen Angelegenheiten einmütigen Geheimgesellschaften zurück. Gleich den Mikrokosmos durchwühlende Astralwinde entströmten sie auch in diesem Moment seinem Mentalfeld, jene stummen Huldigungen, jene aufrichtigen Lobpreisungen dargebracht den ewig wachenden Gottheiten. Niemals begann er eine Sphärenreise übereilt oder gar schlecht ausgerüstet, weshalb er eine Ausgabe von Bruder Aulus’ zweitem Kompendium der extraterrestrischen Bannungen, eine gezähmte, einst unter dem purpurfarbenen Wintermond von Vega-IV beschworene Annihilationsflamme in einem Runen-Tornister und einen mit Kupfer-Sigillen verzierten Wanderstab aus Quercus Alba mit sich führte.
Bald schon überquerte John eine schwankende Behelfsbrücke am Ausgang von Euryth und bemerkte sogleich, wie das unfeine Odeur des Ambientes einem beißenden, ruß- und ascheschwangeren Dunst aus nördlicher Richtung wich. Das fragliche Gebirgsmassiv thronte nun hochaufragend vor ihm, und ja, er musste sich sputen, in zwei Stunde würde sich das berechnete Ritualzeitfenster abermals schließen. Der Schein aus der ein lebendiges Licht bewahrenden Uranglasphiole am Kopf des Pilgerstabes trotze der zunehmenden Dunkelheit, als sich der Erdling über ein unwegsames Durcheinander aus scharfkantigem Gestein und toten Baumstümpfe hinweg immer weiter das vulkanische Areal hinaufkämpfte; der Tornister auf seinem Rücken klapperte, der auf die Seite gegürtete Foliant wurde spürbar schwerer. Nach einem knapp dreißigminütigen Aufstieg erreichte der Magus schließlich eine schattenfinstere Felsenhöhle, und wie erwartet, wurde er ebenda der gezackten Glyphe des O.S.S.O. gewahr, mit der die geomantisch versierten Adepten des Bruderordens diesen natürlichen Energieschnittpunkt als Portal nach A'lon-Ka gekennzeichnet hatten. Ein Blick zurück …
Aus dem Vorland erhob sich ein dumpfes Stimmenbabel, und der Dimensionen-Reisende fragte sich, ob die einfältigen Kreaturen dieser unzureichend kartographierten Welt vielleicht von ihm, dem von weither gekommenen Fremden wussten, der zu Beltane durch eine ihrer Siedlungen in Richtung der Feuerberge streifte. Es war nicht ratsam, mit diesen erbgenetisch recht unterschiedslosen Humanoiden zusammenzutreffen, waren sie doch stets auf der Suche nach frischem Blut, um es einer ihrer inzestuösen Sippen beizumischen.
Der machtvolle Ascheregen der finsteren Nacht erstickte die lilafarbenen Spuklichter der extraterrestrischen Straßenzüge nun gänzlich, und John verbarg sich rasch in besagtem Hohlraum. Diesen erhellend vergewisserte er sich, dass keine der in solchen Gefilden brütenden karnivoren Riesenmolusken vor Ort ihr Unwesen trieb, und das Phiolenlicht daraufhin elegant löschend, ließ er sich im Lotossitz nieder. Er atmete tief ein, konzentrierte sich, zog einen magischen Schutzkreis und platzierte Tornister, Foliant, Pilgerstab sowie eine verborgen getragene Feldflasche mit alchemistisch aufbereitetem Wasser aus Y'ha-nthlei den Elementen geweiht und den Himmelsrichtungen entsprechend um sich herum. Wahrlich, auf eine gewisse Weise ist alles miteinander verbunden. Diesen urheiligen Anspruch geltend machend und die Götter um eine gute Reise bittend, vollzog der Pilger die zeremoniellen Gesten und sprach die den Sphärentransit initiierende Formel so, wie sie den fortgeschrittenen Eingeweihten seines Ordens von den Mantiden des Saturns einst offenbart worden war. Einem donnernden Mantra ähnlich intoniert, den ihm anvertrauten Namen der den Kosmos der Ziel-Welt hütenden Entität am Ende ekstatisch verherrlichend, konnte sich John Barnabas Finch abermals auf diese erprobte Vorgehensweise verlassen.
»Sanum.K'a – Yug'sab.hanot – A'lon-Ka – Adonai, Kyrios, Yog'thitl«
»Sanum.K'a – Yug'sab.hanot – A'lon-Ka – Adonai, Kyrios, Yog'thitl«
Der dritte und finale Ausspruch erfolgte hingegen unhörbar in seinem von diesem Augenblick bis in alle Ewigkeit reichenden, sämtliche jemals existierenden Gedankenformen einbeziehenden und in zeit- sowie raumlosen Ebenen jenseits der messbaren Welt weilenden Selbst. Begleitet von einer elektrischen Entladung auf Solarplexus-Höhe und einer ruckartigen Neigung seines Kopfes, war das magische Manöver schließlich gelungen.
Übergänge solcher Art hatten für John nie ein nennenswertes Hindernis dargestellt, wenn auch das Ziel seiner Reise dieses Mal ein besonderes war. Gewiss, schon immer konnten sich jene dergestalt Wandelnden und die hohe Kunst des physischen Sphärentransits Beherrschenden glücklich schätzen, auf einer Wallfahrt abseits terrestrischer Gefilde nicht vom Kurs abzukommen, denn die Güte der vorsintflutlichen Matriarchinnen ist den sonderbaren Geschöpfen einer in der Grobstofflichkeit erkalteten, indifferenten Kosmogenesis oftmals kein Begriff, und die vor dunklem Sternenlicht gleißenden Winde des Äthers wehen unberechenbar.
Doch tatsächlich, als John seine ob des Dimensionsübertritts brennenden Augen öffnete, begrüßte ihn der von lila-blau leuchtenden Kristallformationen erhellte Dunstschleicher der enigmatischen Welt von A'lon-Ka. Geschwind stand er auf, gurtete den zaubermächtigen Folianten rechts und schwang den Runen-Tornister geübt auf den Rücken. Den Wanderstab fest umgreifend, ließ er das dagonische Wasserbehältnis wieder auf Brusthöhe unter seiner Ordenskluft verschwinden und streifte deren Kapuze zurück.
Weder ein Oben noch ein Unten schien an diesem künstlichen Ort zu existieren, und zufrieden nahm der Abenteurer von dem fest verankerten Portalpunkt und dessen prächtigem magischem Schutzkreis Notiz, der vermutlich in weiser Vorausschau für die Würdigen und Auserwählten, ferner für die Gestrandeten des Multiversums angelegt worden war. Eine penetrante Kälte war allenthalben spürbar, und während das Firmament – oder das, was die kosmische Kulisse dieser Realität bildete – in Hauchen von Violett und Schwarz pittoresk pulsierte, bewegte sich John auf einer kobaltblauen, von amethystähnlichen Steinstrukturen bestandenen Oberfläche wie über Eisschollen vorwärts. Hier war das Phiolenlicht nicht von Nöten, denn obschon kein sichtbares Gestirn die Landschaft erhellte, glommen die gewundenen Saumpfade, denen er alsbald folgte, in silberhellem Schein. Alles wirkte steril, dem klaren Geiste entsprechend, dem sich die hohe Dame von A'lon-Ka quer durch die Universen rühmte; wohlweislich, denn auch sie war eine treue Verehrerin der Götter des Chorus der Sterne, und manch ein Adept behauptete sogar, dass in einer schicksalhaften Sommernacht der Zeitlosigkeit ebenjene Allmächtigen mitsamt ihrem flötenspielenden Heroldgezücht von jenseits der Schleier kommend in A'lon-Ka eingekehrt seien. Sodann habe das Blut der Mystikerin die seltene Kommunion des Kosmos empfangen.
Soeben passierte John ein weites Areal fantastischer mannshoher Korallen blutroter Färbung, die markant aus der Umgebung hervorstachen, und einen sauber in ein Bergmassiv gefrästen Tunnel betretend, wandelte er in dieser extraterrestrischen Sphäre weiter, immer weiter – mit dem Sanktuariums-Turm von A'lon-Ka als Ziel. Ohne Zweifel waren die Elemente auch an diesem Ort gegenwärtig, und wo sie webten, da existierte folglich die Zeit. Nicht wahr? Nun, ganz gewiss würde ihm die Hohepriesterin derartige Zusammenhänge detailliert erläutern, und ja, auch was speziellere Fragen betraf, wie zum Beispiel die nach der wahren Herkunft und dem tatsächlichen Zweck des Menschengeschlechts, solche hinsichtlich philosophischer sowie historischer Mysterien und nicht zuletzt jene zu streng gehüteten metaphysischen Gesetzmäßigkeiten – sie vermochte fundierte Antworten zu geben.
Fürwahr, ein Magier der Hochgrade wanderte hier körperlich durch einen von erleuchteten Gedanken aufrechterhaltenen Traum, durch eine astralgezeugte Pseudowirklichkeit, und schon bald würde er die Hüterin der Geheimnisse treffen – er dankte den Göttern. Als John die eisig funkelnde Höhlenpassage durchquert hatte, just bemerkend, dass sich der sphärische Dunstschleicher vollständig aufgelöst hatte, ergriff ihn bei dem darauffolgenden unvorbereiteten Gewahrwerden des Turmrefugiums von A'lon-Ka ein Gefühl schwer zu beschreibender Ehrfrucht. Sein Blick schweifte. Das hoch aufragende, engelwärts gerichtete Artificium erinnerte an einen spätgotischen Batterieturm. Ja, doch aus surreal schimmerndem Mineral, aus edelstem Onyx. Das obere Drittel zeigte sich umlaufend mit geometrisch fragwürdigen, bleiverglasten Erkern geziert, die das violett-schwarze Pseudofirmament der schwer zugänglichen Welt auf ihren mit goldener Engelsschrift aufwendig gravierten Oberflächen flamboyant reflektierten.
Dort also residierte die von den Gottheiten Auserkorene. John konnte nicht einmal erahnen, welche Wunder und Aufzeichnungen im Inneren der von reich verzierten Fialen gekrönten Vorbauten aufbewahrt wurden. Möglicherweise dienten diese Erker den wissbegierigen Wallfahrern, welche den Weg nach A'lon-Ka gefunden und sich somit als würdig erwiesen hatten, als repräsentative Studierzimmer? Sicher, vielleicht waren bereits Schwestern und Brüder anderer arkaner Gemeinschaften vor Ort! Wie würde die Hohepriesterin indes auf Johns unangekündigten Besuch reagieren? War denn jemand oder etwas überhaupt in der Lage, sie unvorbereitet anzutreffen, sie zu überraschen?
Eins stand außer Frage: Sie war nicht dafür bekannt, Einladungen zu verschicken. Gewiss würde es ihr imponieren, dass ein auf der Suche nach Wahrheit und Licht Fortgeschrittener, und so die Götter wollten, bald schon vollends Illuminierter, den wohlgehüteten Weg in ihr Reich gefunden und beschritten hatte. Die Tatsache, dass Johns Orden sich seit ihrer Transfiguration, ihrer Entrückung stets an den von ihr hinterlassenen, den Göttern wohlgefälligen Lehren orientiert hatte und Großmeister Krill immer wieder gerne mit jugendlichem Stolz behauptete, doch tatsächlich während eines luziden Traums zwischen den Säulen von Ubar im Lichte eines elfenbeinfarbenen Sichelmondes von der Gesegneten höchstselbst liebkost worden zu sein, ließ zudem gute Unterhaltungen erwarten, und vielleicht sogar mehr.
Glaubte man den Legenden, so residierte sie nach irdischer Zeitrechnung bereits über zwei Jahrhunderte in A'lon-Ka, und während ihr Geist immer mehr Wissen ansammelte, tiefer und tiefer in die Arkana der Schöpfung eindrang, diese studierte und entschlüsselte, hatte sie sich ihre äußere Erscheinung kraft ihres alles in diesem gläsernen Reich beeinflussenden Willens im besten Alter bewahrt. John schämte sich nicht ob des flüchtigen Gedankens, demnach seine gut trainierte Statur, sein glatt rasiertes Mittvierziger-Gesicht mit den hellblauen Husky-Augen und sein leicht angegrautes, gepflegt gescheiteltes Deckhaar bei ihrer Exzellenz möglicherweise nicht nur platonische Gefühle wecken würde.
Auf gewundenen, edelstein- und kristallflankierten Pfaden näherte er sich zügig dem Ziel seiner Âventiure; eine Reminiszenz hielt schritt. Ja, denn die bezaubernde, wenn auch sterile Umgebung ähnelte tatsächlich der Oberfläche eines der ausgehöhlten Pseudomonde von Ob'zygoth, in dessen verzweigtem Tunnelsystem er vor wenigen Monaten auf ein Nest streitsüchtiger, den Großspinnen von Leng erschreckend artverwandter Arachnoiden gestoßen war. Und obzwar er wusste, dass die Hohepriesterin derlei Gezücht in ihrem Herrschaftsbereich keineswegs duldete, horchte er die ihn umlagernde Stille für ein paar Wimpernschläge aufmerksam aus. Nichts! Wohltuende Geräuschlosigkeit, kobaltblauer und amethystfarbener Schimmer, eisige Wege in silberhellem Schein. Gewiss würden die Götter diese Momente genaustens beobachten. Ohne Frage, sie waren gegenwärtig: hochheilig wachend, alle Schritte messend, jeden Gedanken luftig umspielend, verborgen, unsichtbar, unnahbar – unvergänglich! Sie waren mit ihrem Diener, waren mit John …
Wie nicht anders zu erwarten, wurde das weitausstrahlende Innere des Turms weder durch ein massives Eisengatter noch ein reich beschnitztes Holzportal von der Außenwelt separiert. Wozu auch? Wer es vermochte, hier zu wandeln, ließ sich nicht von niederen Absichten leiten. Der Magus trat durch offene, von beindruckenden Tympana gezierte Arkaden ein, und die nicht minder kühle, die Geräusche seiner gestiefelten Schritte in Echos transformierende Eingangshalle ließ ihn schon bald von Regenbogenlicht emanierenden Paravent-Oberflächen aus seidigem Stoff, wie sie die gesamte Innenfassade herab an perlmuttfarbenen Seidenbändern angebracht waren, geblendet zurück. In diesem sich offensichtlich über Zeit verstärkenden Brennpunkt buntsolarer Manifestationen aus hochschwingenden Gefilden rang er kurzzeitig mit einem unvertrauten Drehschwindel. John, der seinen Verstand für gewöhnlich mit dem Eifer eines vernarbten Flagellanten geißelte und nur solchen Gedanken Einlass in sein Bewusstsein gewährte, die klar definierten Vorstellungen entsprachen, wunderte sich, ob in dieser strahlendurchfluteten Räumlichkeit überhaupt etwas Unheiliges bestehen konnte. Etwas Unheiliges sicher nicht, doch wann war überhaupt das Heilige, das Allumfassende gegenwärtig? Spottete das Absolute nicht grundsätzlich einer genauen Definition, wurde es durch Namen und Beschreibungen nicht von jeher begrenzt? War Heiligkeit denn überhaupt absolut? Na ja … Etwas, das sich innerhalb der sichtbaren Realität ereignete, konnte höchstens mit dem Numinosen in Verbindung stehen, es aber nicht vollumfänglich repräsentieren. War die Heiligkeit, die so viele in seinem Orden anstrebten und die in der Mystikerin von A'lon-Ka manifest geworden war, nicht ein Anker jener Über-Welt, eine Entsprechung des Pleroma aus dem alle Möglichkeiten, sämtliche Gedanken und jedwede Vorstellungen aufstiegen? Wie konnte etwas Definierbares mit dem Unverwortbaren in Beziehung stehen, und was war unterdessen mit den weniger edlen Neigungen? Traten sie ebenfalls aus dem Nichts in das Sein, oder bildeten sie sich erst unter den Sichelschwüngen des Chronos, den vergänglichen Wirkmächten der Elemente bis ans Ende aller Tage überantwortet?
Selbstverständlich konnte der arkane Abenteurer Antworten auf derlei Fragen geben, war er doch ein fleißiger Student der Schriften … Aber stellten diese zu Tinte erstarrten Einsichten der Altvorderen auch einen persönlichen Erfahrungsschatz dar? Zum Teil. John hatte sich nicht bloß gehaltvoll gebildet, sondern auch praktische Feuerproben durchlebt, welche die Überlieferungen des Ordens bestätigten; wenn auch er sich eingestehen musste, dass eine alternative Erklärung der Zusammenhänge oftmals nicht komplett abwegig war. Also, welchen Wert besaßen übernommene, kaum überprüfbare, vermeintliche Erkenntnisse? Eine Weltanschauung, die sich eingedenk persönlicher Erlebnisse geformt hatte, war dem naiven rezitieren oberflächlicher Weisheiten in jedem Falle vorzuziehen.
Vielleicht war es aber auch schlicht und ergreifend wahr, dass sich manche Sachverhalte dem Erfahrungswissen entzogen und vielmehr an den Glauben appellierten. Eine Ansicht, die der Ausrichtung des Chorus der Sterne wohlgemerkt widersprach, denn die Veredlung und finale Selbsterlösung durch Gnosis war dessen Dogma. Wie dem auch sei, John hatte in seinem Leben schon einige, den engen Horizont und die bemitleidenswerte Vorstellungskraft der Uneingeweihten verspottende Erfahrungen gemacht, und nun? Ja, nun befand er sich abermals auf dem Weg zu faustischen Erkenntnissen, weit jenseits der Versprechungen unkritisch einverleibter, massentauglicher Lebensentwürfe aus den einfach vernetzten Krämerhirnen spirituell kastrierter Selbstsuchtprediger.
Die Hohepriesterin von A'lon-Ka! Jawohl, sie würde ihn in die finalen hermetischen Geheimnisse einweihen, den Schleier zu noch namenlosen Daseinssphären lüften, die verbotene Sprache intonieren, die Wege zur Langlebigkeit und die richtungslosen Pfade bis an den Hof der Götter weisen.
Der Magus atmete gleichmäßig, wappnete sich. Nach diesem gedanklichen Exkurs musste er zum Aufstieg der unglaublichen Konstruktion aus lichtemanierenden Oberflächen und edlem Onyx antreten. Dieser begann in der Mitte der mit elfenbeinweißen Marmorfließen reich geschmückten Eingangshalle und zeigte sich, wie aus einem nachtschwarzen Eisbergmassiv herausgemeißelt, wendeltreppenartig in schwindelerregende Höhen führend. Doch bevor er sich daran machte, nahm er einen großen Schluck von dem den Geist wie auch den Körper nährenden Elixier aus den Gezeitenschlünden der verborgenen Tiefseemetropole. Den Runen-Tornister mit der gezähmten Lohe von Vega-IV legte er neben Bruder Aulus’ Folianten, seinen Wanderstab lehnte er an den von zwei freistehenden, mit okkulten Zeichen reich gravierten ionischen Säulen definierten Treppenaufgang; einzig die Feldflasche trug er mit sich. Im Licht des sagenumwobenen Turms bemerkte John auf einmal eine dicke Ruß- und Staubschicht, die er aus den ungesunden Sphären Euryths mitgebracht haben musste. Geschwind hatte er sie abgeklopft, trat ein paar Mal auf, räusperte sich und begann schließlich den mühsamen Aufstieg.
Er war bereits länger unterwegs, als ein Schwarm Byakhees für die Durchquerung des Vakuums zwischen zwei Pulsaren benötigte, und sein Herz pochte spürbar. Doch die Götter, fürwahr, sie verliehen ihm Kraft, die stummen Rezitationen der Psalmen aus dem Ordensbrevier nährten die Zuversicht, und da, in farbigen Lichterglanz gehüllt stieß er endlich gegen eine metallene Bodenluke. Gespannte Stille. Hinter dieser schlichten Grenze also würde die Ordensheilige auf ihn warten. Die Luke zeigte keine aufwendigen Verzierungen, keinerlei Gravuren, lediglich ein faustbreiter patinierter Bronzegriff prangte in ihrer Mitte. Ein letzter Schluck. Der Pilger hatte so viele Fragen. Wie sollte er sie mit trockener Kehle, mit trockenen Lippen anständig vorbringen? Eine Handfläche voll des belebenden Nass fuhr durch sein Gesicht und benetzte seine pochenden Schläfen – die Feldflasche war leer. John nahm vor freudiger Erwartung nicht wahr, ob er sie wieder zurücksteckte oder ob sie die steile Wendeltreppe hinabfiel, doch stemmte er die Luke mit aller Kraft auf … Sodann umfing ihn Dunkelheit.
Er musste tatsächlich die gesamte Distanz, Stufe für Stufe, bis in die Eingangshalle hinabgestolpert, hinabgerutscht sein. Beunruhigt, überrascht, seinen Pilgerstab und den Tornister mit der magischen Flamme nervös ergreifend, den Folianten flüchtig umfassend, es sich jedoch eilig anders überlegend, sodann wieder himmelwärts, die schwindlig machenden Onyxstufen unter dem Hämmern eines leidenden Herzens und mit schmerzenden Beinen hastig erklimmend. In der Turmkammer, dem Skriptorium, dem inneren Sanktum der Mystikerin traf er auf eine unangemessene Dunkelheit und einen widernatürlichen Geruch. Stille, wirre Gedankenfetzen. Nachdem John das lebendige Licht im Inneren der Uranglasphiole geweckt hatte, sah er genauer, sah er klarer, weiteten sich seine hellen Augen. Da war sie, die Hohepriesterin von A'lon-Ka, Meisterin aller geheimen Lehren, hocheifrige Zelotin und Kardinalsweib der Götter, auserkorene Weisheitsbringerin, Tochter des Pleroma. Genauer gesagt sah er auf dem polierten Steinoden der winkellosen, von alchemistischem Gerät und wenigen schlichten antiken Möbeln bestandenen, mit verheerten Folianten und Buchseiten übersäten Kammer das, was jene von ihm quer durch unzählige Himmel und Höllen Gesuchte einst gewesen war.
Aus ihren verborgenen Thronsälen spähend teilten die Götter sicherlich diesen den Magier ebenso enttäuschenden wie schockierenden Anblick. Hochempathisch wussten sie um seine bebenden Blicke, welche den in der Mitte des runden Raumes in sich zusammengesackten, mumienartigen Leichnam entsetzt musterten. Die Reste einer ausgebleichten Toga definierten zierliche Proportionen, das symmetrische Antlitz einer jungen Erwachsenen starrte maskenhaft in Richtung der hohen Decke; ihr wohlgeformtes Haupt, sprödes pechschwarzes Haar tragend, war verkrustet und nekropolentauglich konserviert in den Nacken gefallen. Als John, sich aus der Lähmung des Augenblickes befreiend, ein paar Schritte vorwärts wagte, um den abgestorbenen Tentakel-Wucherungen im Inneren der blank daliegen Augenhöhlen dieser einstigen Schönheit ansichtig zu werden, wich er sofort instinktiv zurück, woraufhin der bereits überdehnte Schädel seinen Halt verlor. Den dumpfen Aufschlag vernahm er noch, dann umfing den Weltenpilger abermals Dunkelheit …
Irgendetwas Merkwürdiges, irgendetwas, die von einer guten Genetik gesetzten Grenzen Überschreitendes musste in den folgenden Augenblicken in der Innenwelt des John Barnabas Finch vor sich gegangen sein. Jedenfalls würde er sich später nicht mehr erinnern können, ob jene delikat irrsinnige Maßnahme ritueller Verehrung vor oder nach seiner Bewusstlosigkeit stattgefunden hatte. Doch brach er im verschreckten Dämmerschein lebendigen Lichts den pseudomumifizierten Leichnam der Hohepriesterin entzwei. Sodann fraß er ihn auf – Stück für Stück –, den toten Leib und auch das vertrocknete Gewürm, das es sich einst darin gemütlich gemacht hatte, jenen sich nicht länger windenden parasitären Makel, das Kainsmalgeschenk der Götter. Ominöse, deplatzierte Geräusche und ein spürbares Schwanken der Turmkonstruktion brachten den von feixenden Mächten des Wahnsinns belagerten Wallfahrer zurück aus einer unheiligen Trance. Von einem hypothetisch anwesenden Profanen hätte all dies einen verstandeszermalmenden Tribut gefordert, und John wusste, schon gleich würde er den Runen-Tornister öffnen und die einst gezähmte Flamme entfesseln müssen, um jene noch gesichtslosen Schrecknisse zu vernichten, die bereits in den Korallenwäldern seine Schritte belauert hatten und nun dabei waren, die steile Onyxtreppe herauf zu poltern.
Als sich der Hochgrad-Magus des Chorus der Sterne durch nekrotische Gewebeschichten und Nester erstorbener wendelförmiger Abscheulichkeiten gefressen, alles gierig in sich hineingestopft hatte, waren unverdaute Papierfetzen zwischen dem einst sakrosankten, doch letzten Endes bloß blasphemischen Fleisch zu Tage getreten: die finalen Notizen der Meisterin! John las sie stumm, bevor er sie ebenfalls verschlang … Glaubte er den Aufzeichnungen, so war dieser Ort beileibe kein heiliger, o nein, sondern ein gar heimtückischer – eine teuflisch schlau gestellte Falle. Mit dem finsteren Makel, dem todmachenden alten Wurm und dessen kichernden Larven segneten die Gottheiten ihre treue Dienerin, ließen sie sie ebenso langsam wie zynisch verrotten. Ein Lockmittel für alle Wissbegierigen, und trotz ihres qualvollen Endes blieb das Mirakel von A'lon-Ka bestehen … Jene üblen Fetzen, mit dem unmenschlichen Blutgekritzel darauf; flammenden Buchstaben, die Geheimschrift der höchsten Arkandisziplin:
»Viel Zeit bleibt mir nicht. Schwestern und Brüder, ich ersuche eure Seelen: betet nicht zu den Göttern des Chorus der Sterne! Weder zu ihnen noch zu wie auch immer gearteten anderen. Sie sind lediglich ältere kreatürliche Existenzen, eine evolvierte Spezies wie wir. Die flehentlichen Gebete der Einfältigen sind ihnen ein Schmaus, die leidvollen Gedanken der sinnlos Hoffenden ein feuchtes Labsal. Wie wurden wir, wie wurde ich getäuscht …«
»Was wir die hohe Kunst der Magie nennen und mühsam erlernen, ist ihnen eine angeborene Befähigung. Ich Närrin traf sie, traf ihre halb unsichtbaren Sternenleiber im Schatten des Sanktuariums-Turms von A'lon-Ka, weit jenseits der Zwillingssonnen von Carcosa.«
»Böse Stimmen quälen meinen von fiebrigen Visionen gemarterten Geist. Der Parasit regt sich bereits. Ich bin gefangen in diesem Konstrukt der Gnosis, meinem nunmehr entweihten Skriptorium edler Lehren.«
»Betet nicht zu den Göttern, denn starren sie erst einmal aus ihren lichtlosen Katakomben zwischen den toten Sternen in euren Verstand, zehren sie von euch, verdrehen sie euren Willen, spielen sie mit und gegen euch. Eure Hoffnungen und Ängste, eure Leidenschaften sind ihr tägliches Brot. Meine selbstlosen Taten, sämtliche Initiationen … All dies diente bloß ihrer Belustigung, war Teil eines perfiden Plans.«
»Ihre niedlichen Chimärenköper, sie wuchsen so schnell. Wimmern in der Dunkelheit, deformiert, blind und doch von meinem sternenfeurigen Blute durchströmt. Zwischen den weiten Korallenfeldern tollen sie umher, und von Zeit zu Zeit tragen amethystfarbene Nebel die Disharmonien schauerlicher Schlaflieder aus zahllosen missgestalteten Mäulern bis in das Innere dieser Kammer. Gedenket Eva, denn sie ward nicht für den Mann allein geschaffen. Zu mir kamen sie, die Götter, infolge flehentlicher Lobpreisungen und im Schweiße meines Angesichts traf ich sie hier, hier in A'lon-Ka.«
»Starke Schmerzen, Parasitenbrut … Ihre Väter – nur geiles, blökendes Vieh wie wir … Sind ihre Nutztiere, einzig dafür gemacht … Energie, Lust, Zorn. Hymnen an den missgestalteten Sohn der Leere, augenloses Gezücht. Gottheiten ohne greifbare, doch wirkmächtige Form … Halbunsichtbare Schrecken aus dem entsiegelten Abyss, vielarmige Schlurfer schismatischer Gegenschöpfung … Menschen so konstruiert, schwach, unselbstständig, kein wirkliches Selbst … Bewusstsein erschaffende Klumpen uranfänglicher Bakterienstämme … Die Alten in uns, erwachen erneut und erneut zu kurzfristigem Leben. Intelligenz, Ichbewusstsein – zwei Krankheiten. Empfindsame Gebärerinnen für jene, die zwischen den Sternen hausen … Halbwesen, entkernte Schimpansen, schwarzäugige Käferrasse … Kein Leben, kein Tod, nur Leid und Verwesung, zuvor endlose Illusionen …«
Während Johns Verstand den Trümmerfall seiner kollabierenden Welt zu dämpfen versuchte, erbebte der Turm unter dem dämonischen Ansturm schändlicher Groteskenleiber. Das Phiolenlicht war gänzlich erloschen, als er in der unreinen Dunkelheit der Turmkammer den Runen-Tornister, das Behältnis der allesvernichtenden Flamme, mit zittrigen Händen griff, sich in Richtung der geöffneten Luke rollte, die Lider zusammenpresste und dessen Deckel mit einer eleganten Bewegung löste. Von den blinden, sich unter quiekendem Grunzen seelenlos die finalen Stufen hinaufdrängenden, mit unzähligen verkrüppelten menschlichen Arm- und Beinpaaren bewachsenen und endlich in einem Annihilationsfeuerschwall lodernd vergehenden amorphen Blasphemien niederster Ordnung würde einzig und allein krankmachende Asche übrigbleiben. So wie John mit geschlossenen Augen die ihm in den kämpfenden Sinn drängenden Schutzmantren des Feuers brüllte, so erbebten die Turmfundamente auf das Empfindlichste, bis schließlich das lästerliche Klangbabel der nunmehr letzten in ihre fragwürdigen Bestandteile zerlegten Unaussprechlichkeit vollends erstarb. Die edlen Wandbehänge, die wundersam scheinenden, das Innere des Turmes von A'lon-Ka mit Licht speisenden Paravent-Oberflächen teilten das Schicksal jener Monstrositäten im gnadenlosen Brandsturm der Annihilations-Lohe von Vega-IV. Finsternis, abermals.
Doch der Erdling? Er hatte überlebt! Wieder einmal war er aus einem Konflikt siegreich hervorgegangen. Gutes Timing plus die korrekte Einschätzung der Möglichkeiten kombiniert mit seinem kühlen Verstand und dem Vertrauen auf die Kräfte der Ordnung hatten ihn vor dem Auswurf des Universums bestehen lassen. Auf einstudierte Weise huldigte John Barnabas Finch den Göttern, sandte er ihnen Dankesgebete; mit rußverschmiertem Gesicht blickte er in die tiefschwarz gähnende Lichtlosigkeit.
Die Illuminationen waren dahin, so wie auch der Geist, der diese Mauern einst manifestiert und dessen körperliche Essenz sich Johns Genetik beigemischt hatte – in aeternum. Eine subtile Veränderung hatte stattgefunden, und ein dumpfes, allesdurchdringendes Rumoren mehr erspürend als tatsächlich vernehmend, warf er den ausgebrannten Runen-Tornister über seine Schulter in den düsteren, brandverheert glimmenden Raum. Ebenda war kaum etwas zu erkennen und ein unheilverheißender Rauch begann sich gefährlich rasch zu mehren. Scharfe Eichensplitter und zerbrochenes Uranglas ließen sich lediglich ertasten, und mehr noch als John den Verlust seines durch das Beben zerstörten Pilgerstabs und die damit einhergegangene Zerstäubung des lebendigen Lichts bedauerte, sann er darauf, den Abstieg schleunigst hinter sich zu bringen – hinweg von diesem vielleicht einstmals ehrwürdigen Ort.
Entweihtes Fleisch, dieser merkwürdige Geschmack, diese eigentümliche Konsistenz … Und was befand sich eigentlich in den Erkern? Von der Rundkammer aus konnte man gewiss durch magisch versiegelte Passagen in die anderen Räumlichkeiten, die mutmaßlichen Studierzimmer innerhalb des Artificiums gelangen. Womöglich, doch viel wichtiger war: Was hatte es letzten Endes mit jenen üblen, blutbekritzelten Fetzen auf sich? War die Grande Dame der Gnosis am Ende einfach wahnsinnig geworden, wahnsinnig aufgrund eines selbst gewählten Schicksals? Hatte sie tatsächlich die Götter geschaut? Wieso dann solch ketzerischen Zeilen? Wessen Auswurf waren die amorphen Sternenbestien gewesen, die sich so viehisch die Turmtreppe hinaufgedrängt hatten? Konnte man dem Vermächtnis der Mystikerin überhaupt trauen, oder war es ihr am Ende wie so vielen namhaften und verkannten Anderen ergangen? Hatte sie auf der Suche nach Erkenntnissen und Macht, nach Wahrheit und Licht nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihre Seele verloren? Fragen über Fragen, doch der Magus musste sich zusammenreißen, und so fokussierte er seinen Verstand, konzentrierte sich auf die halsbrecherische Aktion, jene unvermeidliche.
Durch glimmende Aschehaufen nahm John Stufe für Stufe, bis er, einem gewissen Rhythmus folgend, ein Gespür für die holprige Angelegenheit bekommen hatte, und während Schwefelluft seine Nase reizte, hielt er stoisch auf das Ende des lichtlosen Abstiegs zu. Schließlich dauerte dieser nicht annähernd so lange, wie er angenommen hatte. Ein Eindruck, der vielleicht mit dem Verlust des Zeitgefühls einherging, oder war sein Verstand möglicherweise damit beschäftigt, dem subtilen Rumoren zu lauschen, welches den dramatischen Ereignissen unmittelbar gefolgt war? Wie dem auch sei, mit der genagelten Sohle seines rechten Stiefels stieß er schon bald an eine der ionischen Säulen, und während Lichtschlieren von außen ungetrübt in die düstere Eingangshalle drangen, ärgerte er sich über den Verlust des wertvollen Folianten, von dem nicht einmal Asche übriggeblieben war. Kostbare Traktate … Bruder Aulus würde nicht begeistert sein.