Horrorgeschichten aus dem Abyss Teil 2 - Robert Grains - E-Book

Horrorgeschichten aus dem Abyss Teil 2 E-Book

Robert Grains

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Beschreibung

6 Geschichten aus den Bereichen Horror, Weird Fiction und Fantastik. 2. Teil der "Horrorgeschichten aus dem Abyss". Texte über gewagte Sphärenreisen auf arkaner Pilgerschaft, Schatten antiker Schrecken, blutgetränkte Hände wahnsinniger Mitternachtsgeschöpfe und den wahnwitzigen, okkulten Machenschaften eines adligen Eingeweihten im Lichte uralter Mächte. In diesem Buch enthalten: Unter der Sonne von Yabalon-Xi, Ein Teufel, Die Bilder des Grafen, Jagd auf den bösen Zwerg, Der Eremit, Die Sammlung von Woith

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HORRORGESCHICHTEN

AUS DEM ABYSSTeil 2

Robert Grains

INHALT

Unter der Sonne von Yabalon-Xi

Ein Teufel

Der Eremit

Jagd auf den bösen Zwerg

Die Sammlung von Woith

Die Bilder des Grafen

Der Pfad von St. Mephis (Leseprobe)

Impressum

Unter der Sonne von Yabalon-Xi

Jenseits der profanen Welt und fernab menschlicher Sphären, weit entfernt von zu Hause, die mondlichtgetränkten Felder und Haine der Lande Sophias hinter sich lassend, begann John Barnabas Finch, Magus des Chorus der Sterne, in der übel beleumdeten Ketzerstadt Euryth seine Suche nach der Hohepriesterin von A'lon-Ka.

Es war nicht die erste Nacht, die er dieser hochheiligen Aufgabe widmete, wenn auch eine besondere. Der Ascheregen der in Reichweite kommenden Feuerberge hatte sich wie ein frühwinterliches Schneegestöber über die schmutzigen, mittelalterlich anmutenden Kopfsteinstraßen der fremdweltlichen Gassen gelegt, und John zurrte die Kapuze seiner erdfarbenen Pilgerkutte strammer, während er im Schein lilafarben glimmender Nachtfackeln mit festem Schuhwerk unauffällig und zugleich zielstrebig entlang heruntergekommener Wechselstuben, schummriger Tavernen und rußbedeckter amphibischer Nutztiere voranschritt.

In Euryth, soviel war sicher, wollte er nicht verweilen. Weder lud es dazu ein noch konnte er sich vorstellen, dass die einfach gestrickten und lasterhaften Daseinsfrister dieser Welt ihm etwas Sinnvolles mit auf den Weg zu geben vermochten. In seiner heimischen Sphäre führte der Chorus der Sterne in dieser Nacht zum ersten Mai die tiefbedeutsamen Rituale durch, welche im Laufe der bekannten Menschheitsgeschichte unzählige Namen getragen hatten und bereits Sophias erster humanoiden Saat wohlvertraut gewesen waren. Gegenwärtig und kraft des sorgsam gehüteten Namens jenes den A'lon-Ka beherbergenden Kosmos hütenden Archonten, so hatte es John ein erfahrener Bruder aus dem Orden der Silbernen Sothis des Ostens versichert, sollte es, einen natürlichen Energieschnittpunkt inmitten der Feuerberge von Euryth als Portal nutzend, tatsächlich möglich sein, Einlass in die sagenumwobene Sphäre zu finden, die sich die vollendete Meisterin der Mysterien einst aus den quantenformenden Gedankensträngen ihrer Selbsterkenntnis als heilige Ruhe- und Lehrstätte geschaffen hatte. Fragliche Eingeweihte, jene bedeutsame, residierte ebendort, frei von Zeit und Raum, im onyxschimmernden Sanktuariums-Turm von A'lon-Ka. Ob die Reise gefährlich sei? Darauf antworte Großmeister Krill etwas lethargisch: »Auf die Akolythen der Niedertracht wirst du dort sicher nicht stoßen; die Erkenntnisse unserer Dame besitzen keinerlei Bedeutung für sie. Ob jene aber zu verhindern suchen, dass ein Magus eines nach göttlicher Vervollkommnung strebenden Ordens diesem Wissen anteilig wird? Nun, es ist nicht auszuschließen, zumindest nicht völlig. Wie dem auch sei, vertraue stets auf die Götter unserer Gemeinschaft, Bruder, sie werden dich auch und besonders auf dieser wichtigen Reise leiten … Ja, ganz gewiss.«

Fürwahr, John vertraute stets auf die Götter. Stolz blickte er auf Jahrzehnte des Wirkens in unterschiedlichen, wenn auch in gewissen Angelegenheiten einmütigen Geheimgesellschaften zurück. Gleich den Mikrokosmos durchwühlende Astralwinde entströmten sie auch in diesem Moment seinem Mentalfeld, jene stummen Huldigungen, jene aufrichtigen Lobpreisungen dargebracht den ewig wachenden Gottheiten. Niemals begann er eine Sphärenreise übereilt oder gar schlecht ausgerüstet, weshalb er eine Ausgabe von Bruder Aulus’ zweitem Kompendium der extraterrestrischen Bannungen, eine gezähmte, einst unter dem purpurfarbenen Wintermond von Vega-IV beschworene Annihilationsflamme in einem Runen-Tornister und einen mit Kupfer-Sigillen verzierten Wanderstab aus Quercus Alba mit sich führte.

Bald schon überquerte John eine schwankende Behelfsbrücke am Ausgang von Euryth und bemerkte sogleich, wie das unfeine Odeur des Ambientes einem beißenden, ruß- und ascheschwangeren Dunst aus nördlicher Richtung wich. Das fragliche Gebirgsmassiv thronte nun hochaufragend vor ihm, und ja, er musste sich sputen, in zwei Stunde würde sich das berechnete Ritualzeitfenster abermals schließen. Der Schein aus der ein lebendiges Licht bewahrenden Uranglasphiole am Kopf des Pilgerstabes trotze der zunehmenden Dunkelheit, als sich der Erdling über ein unwegsames Durcheinander aus scharfkantigem Gestein und toten Baumstümpfe hinweg immer weiter das vulkanische Areal hinaufkämpfte; der Tornister auf seinem Rücken klapperte, der auf die Seite gegürtete Foliant wurde spürbar schwerer. Nach einem knapp dreißigminütigen Aufstieg erreichte der Magus schließlich eine schattenfinstere Felsenhöhle, und wie erwartet, wurde er ebenda der gezackten Glyphe des O.S.S.O. gewahr, mit der die geomantisch versierten Adepten des Bruderordens diesen natürlichen Energieschnittpunkt als Portal nach A'lon-Ka gekennzeichnet hatten. Ein Blick zurück …

Aus dem Vorland erhob sich ein dumpfes Stimmenbabel, und der Dimensionen-Reisende fragte sich, ob die einfältigen Kreaturen dieser unzureichend kartographierten Welt vielleicht von ihm, dem von weither gekommenen Fremden wussten, der zu Beltane durch eine ihrer Siedlungen in Richtung der Feuerberge streifte. Es war nicht ratsam, mit diesen erbgenetisch recht unterschiedslosen Humanoiden zusammenzutreffen, waren sie doch stets auf der Suche nach frischem Blut, um es einer ihrer inzestuösen Sippen beizumischen.

Der machtvolle Ascheregen der finsteren Nacht erstickte die lilafarbenen Spuklichter der extraterrestrischen Straßenzüge nun gänzlich, und John verbarg sich rasch in besagtem Hohlraum. Diesen erhellend vergewisserte er sich, dass keine der in solchen Gefilden brütenden karnivoren Riesenmolusken vor Ort ihr Unwesen trieb, und das Phiolenlicht daraufhin elegant löschend, ließ er sich im Lotossitz nieder. Er atmete tief ein, konzentrierte sich, zog einen magischen Schutzkreis und platzierte Tornister, Foliant, Pilgerstab sowie eine verborgen getragene Feldflasche mit alchemistisch aufbereitetem Wasser aus Y'ha-nthlei den Elementen geweiht und den Himmelsrichtungen entsprechend um sich herum. Wahrlich, auf eine gewisse Weise ist alles miteinander verbunden. Diesen urheiligen Anspruch geltend machend und die Götter um eine gute Reise bittend, vollzog der Pilger die zeremoniellen Gesten und sprach die den Sphärentransit initiierende Formel so, wie sie den fortgeschrittenen Eingeweihten seines Ordens von den Mantiden des Saturns einst offenbart worden war. Einem donnernden Mantra ähnlich intoniert, den ihm anvertrauten Namen der den Kosmos der Ziel-Welt hütenden Entität am Ende ekstatisch verherrlichend, konnte sich John Barnabas Finch abermals auf diese erprobte Vorgehensweise verlassen.

»Sanum.K'a – Yug'sab.hanot – A'lon-Ka – Adonai, Kyrios, Yog'thitl«

»Sanum.K'a – Yug'sab.hanot – A'lon-Ka – Adonai, Kyrios, Yog'thitl«

Der dritte und finale Ausspruch erfolgte hingegen unhörbar in seinem von diesem Augenblick bis in alle Ewigkeit reichenden, sämtliche jemals existierenden Gedankenformen einbeziehenden und in zeit- sowie raumlosen Ebenen jenseits der messbaren Welt weilenden Selbst. Begleitet von einer elektrischen Entladung auf Solarplexus-Höhe und einer ruckartigen Neigung seines Kopfes, war das magische Manöver schließlich gelungen.

Übergänge solcher Art hatten für John nie ein nennenswertes Hindernis dargestellt, wenn auch das Ziel seiner Reise dieses Mal ein besonderes war. Gewiss, schon immer konnten sich jene dergestalt Wandelnden und die hohe Kunst des physischen Sphärentransits Beherrschenden glücklich schätzen, auf einer Wallfahrt abseits terrestrischer Gefilde nicht vom Kurs abzukommen, denn die Güte der vorsintflutlichen Matriarchinnen ist den sonderbaren Geschöpfen einer in der Grobstofflichkeit erkalteten, indifferenten Kosmogenesis oftmals kein Begriff, und die vor dunklem Sternenlicht gleißenden Winde des Äthers wehen unberechenbar.

Doch tatsächlich, als John seine ob des Dimensionsübertritts brennenden Augen öffnete, begrüßte ihn der von lila-blau leuchtenden Kristallformationen erhellte Dunstschleicher der enigmatischen Welt von A'lon-Ka. Geschwind stand er auf, gurtete den zaubermächtigen Folianten rechts und schwang den Runen-Tornister geübt auf den Rücken. Den Wanderstab fest umgreifend, ließ er das dagonische Wasserbehältnis wieder auf Brusthöhe unter seiner Ordenskluft verschwinden und streifte deren Kapuze zurück.

Weder ein Oben noch ein Unten schien an diesem künstlichen Ort zu existieren, und zufrieden nahm der Abenteurer von dem fest verankerten Portalpunkt und dessen prächtigem magischem Schutzkreis Notiz, der vermutlich in weiser Vorausschau für die Würdigen und Auserwählten, ferner für die Gestrandeten des Multiversums angelegt worden war. Eine penetrante Kälte war allenthalben spürbar, und während das Firmament – oder das, was die kosmische Kulisse dieser Realität bildete – in Hauchen von Violett und Schwarz pittoresk pulsierte, bewegte sich John auf einer kobaltblauen, von amethystähnlichen Steinstrukturen bestandenen Oberfläche wie über Eisschollen vorwärts. Hier war das Phiolenlicht nicht von Nöten, denn obschon kein sichtbares Gestirn die Landschaft erhellte, glommen die gewundenen Saumpfade, denen er alsbald folgte, in silberhellem Schein. Alles wirkte steril, dem klaren Geiste entsprechend, dem sich die hohe Dame von A'lon-Ka quer durch die Universen rühmte; wohlweislich, denn auch sie war eine treue Verehrerin der Götter des Chorus der Sterne, und manch ein Adept behauptete sogar, dass in einer schicksalhaften Sommernacht der Zeitlosigkeit ebenjene Allmächtigen mitsamt ihrem flötenspielenden Heroldgezücht von jenseits der Schleier kommend in A'lon-Ka eingekehrt seien. Sodann habe das Blut der Mystikerin die seltene Kommunion des Kosmos empfangen.

Soeben passierte John ein weites Areal fantastischer mannshoher Korallen blutroter Färbung, die markant aus der Umgebung hervorstachen, und einen sauber in ein Bergmassiv gefrästen Tunnel betretend, wandelte er in dieser extraterrestrischen Sphäre weiter, immer weiter – mit dem Sanktuariums-Turm von A'lon-Ka als Ziel. Ohne Zweifel waren die Elemente auch an diesem Ort gegenwärtig, und wo sie webten, da existierte folglich die Zeit. Nicht wahr? Nun, ganz gewiss würde ihm die Hohepriesterin derartige Zusammenhänge detailliert erläutern, und ja, auch was speziellere Fragen betraf, wie zum Beispiel die nach der wahren Herkunft und dem tatsächlichen Zweck des Menschengeschlechts, solche hinsichtlich philosophischer sowie historischer Mysterien und nicht zuletzt jene zu streng gehüteten metaphysischen Gesetzmäßigkeiten – sie vermochte fundierte Antworten zu geben.

Fürwahr, ein Magier der Hochgrade wanderte hier körperlich durch einen von erleuchteten Gedanken aufrechterhaltenen Traum, durch eine astralgezeugte Pseudowirklichkeit, und schon bald würde er die Hüterin der Geheimnisse treffen – er dankte den Göttern. Als John die eisig funkelnde Höhlenpassage durchquert hatte, just bemerkend, dass sich der sphärische Dunstschleicher vollständig aufgelöst hatte, ergriff ihn bei dem darauffolgenden unvorbereiteten Gewahrwerden des Turmrefugiums von A'lon-Ka ein Gefühl schwer zu beschreibender Ehrfrucht. Sein Blick schweifte. Das hoch aufragende, engelwärts gerichtete Artificium erinnerte an einen spätgotischen Batterieturm. Ja, doch aus surreal schimmerndem Mineral, aus edelstem Onyx. Das obere Drittel zeigte sich umlaufend mit geometrisch fragwürdigen, bleiverglasten Erkern geziert, die das violett-schwarze Pseudofirmament der schwer zugänglichen Welt auf ihren mit goldener Engelsschrift aufwendig gravierten Oberflächen flamboyant reflektierten.

Dort also residierte die von den Gottheiten Auserkorene. John konnte nicht einmal erahnen, welche Wunder und Aufzeichnungen im Inneren der von reich verzierten Fialen gekrönten Vorbauten aufbewahrt wurden. Möglicherweise dienten diese Erker den wissbegierigen Wallfahrern, welche den Weg nach A'lon-Ka gefunden und sich somit als würdig erwiesen hatten, als repräsentative Studierzimmer? Sicher, vielleicht waren bereits Schwestern und Brüder anderer arkaner Gemeinschaften vor Ort! Wie würde die Hohepriesterin indes auf Johns unangekündigten Besuch reagieren? War denn jemand oder etwas überhaupt in der Lage, sie unvorbereitet anzutreffen, sie zu überraschen?

Eins stand außer Frage: Sie war nicht dafür bekannt, Einladungen zu verschicken. Gewiss würde es ihr imponieren, dass ein auf der Suche nach Wahrheit und Licht Fortgeschrittener, und so die Götter wollten, bald schon vollends Illuminierter, den wohlgehüteten Weg in ihr Reich gefunden und beschritten hatte. Die Tatsache, dass Johns Orden sich seit ihrer Transfiguration, ihrer Entrückung stets an den von ihr hinterlassenen, den Göttern wohlgefälligen Lehren orientiert hatte und Großmeister Krill immer wieder gerne mit jugendlichem Stolz behauptete, doch tatsächlich während eines luziden Traums zwischen den Säulen von Ubar im Lichte eines elfenbeinfarbenen Sichelmondes von der Gesegneten höchstselbst liebkost worden zu sein, ließ zudem gute Unterhaltungen erwarten, und vielleicht sogar mehr.

Glaubte man den Legenden, so residierte sie nach irdischer Zeitrechnung bereits über zwei Jahrhunderte in A'lon-Ka, und während ihr Geist immer mehr Wissen ansammelte, tiefer und tiefer in die Arkana der Schöpfung eindrang, diese studierte und entschlüsselte, hatte sie sich ihre äußere Erscheinung kraft ihres alles in diesem gläsernen Reich beeinflussenden Willens im besten Alter bewahrt. John schämte sich nicht ob des flüchtigen Gedankens, demnach seine gut trainierte Statur, sein glatt rasiertes Mittvierziger-Gesicht mit den hellblauen Husky-Augen und sein leicht angegrautes, gepflegt gescheiteltes Deckhaar bei ihrer Exzellenz möglicherweise nicht nur platonische Gefühle wecken würde.

Auf gewundenen, edelstein- und kristallflankierten Pfaden näherte er sich zügig dem Ziel seiner Âventiure; eine Reminiszenz hielt schritt. Ja, denn die bezaubernde, wenn auch sterile Umgebung ähnelte tatsächlich der Oberfläche eines der ausgehöhlten Pseudomonde von Ob'zygoth, in dessen verzweigtem Tunnelsystem er vor wenigen Monaten auf ein Nest streitsüchtiger, den Großspinnen von Leng erschreckend artverwandter Arachnoiden gestoßen war. Und obzwar er wusste, dass die Hohepriesterin derlei Gezücht in ihrem Herrschaftsbereich keineswegs duldete, horchte er die ihn umlagernde Stille für ein paar Wimpernschläge aufmerksam aus. Nichts! Wohltuende Geräuschlosigkeit, kobaltblauer und amethystfarbener Schimmer, eisige Wege in silberhellem Schein. Gewiss würden die Götter diese Momente genaustens beobachten. Ohne Frage, sie waren gegenwärtig: hochheilig wachend, alle Schritte messend, jeden Gedanken luftig umspielend, verborgen, unsichtbar, unnahbar – unvergänglich! Sie waren mit ihrem Diener, waren mit John …

Wie nicht anders zu erwarten, wurde das weitausstrahlende Innere des Turms weder durch ein massives Eisengatter noch ein reich beschnitztes Holzportal von der Außenwelt separiert. Wozu auch? Wer es vermochte, hier zu wandeln, ließ sich nicht von niederen Absichten leiten. Der Magus trat durch offene, von beindruckenden Tympana gezierte Arkaden ein, und die nicht minder kühle, die Geräusche seiner gestiefelten Schritte in Echos transformierende Eingangshalle ließ ihn schon bald von Regenbogenlicht emanierenden Paravent-Oberflächen aus seidigem Stoff, wie sie die gesamte Innenfassade herab an perlmuttfarbenen Seidenbändern angebracht waren, geblendet zurück. In diesem sich offensichtlich über Zeit verstärkenden Brennpunkt buntsolarer Manifestationen aus hochschwingenden Gefilden rang er kurzzeitig mit einem unvertrauten Drehschwindel. John, der seinen Verstand für gewöhnlich mit dem Eifer eines vernarbten Flagellanten geißelte und nur solchen Gedanken Einlass in sein Bewusstsein gewährte, die klar definierten Vorstellungen entsprachen, wunderte sich, ob in dieser strahlendurchfluteten Räumlichkeit überhaupt etwas Unheiliges bestehen konnte. Etwas Unheiliges sicher nicht, doch wann war überhaupt das Heilige, das Allumfassende gegenwärtig? Spottete das Absolute nicht grundsätzlich einer genauen Definition, wurde es durch Namen und Beschreibungen nicht von jeher begrenzt? War Heiligkeit denn überhaupt absolut? Na ja … Etwas, das sich innerhalb der sichtbaren Realität ereignete, konnte höchstens mit dem Numinosen in Verbindung stehen, es aber nicht vollumfänglich repräsentieren. War die Heiligkeit, die so viele in seinem Orden anstrebten und die in der Mystikerin von A'lon-Ka manifest geworden war, nicht ein Anker jener Über-Welt, eine Entsprechung des Pleroma aus dem alle Möglichkeiten, sämtliche Gedanken und jedwede Vorstellungen aufstiegen? Wie konnte etwas Definierbares mit dem Unverwortbaren in Beziehung stehen, und was war unterdessen mit den weniger edlen Neigungen? Traten sie ebenfalls aus dem Nichts in das Sein, oder bildeten sie sich erst unter den Sichelschwüngen des Chronos, den vergänglichen Wirkmächten der Elemente bis ans Ende aller Tage überantwortet?

Selbstverständlich konnte der arkane Abenteurer Antworten auf derlei Fragen geben, war er doch ein fleißiger Student der Schriften … Aber stellten diese zu Tinte erstarrten Einsichten der Altvorderen auch einen persönlichen Erfahrungsschatz dar? Zum Teil. John hatte sich nicht bloß gehaltvoll gebildet, sondern auch praktische Feuerproben durchlebt, welche die Überlieferungen des Ordens bestätigten; wenn auch er sich eingestehen musste, dass eine alternative Erklärung der Zusammenhänge oftmals nicht komplett abwegig war. Also, welchen Wert besaßen übernommene, kaum überprüfbare, vermeintliche Erkenntnisse? Eine Weltanschauung, die sich eingedenk persönlicher Erlebnisse geformt hatte, war dem naiven rezitieren oberflächlicher Weisheiten in jedem Falle vorzuziehen.

Vielleicht war es aber auch schlicht und ergreifend wahr, dass sich manche Sachverhalte dem Erfahrungswissen entzogen und vielmehr an den Glauben appellierten. Eine Ansicht, die der Ausrichtung des Chorus der Sterne wohlgemerkt widersprach, denn die Veredlung und finale Selbsterlösung durch Gnosis war dessen Dogma. Wie dem auch sei, John hatte in seinem Leben schon einige, den engen Horizont und die bemitleidenswerte Vorstellungskraft der Uneingeweihten verspottende Erfahrungen gemacht, und nun? Ja, nun befand er sich abermals auf dem Weg zu faustischen Erkenntnissen, weit jenseits der Versprechungen unkritisch einverleibter, massentauglicher Lebensentwürfe aus den einfach vernetzten Krämerhirnen spirituell kastrierter Selbstsuchtprediger.

Die Hohepriesterin von A'lon-Ka! Jawohl, sie würde ihn in die finalen hermetischen Geheimnisse einweihen, den Schleier zu noch namenlosen Daseinssphären lüften, die verbotene Sprache intonieren, die Wege zur Langlebigkeit und die richtungslosen Pfade bis an den Hof der Götter weisen.

Der Magus atmete gleichmäßig, wappnete sich. Nach diesem gedanklichen Exkurs musste er zum Aufstieg der unglaublichen Konstruktion aus lichtemanierenden Oberflächen und edlem Onyx antreten. Dieser begann in der Mitte der mit elfenbeinweißen Marmorfließen reich geschmückten Eingangshalle und zeigte sich, wie aus einem nachtschwarzen Eisbergmassiv herausgemeißelt, wendeltreppenartig in schwindelerregende Höhen führend. Doch bevor er sich daran machte, nahm er einen großen Schluck von dem den Geist wie auch den Körper nährenden Elixier aus den Gezeitenschlünden der verborgenen Tiefseemetropole. Den Runen-Tornister mit der gezähmten Lohe von Vega-IV legte er neben Bruder Aulus’ Folianten, seinen Wanderstab lehnte er an den von zwei freistehenden, mit okkulten Zeichen reich gravierten ionischen Säulen definierten Treppenaufgang; einzig die Feldflasche trug er mit sich. Im Licht des sagenumwobenen Turms bemerkte John auf einmal eine dicke Ruß- und Staubschicht, die er aus den ungesunden Sphären Euryths mitgebracht haben musste. Geschwind hatte er sie abgeklopft, trat ein paar Mal auf, räusperte sich und begann schließlich den mühsamen Aufstieg.

Er war bereits länger unterwegs, als ein Schwarm Byakhees für die Durchquerung des Vakuums zwischen zwei Pulsaren benötigte, und sein Herz pochte spürbar. Doch die Götter, fürwahr, sie verliehen ihm Kraft, die stummen Rezitationen der Psalmen aus dem Ordensbrevier nährten die Zuversicht, und da, in farbigen Lichterglanz gehüllt stieß er endlich gegen eine metallene Bodenluke. Gespannte Stille. Hinter dieser schlichten Grenze also würde die Ordensheilige auf ihn warten. Die Luke zeigte keine aufwendigen Verzierungen, keinerlei Gravuren, lediglich ein faustbreiter patinierter Bronzegriff prangte in ihrer Mitte. Ein letzter Schluck. Der Pilger hatte so viele Fragen. Wie sollte er sie mit trockener Kehle, mit trockenen Lippen anständig vorbringen? Eine Handfläche voll des belebenden Nass fuhr durch sein Gesicht und benetzte seine pochenden Schläfen – die Feldflasche war leer. John nahm vor freudiger Erwartung nicht wahr, ob er sie wieder zurücksteckte oder ob sie die steile Wendeltreppe hinabfiel, doch stemmte er die Luke mit aller Kraft auf … Sodann umfing ihn Dunkelheit.

Er musste tatsächlich die gesamte Distanz, Stufe für Stufe, bis in die Eingangshalle hinabgestolpert, hinabgerutscht sein. Beunruhigt, überrascht, seinen Pilgerstab und den Tornister mit der magischen Flamme nervös ergreifend, den Folianten flüchtig umfassend, es sich jedoch eilig anders überlegend, sodann wieder himmelwärts, die schwindlig machenden Onyxstufen unter dem Hämmern eines leidenden Herzens und mit schmerzenden Beinen hastig erklimmend. In der Turmkammer, dem Skriptorium, dem inneren Sanktum der Mystikerin traf er auf eine unangemessene Dunkelheit und einen widernatürlichen Geruch. Stille, wirre Gedankenfetzen. Nachdem John das lebendige Licht im Inneren der Uranglasphiole geweckt hatte, sah er genauer, sah er klarer, weiteten sich seine hellen Augen. Da war sie, die Hohepriesterin von A'lon-Ka, Meisterin aller geheimen Lehren, hocheifrige Zelotin und Kardinalsweib der Götter, auserkorene Weisheitsbringerin, Tochter des Pleroma. Genauer gesagt sah er auf dem polierten Steinoden der winkellosen, von alchemistischem Gerät und wenigen schlichten antiken Möbeln bestandenen, mit verheerten Folianten und Buchseiten übersäten Kammer das, was jene von ihm quer durch unzählige Himmel und Höllen Gesuchte einst gewesen war.

Aus ihren verborgenen Thronsälen spähend teilten die Götter sicherlich diesen den Magier ebenso enttäuschenden wie schockierenden Anblick. Hochempathisch wussten sie um seine bebenden Blicke, welche den in der Mitte des runden Raumes in sich zusammengesackten, mumienartigen Leichnam entsetzt musterten. Die Reste einer ausgebleichten Toga definierten zierliche Proportionen, das symmetrische Antlitz einer jungen Erwachsenen starrte maskenhaft in Richtung der hohen Decke; ihr wohlgeformtes Haupt, sprödes pechschwarzes Haar tragend, war verkrustet und nekropolentauglich konserviert in den Nacken gefallen. Als John, sich aus der Lähmung des Augenblickes befreiend, ein paar Schritte vorwärts wagte, um den abgestorbenen Tentakel-Wucherungen im Inneren der blank daliegen Augenhöhlen dieser einstigen Schönheit ansichtig zu werden, wich er sofort instinktiv zurück, woraufhin der bereits überdehnte Schädel seinen Halt verlor. Den dumpfen Aufschlag vernahm er noch, dann umfing den Weltenpilger abermals Dunkelheit …

Irgendetwas Merkwürdiges, irgendetwas, die von einer guten Genetik gesetzten Grenzen Überschreitendes musste in den folgenden Augenblicken in der Innenwelt des John Barnabas Finch vor sich gegangen sein. Jedenfalls würde er sich später nicht mehr erinnern können, ob jene delikat irrsinnige Maßnahme ritueller Verehrung vor oder nach seiner Bewusstlosigkeit stattgefunden hatte. Doch brach er im verschreckten Dämmerschein lebendigen Lichts den pseudomumifizierten Leichnam der Hohepriesterin entzwei. Sodann fraß er ihn auf – Stück für Stück –, den toten Leib und auch das vertrocknete Gewürm, das es sich einst darin gemütlich gemacht hatte, jenen sich nicht länger windenden parasitären Makel, das Kainsmalgeschenk der Götter. Ominöse, deplatzierte Geräusche und ein spürbares Schwanken der Turmkonstruktion brachten den von feixenden Mächten des Wahnsinns belagerten Wallfahrer zurück aus einer unheiligen Trance. Von einem hypothetisch anwesenden Profanen hätte all dies einen verstandeszermalmenden Tribut gefordert, und John wusste, schon gleich würde er den Runen-Tornister öffnen und die einst gezähmte Flamme entfesseln müssen, um jene noch gesichtslosen Schrecknisse zu vernichten, die bereits in den Korallenwäldern seine Schritte belauert hatten und nun dabei waren, die steile Onyxtreppe herauf zu poltern.

Als sich der Hochgrad-Magus des Chorus der Sterne durch nekrotische Gewebeschichten und Nester erstorbener wendelförmiger Abscheulichkeiten gefressen, alles gierig in sich hineingestopft hatte, waren unverdaute Papierfetzen zwischen dem einst sakrosankten, doch letzten Endes bloß blasphemischen Fleisch zu Tage getreten: die finalen Notizen der Meisterin! John las sie stumm, bevor er sie ebenfalls verschlang … Glaubte er den Aufzeichnungen, so war dieser Ort beileibe kein heiliger, o nein, sondern ein gar heimtückischer – eine teuflisch schlau gestellte Falle. Mit dem finsteren Makel, dem todmachenden alten Wurm und dessen kichernden Larven segneten die Gottheiten ihre treue Dienerin, ließen sie sie ebenso langsam wie zynisch verrotten. Ein Lockmittel für alle Wissbegierigen, und trotz ihres qualvollen Endes blieb das Mirakel von A'lon-Ka bestehen … Jene üblen Fetzen, mit dem unmenschlichen Blutgekritzel darauf; flammenden Buchstaben, die Geheimschrift der höchsten Arkandisziplin:

»Viel Zeit bleibt mir nicht. Schwestern und Brüder, ich ersuche eure Seelen: betet nicht zu den Göttern des Chorus der Sterne! Weder zu ihnen noch zu wie auch immer gearteten anderen. Sie sind lediglich ältere kreatürliche Existenzen, eine evolvierte Spezies wie wir. Die flehentlichen Gebete der Einfältigen sind ihnen ein Schmaus, die leidvollen Gedanken der sinnlos Hoffenden ein feuchtes Labsal. Wie wurden wir, wie wurde ich getäuscht …«

»Was wir die hohe Kunst der Magie nennen und mühsam erlernen, ist ihnen eine angeborene Befähigung. Ich Närrin traf sie, traf ihre halb unsichtbaren Sternenleiber im Schatten des Sanktuariums-Turms von A'lon-Ka, weit jenseits der Zwillingssonnen von Carcosa.«

»Böse Stimmen quälen meinen von fiebrigen Visionen gemarterten Geist. Der Parasit regt sich bereits. Ich bin gefangen in diesem Konstrukt der Gnosis, meinem nunmehr entweihten Skriptorium edler Lehren.«

»Betet nicht zu den Göttern, denn starren sie erst einmal aus ihren lichtlosen Katakomben zwischen den toten Sternen in euren Verstand, zehren sie von euch, verdrehen sie euren Willen, spielen sie mit und gegen euch. Eure Hoffnungen und Ängste, eure Leidenschaften sind ihr tägliches Brot. Meine selbstlosen Taten, sämtliche Initiationen … All dies diente bloß ihrer Belustigung, war Teil eines perfiden Plans.«

»Ihre niedlichen Chimärenköper, sie wuchsen so schnell. Wimmern in der Dunkelheit, deformiert, blind und doch von meinem sternenfeurigen Blute durchströmt. Zwischen den weiten Korallenfeldern tollen sie umher, und von Zeit zu Zeit tragen amethystfarbene Nebel die Disharmonien schauerlicher Schlaflieder aus zahllosen missgestalteten Mäulern bis in das Innere dieser Kammer. Gedenket Eva, denn sie ward nicht für den Mann allein geschaffen. Zu mir kamen sie, die Götter, infolge flehentlicher Lobpreisungen und im Schweiße meines Angesichts traf ich sie hier, hier in A'lon-Ka.«

»Starke Schmerzen, Parasitenbrut … Ihre Väter – nur geiles, blökendes Vieh wie wir … Sind ihre Nutztiere, einzig dafür gemacht … Energie, Lust, Zorn. Hymnen an den missgestalteten Sohn der Leere, augenloses Gezücht. Gottheiten ohne greifbare, doch wirkmächtige Form … Halbunsichtbare Schrecken aus dem entsiegelten Abyss, vielarmige Schlurfer schismatischer Gegenschöpfung … Menschen so konstruiert, schwach, unselbstständig, kein wirkliches Selbst … Bewusstsein erschaffende Klumpen uranfänglicher Bakterienstämme … Die Alten in uns, erwachen erneut und erneut zu kurzfristigem Leben. Intelligenz, Ichbewusstsein – zwei Krankheiten. Empfindsame Gebärerinnen für jene, die zwischen den Sternen hausen … Halbwesen, entkernte Schimpansen, schwarzäugige Käferrasse … Kein Leben, kein Tod, nur Leid und Verwesung, zuvor endlose Illusionen …«

Während Johns Verstand den Trümmerfall seiner kollabierenden Welt zu dämpfen versuchte, erbebte der Turm unter dem dämonischen Ansturm schändlicher Groteskenleiber. Das Phiolenlicht war gänzlich erloschen, als er in der unreinen Dunkelheit der Turmkammer den Runen-Tornister, das Behältnis der allesvernichtenden Flamme, mit zittrigen Händen griff, sich in Richtung der geöffneten Luke rollte, die Lider zusammenpresste und dessen Deckel mit einer eleganten Bewegung löste. Von den blinden, sich unter quiekendem Grunzen seelenlos die finalen Stufen hinaufdrängenden, mit unzähligen verkrüppelten menschlichen Arm- und Beinpaaren bewachsenen und endlich in einem Annihilationsfeuerschwall lodernd vergehenden amorphen Blasphemien niederster Ordnung würde einzig und allein krankmachende Asche übrigbleiben. So wie John mit geschlossenen Augen die ihm in den kämpfenden Sinn drängenden Schutzmantren des Feuers brüllte, so erbebten die Turmfundamente auf das Empfindlichste, bis schließlich das lästerliche Klangbabel der nunmehr letzten in ihre fragwürdigen Bestandteile zerlegten Unaussprechlichkeit vollends erstarb. Die edlen Wandbehänge, die wundersam scheinenden, das Innere des Turmes von A'lon-Ka mit Licht speisenden Paravent-Oberflächen teilten das Schicksal jener Monstrositäten im gnadenlosen Brandsturm der Annihilations-Lohe von Vega-IV. Finsternis, abermals.

Doch der Erdling? Er hatte überlebt! Wieder einmal war er aus einem Konflikt siegreich hervorgegangen. Gutes Timing plus die korrekte Einschätzung der Möglichkeiten kombiniert mit seinem kühlen Verstand und dem Vertrauen auf die Kräfte der Ordnung hatten ihn vor dem Auswurf des Universums bestehen lassen. Auf einstudierte Weise huldigte John Barnabas Finch den Göttern, sandte er ihnen Dankesgebete; mit rußverschmiertem Gesicht blickte er in die tiefschwarz gähnende Lichtlosigkeit.

Die Illuminationen waren dahin, so wie auch der Geist, der diese Mauern einst manifestiert und dessen körperliche Essenz sich Johns Genetik beigemischt hatte – in aeternum. Eine subtile Veränderung hatte stattgefunden, und ein dumpfes, allesdurchdringendes Rumoren mehr erspürend als tatsächlich vernehmend, warf er den ausgebrannten Runen-Tornister über seine Schulter in den düsteren, brandverheert glimmenden Raum. Ebenda war kaum etwas zu erkennen und ein unheilverheißender Rauch begann sich gefährlich rasch zu mehren. Scharfe Eichensplitter und zerbrochenes Uranglas ließen sich lediglich ertasten, und mehr noch als John den Verlust seines durch das Beben zerstörten Pilgerstabs und die damit einhergegangene Zerstäubung des lebendigen Lichts bedauerte, sann er darauf, den Abstieg schleunigst hinter sich zu bringen – hinweg von diesem vielleicht einstmals ehrwürdigen Ort.

Entweihtes Fleisch, dieser merkwürdige Geschmack, diese eigentümliche Konsistenz … Und was befand sich eigentlich in den Erkern? Von der Rundkammer aus konnte man gewiss durch magisch versiegelte Passagen in die anderen Räumlichkeiten, die mutmaßlichen Studierzimmer innerhalb des Artificiums gelangen. Womöglich, doch viel wichtiger war: Was hatte es letzten Endes mit jenen üblen, blutbekritzelten Fetzen auf sich? War die Grande Dame der Gnosis am Ende einfach wahnsinnig geworden, wahnsinnig aufgrund eines selbst gewählten Schicksals? Hatte sie tatsächlich die Götter geschaut? Wieso dann solch ketzerischen Zeilen? Wessen Auswurf waren die amorphen Sternenbestien gewesen, die sich so viehisch die Turmtreppe hinaufgedrängt hatten? Konnte man dem Vermächtnis der Mystikerin überhaupt trauen, oder war es ihr am Ende wie so vielen namhaften und verkannten Anderen ergangen? Hatte sie auf der Suche nach Erkenntnissen und Macht, nach Wahrheit und Licht nicht nur ihren Verstand, sondern auch ihre Seele verloren? Fragen über Fragen, doch der Magus musste sich zusammenreißen, und so fokussierte er seinen Verstand, konzentrierte sich auf die halsbrecherische Aktion, jene unvermeidliche.

Durch glimmende Aschehaufen nahm John Stufe für Stufe, bis er, einem gewissen Rhythmus folgend, ein Gespür für die holprige Angelegenheit bekommen hatte, und während Schwefelluft seine Nase reizte, hielt er stoisch auf das Ende des lichtlosen Abstiegs zu. Schließlich dauerte dieser nicht annähernd so lange, wie er angenommen hatte. Ein Eindruck, der vielleicht mit dem Verlust des Zeitgefühls einherging, oder war sein Verstand möglicherweise damit beschäftigt, dem subtilen Rumoren zu lauschen, welches den dramatischen Ereignissen unmittelbar gefolgt war? Wie dem auch sei, mit der genagelten Sohle seines rechten Stiefels stieß er schon bald an eine der ionischen Säulen, und während Lichtschlieren von außen ungetrübt in die düstere Eingangshalle drangen, ärgerte er sich über den Verlust des wertvollen Folianten, von dem nicht einmal Asche übriggeblieben war. Kostbare Traktate … Bruder Aulus würde nicht begeistert sein.

Der Pilger streckte sich, atmete tief durch, klopfte Asche und Dreck von seiner Kutte und trat hinaus in die nunmehr verdächtig daliegende Geisterlandschaft. Einsam zog A'lon-Ka auf nicht genau lokalisierbaren Bahnen durch die Schattenbereiche des multidimensionalen Kosmos, und darum nahm er an, dass die nicht näher bekannte Wesenheit Yog'thitl, in deren Machtbereich sich diese durch den Geist einer Sterblichen einst gezeugte Welt aus flirrenden Kristallen, blutroten Korallenwäldern und pseudopolaren Ansichten befand, kaum etwas von den jüngsten Begebenheiten mitbekommen hatte. Wenn auch das stärker werdende Rumoren, welches nun von einem hochfrequenten Pfeifton durchdrungen wurde, John zur Eile mahnte. Finale Blicke in Richtung des wie ausgebombt wirkenden, dünne Rauchschwaden aus zahlreichen Erkern ausstoßenden Turmes werfend, daraufhin den Tunnel des Bergmassivs zügig durchquerend und stramm weitermarschierend, erreichte er schon bald das pittoreske Nesseltierfeld vor dem Portalpunkt. Hier mäßigte er seine Schritte. Quasi unbewaffnet mussten fortan seine vigilanten Sinne genügen. Und die Götter … Ja, was war eigentlich mit … Nicht jetzt! John sperrte ähnliche penetrant in seinen Verstand drängende Fragen augenblicklich aus.

Die überdimensionierten blutroten Korallen mit ihren grotesken Verästelungen reichten ebenso weit wie sein alarmiertes Spähen, nicht weniger weit denn sein vorsichtiges Lauschen. Nichts, Stille – gut! Natürlich, er wusste, dass dieses Vorgehen Risiken barg, doch schlug er sich querfeldein. Die Annihilationsflamme hatte bestimmt auch die letzte jener augenlosen Missgeburten vertilgt, und während sich ein Teil von John noch wunderte, wieso er den ungewissen Weg quer durch den dichten Nesseltierwald wählte, den rettenden Portalpunkt ignorierend, hielten ihn sein von Ascheresten und fragwürdigem Fleisch belegter Gaumen sowie brennender Durst dazu an, rasch etwas Trinkbares zu finden. Es dauerte bloß wenige Minuten, bis John inmitten der surrealen Szenerie fündig wurde; sein ambivalentes Gespür für das magnetische Fluid hatte ihn nicht getäuscht. Ein kristallklares, den violett-schwarz pulsierenden Scheinhorizont schimmernd widerspiegelndes Gewässer durchzog die in verschiedenen Blautönen changierende Oberfläche von A'lon-Ka in einem geradlinigen Bett. Mit Leichtigkeit brach der durstige Abenteurer einen unregelmäßigen Ast von einer der, wie er zugleich bemerkte, angenagten Großkorallen ab, kniete sich an das Flussufer und lotete vorsichtig die Tiefe aus. Nicht sehr beeindruckend – prima. An diesem widersprüchlichen Ort musste er mit allem rechnen, und mittlerweile stand außer Frage, was sich hier einst widerlich blökend gelabt hatte.

Genüsslich spülte er seinen Mund aus und trank ohne Scheu von dem erquickenden Element. Selbst der Geschmack des wirkmächtigen Elixiers aus den Mutter Hydra und Vater Dagon verherrlichenden Urmeertempeln in Y'ha-nthlei konnte hier nicht mithalten. Die Reinheit dieses Wassers war nicht zu übertreffen, und vor allem war es ohne vorhergehende alchemistische Wandlungsprozesse genießbar. John bedauerte, dass er nicht länger über ein geeignetes Behältnis verfügte, um etwas von diesem Wunder mit nach Hause zu bringen. Hände, Gesicht, Haare, seine verrußten Augenlider, bald schon fühlte er sich erfrischt, und als er die hellen Pupillen seines Spiegelbildes in dem kristallmatten Strom silbern aufflammen sah, wusste er, dass die Hohepriesterin von A'lon-Ka sein Vorgehen nicht verurteilte; in welchem Zustand und in welchen Sphären auch immer sie ihren ewigen Pilgerweg bereits fortsetzen würde. Womöglich, so überlegte er, ruhten nicht nur die allgütigen Blicke der Götter auf dem finalen Abschnitt dieser Âventiure.

Ebendieser lag im Nu hinter ihm. Regeneriert und neuen Mutes ließ er sich schon bald in der Mitte des von zahlreichen Glyphen und Runen definierten Schutzkreises des Portalpunkts nieder. Er würde ohne Utensilien reisen müssen, doch war er erfahren genug, um zu wissen, dass solch materielle Dinge ohnehin bloß Krücken darstellten. Mit der Rechten zog er den magischen Kreis noch einmal nach, dann schloss er den zeremoniellen Gesten die Rückkehrformel zur Erde an:

»Sanum.K'a – Yug'sab.hanot – Magna.Mater – Adonai, Kyrios, Luzifer«

»Sanum.K'a – Yug'sab.hanot – Magna.Mater – Adonai, Kyrios, Luzifer«

Tatsächlich musste er zweimal ansetzten, und nach einer kurzen Kontemplation gemahnte er sich abermals der allmächtigen Gottheiten; er bat sie um das nötige Geschick und eine gute Reise. Sodann umfingen ihn aggressive Anhauche und wirbelnde Dunkelheiten. Fratzen halbidiotischer, leidenschaftsgezeugter Egregore und Madenmäuler jüngst verbannter Gedankenparasiten, lumineszente Herrlichkeiten und böse Vorahnungen stiegen simultan vor ihm auf. Die letzten bildhaften Impressionen, die sich für Nanosekunden an seine temporäre Hellsichtigkeit klammerten, waren die anachronistischen Ansichten frühester Epochen. In diesen zierten titanische Schwarmstädte das Steppenland einer vorsintflutlichen Urkontinentalwelt. Ob das zyklopische Tempelgefängnis den Ewigen Träumer zu jenem Zeitpunkt bereits bannte, konnte John nicht sagen, zu rasch passierten die wunderlichen Eindrücke diese Vision voller Verborgenheiten. »Den Ewigen Träumer?« Wessen Gedanken dachte er hier eigentlich? Dann plötzlich ein unangenehmer Schreck, ein Erwachen, wo zuvor kein Ruhen war. Der Übergang – er war geglückt … War er das?

Eins war sicher, dies hier war nicht die Erde … In Gedanken versunken lehnte John Barnabas Finch bereits für eine ganze Weile an der von irisierendem Moos überwucherten Felswand eines namenlosen Gebirges – irgendwo jenseits der profanen Welt und fernab menschlicher Sphären, weit entfernt von zu Hause. Ja, er war noch immer unterwegs, hatte er doch tatsächlich die Orientierung verloren – das Risiko der Berufung. Nun, unter welchen verborgenen Konstellationen der Erdling auch immer weilte, er konnte seinen Blick von den farbenprächtigen, durch die titanische Elementgewalt einer außerirdischen Biosphäre entfesselten Blitzbündeln, die in der Ferne vor einem wolkendurchzogenen Nachtpanorama wild niedergingen, nicht abwenden. Wozu auch? Ebenso einmalig wie fantastisch war dieses Naturschauspiel, und er konnte es kaum erwarten, bis eine neue Lichtkanonade die Umrisse verbotener Paläste, verheerter Stahlgerippe und unbekannten Göttern geweihter, einst säulenbestandener Tempelplateaus abermals in die Sichtbarkeit zwingen würde. Derartig waren die beindruckenden Formen, die den bis zum Horizont reichenden Waldozean aus phosphoreszierenden, entfernt an Trauerweiden erinnernden Fremdweltgewächsen bisweilen unterbrachen und John über die Barone und Priester dieser Welt nachdenken ließen. Wie viele nicht katalogisierte Monde und Sonnen würden ihre Bahnen vollendet haben, seit jene einer monströsen Flora die Herrschaft über ihr Reich architektonischer Wunder überlassen hatten, und was war derweil mit ihnen, den fraglos vernunftbegabten Königskreaturen dieser Sphäre geschehen? Lediglich die unregelmäßigen Fassadenumrisse, der sich von Zeit zu Zeit in dunkler Glorie vor John ausbreitenden Mitternachtsszenerie einer im Art-Déco Stil verzierten Architektur antiker Formen zeugten noch von einer einstigen, wie auch immer gearteten Hochzivilisation. »Einer