Hunger - Knut Hamsun - E-Book
SONDERANGEBOT

Hunger E-Book

Knut Hamsun

0,0
16,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

«Ein ergreifendes und hinreißend lustiges Buch über den Hunger ... ein größeres Leseerlebnis habe ich wohl nie gehabt.» Astrid Lindgren

Ein junger Mann irrt durch eine Stadt, ohne Ziel und Daseinszweck, körperlich ausgezehrt, doch «vom fröhlichen Wahnsinn des Hungers gepackt». Das ist es, was ihn aufrecht hält: ein irrlichternder Geist, ein seismografisches Empfinden, eine fantastische Erfindungs- und Einbildungskraft. Den Kapriolen seiner halluzinatorischen Zustände verdankt der weltberühmte Roman jene ungeheure Komik, die schon Astrid Lindgren begeisterte. Nicht, was in ihm geschildert wird – nämlich die manischen Ausgeburten von «Hirnfieber» bei Nahrungsentzug –, sondern, wie diese existenzielle Grenzerfahrung gestaltet ist, macht ihn zu einem Meilenstein der literarischen Moderne. Der desolaten Verfassung des Ich-Erzählers entspricht ein fiebriger Sprachduktus, der Scham und Größenwahn, Verzweiflung und Überspanntheit nicht nur behauptet, sondern erstmals eine eigene radikale Erzählweise dafür findet. Über weite Strecken im inneren Monolog gehalten, entwickelt Hamsun hier Stilmittel, die Jahrzehnte später Marcel Proust, James Joyce oder Virginia Woolf aufgreifen werden. Nie zuvor oder danach sind Entbehrung und Hunger – der nach Brot wie der nach Anerkennung und Liebe – mit so ergreifender Tragikomik wiedergegeben worden wie im Hauptwerk des späteren Nobelpreisträgers.

Deutsche Referenzausgabe nach der Erstfassung von 1890 unter Berücksichtigung des im Januar 2022 erschienenen Kommentars der Dänischen Sprach- und Literaturgesellschaft (Det Danske Sprog- og Litteraturselskab).

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 334

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das epochale Meisterwerk vom «Vater des modernen Romans» (Isaac Bashevis Singer) jetzt neu übersetzt nach der Erstfassung von 1890

Ein junger Mann irrt durch eine Stadt, ohne Ziel und Daseinszweck, körperlich ausgezehrt, doch «vom fröhlichen Wahnsinn des Hungers gepackt». Das ist es, was ihn aufrecht hält: ein irrlichternder Geist, ein seismografisches Empfinden, eine fantastische Erfindungs- und Einbildungskraft. Den Kapriolen seiner halluzinatorischen Zustände verdankt der weltberühmte Roman jene ungeheure Komik, die schon Astrid Lindgren begeisterte. Nicht, was in ihm geschildert wird – nämlich die manischen Ausgeburten von «Hirnfieber» bei Nahrungsentzug –, sondern, wie diese existenzielle Grenzerfahrung gestaltet ist, macht ihn zu einem Meilenstein der literarischen Moderne. Der desolaten Verfassung des Ich-Erzählers entspricht ein fiebriger Sprachduktus, der Scham und Größenwahn, Verzweiflung und Überspanntheit nicht nur behauptet, sondern erstmals eine eigene radikale Erzählweise dafür findet. Über weite Strecken im inneren Monolog gehalten, entwickelt Hamsun hier Stilmittel, die Jahrzehnte später Marcel Proust, James Joyce oder Virginia Woolf aufgreifen werden. Nie zuvor oder danach sind Entbehrung und Hunger – der nach Brot wie der nach Anerkennung und Liebe – mit so ergreifender Tragikomik wiedergegeben worden wie im Hauptwerk des späteren Nobelpreisträgers.

«Ein ergreifendes und hinreißend lustiges Buch über den Hunger … ein größeres Leseerlebnis habe ich wohl nie gehabt.»

Astrid Lindgren

«Stilsicher und eigen, kompromisslos und rigoros in jeder einzelnen Zeile.»

Felicitas Hoppe

Knut Hamsun (1859–1952), Sohn eines Schneiders und Landpächters, wuchs zweihundert Kilometer nördlich des Polarkreises auf. Ausgedehnte Reisen führten ihn bis nach Amerika und in den Orient, ehe er vor dem Ersten Weltkrieg schließlich in seine Heimat Norwegen zurückkehrte. 1920 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Bei Manesse sind von ihm der Roman «Pan» und der Erzählband «Die Königin von Saba», beide in Neuübersetzung, erschienen.

Knut Hamsun

Hunger

Nach der Erstausgabe von 1890 aus dem Norwegischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg

Nachwort von Felicitas Hoppe

MANESSE VERLAG

Erstes Stück

Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristiania1 umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist.

* * *

Ich liege wach in meiner Dachkammer und höre unter mir eine Uhr sechs Mal schlagen; es war bereits ziemlich hell, und die Leute liefen schon die Treppen auf und ab. Unten an der Tür, an der mein Zimmer mit alten Ausgaben des «Morgenbladet»2 tapeziert war, sah ich deutlich eine Bekanntmachung des Direktors für das Leuchtfeuerwesen, und knapp links daneben eine feiste, aufgeblasene Werbung für Bäcker Fabian Olsens frisch gebackenes Brot.

Sobald ich die Augen aufgeschlagen hatte, dachte ich aus alter Gewohnheit darüber nach, ob ich mich heute auf irgendetwas freuen konnte. In der letzten Zeit war ich recht klamm; von meinen Habseligkeiten hatte ich eine nach der anderen zum «Onkel» bringen müssen, ich war nervös und unduldsam geworden, ein paar Mal hatte ich auch einen ganzen Tag mit Schwindelgefühlen im Bett verbracht. Hin und wieder, wenn das Glück mir gewogen war, hatte ich von irgendeinem Blatt fünf Kronen für ein Feuilleton bekommen.

Es wurde immer heller, und ich begann, die Anzeigen unten an der Tür zu lesen; ich konnte sogar die mageren, grienenden Buchstaben «Leichentücher bei Jungfer Andersen, im Torweg rechts» erkennen. Das beschäftigte mich ziemlich lange; ich hörte die Uhr unten acht Mal schlagen, bevor ich aufstand und mich anzog.

Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Von meinem Standort aus blickte ich auf eine Wäscheleine und ein offenes Feld; weit entfernt stand noch die Esse einer abgebrannten Schmiede, an der einige Arbeiter gerade aufräumten. Ich stützte meine Ellbogen aufs Fensterbrett und starrte in die Luft hinaus. Es würde ganz sicher ein heller Tag werden, der Herbst war gekommen, diese angenehme, kühle Jahreszeit, in der alles die Farbe wechselt und vergeht. Auf den Straßen war bereits der Lärm zu hören, der mich hinauslockte; dieses leere Zimmer, dessen Fußboden bei jedem meiner Schritte schwankte, war wie ein undichter, unheimlicher Sarg. Es gab weder ein ordentliches Schloss an der Tür noch einen Ofen im Raum; normalerweise lag ich nachts auf meinen Strümpfen, um sie bis zum Morgen ein wenig zu trocknen. Das Einzige, womit ich mich vergnügen konnte, war ein kleiner roter Schaukelstuhl, in dem ich abends saß, vor mich hin döste und über allerlei Dinge nachdachte. Wenn es stürmte und unten die Türen offen standen, drangen alle möglichen quietschenden Geräusche durch den Boden und die Wände herein, und das «Morgenbladet» unten an der Tür bekam Risse, die so lang wie eine Hand waren.

Ich stand auf und untersuchte ein Bündel in der Ecke am Bett, ob darin etwas zum Frühstücken wäre, fand aber nichts und kehrte wieder zum Fenster zurück.

«Gott allein weiß», dachte ich, «ob es überhaupt noch einen Sinn hat, weiter nach einer Stellung zu suchen!» Diese vielen Ablehnungen, diese halben Versprechen, glatten Neins, gehegte und enttäuschte Hoffnungen, neue Versuche, die jedes Mal ins Leere liefen, hatten mir den Mut genommen. Zuletzt hatte ich mich als Rechnungsbote beworben, war aber zu spät gekommen; außerdem konnte ich die fünfzig Kronen, die als Sicherheit hinterlegt werden mussten, nicht beschaffen. Irgendeinen Hinderungsgrund gab es immer. Ich hatte mich sogar zur Feuerwehr gemeldet. Wir standen zu fünfzig Mann in der Vorhalle und streckten die Brust heraus, um den Eindruck von Kraft und großem Wagemut zu erwecken. Ein Bevollmächtigter lief umher und sah sich die Bewerber an, befühlte ihre Arme und stellte ihnen die eine oder andere Frage. An mir ging er vorbei, schüttelte nur den Kopf und sagte, ich käme wegen meiner Brille nicht in Betracht. Ich erschien erneut, ohne Brille, stand dort mit gerunzelten Brauen und ließ meine Augen so scharf wie Messer werden, und der Mann ging wieder an mir vorbei, und er lächelte – er hatte mich wiedererkannt. Und das Schlimmste von allem war, dass meine Kleidung allmählich so zerschlissen war, dass ich mich nirgendwo mehr wie ein anständiger Mensch vorstellen konnte.

Die ganze Zeit war es mit mir stetig und gleichmäßig bergab gegangen! Schließlich stand ich so seltsam entblößt von allem Möglichen da, dass ich nicht einmal mehr einen Kamm oder ein Buch besaß, in dem ich lesen konnte, wenn ich zu betrübt war. Den Sommer über hatte ich mich auf Friedhöfen oder im Schlosspark aufgehalten, wo ich Artikel für Zeitungen verfasste, Spalte um Spalte über die unterschiedlichsten Dinge, merkwürdige Erfindungen, Launen, Einfälle meines ruhelosen Gehirns. Aus Verzweiflung wählte ich häufig die ausgefallensten Themen, die mich viel Zeit und Anstrengungen kosteten und nie angenommen wurden. War ein Artikel fertig, begann ich mit einem neuen und ließ mich eher selten vom Nein eines Redakteurs entmutigen; wieder und wieder sagte ich mir, irgendwann würde es doch gelingen. Und tatsächlich, dann und wann, wenn ich Glück hatte und etwas richtig Gutes entstanden war, bekam ich fünf Kronen für die Arbeit eines Nachmittags.

Noch einmal verließ ich meinen Posten am Fenster, trat an den Waschtisch und spritzte mir ein wenig Wasser auf meine blanken Hosenknie, um sie ein bisschen schwärzer und neuer aussehen zu lassen. Danach steckte ich wie gewöhnlich Papier und Bleistift in die Tasche und ging hinaus. Um nicht die Aufmerksamkeit meiner Wirtin zu erregen, schlich ich ganz leise die Treppen hinab; vor ein paar Tagen bereits hätte ich meine Miete bezahlen sollen, doch im Augenblick fehlte mir das Geld.

Es war neun Uhr. Rumpelnde Wagen und Stimmen erfüllten die Luft, ein ungeheurer Morgenchor, vermischt mit den Schritten der Fußgänger und dem Peitschenknallen der Mietkutscher. Dieses lärmende Treiben allerorts weckte sofort meine Lebensgeister, ich hatte das Gefühl, immer zufriedener zu werden. Nichts lag meinen Gedanken ferner als nur ein morgendlicher Spaziergang an der frischen Luft. Was ging die Luft meine Lungen an? Ich war stark wie ein Riese und konnte einen Wagen mit meiner Schulter aufhalten. Eine wohltuende, eigenartige Stimmung, das Gefühl heiterer Gleichgültigkeit, hatte sich meiner bemächtigt. Ich fing an, die Menschen zu beobachten, die mir begegneten und an denen ich vorbeiging, ich las die Plakate an den Wänden, nahm den Eindruck eines Blickes wahr, der mir aus einer vorbeifahrenden Straßenbahn zugeworfen wurde, nahm jede Kleinigkeit in mich auf, all die winzigen Zufälligkeiten, die meinen Weg kreuzten und wieder verschwanden.

Hätte man an einem so hellen Tag nur ein wenig zu essen! Der Eindruck dieses heiteren Morgens überwältigte mich, ich war ungemein zufrieden und fing ohne einen bestimmten Grund an, vor Freude vor mich hin zu summen. An einer Metzgerei stand eine Frau mit einem Korb am Arm und überlegte, ob sie Würste zum Mittagessen kaufen sollte; als ich an ihr vorbeiging, sah sie mich an. Sie hatte nur noch einen Zahn im Mund. So nervös und leicht beeinflussbar, wie ich in den letzten Tagen geworden war, hinterließ das Gesicht der Frau sofort einen widerlichen Eindruck bei mir; dieser lange gelbe Zahn sah aus wie ein kleiner Finger, der aus dem Kiefer ragte, und ihr Blick war noch voller Wurst, als sie sich mir zuwandte. Sofort verlor ich den Appetit und verspürte Brechreiz. Als ich zu den Markthallen3 kam, ging ich zum Springbrunnen, trank ein wenig Wasser und blickte hinauf – die Turmuhr der Erlöserkirche4 zeigte zehn Uhr.

Ich ging weiter durch die Straßen, trieb mich herum, ohne mich um irgendetwas zu kümmern, blieb ohne Grund an einer Ecke stehen und bog in eine Seitenstraße ein, ohne dass es dafür einen Anlass gegeben hätte; mir war es egal, ich ließ mich durch diesen heiteren Morgen tragen und bummelte ohne Sorgen zwischen anderen glücklichen Menschen hin und her. Die Luft war leer und hell und mein Gemüt ohne einen einzigen Schatten.

Zehn Minuten lang hatte ich ständig einen alten, hinkenden Mann vor mir. Er trug ein Bündel in der Hand und arbeitete mit seinem ganzen Körper, mit aller Macht, um schnell voranzukommen. Ich hörte, wie er vor Anstrengung keuchte, und mir kam der Gedanke, dass ich sein Bündel tragen könnte; allerdings versuchte ich nicht, ihn einzuholen. Oben an der Grændsen traf ich Hans Pauli, der mich grüßte und eilig weiterging. Warum war er so in Eile? Ich hatte überhaupt nicht daran gedacht, ihn um eine Krone zu bitten, ich wollte ihm sogar so schnell wie möglich eine Decke zurückgeben, die ich mir vor ein paar Wochen von ihm geliehen hatte. Sobald ich wieder ein wenig auf die Beine gekommen war, wollte ich niemandem mehr eine Decke schuldig sein; vielleicht begann ich schon heute einen Artikel über die Verbrechen der Zukunft oder die Freiheit des Willens zu schreiben, was auch immer, irgendetwas Lesenswertes, wofür ich mindestens zehn Kronen bekäme … Und bei dem Gedanken an diesen Artikel überkam mich plötzlich der Drang, auf der Stelle damit zu beginnen und aus meinem vollen Hirn zu schöpfen; ich wollte mir einen geeigneten Platz im Schlosspark suchen und nicht eher ruhen, bis ich den Artikel beendet hatte.

Aber der alte Krüppel vor mir auf der Straße vollführte noch immer die gleichen zappelnden Bewegungen. Schließlich ärgerte es mich, diesen hinfälligen Menschen die ganze Zeit vor mir zu haben. Seine Reise schien kein Ende zu nehmen; vielleicht hatte er beschlossen, zu demselben Ort wie ich zu gehen, dann würde ich ihn den ganzen Weg vor Augen haben. In meiner Erregung hatte ich den Eindruck, als würde er bei jeder Querstraße ein wenig langsamer, als warte er gleichsam darauf, in welche Richtung ich gehen würde, worauf er sein Bündel wieder hoch in die Luft schwang und mit äußerster Kraft weiterlief, um Vorsprung zu gewinnen. Ich gehe weiter, betrachte dieses gequälte Wesen, und meine Verbitterung über ihn wächst; ich spürte, wie er mir nach und nach meine heitere Stimmung verdarb und diesen reinen, schönen Morgen augenblicklich ins Hässliche herabzog. Er sah aus wie ein großes, humpelndes Insekt, das sich mit aller Gewalt einen Platz in der Welt erobern und den Bürgersteig für sich allein behalten wollte. Als wir die Anhöhe des Hügels erreicht hatten, wollte ich mich nicht länger damit abfinden, ich wandte mich einem Schaufenster zu und blieb stehen, um ihm Gelegenheit zu geben, zu verschwinden. Doch als ich nach einigen Minuten weiterging, lief der Mann erneut vor mir, auch er war still und leise stehen geblieben. Ohne nachzudenken, lief ich drei, vier stürmische Schritte nach vorn, holte ihn ein und schlug dem Mann auf die Schulter.

Er blieb sofort stehen. Wir starrten uns beide an.

«Einen kleinen Schilling für Milch», sage er schließlich und legte den Kopf schief.

Tja, da stand ich dumm da! Ich suchte in meinen Taschen und sagte: «Für Milch, ja. Hm. Geld ist knapp in diesen Zeiten, und ich weiß nicht, wie dringend Sie es benötigen.»

«Ich habe seit gestern in Drammen5 nichts mehr gegessen», erklärte der Mann. «Ich besitze nicht eine Øre und habe noch keine Arbeit gefunden.»

«Sind Sie Handwerker?»

«Ja, ich bin Nadler6.»

«Was?»

«Nadler. Übrigens kann ich auch Schuhe machen.»

«Dann sieht die Sache anders aus», sagte ich. «Warten Sie hier ein paar Minuten, dann besorge ich Ihnen ein bisschen Geld, ein paar Øre.»

Ich lief in aller Eile die Pilestræde hinunter, wo ich einen Pfandleiher im ersten Stock kannte; ich war übrigens noch nie bei ihm gewesen. Als ich durch das Tor ging, zog ich hastig meine Weste aus, rollte sie zusammen und steckte sie mir unter den Arm; daraufhin stieg ich die Treppe hinauf und klopfte in dem Laden an. Ich verbeugte mich und warf die Weste auf den Tresen.

«Anderthalb Kronen», sagte der Mann.

«Ja, ja, danke», erwiderte ich. «Wäre sie nicht ein bisschen eng, würde ich mich natürlich nicht von ihr trennen.»

Ich bekam das Geld und den Schein und lief zurück. Im Grunde war die Sache mit der Weste eine ausgezeichnete Idee, so blieb mir noch Geld für ein üppiges Frühstück, und bis zum Abend sollte meine Abhandlung über die Verbrechen der Zukunft geschrieben sein. Auf der Stelle fand ich das Dasein erträglicher und eilte zurück zu dem Mann, um ihn mir vom Halse zu schaffen.

«Hier, bitte sehr!», sagte ich zu ihm. «Es freut mich, dass Sie sich zuerst an mich gewandt haben.»

Der Mann nahm das Geld und musterte mich. Wieso stand er da und starrte mich an? Ich hatte den Eindruck, dass er vor allem meine Hosenknie musterte, ich war diese Unverschämtheit leid. Glaubte der Schuft etwa, ich wäre wirklich so arm, wie ich aussah? War ich etwa nicht so gut wie mittendrin, einen Artikel für zehn Kronen zu schreiben? Ich hatte ohnehin keine Angst vor der Zukunft, ich hatte viele Eisen im Feuer. Was ging es also einen wildfremden Menschen an, wenn ich an einem so heiteren Tag Almosen verschenkte? Der Blick des Mannes irritierte mich, und ich beschloss, ihn zurechtzuweisen, bevor ich ihn verließ. Ich zuckte die Achseln und erklärte: «Mein guter Mann, Sie haben die hässliche Unart, einem Mann auf die Knie zu glotzen, wenn er Ihnen eine Krone schenkt.»

Der Mann lehnte den Hinterkopf gegen die Mauer und sperrte den Mund auf. Etwas arbeitete hinter seiner Bettlerstirn, offensichtlich dachte er, ich wollte ihn in irgendeiner Weise zum Narren halten, dann gab er mir das Geld zurück.

Ich stampfte auf und fluchte, er solle es behalten. Bildete er sich etwa ein, dass ich all die Unannehmlichkeiten umsonst auf mich genommen hatte? Wenn man es genau nahm, schuldete ich ihm vielleicht diese Krone, ich konnte mich durchaus an alte Schulden erinnern, er stand vor einem rechtschaffenen Menschen, ehrlich bis in die Fingerspitzen. Kurz gesagt, das Geld gehöre ihm … Oh, nichts zu danken, es war mir ein Vergnügen. Auf Wiedersehen.

Ich ging. Endlich war ich diesen gichtlahmen Plagegeist los und hatte meine Ruhe. Erneut lief ich durch die Pilestræde und blieb vor einem Lebensmittelgeschäft stehen. Das Schaufenster war voller Esswaren, und ich beschloss, hineinzugehen und mir etwas Wegzehrung mitzunehmen.

«Ein Stück Käse und ein Weißbrot!», sagte ich und warf meine halbe Krone auf die Theke.

«Für das ganze Geld Brot und Käse?», fragte die Verkäuferin ironisch, ohne mich anzusehen.

«Ja, für die ganzen fünfzig Øre», erwiderte ich unbeirrt.

Ich bekam meine Sachen, wünschte der fetten alten Frau betont höflich einen guten Morgen und ging auf der Stelle den Schlossberg hinauf in den Park. Ich fand eine Bank für mich allein und begann gierig, meinen Proviant zu verzehren. Es tat gut, denn es war lange her, seit ich eine so reichliche Mahlzeit genossen hatte, nach und nach spürte ich in mir die gleiche satte Ruhe wie nach langem Weinen. Mein Mut schwoll gewaltig, es reichte mir nicht mehr, einen Artikel über etwas so Einfaches und Unkompliziertes wie die Verbrechen der Zukunft zu schreiben, die sich außerdem jeder selbst vorstellen oder ganz einfach aus der Geschichte herauslesen konnte; ich fühlte mich befähigt, größere Anstrengungen zu unternehmen, ich war in der Stimmung, Schwierigkeiten zu überwinden, und ich entschied mich für eine Abhandlung in drei Teilen über die philosophische Erkenntnis. Natürlich würde ich die Gelegenheit wahrnehmen, einige von Kants Sophismen jämmerlich zu zerpflücken … Als ich meine Schreibutensilien herauszog und mit der Arbeit beginnen wollte, bemerkte ich, dass ich keinen Bleistift mehr hatte; ich hatte ihn in der Pfandleihe vergessen, mein Bleistift steckte in der Westentasche.

Herrgott, warum ging bloß immer alles schief bei mir! Ich fluchte ein paar Mal, stand von der Bank auf und lief die Wege auf und ab. Überall war es sehr ruhig; weit entfernt, am Lusthaus der Königin, schoben zwei Kindermädchen ihre Wagen herum, sonst war nirgendwo ein Mensch zu sehen. Ich war ernsthaft verbittert und spazierte wie ein Rasender vor meiner Bank hin und her. Wie merkwürdig falsch es doch an allen Ecken und Kanten lief! Sollte ein Artikel in drei Abschnitten wirklich an der simplen Tatsache scheitern, dass ich nicht den Stummel eines Bleistifts für zehn Øre in der Tasche hatte? Und wenn ich nun noch einmal in die Pilestræde ginge und mir meinen Bleistift aushändigen ließe? Es würde noch genügend Zeit bleiben, ein gutes Stück Text fertigzustellen, bevor die Spaziergänger anfingen, den Park zu bevölkern. Außerdem hing so viel von dieser Abhandlung über die philosophische Erkenntnis ab, möglicherweise das Glück einiger Menschen, niemand wusste es so genau. Ich sagte mir, sie könnte ja vielleicht eine große Hilfe für viele junge Menschen sein. Wenn ich es recht bedachte, wollte ich mich nicht an Kant vergreifen; es ließe sich durchaus vermeiden, ich musste nur einen beiläufigen Schlenker machen, wenn ich zur Frage von Zeit und Raum7 kam; aber für Renan8 würde ich keine Verantwortung übernehmen, diesen alten Pfaffen Renan … Unter allen Umständen galt es, einen Artikel von soundso vielen Spalten zu schreiben, die ausstehende Miete, der lange Blick der Vermieterin am Morgen, wenn ich ihr auf der Treppe begegnete, quälte mich den ganzen Tag und tauchte sogar in meinen heiteren Stunden auf, wenn mich eigentlich keinerlei düstere Gedanken plagten. Dies musste ein Ende haben. Rasch verließ ich den Park, um beim Pfandleiher meinen Bleistift zu holen.

Als ich den Schlossberg hinunterkam, holte ich zwei Damen ein. Im Vorbeigehen streifte ich den Ärmel einer der Damen, ich blickte auf, sie hatte ein volles, etwas blasses Gesicht. Mit einem Mal errötet sie und wird sonderbar schön, ich weiß nicht, warum, vielleicht wegen eines Worts, das sie von einem Passanten aufgeschnappt hat, vielleicht auch nur aufgrund eines eigenen stillen Gedankens. Oder sollte es daran liegen, dass ich ihren Arm berührt hatte? Die hochgeschnürte Brust wogt einige Male heftig, ihre Hand umklammert fest den Griff ihres Sonnenschirms. Was mochte mit ihr sein?

Ich blieb stehen und ließ sie wieder vorbei, ich konnte in diesem Moment nicht weitergehen, das Ganze kam mir so sonderbar vor. Ich war in einer gereizten Stimmung, ungehalten über mich selbst wegen der Sache mit dem Bleistift und in hohem Maße erregt von all dem Essen, das ich auf nüchternen Magen genossen hatte. Mit einem Mal laufen meine Gedanken durch einen launischen Einfall in eine merkwürdige Richtung, ich spüre, wie mich eine seltsame Lust überkommt, dieser Dame Angst einzujagen, ihr zu folgen und sie in irgendeiner Weise zu behelligen. Wieder hole ich sie ein und gehe an ihr vorüber, wende mich plötzlich um und trete ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber, um sie zu betrachten. Ich stehe da, sehe ihr in die Augen und lasse mir auf der Stelle einen Namen einfallen, den ich noch nie gehört hatte, einen Namen mit einem geschmeidigen, nervösen Klang: Ylajali. Als sie unmittelbar vor mir steht, richte ich mich auf und sage eindringlich: «Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein.»

Ich hörte mein Herz klopfen, als ich es sagte.

«Mein Buch?», fragt sie ihre Begleiterin. Und geht weiter.

Meine Boshaftigkeit wuchs, und ich folgte den Damen. Ich war mir in diesem Moment vollkommen bewusst, dass ich groben Unfug trieb, ohne etwas dagegen tun zu können; mein verwirrter Zustand ging mit mir durch und brachte mich auf die verrücktesten Ideen, die ich der Reihe nach ausführte. Es nützte nichts, wie sehr ich mir selbst auch sagte, dass ich mich idiotisch benähme, ich schnitt die dümmsten Grimassen hinter dem Rücken der Dame und hustete ein paar Mal ungestüm, während ich sie überholte. Als ich ganz langsam weiterging, immer mit ein paar Schritten Vorsprung, spürte ich ihre Augen auf meinem Rücken und duckte mich unwillkürlich aus Scham, sie belästigt zu haben. Nach und nach hatte ich das sonderbare Empfinden, weit fort zu sein, an einem anderen Ort, ich hatte ein halb unbestimmtes Gefühl, dass nicht ich es war, der auf den Steinplatten dahinging und sich duckte.

Ein paar Minuten später hat die Dame Paschas Buchhandlung erreicht, ich bin bereits am ersten Schaufenster stehen geblieben, und als sie an mir vorbeigeht, trete ich vor und wiederhole: «Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein.»

«Aber welches Buch denn?», sagt sie ängstlich. «Verstehst du, von welchem Buch er spricht?»

Und sie bleibt stehen. Ich ergötze mich weidlich an ihrer Verwirrung, diese Ratlosigkeit in ihren Augen entzückt mich. Ihre Gedanken begreifen meinen kleinen verzweifelten Hinweis nicht; sie hat gar kein Buch dabei, nicht ein einziges Blatt eines Buches, und dennoch sucht sie in ihren Taschen, blickt mehrmals auf ihre Hände, dreht den Kopf und sucht die Straße hinter sich ab, strengt ihr kleines empfindsames Gehirn auf das Äußerste an, um herauszufinden, von welchem Buch ich rede. Die Farbe ihres Gesichts verändert sich, es hat mal den einen, mal den anderen Ausdruck, und man hört sie deutlich atmen; sogar die Knöpfe ihre Kleides scheinen mich wie eine Reihe entsetzter Augen anzustarren.

«Kümmere dich nicht um ihn», sagt ihre Begleiterin und zieht sie am Arm, «er ist doch betrunken; siehst du nicht, dass der Mann betrunken ist!»

So fremd, wie ich mir in diesem Moment auch war, eine so vollkommene Beute für sonderbare, unsichtbare Einflüsse, geschah doch nichts um mich herum, ohne dass ich es nicht bemerkte. Ein großer brauner Hund sprang quer über die Straße in Richtung Lunden9 und hinunter zum «Tivoli»10; er trug ein sehr schmales Halsband aus Neusilber. Weiter oben in der Straße wurde im ersten Stock ein Fenster geöffnet, ein Mädchen lehnte sich mit hochgekrempelten Ärmeln hinaus und putzte von außen die Scheiben. Nichts entging meiner Aufmerksamkeit, ich war klar im Kopf und geistesgegenwärtig, alles strömte mit einer strahlenden Deutlichkeit auf mich ein, als würde plötzlich ein kräftiges Licht um mich erstrahlen. Die Damen vor mir hatten beide eine blaue Feder am Hut und trugen ein schottisch kariertes Seidenband um den Hals. Mir ging durch den Sinn, dass es sich um Schwestern handelte.

Sie bogen ab, blieben bei Cislers Musikalienhandlung stehen und unterhielten sich. Ich blieb ebenfalls stehen. Daraufhin kamen beide auf demselben Weg, den sie hinuntergegangen waren, zurück, gingen wieder an mir vorbei, bogen um die Ecke der Universitetsgade und liefen direkt zum St. Olafs Plads. Ich blieb ihnen die ganze Zeit so dicht auf den Fersen, wie ich es wagte. Sie wandten sich einmal um und sahen mich mit einem halb ängstlichen, halb neugierigen Blick an, und ich konnte keinen Unwillen in ihren Mienen und keine zusammengezogenen Brauen bemerken. Ihre Geduld gegenüber meiner Zudringlichkeit beschämte mich sehr, ich schlug die Augen nieder. Ich wollte sie nicht länger belästigen, ich wollte ihnen aus reiner Dankbarkeit mit meinen Blicken folgen, ich wollte sie nicht aus den Augen verlieren, bis sie irgendwo hineingingen und verschwanden.

Vor der Hausnummer 2, einem großen dreistöckigen Gebäude, drehten sie sich noch einmal um, bevor sie eintraten. Ich lehnte an einer Gaslaterne am Springbrunnen und lauschte ihren Schritten im Treppenhaus; sie erstarben in der ersten Etage. Ich trete unter der Lampe hervor und blicke am Haus hinauf. Da geschieht etwas Sonderbares. Hoch oben bewegen sich die Gardinen, einen Augenblick später wird ein Fenster geöffnet, ein Kopf ragt heraus, und zwei mürrisch dreinblickende Augen ruhen auf mir. «Ylajali!», murmelte ich leise und spürte, dass ich rot wurde. Wieso rief sie nicht um Hilfe? Warum stieß sie nicht gegen einen der Blumentöpfe und traf mich am Kopf oder schickte jemanden hinunter, um mich zu verjagen? Wir starren uns in die Augen, ohne uns zu bewegen; es vergeht eine Minute; zwischen Fenster und Straße schießen Gedanken hin und her, doch es fällt kein einziges Wort. Sie dreht sich um, ich zucke zusammen, ein feiner Stoß geht durch mein Gemüt; ich sehe eine Schulter, die sich abwendet, einen Rücken, der im Zimmer verschwindet. Dieser langsame Gang fort vom Fenster, die Betonung in dieser Bewegung mit der Schulter, mit der sie mir gleichsam zunickte; mein Blut vernahm diesen leisen Gruß, ich war auf der Stelle unbeschreiblich glücklich. Dann wandte ich mich um und ging die Straße hinunter.

Ich wagte nicht, mich umzusehen, und wusste nicht, ob sie ans Fenster zurückgekommen war; und je mehr ich über diese Frage nachdachte, desto rastloser und nervöser wurde ich. Vermutlich stand sie in diesem Augenblick da und verfolgte genau all meine Bewegungen, es war einfach unerträglich, sich in dieser Weise hinterrücks gemustert zu wissen. Ich riss mich zusammen, so gut es ging, und lief weiter; in meinen Beinen begann es zu zucken, und mein Gang wurde unsicher, weil ich ihn absichtlich attraktiv aussehen lassen wollte. Um gelassen und gleichgültig zu erscheinen, schlenkerte ich sinnlos mit den Armen, spuckte auf die Straße und reckte die Nase in die Luft; aber nichts half. Noch immer spürte ich die mich verfolgenden Augen im Nacken, mir lief es kalt den Rücken hinunter. Endlich rettete ich mich in eine Seitengasse, von dort nahm ich den Weg zur Pilestræde, um meinen Bleistift zu holen.

Ich hatte kein Problem, ihn zurückzubekommen. Der Mann brachte mir die Weste persönlich und bat mich umgehend, sämtliche Taschen zu untersuchen; ich fand auch ein paar Pfandscheine, die ich einsteckte, und dankte dem freundlichen Mann für sein Entgegenkommen. Er gefiel mir zunehmend besser, und plötzlich erschien es mir wichtig, diesem Menschen einen guten Eindruck von mir zu vermitteln. Ich trat einen Schritt auf die Tür zu und kehrte dann zur Ladentheke zurück, als hätte ich etwas vergessen; ich meinte ihm eine Erklärung, eine Auskunft schuldig zu sein. Ich fing an zu summen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, dann nahm ich den Bleistift zur Hand und hielt ihn in die Luft.

Es wäre mir nicht in den Sinn gekommen, den langen Weg wegen irgendeines Bleistifts auf mich zu nehmen, sagte ich, doch bei diesem Bleistift sei es eine andere Sache, es habe eine eigene Bewandtnis mit ihm. So unscheinbar er auch aussähe, hätte dieser Bleistiftstummel mich schlichtweg zu dem werden lassen, der ich in der Welt war, er hätte mich sozusagen auf meinen Platz im Leben gesetzt …

Mehr sagte ich nicht. Der Mann trat ganz dicht an den Tresen. «Ah ja?», sagte er und sah mich neugierig an.

«Mit diesem Bleistift», fuhr ich kaltblütig fort, «habe ich meine Abhandlung über die philosophische Erkenntnis in drei Bänden geschrieben.» Ob er davon nicht gehört habe?

Und der Mann meinte durchaus, den Namen und den Titel gehört zu haben.

«Ja», sagte ich, «sie ist von mir!» Er sollte sich also nicht darüber wundern, dass ich den kleinen Bleistiftstummel zurückhaben wollte; er hätte einen enorm großen Wert für mich, er war für mich beinahe wie ein kleiner Mensch. Im Übrigen wäre ich ihm außerordentlich dankbar für sein Entgegenkommen, ich würde es ihm nicht vergessen – doch, doch, ich würde es ihm wirklich nicht vergessen; ich wäre ein Mann, für den ein Wort noch ein Wort war, und er hätte es verdient. Auf Wiedersehen.

Ich ging mit einer Haltung zur Tür, als könnte ich einen Mann auf einen hohen Posten bei der Feuerwehr versetzen. Der anständige Pfandleiher verbeugte sich zwei Mal vor mir, als ich mich entfernte, und ich wandte mich noch einmal um und wiederholte: Auf Wiedersehen.

Auf der Treppe begegnete ich einer Frau, die einen Seesack in der Hand hielt. Ängstlich drückte sie sich an die Seite, um mir Platz zu machen, und ich griff unwillkürlich in die Tasche, um ihr etwas zu geben. Als ich nichts fand, war es mir peinlich, und ich ging mit eingezogenem Kopf an ihr vorbei. Kurz darauf hörte ich, dass auch sie bei der Pfandleihe anklopfte; an der Tür befand sich ein Gitter aus Maschendraht, ich erkannte das klirrende Geräusch sofort wieder, als die Knöchel eines Menschen es berührten.

Die Sonne stand im Süden, es war ungefähr zwölf Uhr. Die Stadt kam allmählich auf die Beine, bald war es Zeit für die Promenade, auf der Karl Johan11 wogten grüßende und lachende Menschen auf und ab. Ich legte die Ellbogen an, machte mich klein und entkam unbemerkt einigen Bekannten, die eine Ecke der Universität eingenommen hatten, um die Passanten in Augenschein zu nehmen. Ich ging den Schlossberg hinauf und überließ mich meinen Gedanken.

Diese Menschen, denen ich begegnete, wie leicht und munter sie doch ihre hellen Köpfe wiegten und durchs Leben fegten wie durch einen Ballsaal! Es gab keinerlei Kummer in irgendeinem Auge, das ich sah, keine Bürde auf irgendeiner Schulter, nicht einmal einen düsteren Gedanken oder eine kleine heimliche Qual in einem dieser fröhlichen Gemüter. Und ich ging direkt neben diesen Menschen, jung und frisch erblüht, und hatte bereits vergessen, wie das Glück aussah! Mir gefiel dieser Gedanke, ich fand, dass mir grausames Unrecht geschehen war. Warum waren die letzten Monate mir gegenüber so merkwürdig hart gewesen? Ich erkannte mein heiteres Gemüt überhaupt nicht wieder, und überall wurde ich von den merkwürdigsten Unpässlichkeiten gequält. Ich konnte mich nicht allein auf eine Bank setzen oder meinen Fuß irgendwohin bewegen, ohne von kleinen, bedeutungslosen Zufälligkeiten bedrängt zu werden, jämmerliche Bagatellen, die in meine Vorstellungen drängten und meine Kräfte in alle Winde zerstreuten. Ein streunender Hund, eine gelbe Rose im Knopfloch eines Herrn konnte meine Gedanken zum Vibrieren bringen und mich auf längere Zeit beschäftigen. Was fehlte mir? Hatte der Finger des Herrn auf mich gezeigt? Aber warum gerade auf mich? Warum, meinetwegen, nicht ebenso gut auf einen Mann in Südamerika? Wenn ich darüber nachdachte, erschien es mir immer unbegreiflicher, dass ausgerechnet ich als Versuchskaninchen für die launische Gnade Gottes ausersehen war. Es war eine ausgesprochen eigentümliche Vorgehensweise, eine ganze Welt zu überspringen, um mich zu erreichen; schließlich gab es doch noch den Antiquariatsbuchhändler Pascha und den Dampfschiffexpedienten Hennechen.

Ich dachte über diese Dinge nach und kam an kein Ende damit, mir fielen die gewichtigsten Einwände gegen diese Willkür des Herrn ein, mich für die Schuld aller geradestehen zu lassen. Auch nachdem ich eine Bank gefunden und mich gesetzt hatte, beschäftigte mich diese Frage noch und hinderte mich daran, an andere Dinge zu denken. Von jenem Tag im Mai an, als die Widrigkeiten für mich begannen, spürte ich nach und nach ganz deutlich eine zunehmende Schwäche, ich war gleichsam zu matt, um mich dahin zu lenken und leiten, wohin ich wollte; ein Schwarm kleiner Schädlinge war in mein Inneres eingedrungen und hatte mich ausgehöhlt. Und wenn Gott es einfallen sollte, mich gänzlich zu vernichten? Ich stand auf und ging vor der Bank auf und ab.

Mein ganzes Wesen erlebte in diesem Moment den höchsten Grad der Qual; ich hatte sogar Schmerzen in den Armen und ertrug es kaum, sie auf die gewöhnliche Art und Weise zu halten. Durch meine letzte schwere Mahlzeit spürte ich außerdem ein heftiges Unwohlsein, ich war übersättigt und erregt und lief hin und her, ohne aufzublicken; die Menschen um mich herum glitten wie Schatten an mir vorbei. Schließlich setzten sich zwei Herren zu mir auf die Bank, die ihre Zigarren anzündeten und laut miteinander plauderten; ich wurde zornig und wollte sie ansprechen, drehte mich aber um und ging ans andere Ende des Parks, wo ich eine neue Bank fand. Ich setzte mich.

Der Gedanke an Gott begann mich wieder zu beschäftigen. Ich fand es höchst unverantwortlich von ihm, dass er sich jedes Mal widersetzte und alles hintertrieb, wenn ich mich auf eine Stelle bewarb, zumal ich doch nur um mein täglich Brot bat. Ich hatte zweifelsfrei festgestellt, dass mir das Hirn gleichsam ganz leise aus dem Kopf rann und mich leer werden ließ, wenn ich etwas länger hungerte. Mein Kopf wurde leicht und abwesend, ich spürte sein Gewicht nicht mehr auf meinen Schultern, ich hatte das Gefühl, dass meine Augen allzu weit aufgerissen glotzten, wenn ich jemanden ansah.

Ich saß auf der Bank, dachte über all dies nach und wurde wegen seiner fortwährenden Plagen Gott gegenüber immer verbitterter. Wenn er meinte, mich näher zu sich zu ziehen und mich zu bessern, indem er mich quälte und mir Stein um Stein in den Weg legte, so irrte er sich gründlich, das konnte ich ihm versichern. Und fast heulend vor Trotz blickte ich in die Höhe und sagte ihm dies in aller Stille ein für alle Mal.

Reste meines Kinderglaubens kamen mir in den Sinn, der Bibelton sang in meinen Ohren, und ich führte leise Selbstgespräche und legte spöttisch den Kopf schräg. Warum machte ich mir Sorgen, was ich essen sollte, was ich trinken sollte und worin ich diesen armseligen Madensack kleiden sollte, der mein irdischer Leib genannt wurde? Hatte mein himmlischer Vater nicht für mich gesorgt wie für die Spatzen unter dem Himmel12 und mir die Gnade erwiesen, auf seinen geringen Diener zu deuten? Gott hatte seinen Finger in mein Nervenkostüm gesteckt und mit leichter Hand, ganz nebenbei, ein wenig Unordnung in die Fäden gebracht. Und Gott hatte seinen Finger zurückgezogen, und an dem Finger klebten Fasern und feine Wurzelfäden meiner Nervenbahnen. Sein Finger, der Finger Gottes, hinterließ ein klaffendes Loch, und die Wege seines Fingers hinterließen Wunden in meinem Hirn. Doch nachdem Gott mich mit dem Finger seiner Hand berührte hatte, ließ er mich in Ruhe, berührte mich nicht noch einmal, und nichts Böses widerfuhr mir.13 Er ließ mich in Frieden ziehen, er ließ mich mit dem klaffenden Loch ziehen. Und nichts Böses widerfährt mir von Gott, dem Herrn in alle Ewigkeit …

Aus dem Studenterlunden14 trug der Wind Musikfetzen zu mir hinauf, es war also nach zwei Uhr. Ich holte meine Schreibutensilien heraus, um zu versuchen, etwas zu schreiben, als mir mein Heft mit den Rasiergutscheinen aus der Tasche fiel. Ich schlug es auf und zählte die Blätter, ich hatte noch sechs Scheine. «Gott sei Dank!», entfuhr es mir unwillkürlich, ich konnte mich noch einige Wochen rasieren lassen und anständig aussehen! Und durch diesen kleinen Besitz, der mir noch geblieben war, besserte sich meine Laune schlagartig; ich strich die Scheine sorgfältig glatt und verwahrte das Heft in der Tasche.

Aber schreiben konnte ich nicht. Nach ein paar Zeilen wollte mir nichts mehr einfallen; meine Gedanken schweiften ab, ich konnte mich nicht zu einer entschiedenen Kraftanstrengung durchringen. Alle Dinge drangen auf mich ein und lenkten mich ab, alles, was ich sah, verhalf mir zu neuen Eindrücken. Fliegen und kleine Mücken setzten sich auf dem Papier fest und störten mich; ich pustete, um sie zu vertreiben, ich blies immer kräftiger, doch es half nichts. Die kleinen Biester legen sich nach hinten, machen sich schwer und kämpfen dagegen an, dass sich ihre dünnen Beine biegen. Sie sind nicht vom Fleck zu bekommen. Sie finden etwas, um sich festzuhaken, stemmen die Hacken gegen ein Komma oder eine Unebenheit des Papiers und stehen so lange beharrlich still, bis sie es selbst für gut befinden, ihrer Wege zu gehen.

Eine Weile beschäftigten mich diese kleinen Untiere noch, ich schlug die Beine übereinander und ließ mir viel Zeit, sie zu beobachten. Mit einem Mal schepperten ein oder zwei hohe Klarinettentöne aus dem Lunden zu mir herauf und versetzten meinen Gedanken einen neuen Ruck. Ungehalten darüber, dass ich meinen Artikel nicht zustande brachte, steckte ich die Papiere wieder in die Tasche und lehnte mich auf der Bank zurück. In diesem Augenblick ist mein Kopf so klar, dass ich die nobelsten Gedanken denken kann, ohne zu ermüden. Und wie ich in dieser Position so daliege und den Blick über meine Brust und meine Beine schweifen lasse, bemerke ich die zappelnde Bewegung meines Fußes bei jedem Pulsschlag. Ich richte mich halb auf und betrachte meine Füße, in diesem Moment überkommt mich eine fantastische und fremdartige Stimmung, die ich nie zuvor erlebt hatte; ein feines, wunderbares Zucken ging durch meine Nerven, als würden Schauer aus kaltem Licht durch sie hindurchströmen. Als der Blick auf meine Schuhe fällt, habe ich das Gefühl, einen guten Bekannten getroffen oder einen losgerissenen Teil meiner selbst zurückbekommen zu haben; ein Gefühl des Wiedererkennens zuckt durch meine Sinne, Tränen steigen mir in die Augen, und ich spüre meine Schuhe wie einen leise sausenden Ton, der mir entgegenströmt. «Schwäche!», sagte ich hart zu mir, ballte die Fäuste und wiederholte: «Schwäche». Mit diesen lächerlichen Gefühlen machte ich mich selbst zum Narren, ich hielt mich bei vollem Bewusstsein zum Besten; ich sprach sehr streng und vernünftig und kniff energisch die Augen zusammen, um die Tränen zu bezwingen. Als hätte ich nie zuvor meine Schuhe gesehen, fange ich an, ihr Aussehen zu studieren, ihre Mimik, wenn ich den Fuß bewegte, ihre Form und ihr zerschlissenes Oberleder, und ich bemerke, dass ihre Riefen und weißen Nähte ihnen Ausdruck verleihen, ihnen zu Physiognomie verhelfen. Etwas von meinem eigenen Wesen war in diese Schuhe übergegangen, mir schien, als würden sie mein Ich beatmen, ein atmender Teil von mir selbst sein …

Eine ganze Weile fabulierte ich über diese Empfindungen, vielleicht eine ganze Stunde. Ein kleiner alter Mann kam und setzte sich ans andere Ende meiner Bank; als er sich niederließ, schnaufte er schwer nach seinem Spaziergang und sagte: «Ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, ja, so ist das!»

Sobald ich seine Stimme hörte, war mir, als fege ein Wind durch meinen Kopf, ich ließ Schuhe Schuhe sein, und es kam mir bereits so vor, als gehörte diese Gemütsverwirrung, die ich gerade erlebt hatte, zu einer längst verschwundenen Zeit von vor vielleicht ein oder zwei Jahren und würde allmählich aus meiner Erinnerung getilgt. Ich sah mir den Alten an.

Was ging er mich an, dieser kleine Mann? Nichts, nicht das Geringste! Nur dass er eine Zeitung in der Hand hielt, eine alte Ausgabe, mit der Anzeigenseite nach außen, in der irgendetwas eingepackt zu sein schien. Ich wurde neugierig und konnte meine Augen nicht von der Zeitung abwenden; mir ging die wahnsinnige Idee durch den Kopf, es könnte eine ganz eigenartige Zeitung sein, singulär in ihrer Art; meine Neugierde wuchs, und ich rutschte auf der Bank hin und her. Es könnte sich um Dokumente handeln, gefährliche Schriftstücke, gestohlen aus einem Archiv. Und mir schwebte etwas von einem geheimen Vertrag vor, einer Verschwörung.

Der Mann saß ruhig da und dachte nach. «Warum trägt er seine Zeitung nicht, wie jeder andere Mensch eine Zeitung trägt, mit der Titelseite nach außen?» Was waren das für Ränkespiele? Er sah nicht aus, als wollte er sein Päckchen loslassen, nicht um alles in der Welt, er wagte vielleicht nicht einmal, es seiner eigenen Tasche anzuvertrauen. Ich hätte mein Leben darauf verwetten können, dass das Päckchen irgendetwas zu bedeuten hatte.

Ich sah in die Luft. Ich war regelrecht verstört vor Neugierde, gerade weil es so unmöglich war, dieses Mysterium zu durchdringen. Ich suchte in meinen Taschen nach etwas, das ich dem Mann geben konnte, um mit ihm ins Gespräch zu kommen, und fand mein Barbierheft, steckte es aber wieder ein. Plötzlich kam mir in den Sinn, richtig frech zu sein; ich klopfte auf meine leere Brusttasche und sagte: «Darf ich Ihnen eine Zigarette anbieten?»

Danke, der Mann rauchte nicht, er hatte aufhören müssen, um seine Augen zu schonen, er sei fast blind. Aber vielen Dank!

Ob er schon lange diese Probleme mit den Augen habe? Dann könne er vermutlich auch nicht lesen? Nicht einmal Zeitungen.

Nicht einmal Zeitungen, leider!

Der Mann sah mich an. Die kranken Augen waren beide mit einem Häutchen überzogen, das ihnen ein milchglasartiges Aussehen verlieh, sein Blick war weiß und machte einen widerwärtigen Eindruck.

«Sind Sie fremd hier?», fragte er.

Ja. – Konnte er nicht einmal den Namen der Zeitung lesen, die er in der Hand hielt?