Hunger - Knut Hamsun - E-Book

Hunger E-Book

Knut Hamsun

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Beschreibung

Mit Hunger gelang Knut Hamsun 1890 sein literarischer Durchbruch. Nie wurde menschliches Leid so schonungslos und genau geschildert wie in diesem weltberühmten Roman über einen zerlumpten, halb verhungerten Künstler. »Keine literarische Erfahrung hat sich mir tiefer eingeprägt als Knut Hamsuns Hunger.« Roger Willemsen Die Moderne hält Einzug in Kristiania, dem heutigen Oslo. Die Stadt befindet sich im Aufbruch. Doch der namenlose Ich-Erzähler sieht sich in die Rolle des Zuschauers gedrängt. Unentwegt versucht er, unter schwierigsten materiellen Bedingungen als Journalist und Schriftsteller Beachtung zu finden ? ohne Erfolg. Dabei ist der junge Mann ein begnadeter Fabulierer, auf den Straßen Kristianias erzählt er wildfremden Leuten erfundene Geschichten ? und verschenkt schließlich sein letztes Geld an einen vermeintlich noch ärmeren Bettler. Ohne soziale Anklage wird das Bild einer Stadt präsentiert wie in einem Zerrspiegel: als pervertierte, fremde Welt, als Labyrinth einer Existenz am Rande der Gesellschaft. Zeitlos gültig ist dieser eindringliche Roman, der zu den bedeutendsten Werken der Moderne zählt und der zahlreiche Schriftsteller des 20. Jahrhunderts beeinflusste, darunter Marcel Proust und James Joyce.

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Das Buch

Die Moderne hält Einzug in Kristiania, dem heutigen Oslo. Die Stadt befindet sich im Aufbruch. Doch der namenlose Ich-Erzähler sieht sich in die Rolle des Zuschauers gedrängt. Unentwegt versucht er, unter schwierigsten materiellen Bedingungen als Journalist und Schriftsteller Beachtung zu finden – ohne Erfolg. Dabei ist der junge Mann ein begnadeter Fabulierer, auf den Straßen Kristianias erzählt er wildfremden Leuten erfundene Geschichten – und verschenkt schließlich sein letztes Geld an einen vermeintlich noch ärmeren Bettler. Ohne soziale Anklage wird das Bild einer Stadt präsentiert wie in einem Zerrspiegel: als pervertierte, fremde Welt, als Labyrinth einer Existenz am Rande der Gesellschaft. Zeitlos gültig ist dieser eindringliche Roman, der zu den bedeutendsten Werken der Moderne zählt und der fast alle Schriftsteller des 20. Jahrhunderts beeinflusste, darunter Marcel Proust und James Joyce.

Der Autor

Knut Hamsun wurde am 4. August 1859 in Gudbrandsdalen als Knud Pedersen geboren und gilt neben Henrik Ibsen als bedeutendster Schriftsteller Norwegens. Seine Schulausbildung war dürftig, eine Universität besuchte er nie und schlug sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis ihm 1890 mit seinem Debütroman Hunger sogleich ein großer literarischer Erfolg gelang. 1920 erhielt er für sein Werk Segen der Erde den Literaturnobelpreis. Der wegen seiner Sympathien für den Nationalsozialismus politisch hoch umstrittene Hamsun starb 1952 in Nørholm.

Von Knut Hamsun ist in unserem Hause bereits erschienen:

Mysterien

Knut Hamsun

Hunger

Roman

Aus dem Norwegischenvon Siegfried Weibel

List Taschenbuch

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ISBN 978-3-8437-0794-7

Ungekürzte Ausgabe im List Taschenbuch List ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin. 1. Auflage Dezember 2010 2. Auflage 2012 © für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2009 / claassen Verlag © Textgrundlage der zuerst 1997 im List Verlag erschienenen Neuübersetzung ist die Ausgabe letzter Hand der Samlede Verker

(Gyldendal, Oslo, 1934–36) © 1954 by Gyldendal Forlag, Oslo Titel der norwegischen Originalausgabe: Sult (Philipsen Forlag, Kopenhagen 1890), Textgrundlage der zuerst 1997 im List Verlag erschienenen Neuübersetzung ist die Ausgabe letzter Hand der Samlede Verker (Gyldendal, Oslo, 1934–36) Konzeption: semper smile Werbeagentur GmbH, München Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: © Jann Lipka/ Getty Images

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

eBook: CPI – Clausen & Bosse, Leck

ERSTES STÜCK

Es war zu jener Zeit, als ich in Kristiania umherging und hungerte, in dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist …

Ich liege in meiner Dachkammer wach und höre eine Uhr unter mir sechsmal schlagen; es war schon ziemlich hell, und die Leute fingen an, treppauf und -ab zu laufen. Unten an der Tür, wo mein Zimmer mit alten Nummern des Morgenbladet tapeziert war, konnte ich ganz deutlich eine Bekanntmachung des Leuchtfeuerdirektors erkennen, und ein wenig links davon eine fette, aufgeblasene Annonce des Bäckers Fabian Olsen für frisches Brot.

Gleich als ich die Augen aufschlug, fing ich aus alter Gewohnheit an nachzudenken, ob es etwas gäbe, worauf ich mich heute freuen könnte. In letzter Zeit war es für mich ein bisschen eng geworden; meine Habseligkeiten waren eine nach der anderen zum »Onkel« gewandert, ich war nervös und unduldsam geworden; ein paarmal war ich auch wegen Schwindelgefühls einen Tag lang im Bett geblieben. Hie und da, wenn das Glück mir geneigt war, konnte ich es schaffen, von irgendeinem Blatt fünf Kronen für eine Fortsetzungsgeschichte zu ergattern.

Es wurde immer heller, und ich machte mich daran, die Annoncen unten neben der Tür zu lesen; ich konnte sogar die magren, grinsenden Buchstaben »Leichentücher bei Jungfer Andersen, rechts in der Toreinfahrt« ausmachen. Damit war ich lange beschäftigt, ich hörte die Uhr unter mir acht schlagen, bevor ich aufstand und mich anzog.

Ich öffnete das Fenster und sah hinaus. Von dort, wo ich stand, hatte ich Aussicht auf eine Wäscheleine und ein offenes Feld; weit draußen lag noch der Schutt einer abgebrannten Schmiede, den einige Arbeiter gerade abräumten. Ich lehnte mich mit den Ellbogen ans Fenster und starrte hinaus in die Luft. Es würde ganz bestimmt ein heiterer Tag werden. Der Herbst war gekommen, die feine, kühle Jahreszeit, in der alles die Farbe wechselt und vergeht. Der Lärm hatte schon angefangen, die Straßen zu füllen, und lockte mich nach draußen; dieses leere Zimmer, dessen Boden bei jedem Schritt, den ich auf ihm machte, auf und ab schwankte, war wie ein klammer, unheimlicher Sarg; es gab kein ordentliches Schloss an der Tür und keinen Ofen im Raum; ich pflegte in der Nacht auf meinen Strümpfen zu liegen, um sie bis zum Morgen etwas trockener zu kriegen. Das Einzige, womit ich mich vergnügen konnte, war ein kleiner roter Schaukelstuhl, in dem ich an den Abenden saß und döste und an allerlei Dinge dachte. Wenn es sehr windig war und die Türen unten offen standen, tönte allerart seltsames Geheul durch den Boden herauf und durch die Wände herein, und das Morgenbladet unten an der Tür bekam handlange Risse.

Ich stand auf und durchsuchte ein Bündel in der Ecke beim Bett nach etwas zum Frühstück, fand aber nichts und kehrte wieder zurück zum Fenster.

Gott weiß, dachte ich, ob es mir je etwas helfen wird, mich um eine Anstellung zu bemühen! Diese vielen Absagen, diese vagen Versprechungen, glatte Neins, genährte und enttäuschte Hoffnungen, neue Versuche, die jedes Mal im Sande verliefen, hatten meinen Mut zerschlagen. Ich hatte mich zuletzt um eine Stelle als Kassenbote beworben, war aber zu spät gekommen; und außerdem konnte ich nicht fünfzig Kronen als Sicherheit stellen. Es war immer irgendetwas im Wege. Ich hatte mich auch bei der Feuerwehr gemeldet. Wir standen ein halbes Hundert Mann in der Eingangshalle und streckten die Brust raus, um den Eindruck von Kraft und großer Kühnheit zu erwecken. Ein Inspektor ging herum und sah sich die Bewerber an, befühlte ihre Arme und stellte ihnen die eine oder andere Frage, und mich überging er, schüttelte bloß den Kopf und sagte, dass ich wegen meiner Brille ausgesondert sei. Ich trat wieder an, ohne Brille, ich stand mit gerunzelten Brauen da und machte meine Augen so scharf wie Messer, und der Mann ging wiederum an mir vorbei, und er lächelte – er hatte mich wiedererkannt. Das Schlimmste von allem war, meine Kleider waren allmählich so abgetragen, dass ich nirgendwo mehr als akzeptabler Mensch vorstellig werden konnte.

Wie war es mit mir die ganze Zeit beständig bergab gegangen! Ich war schließlich so seltsam entblößt von allem Erdenklichen, ich hatte nicht einmal mehr einen Kamm oder ein Buch, um darin zu lesen, wenn es mir zu freudlos wurde. Den ganzen Sommer über war ich auf die Friedhöfe hinausgezogen oder hinauf in den Schlosspark, wo ich dann saß und Artikel für die Zeitungen abfasste, Spalte um Spalte, über die unterschiedlichsten Dinge, eigenartige Ideen, Launen, Einfälle meines rastlosen Hirns; in der Verzweiflung hatte ich oft die abwegigsten Themen gewählt, mit denen ich mich lange abmühte, und die niemals angenommen wurden. Wenn ein Beitrag fertig war, nahm ich mir einen neuen vor, und ich ließ mich selten vom Nein der Redakteure entmutigen; ich redete mir ständig ein, dass es doch einmal gutgehen müsse. Und wirklich, manchmal, wenn ich Glück hatte und es einigermaßen gut hinbekam, konnte ich fünf Kronen für die Arbeit eines Nachmittags erhalten.

Ich erhob mich wieder vom Fenster, ging zu dem Stuhl mit dem Waschwasser und spritzte ein bisschen Wasser auf meine blanken Hosenknie, um sie zu schwärzen und sie neuer aussehen zu lassen. Als ich das getan hatte, steckte ich wie üblich Papier und Bleistift in die Tasche und ging hinaus. Ich schlich die Treppen sehr leise hinunter, um nicht die Aufmerksamkeit meiner Wirtin zu erregen; es waren ein paar Tage vergangen, seit meine Miete fällig gewesen war, und ich hatte jetzt nichts mehr, um sie zu bezahlen.

Es war neun Uhr. Wagengerassel und Stimmen füllten die Luft, ein ungeheurer Morgenchor, vermischt mit den Schritten der Fußgänger und dem Knallen der Kutscherpeitschen. Dieses lärmende Treiben überall munterte mich sofort auf, und ich fühlte mich allmählich immer zufriedener. Nichts lag meinen Gedanken ferner, als nur einen Morgenspaziergang an der frischen Luft zu machen. Was kümmerte meine Lungen die Luft? Ich war stark wie ein Riese und konnte mit meiner Schulter einen Wagen zum Stehen bringen. Eine zarte, seltsame Stimmung, das Gefühl heiterer Gleichgültigkeit, hatte sich meiner bemächtigt. Ich fing an, die Menschen zu beobachten, die mir entgegenkamen und an denen ich vorbeiging, las die Plakate an den Wänden, nahm den Eindruck eines Blicks auf, der mir aus einer vorbeifahrenden Straßenbahn zugeworfen wurde, ließ jede Bagatelle auf mich eindrängen, all die kleinen Zufälligkeiten, die meinen Weg kreuzten und verschwanden.

Wenn man nur etwas zu essen hätte an einem solch heiteren Tag! Der Eindruck des frohen Morgens überwältigte mich, ich wurde unbändig zufrieden und fing an, ohne bestimmten Grund vor Freude zu summen. Vor einem Metzgerladen stand eine Frau mit einem Korb am Arm und spekulierte auf Würste zum Mittag; als ich an ihr vorbeiging, sah sie mich an. Vorne im Mund hatte sie bloß einen Zahn. Nervös und hochempfindlich, wie ich in den letzten Tagen geworden war, hatte ich vom Gesicht der Frau sofort einen ekelhaften Eindruck; der lange gelbe Zahn sah aus wie ein kleiner Finger, der aus dem Kiefer ragte, und ihr Blick war noch voll von Wurst, als sie ihn auf mich richtete. Ich verlor auf der Stelle den Appetit und fühlte Brechreiz. Als ich zu den Markthallen kam, ging ich zum Wasserhahn und trank ein wenig; ich schaute nach oben – die Kirchturmuhr der Erlöserkirche zeigte zehn Uhr.

Ich ging weiter durch die Straßen, trieb mich herum, ohne um irgendetwas bekümmert zu sein, blieb an einer Ecke stehen, ohne es zu müssen, bog ab und nahm eine Seitenstraße, ohne dort etwas zu bestellen zu haben. Ich ließ den Dingen ihren Lauf, wurde durch den frohen Morgen geleitet, wiegte mich zwischen anderen glücklichen Menschen sorglos vor und zurück; die Luft war leer und hell, und kein Schatten fiel auf mein Gemüt.

Zehn Minuten lang hatte ich andauernd einen alten hinkenden Mann vor mir gehabt. Er hatte in der einen Hand ein Bündel und bewegte sich mit seinem ganzen Körper, arbeitete mit aller Kraft, um an Tempo zuzulegen. Ich hörte, wie er vor Anstrengung keuchte, und mir kam der Gedanke, dass ich sein Bündel tragen könnte; ich versuchte jedoch nicht, ihn einzuholen. Oben in der Grænsen stieß ich auf Hans Pauli, der grüßte und vorbeihastete. Weshalb hatte er solche Eile? Ich hatte durchaus nicht im Sinn gehabt, ihn um eine Krone zu bitten, ich wollte ihm auch möglichst bald eine Decke zurückschicken, die ich vor einigen Wochen von ihm geliehen hatte. Sobald ich wieder ein wenig obenauf wäre, wollte ich keinem Menschen mehr eine Decke schuldig sein; vielleicht würde ich schon heute einen Artikel über die Verbrechen der Zukunft oder über die Freiheit des Willens anfangen, irgendwas, etwas Lesenswertes, für das ich zehn Kronen bekommen würde, mindestens … Und bei dem Gedanken an diesen Artikel fühlte ich mich auf der Stelle durchströmt von dem Drang, sofort anzufangen und aus meinem vollen Hirn zu schöpfen; ich wollte mir einen passenden Platz im Schlosspark suchen und nicht ruhen, bevor ich den Artikel fertig hätte.

Aber der alte Krüppel machte vor mir auf der Straße immer noch die gleichen zappelnden Bewegungen. Zu guter Letzt fing es an, mich zu stören, die ganze Zeit diesen gebrechlichen Menschen vor mir zu haben. Sein Ausflug schien kein Ende nehmen zu wollen; vielleicht hatte er sich genau das gleiche Ziel ausgesucht wie ich, und ich würde ihn den ganzen Weg vor Augen haben. In meiner Erregtheit kam es mir vor, als ob er bei jeder Querstraße ein bisschen langsamer wurde und gleichsam darauf wartete, welche Richtung ich einschlagen würde, worauf er das Bündel wieder hoch in die Luft schwang und mit äußerster Kraft weitereilte, um Vorsprung zu bekommen. Ich schaue andauernd auf dieses leidige Wesen, und eine immer stärkere Erbitterung auf ihn erfüllt mich; ich spürte, dass er nach und nach meine heitere Stimmung verdarb und gleichzeitig den reinen, schönen Morgen mit sich ins Hässliche zog. Er sah aus wie ein großes humpelndes Insekt, das sich mit brutaler Gewalt zu einem Platz in der Welt durchkämpfen und den Bürgersteig für sich alleine beanspruchen wollte. Als wir auf der Kuppe des Hügels angekommen waren, mochte ich mich nicht mehr länger damit abfinden, ich wandte mich einem Schaufenster zu und blieb stehen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich davonzumachen. Als ich nach einigen Minuten wieder zu gehen anfing, war der Mann erneut vor mir, auch er hatte schlechtweg innegehalten. Ich machte, ohne weiter nachzudenken, drei, vier wütende Schritte vorwärts, holte ihn ein und schlug dem Mann auf die Schulter.

Er stand sofort still. Wir beide starrten uns an.

Einen kleinen Schilling für Milch!, sagte er schließlich und neigte den Kopf zur Seite.

So, jetzt war ich angeschmiert! Ich kramte in den Taschen und sagte:

Für Milch, ja. Hm. Mit Geld ist es knapp in diesen Zeiten, und ich weiß nicht, wie bedürftig Sie eigentlich sind.

Seit gestern in Drammen habe ich nichts gegessen, sagte der Mann; ich besitze nicht eine Öre und habe noch keine Arbeit gefunden.

Sind Sie Handwerker?

Ja, ich bin Nadler.

Was?

Nadler. Übrigens kann ich auch Schuhe machen.

Das ist was anderes, sagte ich. Wenn Sie hier ein paar Minuten warten, werde ich etwas Geld für Sie holen, ein paar Öre.

Ich ging in größter Eile die Pilestræde hinunter, wo ich von einem Pfandleiher im ersten Stock wusste; ich war übrigens nie vorher bei ihm gewesen. Als ich in der Toreinfahrt angelangt war, zog ich hastig meine Weste aus, rollte sie zusammen und steckte sie unter den Arm; danach ging ich die Treppe hinauf und klopfte am Laden an. Ich verbeugte mich und warf die Weste auf die Theke.

Anderthalb Kronen, sagte der Mann.

Jaja, danke, antwortete ich. Wenn sie nur nicht zu eng geworden wäre, dann würde ich mich nicht von ihr trennen.

Ich bekam das Geld und den Schein und ging zurück. Das war im Grunde ein ausgezeichneter Gedanke, das mit der Weste; ich würde sogar Geld für ein reichliches Frühstück übrig behalten, und bis zum Abend dürfte dann meine Abhandlung über die Verbrechen der Zukunft abgeschlossen sein. Ich begann auf der Stelle, das Dasein freundlicher zu finden, und ich eilte zu dem Mann zurück, um ihn mir vom Hals zu schaffen.

Hier bitte!, sagte ich zu ihm. Es freut mich, dass Sie sich zuerst an mich gewandt haben.

Der Mann nahm das Geld und fing an, mich mit den Augen zu mustern. Wonach hatte er denn zu starren? Ich hatte den Eindruck, dass er besonders meine Hosenknie begutachtete, und ich war diese Unverschämtheit satt. Glaubte der Schlingel, dass ich wirklich so arm sei, wie ich aussah? Hatte ich nicht schon so gut wie damit angefangen, an einem Artikel für zehn Kronen zu schreiben? Überhaupt war ich um die Zukunft nicht besorgt, ich hatte viele Eisen im Feuer. Was hatte es einen wildfremden Menschen zu kümmern, ob ich an einem so heiteren Tag Trinkgeld verteilte? Der Blick des Mannes ärgerte mich, und ich beschloss, ihm eine Lektion zu erteilen, bevor ich ihn verließ. Ich zuckte mit den Schultern und sagte: Mein guter Mann, Sie haben die hässliche Unart, einem auf die Knie zu glotzen, wenn man Ihnen die Summe einer Krone gibt.

Er legte den Kopf ganz zurück an die Mauer und sperrte den Mund auf. Hinter seiner Bettlerstirn arbeitete es, er dachte ganz sicher, dass ich ihn auf irgendeine Art hereinlegen wollte, und er reichte mir das Geld zurück.

Ich stampfte aufs Pflaster und polterte los, dass er es behalten solle. Bildete er sich ein, dass ich all die Schererei umsonst gehabt haben wollte? Alles in allem schuldete ich ihm vielleicht diese Krone, mir sei eine alte Schuld stets erinnerlich, er stehe vor einem rechtschaffenen Menschen, ehrlich bis auf die Knochen. Kurzum, das Geld sei sein … Oh, nichts zu danken, es sei mir eine Freude gewesen. Auf Wiedersehen.

Ich ging. Endlich war dieser gichtgequälte Plagegeist aus dem Weg geräumt, und ich konnte ungestört sein. Ich ging wieder die Pilestræde hinunter und hielt vor einem Kolonialwarenladen an. Das Fenster war gespickt mit Esswaren, und ich entschloss mich, hineinzugehen und mir etwas mit auf den Weg zu nehmen.

Ein Stück Käse und ein Weißbrot!, sagte ich und warf meine halbe Krone auf die Theke.

Käse und Brot für alles zusammen?, fragte die Frau ironisch, ohne mich anzusehen.

Für ganze fünfzig Öre, ja, antwortete ich unbeirrt.

Ich bekam meine Sachen, sagte äußerst höflich guten Morgen zu dem alten, fetten Weib und begab mich spornstreichs den Schlosshügel hinauf zum Park. Ich suchte mir eine Bank für mich allein und fing an, gierig von meinem Proviant zu essen. Das tat mir gut; es war lange her, seit ich eine so reichliche Mahlzeit zu mir genommen hatte, und ich fühlte nach und nach die gleiche satte Ruhe in mir, wie man sie nach langem Weinen empfindet. Mein Mut schwoll beträchtlich an; es reichte mir nicht mehr, einen Artikel über etwas so Einfaches und Schlichtes wie die Verbrechen der Zukunft zu schreiben, die sich außerdem jeder Beliebige selbst ausrechnen konnte, sich ganz einfach im Geschichtsbuch anlesen konnte; ich fühlte mich einer größeren Anstrengung fähig, ich war in Stimmung, Schwierigkeiten zu überwinden, und ich entschied mich für eine Abhandlung in drei Abschnitten über die philosophische Erkenntnis. Natürlich würde ich Gelegenheit finden, einige von Kants Sophismen aufs jämmerlichste zu zerrupfen … Als ich meine Schreibsachen hervorholen und die Arbeit beginnen wollte, entdeckte ich, dass ich keinen Bleistift mehr hatte, ich hatte ihn in der Pfandleihe vergessen, mein Bleistift befand sich in der Westentasche.

Herrgott, wie alles partout schieflaufen musste! Ich fluchte einige Male, stand von der Bank auf und streunte die Wege auf und ab. Es war überall sehr still; weit weg, beim Lusthäuschen der Königin, schoben ein paar Kindermädchen ihre Wagen herum, sonst war nirgends ein Mensch zu sehen. Ich war ordentlich verbittert und schritt vor meiner Bank wie ein Wüterich umher. Wie merkwürdig verkehrt es doch an allen Ecken und Kanten lief! Ein Artikel in drei Abschnitten sollte glattweg an dem simplen Umstand scheitern, dass ich nicht den Stummel eines Bleistifts für zehn Öre in der Tasche hatte! Was, wenn ich wieder in die Pilestræde runter ginge und mir meinen Bleistift zurückgeben ließe? Es würde trotzdem Zeit bleiben, ein gut Teil fertigzukriegen, bevor die Spaziergänger anfingen, den Park zu füllen. Es gab auch so manches, was von dieser Abhandlung über die philosophische Erkenntnis abhing, vielleicht das Glück etlicher Menschen, niemand konnte das wissen. Ich sagte mir, dass sie vielleicht vielen jungen Menschen eine große Hilfe sein werde. Wenn ich es recht überlegte, wollte ich mich nicht an Kant vergreifen; ich konnte das ja vermeiden, ich brauchte nur einen unmerklichen Schwenk zu machen, wenn ich zur Frage von Zeit und Raum käme; aber für Renan wollte ich nicht geradestehen, dieser alte Pfaffe Renan … Unter allen Umständen galt es, einen Artikel von soundso vielen Spalten zu verfertigen; die unbezahlte Miete, der lange Blick der Wirtin am Morgen, wenn ich sie auf der Treppe traf, quälten mich den ganzen Tag und tauchten sogar in meinen frohen Stunden auf, wenn ich sonst keinen trüben Gedanken nachhing. Damit musste Schluss sein. Ich ging schnell aus dem Park, um beim Pfandleiher meinen Bleistift zu holen.

Als ich den Schlosshügel hinunterkam, holte ich zwei Damen ein, an denen ich vorbeiging. Beim Überholen streifte ich den Ärmel der einen, ich sah auf, sie hatte ein rundliches, blässliches Gesicht. Plötzlich errötet sie und wird merkwürdig schön, ich weiß nicht, weshalb, vielleicht wegen eines Wortes, das sie von einem Passanten auffängt, vielleicht nur wegen etwas, was sie sich im Stillen denkt. Oder sollte es sein, weil ich ihren Arm berührt hatte? Die volle Brust wogt einige Male heftig, und sie presst die Hand hart um den Griff des Sonnenschirms. Was war los mit ihr?

Ich blieb stehen und ließ sie wieder vor mich kommen, ich konnte im Augenblick nicht weitergehen, das Ganze kam mir so seltsam vor. Ich war in einem reizbaren Zustand, verärgert über mich selbst wegen der Angelegenheit mit dem Bleistift und in hohem Maß erregt von all dem Essen, das ich auf nüchternen Magen genossen hatte. Auf einmal nehmen meine Gedanken durch einen launischen Einfall eine eigenartige Richtung, ich fühle mich von einer seltsamen Lust beschlichen, dieser Dame Angst zu machen, ihr zu folgen und sie auf irgendeine Art zu belästigen. Ich hole sie wieder ein und gehe an ihr vorbei, drehe mich plötzlich um und trete ihr entgegen, von Angesicht zu Angesicht, um sie zu betrachten. Ich stehe da und schaue ihr in die Augen und denke mir auf der Stelle einen Namen aus, den ich noch nie gehört hatte, einen Namen mit einem gleitenden, nervösen Klang: Ylajali. Als sie mir nah genug gekommen war, richte ich mich auf und sage eindringlich: Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein.

Ich konnte hören, wie mein Herz klopfte, als ich das sagte.

Mein Buch?, fragt sie ihre Begleiterin. Und sie geht weiter.

Meine Boshaftigkeit nahm zu, und ich folgte der Dame. Ich war mir in dem Augenblick völlig bewusst, dass ich Unfug trieb, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können; mein konfuses Gemüt ging mit mir durch und gab mir die verrücktesten Impulse ein, denen ich der Reihe nach gehorchte. Es nützte nichts, ich konnte mir noch so sehr sagen, dass ich mich idiotisch benahm, ich schnitt hinter dem Rücken der Dame die dümmsten Grimassen, und ich hustete einige Male heftig, während ich sie überholte. Wie ich so ganz langsam weiterschlenderte, immer mit einigen Schritten Vorsprung, spürte ich ihre Augen in meinem Rücken, und ich zog unwillkürlich aus Scham, sie bedrängt zu haben, den Kopf ein. Nach und nach hatte ich das seltsame Empfinden, weit weg zu sein, anderswo, ich hatte halb unbestimmt das Gefühl, dass nicht ich es sei, der dort auf dem Pflaster ging und den Kopf einzog.

Einige Minuten später ist die Dame bis zu Paschas Buchhandlung gekommen, ich bin bereits beim ersten Fenster stehen geblieben, und als sie an mir vorbeigeht, trete ich vor und wiederhole: Sie verlieren Ihr Buch, Fräulein.

Nein, welches Buch?, sagt sie ängstlich. Weißt du, von welchem Buch er spricht?

Und sie bleibt stehen. Ich weide mich erbarmungslos an ihrer Verwirrung, diese Ratlosigkeit in ihren Augen entzückt mich. Ihr Denken kann meine kleine desperate Anrede nicht fassen; sie hat überhaupt kein Buch dabei, nicht ein einziges Blatt eines Buches, und trotzdem sucht sie in ihren Taschen, guckt mehrfach in ihren Händen nach, dreht den Kopf und sieht hinter sich auf der Straße nach, strengt ihr kleines, empfindliches Hirn aufs äußerste an, um herauszufinden, von was für einem Buch ich denn spreche. Ihr Gesicht wechselt die Farbe, hat mal den einen, mal den anderen Ausdruck, und sie atmet hörbar; selbst die Knöpfe ihres Kleides scheinen mich wie eine Reihe entsetzter Augen anzustarren.

Kümmer dich nicht um ihn, sagt ihre Begleiterin und zieht sie am Arm. Der ist ja betrunken; siehst du denn nicht, dass der Mann betrunken ist!

So fremd ich mir selbst in diesem Augenblick war, so vollständig eine Beute unsichtbarer Einflüsse, nichts um mich herum geschah, ohne dass ich es wahrnahm. Ein großer brauner Hund lief quer über die Straße, auf den Park zu und hinunter zum Tivoli; er hatte ein schmales Halsband aus Neusilber um. Weiter oben in der Straße wurde im ersten Stock ein Fenster geöffnet, und ein Mädchen mit hochgekrempelten Ärmeln lehnte sich heraus und fing an, von außen die Scheiben zu putzen. Nichts entging meiner Aufmerksamkeit, ich war klar und geistesgegenwärtig, alle Dinge strömten mit leuchtender Deutlichkeit auf mich ein, als sei es um mich herum plötzlich sehr hell geworden. Die Damen vor mir hatten beide einen blauen Fittich am Hut und ein schottisches Seidenband um den Hals. Mir kam der Gedanke, dass sie Schwestern seien.

Sie bogen ab, blieben bei Cislers Musikalienhandlung stehen und sprachen miteinander. Ich blieb auch stehen. Dann kamen die beiden zurück, nahmen den gleichen Weg, den sie gekommen waren, gingen wieder an mir vorbei, bogen an der Universitetsgate um die Ecke und gingen direkt zum St. Olafs Plass hinauf. Ich blieb ihnen die ganze Zeit so dicht auf den Fersen, wie ich nur wagte. Einmal drehten sie sich um und warfen mir einen halb ängstlichen, halb neugierigen Blick zu, und ich sah in ihren Mienen keinen Unmut und keine gerunzelte Stirn. Diese Geduld mit meinen Nachstellungen beschämte mich sehr, und ich schlug den Blick nieder. Ich wollte ihnen keine Unannehmlichkeiten mehr bereiten; ich wollte ihnen aus reiner Dankbarkeit mit den Augen folgen, sie nicht aus dem Blick verlieren, ganz bis sie irgendwo hineingehen und verschwinden würden.

Vor Nummer 2, einem großen dreistöckigen Haus, drehten sie sich nochmals um, dann gingen sie hinein. Ich lehnte mich an eine Gaslaterne beim Springbrunnen und horchte auf ihre Schritte im Treppenhaus; sie verklangen im ersten Stock. Ich trete von der Laterne weg und sehe am Haus hinauf. Da geschieht etwas Eigenartiges, die Vorhänge bewegen sich hoch oben, einen Augenblick später wird ein Fenster geöffnet, ein Kopf streckt sich heraus, und zwei seltsam blickende Augen ruhen auf mir. Ylajali!, sagte ich gedämpft, und ich fühlte, dass ich rot wurde. Warum rief sie nicht um Hilfe? Warum stieß sie nicht gegen einen der Blumentöpfe und traf mich damit auf den Kopf oder schickte jemand runter, um mich fortzujagen? Wir starren uns in die Augen, ohne uns zu rühren; das dauert eine Minute; Gedanken schießen zwischen Fenster und Straße hin und her, und es fällt kein Wort. Sie dreht sich um, mich durchzuckt es, ein zarter Stoß geht durchs Gemüt; ich sehe eine Schulter, die sich dreht, einen Rücken, der ins Zimmer verschwindet. Dieser langsame Gang vom Fenster weg, die Betonung in dieser Bewegung mit der Schulter war so, als ob sie mir zunickte; mein Blut vernahm diesen zarten Gruß, und ich fühlte mich auf der Stelle unbeschreiblich froh. Dann drehte ich mich um und ging die Straße hinunter.

Ich wagte nicht, mich umzublicken, und wusste nicht, ob sie nochmals ans Fenster gekommen war; je länger ich diese Frage erwog, desto unruhiger und nervöser wurde ich. Vermutlich stand sie in diesem Augenblick dort und verfolgte jede meiner Bewegungen genau, und es war ganz und gar unerträglich, sich hinterrücks so begutachtet zu wissen. Ich riss mich zusammen, so gut ich konnte, und ging weiter; in meinen Beinen fing es an zu zucken, mein Gang wurde unstet, weil ich ihn bewusst schön machen wollte. Um ruhig und gleichgültig zu erscheinen, schlenkerte ich sinnlos mit den Armen, spuckte auf die Straße und streckte die Nase himmelwärts; aber nichts half. Ich spürte dauernd die verfolgenden Augen in meinem Nacken, und meinen Körper durchlief es kalt. Schließlich rettete ich mich in eine Seitenstraße, von wo ich den Weg zur Pilestræde hinunter nahm, um an meinen Bleistift zu kommen.

Ich hatte keine Mühe, ihn wiederzubekommen. Der Mann brachte mir die Weste persönlich und bat mich, sofort alle Taschen zu durchsuchen; ich fand auch ein paar Pfandscheine, die ich einsteckte, und dankte dem freundlichen Mann für sein Entgegenkommen. Er erschien mir immer ansprechender, mir war plötzlich sehr daran gelegen, diesem Menschen einen guten Eindruck von mir zu vermitteln. Ich machte eine Bewegung in Richtung Tür und ging dann wieder zur Theke zurück, als ob ich etwas vergessen hätte; ich meinte, ihm eine Erklärung zu schulden, einen Aufschluss, und ich fing an zu summen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dann nahm ich den Bleistift in die Hand und hielt ihn in die Höhe.

Es könne mir nicht einfallen, sagte ich, weite Wege zu machen wegen irgendeines Bleistifts; doch bei diesem hier sei es eine andere Sache, von eigener Bewandtnis. So gering er auch aussehe, habe dieser Bleistiftstummel mich schlechterdings zu dem gemacht, was ich in der Welt sei, mich sozusagen auf meinen Platz im Leben gestellt …

Mehr sagte ich nicht. Der Mann kam ganz dicht an die Theke.

Ach so?, sagte er und sah mich neugierig an.

Mit diesem Bleistift, fuhr ich kaltblütig fort, hatte ich meine dreibändige Abhandlung über die philosophische Erkenntnis geschrieben. Ob er nicht von der Arbeit gehört hatte?

Und dem Mann schien tatsächlich, dass er den Namen, den Titel gehört hätte.

Ja, sagte ich, eben die sei von mir! Da dürfe es ihn dann nicht wundern, wenn ich dieses kleine Stück Bleistift zurückhaben wolle; der habe allzu großen Wert für mich, der sei mir fast wie ein kleiner Mensch. Übrigens sei ich ihm aufrichtig dankbar für sein Wohlwollen, und ich würde ihm das nicht vergessen – doch, doch, ich würde ihm das wirklich nicht vergessen; ein Mann, ein Wort, so sei ich eben, und er verdiene es. Auf Wiedersehen.

Ich ging in einer Haltung zur Tür, als ob ich jemandem eine gehobene Stellung verschaffen könnte. Der ehrbare Pfandleiher verbeugte sich zweimal vor mir, während ich mich entfernte, und ich drehte mich noch einmal um und sagte: Auf Wiedersehen.

Auf der Treppe traf ich auf eine Frau mit einer Reisetasche in der Hand. Sie drückte sich ängstlich zur Seite, um mir Platz zu machen, weil ich mich so in die Brust warf, und ich griff unwillkürlich in die Tasche nach etwas, was ich ihr geben könnte; als ich nichts fand, wurde ich verlegen und ging mit eingezogenem Kopf an ihr vorbei. Kurz darauf hörte ich, dass auch sie bei der Leihe anklopfte; es war ein Gitter aus Stahldraht an der Tür, und ich erkannte sofort den klirrenden Laut wieder, als die Knöchel eines Menschen daran rührten.

Die Sonne stand im Süden, es war etwa zwölf Uhr. Die Stadt begann auf die Beine zu kommen, es war bald Zeit zum Promenieren, und grüßende und lachende Leute wogten die Karl Johan hoch und runter. Ich zog die Ellbogen an, machte mich klein und kam unbemerkt an einigen Bekannten vorbei, die in einer Ecke an der Universität herumstanden, um sich die Vorübergehenden zu beschauen. Ich wanderte den Schlosshügel hinauf und versank in Gedanken.

Jene Menschen da, wie leicht und lustig wiegten sie nicht ihre hellen Köpfe und schunkelten sich durchs Leben wie durch einen Ballsaal! In keinem Auge, das ich sah, war Trauer, keinerlei Bürde auf irgendeiner Schulter, vielleicht nicht ein einziger trüber Gedanke, nicht ein einziger kleiner heimlicher Kummer in einem dieser fröhlichen Gemüter. Und ich ging dicht neben diesen Menschen, jung und gerade erst aufgeblüht, und ich hatte schon vergessen, wie das Glück aussah! Ich hätschelte diesen Gedanken und fand, dass mir grausam Unrecht geschehen sei. Warum waren die letzten Monate so merkwürdig hart mit mir umgesprungen? Ich kannte mein heiteres Gemüt gar nicht wieder, und allerenden befielen mich die eigentümlichsten Heimsuchungen. Ich konnte mich nicht für mich allein auf eine Bank setzen oder meinen Fuß irgendwohin bewegen, ohne von kleinen, bedeutungslosen Zufälligkeiten attackiert zu werden, jämmerliche Bagatellen, die in meine Vorstellung eindrangen und meine Kräfte in alle Winde zerstreuten. Ein Hund, der an mir vorbeistrich, eine gelbe Rose im Knopfloch eines Herrn konnten meine Gedanken in Vibration versetzen und mich für längere Zeit beschäftigen. Was fehlte mir? Hatte der Finger des Herrn auf mich gezeigt? Aber warum gerade auf mich? Warum nicht ebenso gut auf einen Mann in Südamerika, wenn überhaupt? Wenn ich die Sache durchdachte, wurde es mir immer unbegreiflicher, dass gerade ich zum Prüfstein der Laune von Gottes Gnade ausersehen sein sollte. Es war eine ziemlich eigentümliche Verfahrensweise, eine ganze Welt zu überspringen, um mich zu erreichen; es gab doch noch den Antiquar Pascha und den Dampfschiffsexpedienten Hennechen.

Ich durchdachte weiterhin diese Sache und konnte sie nicht abschütteln, ich fand die gewichtigsten Einwände gegen diese Willkür des Herrn, mich für die Schuld aller büßen zu lassen. Sogar nachdem ich eine Bank gefunden und mich hingesetzt hatte, fuhr diese Frage fort, mich zu beschäftigen und mich daran zu hindern, an andere Dinge zu denken. Seit jenem Tag im Mai, an dem meine Kalamitäten begonnen hatten, konnte ich ganz deutlich eine allmählich zunehmende Schwäche spüren, ich war gewissermaßen zu kraftlos geworden, um mich dahin zu lenken und zu leiten, wohin ich wollte; ein Schwarm von Ungeziefer war in mein Inneres gedrungen und hatte mich ausgehöhlt. Was, wenn Gott geradezu im Sinn hatte, mich ganz zu vernichten? Ich stand auf und schritt vor der Bank auf und ab.

Mein ganzes Wesen befand sich in diesem Augenblick im höchsten Grad der Pein; ich hatte sogar in den Armen Schmerzen und konnte es kaum ertragen, sie auf normale Art zu halten. Von meiner letzten schweren Mahlzeit her fühlte ich zudem ein starkes Unbehagen, ich war übersättigt und gereizt und stolzierte auf und ab, ohne aufzuschauen; die Menschen, die um mich her kamen und gingen, glitten an mir wie Schemen vorüber. Schließlich wurde meine Bank von ein paar Herren besetzt, die ihre Zigarren anzündeten und sich laut unterhielten; ich wurde wütend und wollte sie ansprechen, drehte mich aber stattdessen um und ging hinüber ans andere Ende des Parks, wo ich mir eine neue Bank suchte. Ich setzte mich.

Der Gedanke an Gott fing wieder an, mich zu beschäftigen. Ich fand, es sei höchst unverantwortlich von ihm, mir jedes Mal, wenn ich mich um eine Stelle bewarb, in die Quere zu kommen und alles durcheinanderzubringen, zumal ich doch nur um das tägliche Brot bat. Ich hatte ganz deutlich gemerkt, wenn ich etwas länger hungerte, dann war es, als rinne mir gleichsam mein Hirn sachte aus dem Kopf und mache mich leer. Mein Kopf wurde leicht und abwesend, ich fühlte nicht mehr seine Schwere auf meinen Schultern, und ich hatte so ein Gefühl, dass meine Augen allzu weit aufgerissen stierten, wenn ich jemanden ansah.

Ich saß da auf der Bank und dachte über all das nach und wurde immer erbitterter über Gott wegen seiner andauernden Quälereien. Wenn er meinte, mich näher an sich zu ziehen und mich besser zu machen, indem er mich peinigte und mir Klotz auf Klotz in den Weg legte, dann hatte er sich leicht getäuscht, wie ich ihm versichern konnte. Und ich schaute zum Himmel auf, fast heulend vor Trotz, und sagte ihm das im Stillen ein für alle Mal!

Brocken meines Kinderglaubens schossen mir ins Gedächtnis, der Tonfall der Bibel sang vor meinen Ohren, und ich sprach sachte mit mir selbst und legte spöttisch den Kopf schräg. Weshalb sorge ich mich darum, was ich essen soll, was ich trinken soll und in was ich diesen elenden Madensack, meinen irdischen Leib genannt, kleiden soll? Hatte nicht mein himmlischer Vater für mich gesorgt wie für die Sperlinge am Himmel und mir die Gnade erwiesen, auf seinen geringen Diener zu deuten? Gott hatte seinen Finger in mein Nervennetz gesteckt und leichthin, ganz beiläufig, ein bisschen Unordnung in die Fäden gebracht. Und Gott hatte seinen Finger herausgezogen, und siehe, es waren Fasern und feine Wurzelfädchen meiner Nerven Bahnen an dem Finger. Und es blieb ein offenes Loch nach seinem Finger, der Gottes Finger war, und es blieben Wunden in meinem Hirn nach seines Fingers Wegen. Aber als Gott mich mit seiner Hand Finger berührt hatte, ließ er ab von mir und berührte mich nicht mehr und ließ mir kein Böses geschehen. Sondern er ließ mich in Frieden gehen und ließ mich mit dem offenen Loch gehen. Und kein Böses geschieht mir von Gott, der der Herr ist in alle Ewigkeit …

Musikfetzen aus dem Studentenpark wurden vom Wind zu mir hochgetragen, es war also nach zwei. Ich holte meinen Papierkram heraus, um zu versuchen, etwas zu schreiben, dabei fiel mein Barbierheftchen aus der Tasche. Ich klappte es auf und zählte die Blätter, es waren noch sechs übrig. Gott sei Dank!, sagte ich unwillkürlich; ich konnte mich noch ein paar Wochen rasieren lassen und achtbar aussehen! Und durch diese kleine Habe, die mir noch geblieben war, kam ich sofort in eine bessere Stimmung; ich glättete sorgsam die Blätter und steckte das Heftchen in die Tasche zurück.

Doch schreiben konnte ich nicht. Nach ein paar Zeilen wollte mir nichts mehr einfallen; meine Gedanken waren anderswo, ich konnte mich zu keinem entschlossenen Bemühen aufraffen. Alle Dinge wirkten auf mich ein und lenkten mich ab, alles, was ich sah, vermittelte mir neue Eindrücke. Fliegen und kleine Mücken setzten sich auf dem Papier fest und behinderten mich; ich pustete, um sie wegzuscheuchen, pustete immer kräftiger, doch vergebens. Die kleinen Biester legen sich nach hinten, machen sich schwer und sträuben sich, dass sich ihre dünnen Beine biegen. Sie sind einfach nicht vom Fleck zu kriegen. Sie suchen sich etwas, an dem sie sich festhaken, stemmen die Fersen gegen ein Komma oder eine Unebenheit im Papier und stehen unverrückbar still, bis sie sich nach eigenem Gutdünken davonmachen.

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