Ich hätte da noch eine Idee … - Jochen Schweitzer - E-Book

Ich hätte da noch eine Idee … E-Book

Jochen Schweitzer

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Beschreibung

Der Praktiker, Forscher und Autor Jochen Schweitzer erzählt in persönlichen Geschichten 45 Jahre Systemische Therapie und Beratung in Deutschland: Was ist wann wie entstanden? Wie waren die jeweiligen Kontextzusammenhänge? Was waren Zufälle? Wohinter verbargen sich jahrelange Anstrengungen? Was waren Irrtümer? Entlang der Schnur von vierzig eigenen Publikationen blickt Jochen Schweitzer zurück und erläutert en passant Forschungsergebnisse genauso wie Beobachtungen und Entwicklungen der systemischen Szene. Die Leserschaft erfährt vom Segen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, von Gewinn und Freuden guter wissenschaftlicher Zusammenarbeit und von Freundschaften, die aus Arbeitsbeziehungen erwachsen können. Am Ende der Lektüre stehen das Gefühl, dabei gewesen zu sein, und der Impuls, bedeutsame psychosoziale Probleme der Gegenwart mit dem gleichen Schwung und Erfindungsgeist angehen zu wollen wie Jochen Schweitzer und seine Generation.

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Seitenzahl: 276

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Jochen Schweitzer

Ich hätte da noch eine Idee …

Persönliche Geschichten aus 45 Jahren Systemischer Therapie und Beratung

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit einer Abbildung und einer Tabelle

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Robert Delaunay, »Schraubenlinie« (1923)/akg-images

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99360-7

Inhalt

1 Welche Geschichten werden hier erzählt?

2 Wie ich zur Familientherapie fand (ab 1976)

Studentische Suchbewegungen in Gießen

Auf in die USA

Der Anfang in Heidelberg und Darmstadt

Wenn nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie – welche Theorie ist dann gut für mich?

3 Systemische Kinder- und Jugendpsychiatrie: Allzu viel Homöostase? (1982 bis 1986)

4 Therapie dissozialer Jugendlicher: Die Erfindung der Rundtischgespräche (ab 1983)

5 Therapie und Supervision im Sozialstaat: Widersprüche und Visionen (ab 1990)

Wenn der Kunde König wäre

Kundenorientierung als Dienstleistungsphilosophie

Teamsupervision: Opium fürs Volk

6 Was rauscht im Blätterwald? – Ironische Reviews (1990 bis 1993)

Viel Feind, viel Ehr: Zur Kritik an der Familientherapie

Was weiß die Wissenschaft über Helm S.?

7 Das Ende der großen Entwürfe:Der Mega-Kongress (1991)

8 Handwerkszeug für die Praxis

Die Familienskulptur

Die Sprechchortechnik

Gelingende Kooperation: Systemische Selbstreflexion

Die »Reflexionsliste systemische Prozessgestaltung«

Organisationen systemisch in Schwung bringen: Handlungsorientierte kreative Methoden

9 Just in time: Die Lehrbücher der systemischen Therapie und Beratung (ab 1996)

Wie zwei Autoren zusammenfanden

Das Schreiben und Anbieten unseres Erstlings

Resonanzen, weitere Lehrbücher, Übersetzungen

Wie uns der Erfolg veränderte und motivierte

10 Störungen störungsspezifisch ent-stören

Dissozialität, Delinquenz und Gewalt

Kindliche Kopfschmerzen im familiären Kontext

Beratung vor Lebendorganspenden

Therapie sozialer Ängste

11 Migration: Systemisch-interkulturelle Therapie

Aus- und Übersiedlerfamilien

Psychotherapieausbildung in China

Wie chinesische und deutsche Therapeut:innen anders »systemisch denken«

Notfallpsychotherapie mit geflüchteten Menschen

12 Auf dem Weg zu einer SYMPAthischen Psychiatrie (1990 bis heute)

Die endliche und die unendliche (Gemeinde-)Psychiatrie

Wenn (psychiatrische) Krankenhäuser Stimmen hören

SYMPA: Therapeutisches Konzept und Weiterbildung

SYMPA mit geistig behinderten Menschen

SYMPA und Freund:innen zwanzig Jahre später

Von der unendlichen zur allzu eiligen Psychiatrie

13 Gegen den Strich denken: Essays, Polemiken, Irritationen (um 2000)

Die Überfrachtung der mittleren Lebensjahre

Zeit in Paarbeziehungen

Unglücklich machende Familienideale

Der Mann als Gefahrenquelles

14 Psychotherapie im Dialog: Ein psychodynamischbehavioral-systemisches Gemeinschaftswerk (1999 bis 2010)

15 Die Gründung des Helm Stierlin Instituts (2002)

Von der Internationalen Gesellschaft für Systemische Therapie (IGST) zum Helm Stierlin Institut (hsi)

Eine verwunschene Villa hoch über der Stadt

Von der Gründung zum Generationenwechsel

16 Das Ganze Systemische Feld (DGSF): Verbandsentwicklung aus Vorstandsperspektive (2007 bis 2013)

Die Vor- und Gründungsgeschichte der DGSF

Die anfängliche Vision – und was aus ihr wurde

Szenische Höhepunkte

Wachstum und Professionalisierung

17 Wie wirksam ist Systemische Therapie – und wie kann man das beforschen? (ab 1988)

Der Zeitgeist ändert sich

Familienforschung per Fragebogen

Die Wirksamkeit von Systemaufstellungen

Ein Vergleich Systemischer Therapie und Kognitiver Verhaltenstherapie bei sozialen Angststörungen

Systemveränderungen messbar machen

18 Von der Evidenz zur Kassenfinanzierung: Wie Systemische Therapie Kassenleistung wurde (ab 1998)

Die Vorgeschichte

Ein neuer Anlauf

Warten, warten, warten …

Die Wende: Lobby-Coaching und Lobby-Praxis

Geschafft – und auf zu neuen Hindernissen

19 Medizinische Organisationspsychologie: Systemische Beratung für das Krankenhaus (ab 2006)

Eine Universitätssektion als Spielwiese

Unsere Forschungsprojekte

Unsere Praxis der Teamberatung

Jüngere Kolleg:innen begleiten

Vom Forschungs- zum Beratungsfokus (ab 2018)

20 Seelische Gesundheit am Arbeitsplatz: Über Zeitdruck, Resilienz, Wertschätzung und Dilemmata (ab 2009)

Gut Altwerden in Großbetrieben

Zeitdruck in der Herzchirurgie

Interne Beratung im Krankenhaus

Wozu keine Wertschätzung?

Der demografische Wandel wird spürbarer

Dilemmakompetenz

Mutig beraten: Konfliktsituationen im Coaching

21 Systemische Praxis und politisches Engagement: Von der Neutralität zur Positionierung

Zwischen Politik und Beruf

Politische Gemeinwesenarbeit und Familientherapie

Ökologische Politik als Interaktionsprozess

Gesellschaftspolitik in den systemischen Verbänden

22 Probleme und Lösungen als Gemeinschaftsleistungen (2012 bis 2014)

23 Man trifft sich meist zweimal (und öfter) – langfristige Weggenoss:innen

24 Blick zurück und nach vorn

Meine Generation

Was mir beruflich gutgetan hat

Kritik des Wissenschaftsbetriebes

Lohnenswerte Herausforderungen

Literatur

Zum Autor

1 Welche Geschichten werden hier erzählt?

Bevor ich die Frage beantworte, möchte ich eine kleine Begebenheit schildern. Vor vielen Jahren sagte am Ende einer langen Besprechung, als ich noch allerletzte Verbesserungsvorschläge unterbreiten wollte, ein Kollege in langsamer melodiöser schweizerdeutscher Aussprache zu mir: »Herr Schweitzer, mich graust es vor Ihren guten Ideen!« (Das Verb »graust« sprach er besonders gedehnt aus.) In ähnlicher Form habe ich diese Rückmeldung in meinem Arbeitsleben wiederholt zu hören bekommen: Dass meine Ideen, besonders die am Ende von Besprechungen noch schnell vorgebrachten, zwar oft als kreativ, inspirierend oder »angemessen ungewöhnlich« geschätzt, aber ihre Umsetzungschancen skeptisch beurteilt und der Aufwand für ihre Durchführung als (zu) hoch eingeschätzt werde, insbesondere der Aufwand für meine Kooperationspartner. Diese Fremdbeschreibung lege ich ohne weitere Erläuterungen dem Haupttitel dieses Buches zugrunde.

Nach über vierzig Jahren in vielen Sektoren der Systemischen Therapie und Beratung beende ich derzeit sowohl aus Alterswie auch aus Gesundheitsgründen mein Berufsleben. Wie es der Zufall will, entspricht die Zeitspanne meines beruflichen Wirkens nicht ganz, aber beinahe exakt der Werdens- und Wirkungsgeschichte der Systemischen Therapie im deutschsprachigen Raum. In diesem Buch erzähle ich jene Geschichten der Systemischen Therapie, die ich selbst erleben und zuweilen mitgestalten durfte – in verschiedenen passiven und aktiven Rollen. Ich erzähle diese Geschichten also aus meiner Perspektive: so wie ich ihnen begegnet bin, sie erfahren, miterlebt, empfunden und bewertet habe. Eine solche Geschichtsschreibung ist naturgemäß selektiv und subjektiv, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität. Wer eine breiter und multiperspektivisch angelegte Geschichtsschreibung sucht, findet diese online in der »Systemischen Geschichtswerkstatt«, verfasst von einer hochkarätigen Arbeitsgruppe um den Kölner Sozialwissenschaftler Tom Levold (2022).

Warum aber braucht es dann noch meine Geschichten der Systemischen Therapie, wird sich so manche:r berechtigt fragen. Ich hoffe, jüngere Leser:innen können in ihnen nachverfolgen, auf welche oft zufällige, konflikthafte oder mühsame Weise viele der therapeutischen Praktiken, Theorien und Regelungen in der Welt der Systemischen Therapie und Beratung entstanden sind, die ihnen heute abgeschlossen und abgerundet erscheinen, als seien sie schon immer so gewesen. Ältere Leser:innen aus meiner Generation, auch noch ältere oder geringfügig jüngere finden hoffentlich ergänzend dazu Spaß daran, ihre eigene, vielleicht noch nicht niedergeschriebene Geschichtsschreibung der Systemischen Therapie und Beratung mit meiner Erzählung zu vergleichen und sich je nach Ergebnis über meine Darstellung zu freuen oder zu ärgern.

Dieses Buch steht auf dem Sockel von 45 Aufsätzen aus den Jahren 1980 bis 2019, deren wichtigsten Gedanken, Fragestellungen, Ergebnisse und Anekdoten ich in Kurzform exzerpiert habe. Ich habe sie in das Buch anhand zweier Fragen eingebettet: (1) Welche fachlichen Entwicklungen der gesamten Systemischen Therapie und Beratung werden in diesen 45 Jahren durch sie illustriert? (2) Welche Rolle haben sie bzw. das in ihnen Dargestellte in meiner eigenen beruflichen Entwicklung gespielt?1

Sollte dieses Buch allen Altersgruppen seiner Leserschaft einen Eindruck von den teilweise enormen Entwicklungen, die die Systemische Therapie und Beratung in dieser Phase genommen haben, vermitteln, würde mich das freuen. Denn von diesen gab es einige! Viele neue Methoden und Ansätze, die noch bis vor Kurzem ausführlicher Begründungen bedurften, sind inzwischen fachlich zum Mainstream und Standard geworden. Dazu gehört auch (aber keineswegs so dominant und ausschließlich, wie es derzeit oft erscheint) die ambulante Systemische Therapie als krankenkassenfinanziertes Therapieverfahren, die zunehmend auch in Hochschulcurricula und Behandlungsleitlinien einen festen Platz einnehmen wird. Aber auch einige fachliche Merkwürdigkeiten in der psychosozialen Medizin und Sozialen Arbeit, gegen die ich zwischen 1980 und 1995 gern polemisiert habe, sind zu registrieren, von denen die meisten inzwischen glücklicherweise aus der Mode gekommen sind. Von manchem Unsinn, von dem ich und viele meiner Kolleg:innen in den 1980er und 1990er Jahren überzeugt waren, mussten und durften wir uns mit wachsender Erfahrung selbst verabschieden. Gleichzeitig stagniert aktuell weiterhin so manches, bleiben viele Widerstände gegen einen ökosozialen Ansatz in Psychotherapie, Sozialer Arbeit und arbeitsweltlicher Beratung zu überwinden oder nehmen punktuell auch zu.

Als roter Faden zieht sich durch die verschiedenen Abschnitte dieses Bandes der Gedanke: Die meisten psychosozialen Probleme sind eine »ungewollte Gemeinschaftsleistung« und bedürfen zu ihrer Lösung oder Linderung einer »gewollten Gemeinschaftsleistung« (Schweitzer, 2014). Niemand ist ganz für sich allein depressiv, schizophren, delinquent, erziehungsunfähig, ausgebrannt, rivalisierend oder leistungsgemindert. Psychosoziale Probleme und ihre Lösung oder Linderung sind eingebettet in eine »Ökologie gemeinsamer (Miss-)Erfolge«.2 Ihre Überwindung bedarf kooperativer Praktiken. Kooperation ist, auch bei gutem Willen aller Beteiligten, oft nicht einfach. Gemeinsame systemische Selbstreflexion (Schweitzer, 1998, S. 53 ff.) zwischen den Probleminhaber:innen (Patient:innen, Klient:innen), ihrem unmittelbaren Umfeld (Familie, Nachbarschaft, Kolleg:innen und Vorgesetzte) und den für sie tätigen psychosozialen Profis (Sozialarbeiter:innen, Psycholog:innen, Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte, Coaches, Unternehmensberater:innen) ist oft notwendig und hilfreich, um kontraproduktive Beziehungsmuster in der Zusammenarbeit aufzulösen und wieder flüssig und leichtgängig zu machen. Unterbleibt solche Kooperation, dann weist das darauf hin, dass sie von einem oder mehreren der Akteure zumindest für sie oder ihn selbst nicht als lohnend erachtet wird (Schweitzer, 1998, S. 30 f.).

Ich hatte das Glück, oft an Stellen zu arbeiten, in denen Lösungen für seinerzeit ungelöste psychosoziale Pro bleme gefunden werden mussten. Hauptberuflich waren meine Stationen die Kinder- und Jugendpsychiatrie, die Psychosomatische Medizin, die Familientherapie und die Medizinische Psychologie. Als Supervisor und Projektentwickler durfte ich an Innovationen in der Jugendhilfe, der klinischen und der Gemeindepsychiatrie sowie der somatischen Medizin mitwirken. Etwa ab 1995 war ich mit Coaching und Team- bzw. Organisationsberatung in der Arbeitswelt beratend und forschend beschäftigt, zuletzt hauptsächlich mit der seelischen Gesundheit am Arbeitsplatz Krankenhaus. Als »Funktionär« in zwei Fachverbänden, einem Weiterbildungsinstitut und einem Bundwesausschuss habe ich auch an der fachpolitischen Seite der Psychotherapie und speziell der Systemischen Therapie mitarbeiten dürfen.

***

Nun wünsche ich Ihnen, den Leserinnen und Lesern, nicht nur den jüngeren, möglichst viele Aha-Erlebnisse darüber, wie sich manche heute selbstverständliche psychosoziale Praktik erst sehr allmählich und oft aus der Kritik am früher Selbstverständlichen entwickelt hat – auch als Ermutigung, die bisher ungelösten psychosozialen Probleme mit zeitgemäß frischem Schwung anzugehen. Denn neue gute Lösungen werden heute genauso gebraucht wie in den letzten 45 Jahren.

______________________

1 Soweit ich aus meinen eigenen Publikationen zitiere, zitiere ich manchmal wörtlich (wenn mir auch heute keine bessere oder kompaktere Formulierung einfällt) und manchmal zusammenfassend oder paraphrasierend (wenn ich dadurch einen längeren Textteil besser oder kompakter zusammenfassen kann). Hätte ich jedes Mal kenntlich gemacht, ob ein Textteil wörtlich oder paraphrasierend zitiert ist, hätte das eine große und unübersichtliche Häufung solcher Hinweise nach sich gezogen, die die angenehme Lesbarkeit sehr beeinträchtigt hätte. Deshalb habe ich darauf verzichtet.

Aus Publikationen anderer Autor:innen zitiere ich in diesem Buch nur dort, wo es zum Verständnis einer Entwicklung erforderlich ist. Dort kennzeichne ich wörtliche Zitate als solche; alle anderen Referenzen sind Paraphrasierungen und Zusammenfassungen größerer Textteile.

2 Diesen Slogan habe ich in Anlehnung an den deutschsprachigen Buchtitel »Ökologie des Geistes« (1981) formuliert.

2 Wie ich zur Familientherapie fand (ab 1976)

Studentische Suchbewegungen in Gießen

Mein Psychologiestudium, mit Jura als Nebenfach, habe ich von 1973 bis 1978 in Gießen absolviert, einer hessischen Universitätsstadt mit geringer ästhetischer und kultureller Ausstrahlung, aber mit zumindest damals dichten sozialen Beziehungen sowie viel sozialpolitischem Engagement unter den Studierenden. Wer dies beides suchte, landete in den 1970er Jahren oft in einer von drei sozialpolitischen Ini tiativen in den drei sozialen Brennpunkten der Stadt. Am prominentesten war der Eulenkopf, eine Siedlung an der gleichnamigen Straße, in der nach dem Zweiten Weltkrieg Behelfsunterkünfte für Flüchtlinge und Wohnungslose entstanden. Die durch Horst-Eberhard Richter, einem der damals öffentlichkeitswirksamsten und fortschrittlichsten Psychoanalytiker und Psychosomatik-Klinikchefs der BRD, bekannt gewordene »Initiative Eulenkopf« machte es sich zur Aufgabe, die dortigen Anwohner:innen in der Selbstorganisation ihres Lebens zu unterstützen. Richter hatte schon in den 1960er und frühen 1970er Jahren familientherapeutische Bücher verfasst (Richter, 1963, 1970) und sich dann zunehmend auch sozialpolitischer Themen angenommen. In seinen gesellschaftspolitischen Bestsellern, z. B. »Die Gruppe« (Richter, 1972) und »Lernziel Solidarität« (Richter, 1974), hatte Richter über die Arbeit der Initiativgruppe Eulenkopf geschrieben. Als SPD-Mitglied und als Freund des damaligen Sozialministers im sozialdemokratisch regierten Hessen einflussreich, versuchte er Psychoanalyse, Familientherapie und Gemeinwesenarbeit zusammen zu denken und zu praktizieren. Ich sah darin zu Beginn meines Studiums etwas zu viel Psychologisierung politischer Probleme und ging lieber zur Gießener »Projektgruppe Margaretenhütte«. Der Verein engagierte sich im sozialen Brennpunkt rund um das Gebiet der Henriette-Fürth-Straße. Die Initiator:innen strebten in der Praxis mehr »radikale Gemeinwesenarbeit« im Sinne von Saul Alinsky (1946/1969) an, in oft kritischer Konfrontation mit der herrschenden, in Hessen und in Gießen sozialdemokratischen Politik. Beispielsweise luden wir mit unzufriedenen Bewohner:innen der Siedlung eine defekte, seit Jahren nicht ersetzte Mülltonne als Symbol der Vernachlässigung des Wohngebiets Margaretenhütte durch die Stadtverwaltung, auf einen LKW, fuhren diesen vor die Stadtverwaltung und hielten dort eine Aufmerksamkeit erregende Demonstration ab. Die Gitarrengruppe des Jugendclubs intonierte dazu den »Müll-Container-Blues«, Schaulustige wurden zum Mitsingen eingeladen.

Obwohl ich politische Probleme nicht psychologisieren wollte, studierte ich zeitgleich dennoch (mit reichlich Ambivalenz) Psychologie und wollte später irgendeine Art von Psychotherapeut werden. Diese Spur führte mich zurück zu Horst-Eberhardt Richter, dessen Team 1976 erstmals eine Weiterbildung in »Psychoanalytischer Familien- und Sozialtherapie« anbot. Ich bewarb mich dafür, bekam aber keinen Platz – wie alle anderen Studierenden, da der Teilnehmerkreis anders als anfangs mitgeteilt auf Hochschulabsolvent:innen eingeschränkt wurde. Folglich musste ich weitersuchen. Der Fachbereich Psychologie, besonders Renate Frank, machte uns damals mit Kognitiver Verhaltenstherapie vertraut. Autodidaktisch und selbstorganisiert hatten wir uns zudem nach strukturierten Anweisungen aus einem Lehrbuch (Minsel, 1974) Grundzüge der klientenzentrierten Gesprächstherapie beigebracht. Mit beiden Ansätzen wurde ich nicht so richtig warm.

Auf in die USA

Da widerfuhr mir 1977 während eines Praktikums in der Kinderklinik der University of Maryland in Baltimore, USA, ein regelrechtes Erweckungserlebnis. In einem Workshop für »Psychology Interns«3 über »Family Therapy« bekam ich in einem Rollenspiel die Rolle eines Kindes zugeteilt, das zwischen seinen verdeckt-konflikthaft interagierenden Eltern eingekeilt saß, die sich über die Erziehung dieses Kindes stritten. Der Therapeut forderte mich zu einem Platzwechsel auf, von »zwischen den Eltern« zu »gegenüber den Eltern« und damit zugleich neben den Therapeuten. Das fand ich toll, in meiner Rolle wie als Psychologiestudent: so handlungsorientiert und so nicht-vereinzelnd konnte Psychotherapie sein! Das wollte ich lernen, und noch auf der Rückreise vom Praktikum in Baltimore zum New Yorker Flughafen informierte ich mich in Philadelphia an zwei Klinikprogrammen (in der Philadelphia Child Guidance Clinic, geleitet von Salvador Minuchin, und im Hahnemann Medical College, geleitet von Iván Böször ményi-Nagy) über Möglichkeiten, dort nach dem Studienabschluss in Deutschland eine familientherapeutische Ausbildung zu machen.

Zurück in Gießen wählte ich im folgenden Herbst 1978 den »Gemeinsamen Rorschach-Versuch« nach Jürg Willi (1974) als Wahlthema meiner mündlichen Diagnostik-Diplomprüfung. Zugleich bewarb ich mich beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) um ein Jahresstipendium in den USA, um dort Familientherapie zu lernen.

In diesem meinem Amerikajahr absolvierte ich aufgrund einer ungewöhnlich unbürokratischen Absprache mit der Institutsleitung, bestehend aus Fred und Bernice Duhl (Duhl, Kantor u. Duhl, 1973), und dem DAAD von September 1979 bis Juni 1980 am Boston Family Institute zwei Weiterbildungsjahre in einem – jeden Dienstagnachmittag und -abend das erste Kursjahr, jeden Donnerstagnachmittag und -abend das zweite Kursjahr. Montags, mittwochs und freitags arbeitete ich in diesen zehn Monaten als »Clinical Child Psychology Intern« am Cambridge Child Guidance Center, einer kinderpsychiatrischen Erziehungsberatungsstelle, die wenige Straßen von der Harvard University entfernt lag. Den Abschluss meines Amerikajahres bildete im Juli und August 1980 ein »Structural Family Therapy International Summer Course« an der Philadelphia Child Guidance Clinic unter der Leitung von Salvador Minuchin, dem Begründer der strukturellen Familientherapie (Minuchin, 1977).

Etwa in der Mitte jenes Austauschjahres merkte ich: Die Würfel sind endgültig gefallen, Familientherapie kann ein Schwerpunkt meiner beruflichen Laufbahn werden, auf den Abschluss meines im Nebenfach betriebenen Jurastudiums kann ich getrost verzichten! Das war ein wunderbares Gefühl und Erlebnis, nachdem ich mein ganzes Studium hindurch kein klares Wunschbild meiner späteren Tätigkeit gewinnen konnte. Nun stellte sich eine neue Frage: Wie kann ich mit meinem endlich gefundenen Ziel, familientherapeutisch arbeiten zu wollen, in Deutschland weitermachen? Ich war 26 Jahre alt und stand unter Beobachtung des Bundesamts für den Zivildienst, das mich vor meinem 28. Lebensjahr noch zum damals obligaten, zum Wehrdienst alternativen Zivildienst einziehen würde. Ich wusste, dass damals in der BRD an drei Universitätskliniken kleine Institute für Familientherapie existierten, an denen die Ableistung eines Zivildienstes möglich war. Neben der Gießener Gruppe um H.-E. Richter gab es das in Göttingen unter der Leitung von Eckhart Sperling (Sperling u. Massing, 1982) und in Heidelberg unter der Leitung von Helm Stierlin. Eher aus privaten Gründen versuchte ich es in Heidelberg und wurde dort als Zivildienstleistender angenommen.

Der Anfang in Heidelberg und Darmstadt

So kam ich im Herbst 1980 aus den USA, mit Zwischenstationen bei meinen Eltern und auf einem Familientherapiekongress in Erlangen, am 1. Oktober 1980 in Heidelberg an. Dass ich dort den Rest meines Lebens bleiben würde, war zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht klar und hat mich rückblickend selbst überrascht. Im Heidelberger Familientherapieinstitut arbeitete ich vor allem mit Michael Wirsching (er wurde später Ordinarius für Psychosomatik in Freiburg) und mit Gunthard Weber (der in diesem Buch noch häufiger vorkommen wird) zusammen, weniger mit Helm Stierlin selbst. Leider brauchte es eine Weile, bis meine Rolle als Zivildienstleistender zu meiner eigenen Zufriedenheit geklärt war.

Ich arbeitete lediglich elf Monate im Heidelberger Familientherapieinstitut. Das Angebot einer Wissenschaftlichen Mitarbeiterstelle des Instituts für Medizinische Psychologie bot mir die Chance, meinen Lebensunterhalt in Heidelberg selbst zu finanzieren – was mit den kärglichen fünfhundert Mark im Zivildienst4 nicht möglich gewesen war –, und dennoch manche der in der Familientherapie begonnenen Arbeiten fortzuführen. Ich ergriff die Gelegenheit. Trotz der Kürze der Zeit, die ich am Heidelberger Familientherapieinstitut verbrachte, reichte diese, um Kontakte zu den Familientherapeut:innen und zu einigen der Psychoanalytiker:innen zu knüpfen, die dann über lange Phasen meines Arbeitslebens gehalten haben. Aber es ging nicht nur um Kontakte, ich wollte etwas lernen! Insbesondere in der Beobachtung des therapeutischen Verhaltens von Gunthard Weber und der von ihm zu Seminaren nach Heidelberg eingeladenen Mailänder Therapeuten Gianfranco Cecchin und Luigi Boscolo hat sich mein therapeutischer Stil weiterentwickelt. Mit dem Aufsatz »Beziehung als Metapher: Die Familienskulptur als diagnostische, therapeutische und Ausbildungstechnik«, den ich gemeinsam mit Gunthard Weber 1982 schrieb, und der in den zehn Jahren danach zu den meistzitierten deutschsprachigen Familientherapie-Aufsätzen gehörte, wurde ich in der Szene langsam ein wenig bekannt (Schweitzer u. Weber, 1982).

Im April 1982 war, nach wieder nur acht Monaten, auch diese angenehme, zum Gemütlichen neigende Stelle in der Medizinischen Psychologie zu Ende. Ich bewarb mich im Folgenden bei drei Heidelberger Einrichtungen – bei Helm Stierlin in der Familientherapie, bei Walter Bräutigam in der Allgemeinen Psychosomatik und bei Ernst Petzold in der Internistischen Psychosomatik. Aber keiner wollte mich – oder zumindest wollte keiner mir eine Stelle geben: »Ja, wenn Sie Arzt wären, dann hätten wir da vielleicht was. Aber unsere wenigen Psychologenstellen sind leider auf Jahre und Jahrzehnte besetzt.« So musste ich meinen Suchradius erweitern. Am Ende mehrerer anstrengender Bewerbungsprozesse begann ich im Juli 1982 an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des Landeskrankenhauses im nordschwäbischen Weinsberg zu arbeiten – an der ich viereinhalb Jahre lang blieb. Meine frühesten Lehr- und Wanderjahre hatten so ihr vorläufiges Ende gefunden.

Neben den psychiatrisch-psychosomatisch orientierten Heidelbergern wurde die in der Sozialarbeit angesiedelte Gruppe an der Evangelischen Fachhochschule Darmstadt um Margarete Hecker (1983) und Verena Krähenbühl (1986) für mich zu einer zweiten fachlichen Heimat. Dass ich bei Minuchin gelernt hatte – wie sie auch –, wurde dort zur Eintrittskarte, obwohl ich ehrlich berichtete, es habe sich dabei nur um einen sechswöchigen Kurs gehandelt. »Bei Minuchin gewesen zu sein« war für die Darmstädter Kolleginnen offensichtlich ein hinreichender Qualitätsausweis, so wie »in Amerika gewesen zu sein« für große Teile der damaligen Familientherapieszene als ein positiver Beleg für die eigene Kompetenz galt.

Anfangs wurde ich als Fallsupervisor verpflichtet. Mit einer nur dreiköpfigen Supervisandengruppe zog ich an den Samstagen durch die Beratungsstellen des Rhein-Main-Gebietes. Wir führten dort Familiengespräche mit Live-Supervision vor und hinter einer Einwegscheibe. Ich war gerade mal 27 Jahre alt, hypernervös in dieser mir allzu früh zugeteilten Rolle und grübelte, wie ich den Respekt dieser Gruppe gewinnen könnte. Diese berichtete mir, meine Vorgängerin sei »unerträglich wertschätzend« gewesen, habe unterschiedslos »alles gut gefunden«, egal wie schlecht es gewesen war, und das sollte ich auf keinen Fall tun. Ich beschloss, diese Aufforderung zu respektieren. In unserem ersten Supervisionsgespräch habe ich die Therapeutin, eine sympathische, sehr beleibte und sehr laut tönende Sozialarbeiterin, zwanzig Jahre älter als ich, insgesamt siebenmal per Telefon aus dem Therapieraum herausgeholt, um ihr hinter der Scheibe Änderungsvorschläge zu unterbreiten. Sie war hinterher sehr erschöpft, aber sehr glücklich und wir wurden über das ganze Jahr hinweg ein gutes Team.

1984 durfte ich erstmals als Krankheitsvertretung für Margarete Hecker eine Intensivkurswoche in Saarbrücken leiten. Offenbar gute Rückmeldungen der Teilnehmergruppe veranlassten Margarete Hecker anschließend, mich als Co-Leiter in ebenfalls einwöchige Familienrekonstruktionsseminare mitzunehmen. Wir wurden mit unseren 25 Jahren Altersdifferenz und unseren gemeinsamen Interessen an Neuer Geschichte, an Biografien und an psychodramatischen Techniken ein überaus erfolgreiches Gespann.

Wann hörte nun diese lange Zeit auf, in der alles anfing? In meiner Erinnerung war das irgendwann im Jahr 1987, als ich in einer anstrengenden und ausweglos erscheinenden therapeutischen Situation mich nicht mehr fragte, »Was würde Gunthard Weber jetzt tun?«, und aufhörte, eine virtuell hinter mir stehende fachliche Autorität zu konsultieren. Spätestens da hörte die Zeit auf, in der alles anfing.

Wenn nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie – welche Theorie ist dann gut für mich?

Das Nützlichste an meinem Psychologiestudium erscheint mir im Nachhinein das Diplom zu seinem Abschluss. Hatte mir mein Vater beim Hauptfachwechsel von Jura zu Psychologie noch prophezeit, dieser Wechsel würde mich finanziell und vom Status in eine prekäre Situation führen, hat sich diese triste Voraussage glücklicherweise nicht bewahrheitet. Im Gegenteil hat der »Psychoboom« während meiner Lebenszeit die Berufschancen von Diplom- und Masterpsycholog:innen insgesamt deutlich verbessert. Auch das forschungsmethodische Denken beim Formulieren und Überprüfen von Hypothesen, was ich im Psychologiestudium erlernte, war mir des Öfteren nützlich. Enttäuschend war dafür – im Durchschnitt – die theoretische Ausbildung, zumindest für mich, der ich die Mechanismen der psychischen und sozialen Welt verstehen wollte. Eine einzige Gießener Vorlesung hat sich in mein Gedächtnis eingegraben: »Ganzheitlichkeit, Behaviorismus und Systemtheorie« von Dietrich Dörner im Wintersemester 1975/76 – ein genialer Versuch, Systemtheorie als die Synthese zwischen Ganzheitlichkeit und Behaviorismus zu verstehen, die beider theoretische Stärke auf eine höhere Stufe hebt.

Wenn ich meine theoretische Beheimatung nicht in meinem Gießener Studium fand, wo dann? Kurz gesagt: in Amerika. Die mir 1977 und 1979/1980 in den USA vermittelte Systemtheorie hat man in Deutschland später als »Kybernetik erster Ordnung« bezeichnet (von Foerster, 1993). Sie beschrieb psychische und soziale Prozesse als theoretisch vollständig verstehbar, wenngleich es großes Geschick im Beobachten von Interaktionen erforderte, und sie ging davon aus, dass Systeme ein einmal gewonnenes Gleichgewicht unbedingt »homöostatisch« aufrechterhalten wollten, seiner Veränderung Widerstand entgegensetzen würden, was umso intensivere und geschicktere Interventionen erforderlich machte. Familientherapie wurde in dieser Denkweise zu einer kunstvollen Kombination möglichst eleganter und intensiver therapeutischer Interventionen – also eine sehr spannende Herausforderung. Das war etwas für mich, damit konnte ich etwas anfangen.

Meine frühe Heidelberger Zeit in den Jahren 1980 bis 1987 lag genau in einer theoretischen Übergangszeit von einer Kybernetik erster Ordnung zu einer Kybernetik zweiter Ordnung. Kybernetik zweiter Ordnung meinte vereinfacht gesagt: Wir beobachten und wir intervenieren nicht in das, »was wirklich ist«, sondern in die Beobachtungen von Beobachter:innen darüber, was der Fall sein könnte. Von außen ließe sich dieser Wechsel in polaren Termini anderer Theorien beschreiben als der Übergang von »materialistisch zu idealistisch«, von »Interaktion zu Konstruktion«, von »richtigen zu nützlichen« Beschreibungen, von »Fremdsteuerung zu Selbststeuerung«. Besonders deutlich zeigte sich diese Veränderung am Auseinandergehen des Mailänder Familientherapie-Quartetts. Die beiden Frauen, Mara Selvini Palazzoli und Giuliana Prata, blieben ihrer Spielart einer Kybernetik erster Ordnung verbunden (Selvini Palazzoli, Cirillo, Selvini u. Sorrentino, 1991), die beiden Männer, Luigi Boscolo und Gianfranco Cecchin, wechselten zu einer Kybernetik zweiter Ordnung (Cecchin, Lang u. Ray, 1992). Über die Heidelberger Gruppe – oder genauer: über Helm Stierlin als deren einziges konstantes Mitglied von 1975 bis in die 2000er Jahre hinein – könnte man vereinfachend sagen, sie sei recht direkt von der Psychoanalyse zur Kybernetik zweiter Ordnung übergegangen.

Über solchen Differenzierungen schwebte der einzige unumstrittene und nicht kritisierte Theoretiker jener Jahre: Gregory Bateson. Der Sohn eines Cambridger Biologieprofessors, studierter Ethnologe und Ehemann der Ethnologin Margaret Mead, hatte mit Indigenen in Samoa und Neu-Guinea, Psychiatriepatient:innen und ihren Eltern in Kalifornien sowie Delphinen auf Hawaii gearbeitet bzw. diese beobachtet. In diesen so unterschiedlichen Systemen hatte Bateson viele Grundbegriffe des systemischen Denkens studiert und formuliert: das zirkuläre Denken, symmetrische und komplementäre Modi, die Double-Bind-Hypothese der Schizophrenie, die logischen Ebenen des Lernens. Bateson (1981, 1982) wurde von mir und meiner Generation in der ersten Hälfte der 1980er Jahre in der systemischen Weiterbildung intensiv studiert.

In jenen Jahren stießen bei der Beschäftigung mit Theorien zwei entgegengesetzte Tendenzen in mir zusammen. Einerseits wollte ich soziale Wirklichkeiten kennenlernen und verstehen, »wie sie wirklich sind« – »kritisch« im Sinne des Marxismus und der Frankfurter Schule, frei von ideologischen Verblendungen. Andererseits hatte ich vor allem am Boston Family Institute studiert, wie sehr die Theorien führender Familientherapeut:innen mit deren eigenen Familienerfahrungen zusammenhingen – etwa Minuchins Fokus auf zugleich durchlässige und feste Grenzen zwischen (Sub-)Systemen mit seiner intensiv verbundenen Verwandtschaft im jüdischen Stetl in Argentinien oder Murray Bowens Theorie (Bowen, 1960, 1974), dass schizophrenen Störungen meist zwei frühere Generationen mit allzu verstrickten Interaktionen vorausgingen, mit seinen kindlichen Familienerfahrungen in den amerikanischen Südstaaten. Meine Bostoner Lehrer:innen ermutigten uns, die eigenen Herkunftserfahrungen zum eigenständigen Theoretisieren zu nutzen – was ich einleuchtend und faszinierend fand. Das passte irgendwie auch gut zum Konstruktivismus und Konstruktionismus und der von ihnen betonten sozialen Selbsterfindung.

In meinen späten Berufsjahren ging ich als gesellschaftspolitischer Sprecher der DGSF (besonders von 2016 bis 2019) auf die Suche nach Theorien, die ein über Fach- und Berufspolitik hinausgehendes allgemeinpolitisches Positionieren systemischer Therapeut:innen begründen und anleiten könnten. Ich fand sie auf dem fünften Kontinent, im narrativen Ansatz von Michael White und David Epston (White u. Epston, 1990; White, 2020), speziell in ihrer auf Michel Foucault zurückgehenden Idee, dass in psychischen und sozialen Systemen herrschende und unterdrückte Diskurse (Erzählungen) stets miteinander im Streit liegen und wir prüfen müssen, wie bekömmlich sie für uns selbst oder – im therapeutischen Kontext – für unsere Klient:innen sind. In Australien und Neuseeland lässt sich das am Konflikt zwischen dort lange Zeit herrschenden Theorien der aus Europa Eingewanderten und der unterdrückten Theorien der indigenen Aborigines und Maori deutlich zeigen.

Mir ist über die Jahre klar geworden, dass ich mit nur einer handlungsanleitenden Theorie nicht auskomme – auch nicht mit der Systemtheorie als der wahrscheinlich abstraktesten unter ihnen. Ich sehe die Systemtheorie heute als ein Flaggschiff einer Reihe miteinander verwandter Theorien, die wie von Dietrich Dörner schon 1975 postuliert das Beste aus Ganzheitlichkeit und Atomismus zusammenbringt. Ihnen allen ist gemeinsam: ein zirkuläres Denken über symmetrische und komplementäre Interaktionen, ein Interesse an der kollektiven (wenngleich oft sehr strittigen) Erzeugung von Wahrheiten sowie ein Glaube daran, dass einzelne Menschen zugleich Opfer und Täter der sie verbindenden Probleme sind. Unterschiedlich sind diese Theorien in ihren eher natur-, sozial- oder geisteswissenschaftlichen Herkünften, in ihrer Liebe zu eher mathematischen oder sprachlichen Darstellungsweisen, in ihrem unterschiedlich starken Glauben an die Formbarkeit der sozialen Wirklichkeiten.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es rein theoretische Systemiker:innen (sie kennen die gesamte Theorie, agieren aber sehr ungeschickt in sozialen Systemen) und rein intuitive Systemiker:innen gibt (sie denken systemisch, ohne notwendigerweise den Begriff gehört zu haben) sowie Mischungen aus beiden. Mir ist ein Kommentar des damaligen Jenaer Hochschullehrers Rainer Treptow zu meinem Bewerbungsvortrag um die dortige Professur Sozialmanagement im Januar 1999 in Erinnerung geblieben: »Herr Schweitzer, Sie haben einen sehr guten Vortrag gehalten. Mir scheint aber, zu nichts von all dem hätten Sie Niklas Luhmanns Ansatz als theoretische Grundlage gebraucht.« War das ein Kompliment? Ich weiß es bis heute nicht. Sicher ist, dass ich mich zu den Sowohl-alsauch-Systemiker:innen zählen würde: sowohl theoretisch geleitet als auch intuitiv agierend – ganz gemäß der Überschrift für diesen Abschnitt: nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie. Ich habe mehrere für mich passende im Laufe der Zeit gefunden.

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3 Psychology Interns sind Doktorats-Studierende der Klinischen Psychologie in ihrem letzten praktischen Jahr.

4 Um aus dem Zivildienst so frühzeitig entlassen zu werden, brauchte es ein sehr sorgfältiges Studium des damaligen Zivildienstgesetzes, bis ein hierfür hilfreicher Paragraf gefunden war. Dies war nicht das einzige Mal in meinem Leben, dass mein Nebenfachstudium der Rechtswissenschaft, auch ohne Abschluss, wirklich hilfreich war.

3 Systemische Kinder- und Jugendpsychiatrie: Allzu viel Homöostase? (1982 bis 1986)

Nach meinen Weiterbildungen in den USA und meinen ersten therapeutischen Gehversuchen in Heidelberg strebte ich Anfang 1982 an, in einem herausfordernden und stimulierenden Arbeitskontext viele klinische Erfahrungen zu sammeln. Dieser Arbeitskontext wurde für mich die Jugendlichenstation im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Weinsberg. Hier trafen mein Schwung und meine familientherapeutischen Kenntnisse auf ein ambitioniertes und solidarisches Stationsteam, auf ebenfalls familientherapeutisch vorgebildete oberärztliche (Helga Epple, Karl Pölzelbauer) und psychologische Kolleg:innen (Christa Probst-Geigges, Hildegart Hollerbach, Thomas von Stosch), auf ein kompetentes Stationsteam (Peter Schuch, Helmut Kubasta und Andrea Leonhardt wurden für mich besonders wichtig) und auf einen Chefarzt (Joachim Jungmann), der diesem Ansatz und mir reserviert-skeptisch-neugierig gegenüberstand, der mich aber zugleich auf gute Weise forderte und förderte.

Eigentlich begann ich dort zu arbeiten mit dem festen Vorsatz, aufgenommene Jugendliche aller Diagnosen zum schnellstmöglichen Zeitpunkt wieder nach Hause zu entlassen. Ich war skeptisch gegenüber allen Stigmatisierungs- und Chronifizierungsprozessen, denen besonders die als schizophren diagnostizierten Patient:innen gesellschaftlich ausgesetzt waren, und mir schwebte eine möglichst gemeindenahe Behandlungspraxis mit kurzen stationären Phasen vor. Die durchschnittliche Behandlungsdauer der Klinik betrug damals jedoch zwei bis drei Monate; manche Jugendliche blieben dort sechs Monate. Das war deutlich länger, als es mir vorschwebte. Das Einzugsgebiet der Klinik umfasste eine Fläche von 320 Quadratkilometern und bestand großenteils aus einer ländlichen Region mit schlechten ÖPNV-Verbindungen. Die Behandlungsabrechnung erfolgte nach Pflegetagen, was rein ökonomisch betrachtet längere Behandlungsdauern rentabel machte. Dies waren alles andere als gute Bedingungen für schnelles und gemeindenahes Arbeiten.

Etwa ein Jahr nach Stellenantritt hatte ich genügend Wiederaufnahmen, aber auch genügend allzu lange stationäre Aufenthalte registriert – auch von Jugendlichen, für die ich persönlich fallführend zuständig war –, dass ich darüber ins Grübeln geriet. Denn es waren häufig jene Jugendlichen und deren Familien, mit denen die Station sehr engagiert gearbeitet hatte. Was waren die Faktoren, die dazu beitrugen, dass viele Jugendliche öfter zu uns kamen und länger bei uns blieben, als wir uns das alle wünschten? In meiner Erklärungsnot nahm ich Zuflucht zu einer damals vor allem von Mara Selvini Palazzoli und ihrem Mailänder Team popularisierten These, wonach soziale Systeme nach Aufrechterhaltung ihrer Homöostase, also ihres Gleichgewichtes streben und wonach dieses Streben den eigentlich anstehenden Veränderungen in den betroffenen Systemen Widerstand entgegensetzt (Selvini Palazzoli, Boscolo, Cecchin u. Prata, 1977). In diese Zeit fiel der folgende Aufsatz.

Schweitzer, J. (1984). Systemische Jugendpsychiatrie – Zum Umgang mit der gemeinsamen Homöostase von Familie und psychi atrischer Einrichtung. Familiendynamik – Interdisziplinäre Zeitschrift für Praxis und Forschung, 9 (2), 96–107.

Die Grundthese meines Aufsatzes war, dass eine gemeinsame Homöostase von Familie und psychiatrischer Einrichtung in der stationären Einweisung der jugendlichen Patient:innen wirksam werde In diesen Familien ließen sich, ebenso wie in der psychiatrischen Einrichtung, fallübergreifend einige charakteristische Regeln bzw Beziehungsmuster beschreiben, die einen starken »Einweisungssog« entfalteten. Eine systemische Jugendpsychiatrie müsse daher einige »Gegenregeln« entwickeln und praktizieren, wollte sie erneute Einweisungen und überlange Verweildauern auf ein notwendiges Minimum begrenzen

Für viele Familien unserer Patient:innen postulierte ich,

1. dass sie eine Klärung ihrer stressigen familiären Beziehungen zu schmerzhaft fänden, diese daher lieber vage und undefiniert ließen;

2. dass angesichts starker Symbiosewünsche eine große Angst vor der Ablösung bzw dem Erwachsenwerden des:der Jugendlichen bestände;

3. dass die Mitglieder sich zeitweise aus dem Wege gehen müssten, damit nichts Schlimmeres passiert und

4. dass die Eltern in ihrer Hilflosigkeit keine hinreichenden eigenen Einflussmöglichkeiten mehr sähen und die Problemlösung daher an die Fachleute delegierten, deren Tun sie aber zugleich mit geringer Erfolgshoffnung betrachteten

Für unsere eigene jugendpsychiatrische Einrichtung postulierten wir spiegelbildlich

1. die Dominanz eines klassisch-psychiatrischen Krankheitsmodells, das wenig Hoffnung auf Veränderung, aber mancherlei Entlastung anböte;

2. das ganz vorwiegende Setzen auf stationäre Behandlungen, auch in den Fällen, bei denen ambulante Behandlung hinreichen könnte;

3. das Ziel der Stationsauslastung, denn nur wenn alle Betten voll belegt seien, agiere man wirtschaftlich und

4. die Akzeptanz aller stationärer Aufnahmen, auch jener, an deren Erfolg niemand glaube.

Welche eigenen Spielregeln kann nun eine systemische Jugendpsychiatrie dieser »gemeinsamen Homöostase« von Familie und Station entgegenhalten?

1. Wir verantworten die Therapie, aber nicht das Familienleben – Wir wollen der Familie möglichst wenig Entscheidungen abnehmen.

2. Der Konflikt soll dort bleiben, wo er hingehört. Er soll in der Familie gelöst werden. Dazu dient eine enge Mitsprache der Familie über Therapieziele, Entlassungsdatum und einzelne therapeutische Maßnahmen.

3. Die Psychiatrie ist Teil des Problems und Teil der Lösung – Wir versuchen sowohl die Veränderungswünsche als auch die Veränderungsblockaden in der Familie aufzugreifen, zu respektieren und behutsam weiterzuentwickeln.

4. Wir ergänzen das klassisch-psychiatrische Krankheitsmodell durch ein aktiv-lösungsorientiertes, das auch kleinste Veränderungsimpulse der Jugendlichen und ihrer Familien wahrnimmt, wertschätzt und nutzt.