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Ten years after the publication of the first volume of the "Textbook of Systemic Therapy and Counseling," Jochen Schweitzer and Arist von Schlippe turn their attention to the disorder-specific knowledge we have today of systemic therapy. From schizophrenic psychoses to eating disorders and addictions to suicidal endangerment; from cry-babies to learning disorders to hyperactivity; from adolescent headache to breast cancer to diabetes – the authors discuss the most important disorders occurring in adult psychotherapy, in child and adolescent therapy, and in family medicine. For each disorder they portray the most characteristic patterns and established treatments, employing numerous case studies to illuminate the system-therapeutic methods.This textbook demonstrates that it is indeed possible to bridge the gap between context- and solution-based theories of systemic therapy and the disorder-oriented approach from evidence-based medicine and psychotherapy.
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Seitenzahl: 689
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Unseren ElternMarianne und Otto (†) Schweitzer,Elisabeth (†) und Gunnar von Schlippe.
Jochen SchweitzerArist von Schlippe
Lehrbuchder systemischen Therapieund Beratung II
Das störungsspezifische Wissen
Mit 13 Abbildungen und 29 Tabellen
6. Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.
ISBN 978-3-647-99565-6
6. Auflage
© 2015, 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen.
Internet: www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.
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Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg
Inhalt
Vorwort
1 Systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten: Grundsätzliche Überlegungen
1.1 Krankheitsverständnis
1.2 Klassifikation und Diagnostik
1.3 Krankheitsursachen, Risikofaktoren, Schutzfaktoren
1.4 Therapiekonzept
1.5 Indikationen und Kontraindikationen
1.6 Evidenzbasierung: Wie wirksam ist systemische Therapie?
1.7 Kernkompetenzen systemischer Therapie
1.8 Systemische Therapie als Grundlagenverfahren
2 Systemische Psychotherapie mit Erwachsenen
2.1 Schizophrene und schizoaffektive Psychosen – Sinnvoll kommunizieren über Unverständliches
2.2 Depression – Vom Nichtkönnen und vom Nichtwollen
2.3 Angst und Panik – Die gerade richtige Dosis Beziehungsfreiraum
2.4 Zwänge – Neue Rituale für alte Kontrollkämpfe
2.5 Posttraumatische Belastungsstörungen – Sicherheit gemeinsam wieder herstellen
2.6 Borderline-Syndrom und andere Persönlichkeitsstörungen – Wenn Gefühle und Bindungsstile (allzu) schnell wechseln
2.7 Somatisierungsstörungen – Schmerz als Beziehungsinformation
2.8 Essstörungen: Anorexie, Bulimie und Adipositas – Wenn die Liebe nicht mehr durch den Magen geht
2.9 Süchte: Alkohol und illegale Drogen – Von Kontrollversuchen zur Sehn-Sucht
2.10 Sexuelle Störungen: Funktionsstörungen, Unlust, Identitätszweifel – Wege aus dem allzu Vertrauten
2.11 Suizidale Krisen – Die Apokalypse als Vorletztes
3 Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie
3.1 Kinderfreundliche Therapie
3.2 Fütter-, Schlaf- und Schreistörungen (Regulationsstörungen) – Wie Babys ihre Eltern stimulieren
3.3 Entwicklungsstörungen: Legasthenie, Asperger-Syndrom – Einzigartige Kinder
3.4 Einnässen und Einkoten – Die Dinge zum richtigen Zeitpunkt herauslassen
3.5 Aufmerksamkeitsdefizit- oder hyperkinetische Störung – Wo die wilden Kerle wohnen
3.6 Schulverweigerung und Mobbing – Wege und Umwege zur Schule
3.7 Dissozialität, Delinquenz, Gewalt – Regelverletzung als Gemeinschaftsleistung
4 Systemische Familienmedizin
4.1 Körperliche Krankheit und sozialer Kontext
4.2 Brustkrebs – Entlastung und Verständnis
4.3 Nierentransplantation – Einen Körperteil schenken
4.4 Unerfüllter Kinderwunsch – Wenn das Wunschkind nicht kommt
4.5 Kopfschmerzen bei Kindern und Jugendlichen – Hängemattentag für die Familie
4.6 Asthma im Kindesalter – Der »Luftiku(r)s«
4.7 Juveniler Diabetes – Die »Süßmuts«
Nachwort
Literatur
Stichwortverzeichnis
An diesem Buch haben mitgearbeitet:
Volkmar Aderhold, Hamburg
Hansruedi Ambühl, Bern
Eia Asen, London
Ulrike Brandenburg, Aachen
Barbara Bräutigam, Stralsund
Andrea Ebbecke-Nohlen, Heidelberg
Lothar Eder, Mannheim
Karin Egidi, Bochum
Brigitte Gemeinhardt, Hamburg
Michael Grabbe, Melle
Kurt Hahn, Heidelberg
Winfried Häuser, Saarbrücken
Nadja Hirschenberger, Mannheim
Heiko Kilian, Bruchsal
Rudolf Klein, Merzig
Friedebert Kröger, Schwäbisch-Hall
Hans Lieb, Edenkoben
Barbara Maier, Zürich
Claudia Mory, Leipzig
Matthias Ochs, Ludwigshafen
Cornelia Oestereich, Wunstorf
Barbara Ollefs, Osnabrück
Günter Reich, Göttingen
Mechthild Reinhard, Siedelsbrunn
Rüdiger Retzlaff, Heidelberg
Wilhelm Rotthaus, Bergheim
Andreas Schindler, Hamburg
Maria Seidel-Wiesel, Frankfurt
Ingo Spitczok von Brisinski, Viersen
Ruthard Stachowske, Lüneburg
Heike Stammer, Heidelberg
Stephan Theiling, Osnabrück
Consolata Thiel-Bonney, Heidelberg
Andreas Wiefel, Berlin
Tewes Wischmann, Heidelberg
Bettina Wittmund, Nordhausen
Vorwort
Gut zehn Jahre nach unserem »Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung« von 1996 erscheint jetzt der zweite Teil zum störungsspezifischen Wissen der systemischen Therapie. Er will die allgemeinen theoretischen und therapietechnischen Grundlagen der systemischen Therapie für die Therapie, Beratung und Begleitung zahlreicher einzelner psychischer und körperlicher Störungen nutzbar machen.
Dafür haben wir etwas getan, was in der systemischen Therapie zumindest im deutschen Sprachraum bislang relativ wenig Tradition hat. Wir haben das klinisch relevante Praxiswissen der systemischen Therapie nach Störungsbildern veranschaulicht – nicht wie gewohnt nach Interventionsansätzen, Settings oder kritischen Lebenslagen.
Ein solches Vorgehen ist dann sinnvoll, wenn man aufzeigen möchte, was genau die systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten leisten kann – im Gesundheitswesen und darüber hinaus überall dort, wo es um das Lösen von Problemen geht, denen Krankheitswert beigemessen wird.
Im Gesundheitswesen, speziell in der Psychotherapie, der Psychiatrie, der Psychosomatik, der Medizinischen Psychologie und der Klinischen Psychologie, wird derzeit vorwiegend in Form von Störungsbildern gedacht. Dieses Denken gilt als Grundlage zur Weiterentwicklung von Forschung und Therapie. Die Störungsspezifität soll es erleichtern, klar nachvollziehbare Behandlungsleitlinien zu formulieren, den Glaubenskampf zwischen psychotherapeutischen Schulen zu überwinden und vielleicht sogar neurobiologische Nachweise der Wirksamkeit von Psychotherapie vorzulegen.
Die systemische Therapie hat sich im deutschen Sprachraum nach 1980 unter dem Einfluss des konstruktivistischen Denkens weniger um die Beschreibung störungsspezifischer Ansätze gekümmert als zuvor in ihren Pionierjahren – und weniger, als das seither im angloamerikanischen und spanischen Sprachraum geschah.
Das ergibt insofern Sinn, als systemische Therapie in ihrer Theorie wie in ihrer Praxis nicht in erster Linie an Störungsbildern orientiert ist. Ihre Stärke liegt vor allem darin, Gesundheitsstörungen als Teil schwieriger Lebenslagen und zwischenmenschlicher Beziehungen umfassend und schnell zu verstehen und sie durch die Gestaltung eines Kooperationskontextes mit gesundheitsförderlicheren Beziehungsmustern positiv zu beeinflussen. Eine Grundannahme systemischer Erkenntnistheorie ist, dass die Seele ihren Sitz nicht – oder zumindest nicht nur – im Körper oder im Gehirn hat, sondern auch zwischen den Menschen, in der Sprache und in der Art, wie sie Sprache verwenden und wie sie von der Sprache geformt werden.
Diese Präferenz hat aber die Nebenwirkung, dass bislang nur wenig darüber nachzulesen ist, wie systemische Therapeuten eigentlich Menschen beraten und behandeln, die als Erwachsene mit Angst, Depressionen oder posttraumatischen Belastungsreaktionen oder als Kinder mit Einnässen, unruhiger Überaktivität oder Lernproblemen zu ihnen kommen. Als Mitherausgeber einer der größten deutschsprachigen Psychotherapiezeitschriften »Psychotherapie im Dialog« haben wir oft bemerkt, dass in der systemischen Therapie – anders als zum Beispiel in der Verhaltenstherapie – die Namen bekannter Autoren nur selten mit einzelnen Störungsbildern assoziiert sind. Worüber aber nicht in bestimmten offiziellen Diskursen gesprochen und vor allem geschrieben wird, das existiert in den Zeiten der evidenzbasierten Leitlinienmedizin offiziell auch gar nicht.
Dem steht gegenüber, dass viele systemisch ausgebildete Ärzte, Sozialpädagogen und Sozialarbeiter, Psychologen, Klinikseelsorger und Fachtherapeuten erfolgreich im Gesundheitswesen arbeiten – in Akut- und Rehabilitationskliniken, in Psychiatrie und Psychosomatik, in Psychotherapiepraxen und Beratungsstellen. Mindestens 15 % der 11.000 approbierten Psychologischen Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichentherapeuten bezeichnen sich derzeit (2006) als systemische Therapeuten. Und außerhalb des kassenfinanzierten Systems arbeitet eine große Zahl systemischer Berater in Privatpraxen, Beratungsstellen und sozialen Diensten ebenfalls mit erkrankten Menschen.
In vielen öffentlichen Beschreibungen taucht jedoch deren systemtherapeutische Orientierung nicht auf, sondern muss sich aus berufspolitischen Gründen noch unter tiefenpsychologischem oder verhaltenstherapeutischem Etikett darbieten – während systemische Therapie in anderen Ländern wie den USA, Großbritannien, Skandinavien, der Schweiz und Österreich ein gleichberechtigt anerkanntes Richtlinienverfahren ist.
Uns hat die Herausforderung gereizt, das vorhandene störungsspezifische Wissen der systemischen Therapie sichtbar zu machen. Dazu haben wir in diesem Buch zunächst einmal grundsätzliche Gedanken zur systemischen Therapie und der Behandlung von Krankheiten dargelegt. Anschließend haben wir das störungsspezifische Wissen der systemischen Therapie gesichtet und – wie schon im ersten Lehrbuch – anhand vieler Fallbeispiele von uns selbst, von Kollegen oder aus publizierten Falldarstellungen anschaulich gemacht. Dabei haben wir auch immer wieder Blicke in die Praxis und in die Publikationen anderer Therapieschulen geworfen, wo uns dies interessante Ergänzungen für die systemtherapeutische Arbeit versprach. Wir haben versucht, unverständlichen Expertenslang so weit wie möglich zu vermeiden, und hoffen, dass sich das Buch von Menschen unterschiedlichster Vorbildungen und in unterschiedlichen Arbeitsfeldern ähnlich gut lesen lässt.
Die Störungsmetapher trägt ein Risiko in sich: Sie kann den, der sie verwendet, zu einer Fokussierung auf defizitäre Konstellationen einladen. Sie kann ihn zu einem vertrauten, aber doch problematischen Denken verführen, eine Störung als Defekt oder Defizit im Individuum zu lokalisieren. Sie kann dazu verleiten, eine solche Störung unabhängig von der Beschreibung eines Beobachters für eine Tatsache an sich zu halten. Wir gehen in unseren Kapiteln in der Beschreibung der jeweiligen Störungsbilder durchaus in dieses Denken hinein, versuchen aber – hoffentlich erfolgreich –, die Leserinnen und Leser im weiteren Verlauf auch wieder hinauszuführen. Unser israelischer Kollege und Freund Haim Omer hat uns nach der Lektüre des Kapitels über Angst und Panik eine Rückmeldung gegeben, die die Stimmungslage vieler Leser widerspiegeln dürfte:
»Es war mir anfangs befremdlich, wie das Kapitel anfängt, mit allen diesen gewichtigen psychopathologischen Wörtern. Aber etwas sehr Interessantes wurde dadurch erreicht. Das Kapitel beginnt ja mit einer Verdinglichung von Angstproblemen, wie die Psychopathologie es üblicherweise tut. Nach und nach aber wird das Problem verflüssigt, wie Systemiker und Narrative Therapie es tun. Sogar die systemischen Erklärungen am Anfang sehen eher wie klassische psychopathologische Erklärungen aus (z. B. die systemische Erklärung für Agoraphobie als Stabilisator der Beziehung). Es ist, als ob im Laufe des Kapitels das Konzept der Angst denselben Prozess durchläuft wie in einer systemischen Therapie die Konstruktion der Angst des Klienten. Vielleicht sollte dieses Verfahren explizit gemacht werden? Das wäre vielleicht eine schöne Art, die Polarität des Kapitels (vielleicht des Buches) zu benutzen. Es ist, als ob man sagte: ›Sieh, sogar wir »Therapeuten-Wissenschaftler« haben keinen anderen Weg, als mit solchen konkreten Auffassungen zu beginnen! Aber das ist bloß der Anfang. Wir sind ja darauf aus, dieser Konkretisierung zu entwischen!‹ Die Konstruktion des Kapitels wird dann dialektisch. Mit so einem Buch würde ich als Leser gut spielen können. Aber wenn der Übergang nicht thematisiert wird, schlägt die Polarität des Kapitels (zwischen Wissenschaft und Narrativ) fehl.«
Wir haben versucht, das Risiko eines solchen Fehlschlagens zu minimieren, indem wir in der Regel in jedem Kapitel
a) mit Störungsbildern beginnen und mit dieser Schreibweise betonen, dass es bei allen Beschreibungen von Symptomen, Diagnosen, Prognosen und Prävalenzen um Bilder von Störungen geht, nicht um Störungen an sich.
b) mit Beziehungsmustern weitergehen, um darauf zu verweisen, dass sich um ein Phänomen, das als Störung beschrieben worden ist, Beziehungen konstellieren, die in spezifischer, selbstorganisierter Weise durch die Störung entstanden sind und sie gleichzeitig mit konstituieren. Auch hier wollen wir die Gefahr kausalistischer Kurzschlüsse durch die Überschrift minimieren.
c) und schließlich mit Entstörungen, den therapeutischen Interventionen, enden und damit, wie wir meinen, angenehme Assoziationen an systemische Komplexitätsreduktion, an ähnliche Verben wie »entwirren«, »entfalten«, »entwickeln« entstehen lassen.
Bei den im Buch enthaltenen zahlreichen Fallbeispielen steht die Spezifität der Patientenschicksale im Hintergrund. Wir haben dafür gesorgt, dass entweder die Zustimmung zur Veröffentlichung durch die Betroffenen vorliegt und/oder haben die Fallbeispiele so radikal anonymisiert, dass eine Identifizierung unmöglich ist.
Wie im ersten Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung haben wir auch dieses Mal zwischen den unterschiedlichen Formen der männlichen und weiblichen Schreibweisen gewechselt, um das Thema weder durch umständliche Schreibweisen ständig zu einem Leserärgernis zu machen, noch durch eine durchgehende Form die andere zu unterdrücken.
Wir haben dieses Buch aus einem Guss schreiben wollen und daher alle Kapitel zu zweit verfasst. Allerdings haben wir uns der Unterstützung vieler befreundeter Kolleginnen und Kollegen versichert, die uns eigene Textteile und Fallgeschichten zur Verfügung stellten und unsere Texte kritisierten und überarbeiteten. Ohne sie wäre das Buch nicht in dieser Breite zustande gekommen. Wir bedanken uns sehr für ihre Unterstützung. Herrn cand. oec. Mirko Zwack danken wir für die Erstellung des Registers.
Dieses Buch erscheint fast zeitgleich mit einer Expertise und zwei Aufsätzen zur »Wirksamkeit der systemischen Therapie/Familientherapie« (von Sydow et al. 2006a, 2006b, 2006c). Diese Arbeiten zeigen detailliert, welche teilweise sehr guten empirischen Wirksamkeitsbelege die systemische Therapie/Familientherapie zu zahlreichen, insbesondere schweren Störungsbildern vorlegt. Unser Buch versteht sich als das therapie- und beratungspraktische Geschwister dazu. Wenn es damit gelingt, vielen Fachleuten und Studenten – und vielleicht auch zahlreichen Patienten und ihren Angehörigen – zu verdeutlichen, was man mit systemischer Therapie bei der zielgenauen Behandlung und Beratung erkrankter Menschen alles anfangen kann, werden wir zufrieden sein.
Jochen Schweitzer und Arist von Schlippe
1
Systemische Therapie als Behandlung von Krankheiten: Grundsätzliche Überlegungen
In den Diskurs der unterschiedlichen psychotherapeutischen Ansätze über deren Krankheits- und Behandlungskonzepte bringt die systemische Psychotherapie einige pointierte Positionen ein, auf denen auch unser Buch aufbaut. Es wird sich mit verschiedenen klinischen Arbeitsfeldern befassen, deren gemeinsamer Nenner die Orientierung an der Behandlung von Krankheit ist. In unserer Kultur ist Krankheit ein hoch elaboriertes Konzept, das einen großen Phänomenbereich umspannt. Besonders interessant und häufig diskutiert ist dabei das Verständnis der als psychisch, psychiatrisch und psychosomatisch bezeichneten Erkrankungen. Das folgende Kapitel wird sich damit auseinandersetzen.
1.1 Krankheitsverständnis
Ein besonderer Beitrag eines systemischen Verständnisses von Krankheit ist es, diese nicht als ein persönliches Merkmal anzusehen, das ein einzelner Mensch für sich allein hat (»Ich habe ein Magengeschwür«), mit dem er gar im Sinne einer dominierenden Eigenschaft identisch ist (»Ich bin ein Angstneurotiker«, »Ich bin ein Asthmatiker«) oder auf das er von anderen reduziert werden kann (»Die Fraktur in Zimmer 13«).Vielmehr wird eine Krankheit als Teil einer größeren, je nach Perspektive als störend oder auch gestört erlebten Interaktion angesehen, an der eine oder mehrere Personen so sehr leiden, dass ihnen Krankheitswert zugeschrieben wird.
Krankheit auf verschiedenen Systemebenen: Krank sein – sich krank fühlen – sich krank zeigen
Solche krankheitsbezogenen Interaktionen können sich auf mehreren Systemebenen zugleich abspielen:
– Auf der biologischen Ebene interagieren Gene, Hormone, Nervensignale, Bakterien oder andere Elemente in einer Weise miteinander, die von Laien oder Experten als »krankhaft« diagnostiziert werden kann. Diese Ebene wird auch oft als das »gelebte Leben« bezeichnet.
– Auf der psychischen Ebene des »erlebten Lebens« nimmt ein Mensch zahlreiche Gefühle (»Mir ist übel«, »Mir tut es weh«), Gedanken (»Mein Herz schlägt eigenartig schnell«), Selbstgespräche (»Ich sollte nicht immer …«), erinnerte Träume, Problemtrancezustände (»Mir gelingt nie etwas«) und Lösungstrancezustände wahr (»Ich werde es schwungvoll anpacken«). Das Ergebnis dieser Interaktionen verschiedener, oft auch widersprüchlicher Gedanken und Gefühle kann das Selbsterleben sein, krank zu sein.
– Auf der sozialen Ebene des »erzählten Lebens« wird aus der Fülle dieser biologischen und psychischen Prozesse nur derjenige Ausschnitt sichtbar, der in Kommunikationen einfließt. Dazu gehört alles, was dieser Mensch verbal in Gesprächen, Reden oder Briefen sowie nonverbal in Mienenspielen und Gesten ausdrückt – genauer gesagt: alles, was Laienbeobachter und medizinische Fachleute mit und ohne diagnostische Geräte dazu festzustellen vermögen.
In der amerikanischen Medizinsoziologie gibt es drei unterschiedliche Übersetzungen des deutschen Begriffs Krankheit, die diese drei Systemebenen widerspiegeln:
– »Disease« als die biomedizinisch objektivierbare Krankheit,
– »Illness« als die erlebte und gefühlte Krankheit,
– »Sickness« als die von anderen wahrgenommene und zugestandene Krankheit.
In diesen drei Systemebenen interagieren also sehr unterschiedliche Elementtypen: körperliche Prozesse im biologischen, Gedanken und Gefühle im psychischen, Kommunikationen im sozialen System. In der Sprache von Niklas Luhmann (1984; siehe hierzu auch Eder 2006) ist jede dieser drei Systemebenen »operational geschlossen«: Sie können die in ihnen ablaufenden Vorgänge nur mit ihren eigenen Operationen ausführen und sich darin nicht von außen steuern lassen. Sie stellen füreinander »Umwelten« dar: In jeder Systemebene wird nur ein kleiner Teil der Prozesse in den beiden anderen Systemebenen als bedeutsam erkannt und verarbeitet. Veränderungen auf jeder dieser Systemebenen vermögen Veränderungen auf jeder anderen Systemebene sehr wohl anzuregen, aber nicht gezielt zu steuern. Betrachten wir alle drei Systemebenen gemeinsam, so nennen wir dies ein biopsychosoziales Krankheitsverständnis.
Ob einer Störung auf einer dieser drei Systemebenen Krankheitswert zugeschrieben wird – ab welcher Intensität, welchem Grenzwert, welcher Symptomkombination, welcher Dauer –, ist oft nicht naturgegeben, sondern Ergebnis sozialer Aushandlung. Häufig kann auch die Frage, wem – welchem Mitglied eines Problemsystems – diese Störung als Krankheit zugeschrieben wird, erst in sozialer Aushandlung geklärt werden. Krankheiten sind somit auch – aber keinesfalls nur – als soziale Konstruktionen anzusehen, also als Ergebnisse gesellschaftlicher Entscheidungen darüber, was als krank angesehen werden soll und was nicht.
Wie jede Psychotherapie spielt sich auch systemische Psychotherapie »nur« auf der Ebene der Kommunikation ab – der Kommunikation zwischen Patient und Therapeut oder bei Mehrpersonentherapien auch zwischen weiteren Menschen. Wie jede Psychotherapie geht sie davon aus, dass veränderte Kommunikation Veränderungen im psychischen und biologischen System zwar nicht unmittelbar umsteuern, aber doch in einer positiven Weise anzuregen vermag. Gedanken und Gefühle lassen sich wie Neurotransmitter und Hormone durch soziale Interventionen von außen nicht direkt, aber indirekt beeinflussen.
Psychische Krankheiten können in dem Ausmaß erfolgreich als Kommunikationsprobleme behandelt werden, wie sie als Krankheiten zu existieren aufhören, wenn keine Kommunikation mehr über sie stattfindet. Wenn etwa ein Mensch eine krankheitswertige Störung (eine Phobie, eine Manie, eine narzisstische Persönlichkeitsstörung) über längere Zeit hinweg nicht mehr zeigt und niemand, insbesondere der betroffene Mensch selbst, sie mehr bemerkt – dann wird ein wesentlicher therapeutischer Erfolg erreicht sein. Die Frage, ob er oder sie diese Krankheit noch »hat«, verliert dann schnell an Bedeutsamkeit.
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