Im Bann der Todeselfe - Dana Kilborne - E-Book
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Im Bann der Todeselfe E-Book

DANA KILBORNE

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Beschreibung

Cadie hat sich Hals über Kopf verknallt! Und zwar in den süßen Eddie, der erst seit ein paar Tagen an ihrer Schule ist. Doch kaum dass sie mit ihm zusammen ist, macht er auch schon wieder Schluss! Cadie versteht die Welt nicht mehr. Und irgendwie scheint Eddie auch krank zu sein. Er wird immer blasser, verstörter, und manchmal kommt er gar nicht mehr zur Schule. Was bedrückt ihn? Obwohl er Cadie so mies behandelt hat, will sie es herausfinden. Denn die verrückte Earie Alice faselt immer davon, dass er in Lebensgefahr schwebt und nur Cadie ihn retten kann - und zwar vor der Lhiannan Sídhe, einer bösen Elfe, die angeblich Eddies Lebensenergie raubt, um selbst jung und unsterblich zu sein ...

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Dana Kilborne

  Im Bann der Todeselfe

 

 

 

 

 

„Du bist so schön, so wunderschön …“

Matt konnte seinen Blick nicht von ihr wenden. Wunderschön? Nein, dachte er, sie ist weit mehr als das. Doch es schien in den Sprachen der Welt kein Wort zu geben, um sie angemessen zu beschreiben. Ihr berückendes Antlitz war feengleich. Die dunklen, fast schwarzen Augen wie Seen, in deren Untiefen noch kein Mensch je vorgedrungen war. Das lange Haar fiel ihr in weichen, rotblonden Wellen über die Schultern. Ein glänzender Strom aus Feuer und Glut. Ihre vollen, kirschroten Lippen formten ein Lächeln, das ihr ganzes Gesicht erstrahlen ließ. Sie sprach nicht, schaute Matt nur an, mit einem Blick, in dem sich alles Wissen, alle Freude und alles Leid der Welt vereinigt zu haben schienen.

Äußerlich war sie jung, beinahe noch ein Mädchen, doch Matt ahnte, dass dieser Schein trog. Er konnte es in ihren Augen sehen. Es waren die Augen einer Frau, nicht die eines Kindes. Augen, die alle Wunder und Schrecken dieser Welt gesehen und in sich aufgenommen hatten.

Als sich ihre Lippen den seinen mit aufreizender Langsamkeit näherten, taumelte er. So war es immer gewesen, seit er sie zum ersten Mal getroffen hatte. Wenn er sich in ihrer Nähe befand, fühlte sich sein Körper schwach und kraftlos an, wohingegen sein Geist sich zu wahren Höhenflügen anschickte.

Matt schloss die Augen. Es war eine ungemein sanfte Berührung, wie die eines Schmetterlingsflügels an einem lauen Sommertag. Ihre Lippen verströmten einen schwachen Erdbeerduft. Er seufzte und gab sich dem berauschenden Gefühl hin, schwerelos zu schweben. Existierte sie da draußen noch, die Welt um ihn herum?

Matt war sich nicht sicher. Wenn er in diesem Augenblick die Augen öffnete, würde er dann immer noch mit ihr auf dem Pier stehen? Oder würden sie sich an einem geheimen Ort befinden, an dem es nur sie beide gab?

Seine Gedanken schweiften ab, doch Matt kümmerte es nicht. Er war glücklich, viel glücklicher als jemals zuvor in seinem Leben. Sie war die Erfüllung all seiner Träume. Ihr allein gehörte sein Herz – er konnte sich nicht erklären, wie es jemals einer anderen hatte gehören können.

Und dann spürte er die Veränderung. Es war nicht wirklich etwas, das man mit seinen fünf Sinnen festmachen konnte, zunächst kaum mehr als eine seltsame Schwingung, die in der Luft zu hängen schien.

Dann kam der Schmerz.

Matt schnappte irritiert nach Luft, doch das hatte nur eine weitere Welle weiterer Schmerzen zur Folge. Was passierte hier?

Er riss die Augen auf und wollte sich von ihr lösen, behutsam zunächst, dann schon etwas heftiger. Doch ihre zarten Hände hielten seinen Kopf so fest umklammert wie ein Schraubstock. Und noch immer waren ihre Lippen zu einem nicht enden wollenden Kuss verbunden.

Seine Augen weiteten sich, als der Schmerz immer schrecklicher in ihm zu wüten begann. Gott, was geschah bloß mit ihm? Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass sie etwas damit zu tun hatte. Und dass diese Folter nicht enden würde, bevor er sich von ihr befreit hatte. Doch so sehr er sich auch bemühte, es wollte ihm einfach nicht gelingen.

Matt wollte schreien, doch sie verschloss seinen Mund mit ihren Lippen, sodass kein Laut seiner Kehle entwich. Und die ganze Zeit über beobachtete sie ihn mit diesen schrecklich wissenden Augen, die jetzt eine eisige Kälte auszustrahlen schienen.

Er hob die Hände, um sie von sich zu stoßen. Sein Körper schien ihm kaum noch zu gehorchen. Es war, als würde er überhaupt nicht mehr zu ihm gehören. Sogar die Schmerzen begannen langsam abzuebben. Doch Matt war sich nicht sicher, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war.

Ein letztes Mal bäumte er sich noch in ihren Armen auf; dann regte sich nichts mehr in ihm. Jetzt endlich löste sie ihre Lippen von ihm, beendete diese grausige Karikatur eines Kusses.

Ihre Augen glitzerten. Die Energie, die ihr Körper ausstrahlte, ließ die Luft um sie herum knistern. Sie war von unbändiger Lebenskraft erfüllt.

Sie lächelte – und verschwand. Und nur der reglose Körper auf den nackten Holzbohlen des Piers zeugte davon, dass sie jemals hier gewesen war.

Für einen Augenblick herrschte Stille. Selbst das Meer schien für einen Moment aufgehört zu haben, sich in immer wiederkehrenden wütenden Wogen gegen die Kaimauern zu werfen. Dann erklang ein leises Klackern vom Anfang des Piers her. Das Geräusch wurde lauter, jemand näherte sich.

Und dieser Jemand rannte.

„Neeeiin!“

Ein Schrei, von grenzenloser Pein erfüllt, zerriss die trügerische Idylle von Ruhe und Frieden. Ein junges Mädchen hatte ihn ausgestoßen, und jetzt, wo sich ihr Grauen einen Weg an die Oberfläche gebahnt hatte, konnte sie gar nicht mehr aufhören zu schreien.

Immer und immer wieder rief sie den Namen des Menschen, den sie auf der ganzen Welt am meisten liebte: „Matt!“

Ein paar Meter, bevor sie den leblosen Körper erreichte, verlangsamten sich ihre Schritte. Ein wimmerndes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Sie taumelte, musste sich wie ein Ertrinkender an der Brüstung festklammern, und sank dennoch auf die Knie nieder.

„Matt … Nein!“

Sie sprach leise, beinahe flüsternd. Langsam, ganz langsam, kroch sie auf allen Vieren auf Matt zu. Noch immer versuchte etwas in ihr, die grausame Wahrheit zu leugnen. Vielleicht war es gar nicht Matt. Vielleicht …

Für den Bruchteil einer Sekunde spielte sie mit dem Gedanken, sich einfach umzudrehen und so schnell zu laufen, wie ihre Beine sie trugen. Die Hoffnung am Leben erhalten, solange es noch möglich war. Und sie wusste, dass diese Hoffnung in dem Augenblick erlöschen würde, in dem sie Matt in die Augen sah. Sobald sie das getan hatte, würde sie es nicht länger leugnen können.

Dennoch kroch sie, fast gegen ihren eigenen Willen, weiter. Sein Gesicht war von langen Strähnen seines dunkelblonden Haares verdeckt. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an den berauschenden Duft, den sein Haar verströmte. Sonne und Weizen …

Lieber Gott, lass es nicht Matt sein! Lass es nicht Matt sein!

In ihrem Kopf schien es nur noch Raum für diesen einen Gedanken zu geben. Die Welt um sie herum hätte in Schwefel und Feuer untergehen können, sie hätte es nicht einmal bemerkt. Ihr Atem ging stoßweise, ihr hübsches Gesicht war so bleich und wächsern wie das eines Toten.

Wie Matts Gesicht …

Sie schluchzte. Ihr Magen schien sich in einen Knoten verwandelt zu haben. Sekundenlang schwebte ihre Hand zitternd über dem Gesicht des reglosen Jungen, dann erst brachte sie es über sich, das dichte, seidige Haar zu berühren.

Ihre veilchenblauen Augen schwammen in Tränen, doch nur eine einzige löste sich und rann einsam ihre Wange hinab. Tief in ihrem Innern hatte sie die Wahrheit längst gewusst.

Matt …

Es zerriss ihr schier das Herz, ihn so zu sehen. Seine Augen waren in namenlosem Entsetzen aufgerissen und starrten blicklos in den wolkenverhangenen Nachthimmel.

Es war ihre Schuld. Sie hatte von ihrem Versteck in einem alten Lagerhaus am Pier alles mit angesehen – doch sie hatte nichts unternommen. Ihr Körper war wie versteinert gewesen, als sie Matt mit diesem anderen Mädchen gesehen hatte. Als sie erkannt hatte, was wirklich vor sich ging, dass es sich nicht um irgendein x-beliebiges Mädchen handelte, war es zu spät gewesen. Da hatte sie ihn bereits verloren.

In diesem Moment riss die dichte Wolkendecke über ihnen auf, und der Mond wurde sichtbar. Silbrig glänzendes Licht ergoss sich über dem Pier – und erst jetzt erkannte sie die ganze Wahrheit.

Sie schrie.

Das war nicht Matts Gesicht! Jedenfalls nicht so, wie sie es gekannt hatte. Und doch war sie hundertprozentig sicher, ihren Freund vor sich zu haben. Sie hätte seine Augen unter Millionen anderen wieder erkannt, aber sein Gesicht … Es war so anders. So … alt.

Es war das Gesicht eines Greises.

Eisiges Entsetzen ließ sie schaudern. Was war bloß mit Matt geschehen? Was hatte SIE ihm angetan?

„Nein!“ Schluchzend schlang sie ihre Arme um Matts Oberkörper und wiegte ihn sanft. „O nein …“

In dieser Nacht leistete sie einen Schwur. SIE würde für das büßen, was SIE Matt und so vielen anderen vor ihm angetan hatte.

Und sie würde nicht ruhen, ehe sich dieser Schwur erfüllt hatte …

 

 

Fünfzig Jahre später.

 

Das Nerven zerfetzende Blöken einer Hupe zerriss die morgendliche Stille. Cadie O’Brian zuckte erschrocken zusammen und ließ die Haarsprayflasche fallen, die sie gerade in der Hand gehalten hatte. Scheppernd rollte sie davon und blieb unter einer niedrigen Kommode liegen.

Cadie fluchte unfein. „Mein Gott, ja! Ich komm ja schon!“

Wie ein Wirbelwind raste sie durch ihr Zimmer, kramte ihre Schulsachen zusammen und stopfte sie in ihren Rucksack. Dann stürmte sie zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter zum Erdgeschoss ihres Elternhauses. Unterwegs wäre sie um ein Haar über ihre eigenen Füße gestolpert, als draußen vor der Tür schon wieder wie wild auf die Hupe gedrückt wurde.

„Sag mal, das ist doch nicht etwa schon wieder Paddy, oder?“ Es war Mrs. O’Brian, die jetzt ihre Nase durch die offene Küchentür streckte. Missbilligend krauste sie die Stirn. „Richte deinem jungen Freund doch bitte von mir aus, wenn er noch einmal so einen infernalischen Lärm am frühen Morgen veranstaltet, drehe ich ihm eigenhändig den Hals um!“

Cadie, schon ganz außer Puste, konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Da musst du dich hinten anstellen, Mum. Du kannst ihn gerne haben, wenn ich mit ihm fertig bin – sofern dann noch etwas von ihm übrig ist.“

Im Vorbeilaufen schnappte sie sich ihren Motorradhelm von der Garderobe, dann stürmte sie zur Tür hinaus und rannte den kurzen Fußweg durch den Vorgarten zur Straße hinunter, wo Paddy MacCarthy schon mit laufendem Motor auf seinem Roller wartete.

Als sie sah, dass er schon wieder seine Hand nach dem Hupenknopf ausstreckte, griff sie sich in einer theatralischen Geste an den Hals, um ihm zu verdeutlichen, was ihm bevorstand, wenn er nicht augenblicklich aufhörte.

Mit zwei langen Sätzen hatte sie ihn erreicht und rutschte hinter ihm auf den Sozius. „Sag mal, hast du nicht mehr alle Tassen im Schrank?“, keifte sie, nachdem sie ihre lange, kupferfarbene Lockenmähne unter dem Helm verstaut hatte. „Meine Mum killt dich, wenn du noch einmal so `ne Show abziehst!“

Paddy drehte sich um, sodass Cadie das breite Grinsen durch das Visier seines Helms sehen konnte. Dann zuckte er mit den Schultern, ließ den Motor aufheulen und gab Vollgas. Cadie musste sich hastig an ihm festklammern, um nicht vom Roller zu fallen.

Nach knapp einer halben Stunde wilder Fahrt erreichten sie endlich die MacCumhal Comprehensive School. Paddy lenkte den Roller auf den Lehrerparkplatz und stellte ihn auf einem freien Stellplatz ab, was natürlich nicht erlaubt war, von der Schulleitung aber gnädigerweise toleriert wurde.

Cadie zog den Helm ab, schüttelte ihre Lockenmähne und schnaufte frustriert. Wie die meisten Mädchen mit krausem Haar hätte sie mit Freuden ihre Seele für seidig glänzende, glatte Haare verkauft. Doch sie hatte nun mal die Gene ihres Vaters geerbt, der ebenfalls mit kupferroter Lockenpracht gesegnet oder, wenn es nach Cadie ging, gestraft worden war.

„Mensch Cad, wird das heute noch was?“ Mit einem frechen Grinsen griff Paddy ihr ins Haar und verstrubbelte es endgültig.

Cadie quiekte entsetzt. „Bist du total bescheuert? Jetzt sehe ich erst recht aus wie ein alter Besen!“

Doch er zuckte bloß mit den Schultern und erwiderte nüchtern: „Als ob das einen großen Unterschied macht, Cadie-Baby.“

„Vielen Dank auch! Du hast es echt drauf, einen aufzumuntern!“

Grummelnd folgte Cadie ihm die Stufen zum Schulgebäude hinauf. Sie wusste im Grunde, dass Paddy es nicht so meinte. Sie kannten sich schon eine halbe Ewigkeit, hatten zusammen Sandburgen gebaut und ihre Kindergärtnerinnen tyrannisiert. Sie betrachtete ihn als so was wie ihren großen Bruder, auch wenn er nur knapp zwei Monate älter war als sie selbst.

Dennoch hatte er mit seinen Worten wieder einmal genau ins Schwarze getroffen. Cadies Aussehen war ihr wunder Punkt. Wenn sie morgens in den Spiegel sah, blickte ihr ein blasses, sommersprossiges Gesicht entgegen, das von einem wahren Wust roter Locken eingerahmt war.

Nicht gerade der Traum einer Fünfzehnjährigen, die sich Stars wie Sarah Michelle Gellar oder Reese Witherspoon zum Vorbild erkoren hatte. Da half es auch nicht, dass sie eine gute Figur hatte und ihre funkelnd grünen Augen sie durchaus aus der Masse ihrer Mitschülerinnen abhoben.

Wahrscheinlich stimmte es tatsächlich, was andere Mädchen regelmäßig über sie sagten: nämlich, dass sie durchaus Erfolg bei Jungs haben könnte. Denn nicht wenige träumten anscheinend insgeheim davon, einmal ihre vollen, samtig roten Lippen küssen zu dürfen. Und es stimmte wohl auch, dass der wahre Grund für ihre bislang eher miserable Erfolgsquote bei Jungs Paddy war – und die Tatsache, dass sie ständig mit ihm zusammenhing.

Offenbar ging fast jeder davon aus, dass sie ein Paar waren. Aber das war natürlich absurd. Sie und Paddy …!

Allein der Gedanke daran ließ Cadie in schallendes Gelächter ausbrechen. Sicher, Paddy war nicht hässlich, sie konnte sich eigentlich auch durchaus vorstellen, dass er bei anderen Mädchen gut ankam, doch für sie selbst kam er absolut nicht infrage. Zwischen ihnen bestand einfach eine tiefe, über die Jahre gewachsene Freundschaft. Sie konnten einander blind vertrauen, und ein Leben ohne Paddy war für Cadie gar nicht mehr vorstellbar.

Aber ein Liebespaar? Auf keinen Fall!

Und für Leute, die behaupteten, dass es reine Freundschaft zwischen Mädchen und Jungs nicht geben konnte, hatte Cadie nur ein müdes Lächeln übrig. Ihrer Meinung nach hatten die allesamt absolut keine Ahnung.

„Sag mal, träumst du?“, riss Paddy sie aus ihren Gedanken. „Wenn wir jetzt nicht noch `nen Schlag reinhauen, kommen wir zu spät zur ersten Stunde bei Old Digby. Und du weißt, was das heißt!“ Er verzog das Gesicht in Parodie ihres Gälischlehrers zu einer mürrischen Miene und intonierte mit verstellter Quiekstimme, mit der er Cadie noch jedes Mal zum Lachen gebracht hatte: „Die Jugend von heute kennt wirklich keine Disziplin! So etwas hätte es zu meiner Zeit nicht gegeben. Miss O’Brian, Mr. MacCarthy, wenn Sie so weitermachen, enden Sie eines Tages in der Gosse.“

Cadie schüttelte sich vor Lachen. Ihr standen Tränen in den Augen, was nicht unbedingt dazu beitrug, dass sie schneller vorwärtskam. Doch ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr ernüchterte sie sofort.

„Herr im Himmel, es ist ja schon nach halb!“, rief sie erschrocken.

Paddy schnaubte. „Was glaubst du, warum ich so `ne Panik schiebe? Jetzt hau endlich rein! Wenn wir Glück haben, kommt der alte Griesgram mal wieder seine akademischen fünf Minuten zu spät!“

Eilig hechteten sie über den verwaisten Schulhof auf den hässlichen Klotzbau der MacCumhal Comprehensive zu. Da heute der erste Tag nach den Ferien war, mussten sie zunächst einen Abstecher zum Sekretariat machen, wo an einem schwarzen Brett die Unterrichtsräume der jeweiligen Klassen angeschlagen waren.

Paddy entdeckte es zuerst – und fluchte. „Raum 347? Mist, ganz oben! Das schaffen wir im Leben nicht mehr rechtzeitig!“

Dennoch sprinteten sie los, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Normalerweise waren die Lehrer nach den Ferien eher gnädig gestimmt, doch mit Old Digby war prinzipiell nicht gut Kirschen essen. Er würde einen riesigen Aufstand machen, wenn sie gleich zur ersten Unterrichtsstunde mit Verspätung eintrudelten.

Cadie keuchte atemlos, als sie endlich die drei Etagen hinter sich gebracht hatten. Jetzt mussten sie nur noch auf die Schnelle den richtigen Raum finden. Doch schon wenige Sekunden später erkannten sie, dass ihre ganze Mühe umsonst gewesen war. Denn als sie um die Ecke bogen, rasselten sie um ein Haar mit Old Digby zusammen.

„Na, wenn haben wir denn da?“ Mr. Digby furchte die feiste Stirn und blickte kopfschüttelnd auf seine Armbanduhr. „Sind wir nicht ein bisschen spät dran, Mr. MacCarthy? Miss O’Brian?“

Paddy rollte hinter dem Rücken seines Lehrers wild mit den Augen, so dass Cadie sich schwer zusammenreißen musste, um nicht lauthals los zu prusten. „Wir … ähm …“ Sie überlegte fieberhaft, welche Ausrede der alte Schinder am ehesten schlucken würde. „Na ja, wir waren gerade auf der Suche nach dem richtigen Klassenraum, Mr. Digby und … Tja, irgendwie müssen wir wohl die falsche Abzweigung erwischt haben und …“

Old Digbys Mundwinkel hatten sich während Cadies kurzer Rede immer weiter nach unten verzogen, so dass er jetzt aussah wie ein übellauniges Rhinozeros. „Also wirklich, ich habe schon bessere Ausreden gehört, Miss O’Brian. Aber bevor wir noch weiter meine kostbare Zeit verschwenden, folgen Sie mir am besten zum Klassenraum. Wir wollen ja nicht, dass Sie noch einmal die Orientierung verlieren, nicht wahr?“ Er funkelte die beiden Freunde noch einmal aus seinen kleinen Schweinsäugleinchen an, dann wandte er sich zum Gehen.

Cadie und Paddy mussten sich beeilen, um mit Old Digby Schritt zu halten, der für seine enorme Leibesfülle ein erstaunliches Tempo an den Tag legte. Als er den Klassenraum betrat, schlängelten sie sich flink an ihm vorbei, so dass sie bereits an ihren Plätzen saßen, bevor sich ihr Lehrer mit seiner typisch grimmigen Begrüßung an die Klasse wandte.

Erleichtert lehnte sich Cadie zurück und zwinkerte Flynn Blythe zu, der ihr so diskret wie möglich zuwinkte. Mit Flynn war sie schon fast so lange befreundet wie mit Paddy. Gemeinsam mit ihm und seiner Freundin Erin Brannagh machten sie an den Wochenenden oft zu viert die Stadt unsicher – nicht, dass es da besonders viel unsicher zu machen gab. Abgesehen von einer Hand voll Pubs, für die sie natürlich noch viel zu jung waren, war das Unterhaltungsangebot in Geayvarrey nicht gerade breit gefächert.

Gerade als Old Digby mit dem Unterricht beginnen wollte, klopfte es an der Tür, und Mr. O’Leary, der Rektor, betrat den Klassenraum. Im Schlepptau hatte er einen Jungen, bei dessen Anblick Cadie auf der Stelle der Atem knapp wurde.

Er war recht groß, auf jeden Fall mindestens zwei Köpfe größer als sie selbst. Seine kurzen, dunklen Haare standen ihm in einer wilden Frisur kreuz und quer vom Kopf ab, was ihm einen irgendwie verwegenen Touch verlieh. Seine langen Beine steckten in einem Paar überlanger, schlecht sitzender schwarzer Levis, die nicht gerade konform mit der Schulordnung gingen. Das weiße Hemd, das er unter seinem burgunderfarbenen Schulblazer trug, schlabberte über den Hosenbund, und die Krawatte war so schlampig und locker gebunden, dass es schon fast rührend hilflos wirkte.

Eine Sportskanone war er mit ziemlicher Sicherheit nicht, denn seine Figur war eher schlaksig als athletisch zu nennen. Doch all das nahm Cadie nur am Rande wahr. Es waren seine Augen, die sie sofort gefangen nahmen. Sie waren von einem so dunklen, beinahe schwarz wirkenden Braun, wie Cadie es nie zuvor bei einem Jungen gesehen hatte. Und in ihnen glaubte sie ein Funkeln zu erkennen, hinter dem sich sowohl Verletzlichkeit als auch eiserne Willensstärke verbarg.

„Wenn du den Neuen noch länger so anstarrst, brennst du ihm noch ein Loch in den Bauch.“ Paddy grinste spöttisch und riss Cadie aus ihren Tagträumen. Verlegen senkte sie den Blick.

Mr. O’Leary räusperte sich, um dem Getuschel Herr zu werden, das bei seinem Erscheinen im Klassenraum aufgekommen war. Er lächelte zuvorkommend. „Meine Lieben, ich darf euch Mr. Vaughn vorstellen. Es ist gerade ein paar Wochen her, dass er mit seiner Familie aus den USA zu uns gekommen ist. Ab heute wird er eure Klasse besuchen.“ Er nickte dem Jungen aufmunternd zu, der immer wieder unbeholfen am Knoten seiner Krawatte herumfummelte. „Ich weiß, Mr. Vaughn, dass Sie bisher kaum Gelegenheit hatten, sich mit der gälischen Sprache vertraut zu machen und dass Ihnen Ihre Mitschüler daher in diesem Fach einiges voraushaben. Trotzdem halte ich es für richtig, wenn Sie gleich heute den Sprung ins kalte Wasser wagen. Wir sollten schließlich nicht vergessen, dass Gälisch immer noch erste Amtssprache vor dem Englischen hier bei uns in Irland ist, nicht wahr?“

Der Junge nickte schüchtern und schaute sich dann nach einem freien Platz um. Cadie folgte seinem Blick und fluchte lautlos. Es gab im ganzen Klassenraum nur einen einzigen Stuhl, der nicht besetzt war – und das war ausgerechnet direkt neben Sinéad Kavanaugh, die dem Neuen auch gleich ihr zuckersüßestes Lächeln schenkte.

Cadie unterdrückte ein Seufzen. Es war ganz offensichtlich, dass Sinéad bereits ihre Krallen nach dem Neuen ausfuhr – und Cadie war sich der Tatsache nur allzu bewusst, dass sie selbst gegen diese Konkurrenz einfach völlig chancenlos war.

Sinéad Kavanaugh war das begehrteste Mädchen der ganzen Jahrgangsstufe. Was sie wollte, das bekam sie für gewöhnlich auch – Jungs bildeten da leider keine Ausnahme. Sinéad schien hierzu nur mit dem Finger schnipsen zu müssen.

Paddy versetzt Cadie einen freundschaftlichen Knuff. „Jetzt zieh doch nicht so ein Gesicht“, sagte er und grinste amüsiert. „Hey, wer weiß? Kann doch sein, dass die gute alte Sinéad bei ihm auf Granit beißt.“

Cadie ächzte verhalten. „Schön wär’s.“

Auch wenn sich Cadie durchaus bemühte, an diesem Morgen plätscherte Old Digbys Unterricht irgendwie einfach an ihr vorbei. Immer wieder schwirrte ihr der Neue durch den Kopf, und sie musste sich schwer zusammenreißen, um ihm nicht quer durch den Klassenraum schmachtende Blicke zuzuwerfen.

„Iníon Uí Bhriain, cre’n traa te?“

Ein erwartungsvolles Schweigen hing in der Luft des Klassenraums. Hin und wieder wurde leises Kichern laut. Doch erst als Paddy ihr unter dem Tisch einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein verpasste, schreckte Cadie aus ihren Gedanken auf.

Old Digby musterte sie mit gerunzelter Stirn. Über seiner Nase hatte sich eine steile, v-förmige Falte gebildet. Das war schlecht. Ganz offensichtlich hatte er sie, Cadie, angesprochen und wartete schon eine ganze Weile auf ihre Antwort.

Die Frage war bloß: Was, um Himmels willen, wollte er von ihr hören?

Cadie begann zu schwitzen. Verlegen trommelte sie mit den Fingerspitzen auf der Platte der Schulbank. „Ähm … Entschuldigen Sie, Sir, ich habe nicht …“

Mr. Digby schüttelte mit einem vernehmlichen Grunzen den Kopf. „Also gut, versuchen wir es noch einmal: Iníon Uí Bhriain, cre’n traa te?“

Fieberhaft durchforstete Cadie ihre leider recht spärlich vorhandenen Gälischkenntnisse. In den meisten Fächern kam sie eigentlich ziemlich gut zurecht, und ihre Noten konnten sich durchaus sehen lassen. Doch Gälisch war einfach nicht ihre Stärke. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Iníon Uí Bhriain – Miss O’Brian. So weit, so gut. Cre’n traa te … Cre’n traa te … Sie wusste, dass sie diesen Ausdruck schon einmal gehört hatte – doch was, zur Hölle, hieß es bloß noch mal?

Paddy neben ihr versuchte, ihr möglichst unauffällig die Antwort zuzuraunen, doch Cadie war wie blockiert. Ihre Schulkrawatte schien plötzlich um mindestens zwei Kragenweiten geschrumpft zu sein und ihr die Luft abzuschnüren. Als dann endlich der Groschen bei ihr fiel, war sie so erleichtert, dass es sofort aus ihr herausplatzte: „Wie spät ist es, Miss O’Brian!“

Old Digbys schmale Lippen kräuselten sich zu einem abfälligen Lächeln. „Hervorragend, Miss O’Brian. Ich sehe, es gibt also wenigstens etwas, das Sie aus meinem Unterricht verinnerlicht haben. Wenn Sie nun auch die Güte besäßen, meine Frage zu beantworten?“ Sein Grinsen wurde breiter. „Aber auf Gälisch bitte!“

Cadies Puls jagte wie der Teufel. Sie wusste, dass alle Augen jetzt nur auf sie gerichtet waren. „Äh… Te feed … minnid gys nuy …?“, stammelte sie. Es ist fünf vor neun.

Digby schien fast ein bisschen enttäuscht zu sein. Cadie konnte also mit ihrer Antwort nicht allzu weit danebengelegen haben. Doch wirkliche Erleichterung kam bei ihr erst auf, als ihr Lehrer sich ganz offensichtlich schon wieder ein anderes Opfer ausgesucht hatte.

„Reife Leistung.“ Paddy konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen.

---ENDE DER LESEPROBE---