Im Bannkreis der Freiheit - Hans Joas - E-Book

Im Bannkreis der Freiheit E-Book

Hans Joas

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Beschreibung

Wie verhalten sich die Geschichte der Religion und die Geschichte der politischen Freiheit zueinander? Breit und unübersichtlich ist die Vielfalt der Auffassungen, die es dazu in der Philosophie, den Wissenschaften und der Öffentlichkeit gibt. Aber noch immer ist die grandiose Synthese, in der Hegel Christentum und politische Freiheit zusammengeführt hat, für viele von enormer Orientierungskraft – trotz oder gerade wegen der einflussreichen Provokationen Friedrich Nietzsches.

Jedoch hat sich im Religionsdenken des 20. Jahrhunderts eine andere Sichtweise entwickelt, wie Hans Joas in diesem hochgelobten Buch zeigt. Sie beruht auf einer Konzeption von Geschichte, die zukunftsoffener, und einem Begriff von Freiheit, der reicher ist als bei Hegel. Anhand von sechzehn ausgewählten Denkern arbeitet Joas dieses neue Verständnis von Religion und Freiheit heraus, das weder intellektualistisch verkürzt noch eurozentrisch verengt ist. Daraus ergibt sich ein entschiedenes Plädoyer für eine Globalgeschichte des moralischen Universalismus.

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3Hans Joas

Im Bannkreis der Freiheit

Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche

Suhrkamp

7Was mich betrifft, so bezweifle ich, daß der Mensch jemals eine völlige religiöse Unabhängigkeit und eine vollkommene politische Freiheit ertragen kann, und ich bin geneigt zu denken, daß er, ist er frei, gläubig sein muß.

Alexis de Tocqueville

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

5Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Vorwort

Einleitung: Hegels Freiheitsphilosophie und ein blinder Fleck des heutigen Hegelianismus

Teil

I

Ein neues Verständnis von Religion am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts

1 Einführung

2 Die Selbständigkeit der Religion: Ernst Troeltsch

3 Säkulare Heiligkeit: Rudolf Otto

Rationalisierung am Numinosen

Subjektivität und Objektivität des Heiligen

Rudolf Ottos Aktualität

4 Evidenz oder Evidenzgefühl?: Max Scheler

Die Phänomenologie religiöser Akte

Soziologische Konsequenzen

Religionsphilosophie und Religionswissenschaft

Teil

II

Säkularisierung und moderne Freiheitsgeschichte

1 Einführung

2 Die Sakralisierung der Demokratie: John Dewey

Erschütternde Intersubjektivität

Demokratie und Religion

3 Posttotalitäres Christentum: Alfred Döblins Religionsgespräche

Der unsterbliche Mensch

Der Kampf mit dem Engel

Eine neue Sprache für das Christentum?

4 Die Kontingenz der Säkularisierung: Reinhart Kosellecks Geschichtstheorie

Säkularisierung und Beschleunigung

Säkularisierung und Verzeitlichung

5 Die säkulare Option, ihr Aufstieg und ihre Folgen: Charles Taylor

Heiligkeit und Transzendenz

Religiöse Erfahrung heute

Wellen der Säkularisierung

Teil

III

Die Suche nach einer anderen Freiheit

1 Einführung

2 Eine deutsche Idee von der Freiheit? Cassirer und Troeltsch zwischen Deutschland und dem Westen

Zwei Vermittlungen zwischen Deutschland und dem Westen

Religion und Autonomie

Messianischer Rationalismus?

3 Verdankte Freiheit: Paul Tillich

Kairos

Zeichen und Symbol

Das Wechselspiel religiöser Traditionen

Theonomie

4 Normenraster und Heilige Schrift, Theonomie und Freiheit: Paul Ricœur

Das Normenraster

Religiöse Erfahrung und religiöse Sprache

5 Kommunikative Freiheit und Theologie der Befreiung: Wolfgang Huber

Huber und Theunissen über kommunikative Freiheit

Wertemonismus und Wertepluralismus

Teil

IV

Das Projekt einer historischen Religionssoziologie

1 Einführung

2 Religion ist mehr als Kultur: H. Richard Niebuhr

Über Troeltsch hinaus: Niebuhrs Beitrag zur historischen Soziologie des Christentums

Universalistischer Geltungsanspruch und historische Partikularität: Niebuhrs Konzeption von Offenbarung

Selbst und Verantwortung

3 Das Christentum und die Gefahren der Selbstsakralisierung: Werner Stark

Ein vergessener katholischer Klassiker?

Veralltäglichung des Charismas? Starks Kritik an Max Weber

Die Sakralisierung politischer Herrschaft

Soziale Konflikte und Sektenwesen

Die Universalkirche

4 Weberianischer als Weber?: David Martin

Eine allgemeine Theorie der Säkularisierung?

Die Pfingstbewegung und ihre globale Expansion

Religion und Gewalt

5 Religiöse Evolution und symbolischer Realismus: Robert Bellah

Gemeinschaft und Demokratie

Globalgeschichte der Religion

6 Religion und Globalisierung: José Casanova

Modernisierung, Demokratisierung, Religion

Globalisierung des Christentums

Schluß: Globalgeschichte der Religion und moralischer Universalismus

Rückblick

Nietzsches Herausforderung

Die Nietzsche-Kritik von Max Weber und Ernst Troeltsch

Ausblick: Globalgeschichtliche Genealogie des moralischen Universalismus

Nachweise

Teil

I

Teil

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Literatur

Namenregister

Sachregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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9Vorwort

Wie verhalten sich die Geschichte der Religion und die Geschichte der politischen Freiheit zueinander? Groß und unübersichtlich ist die Vielfalt der Auffassungen, die es dazu in der Philosophie, den Wissenschaften und der Öffentlichkeit gibt. Für viele ist die grandiose geschichtsphilosophische Synthese Hegels, in der eine Teleologie hin zum Christentum und in diesem zur politischen Freiheit entfaltet wird, trotz aller Revisionen bis heute von größter Orientierungskraft. Selbst für diejenigen, die Hegel im Sinne von Marx weiterdenken, gilt meist, daß sie wesentliche Bestandteile dieser Synthese beibehalten. Für andere ist Nietzsches schneidende Kritik des Christentums und seine Ablehnung der modernen politischen Freiheitsordnung, ebenfalls trotz vielfältiger Reserven, ausschlaggebend für ihr eigenes Denken.

Seit vielen Jahren bemühe ich mich um eine Alternative zu diesen Denkweisen. Neben der Beschäftigung mit dem amerikanischen Pragmatismus als der philosophischen Grundlage einer solchen Alternative und mit meinen Büchern zu einer allgemeinen Handlungstheorie, zur Entstehung der Werte, zur Geschichte der Menschenrechte und der Religion, zu Krieg und Gewalt habe ich immer auch Ausschau gehalten nach weiteren »Freunden in der Geschichte« (wie der große konfuzianische Philosoph Mencius dies nannte), das heißt Denkern der Vergangenheit und Gegenwart, deren Schriften von bleibender inspirierender Kraft sind und für die vorschwebende Alternative zu Hegel und Nietzsche wichtige Ansatzpunkte liefern.

Das vorliegende Buch hat seinen Ursprung in der Idee, die so entstandenen Porträts wichtiger religionstheoretischer Denker 10und Gelehrter des zwanzigsten Jahrhunderts und in unserer Zeit zusammenzustellen und durch weitere zu ergänzen. Sie sollten aber nicht nur aneinandergereiht werden, weil dies den Eindruck von Zufälligkeit vermitteln würde, sondern es soll deutlich werden, daß sich hier eine eigene Tradition identifizieren läßt. Zahlreich sind in der Tat nicht nur die Parallelen, die so ins Auge treten, sondern auch die Einflüsse und Querbezüge zwischen den verschiedenen denkerischen Ansätzen. In der Einleitung zum Buch und in den Einführungen zu seinen vier großen Teilen wird der zunächst vielleicht schwer erkennbare Faden, der sich durch die einzelnen Darstellungen zieht, sichtbar gemacht.

Das Resultat dieser Bemühungen ist ein Mittelding zwischen Monographie und Aufsatzsammlung. Wenn ein literarischer Vergleich nicht als unpassend erscheint, könnte man sagen, es handle sich bei diesem Buch weder um einen Roman noch um eine bloße Sammlung von Erzählungen, sondern eher um einen Zyklus von Novellen, durch den aber ein ganzheitliches Bild entstehen soll.

Dieses Vorgehen hat gewiß Vorzüge, fordert aber auch einen Preis. Zu den Vorzügen rechne ich, daß es nicht in eine fiktive Ordnung gebrachte, vorab schematisierte Argumentationen sind, mit denen ich mich auseinandersetze, sondern individuelle denkerische »Totalitäten« samt ihrer je historischen Einbettung und spezifischen Genese. Dieser »ganzheitliche« Blick scheint mir nicht zuletzt gut geeignet, die Lebendigkeit dieses Denkens in seiner jeweiligen Form und intellektuellen Konstellation zu unterstreichen. Es mag auch schlicht ein praktischer Vorteil sein, daß damit die einzelnen Kapitel auch je für sich lesbar bleiben und kein Zwang besteht, sie in genau der Reihenfolge durchzugehen, in der sie hier angeordnet sind.

Doch sind auch einige Einschränkungen, die aus diesem Vorgehen folgen, nicht zu verschweigen. Die wichtigste ist, daß sich die verstreuten Andeutungen über eine alternative Geschichtserzählung nirgends, auch nicht im Ausblick des Schlußteils, zu11sammenhängend dargestellt finden. Diese Aufgabe muß einer zukünftigen Arbeit vorbehalten werden, für die insbesondere meine Bücher zur »Macht des Heiligen« und der Entstehung des moralischen Universalismus in der sogenannten Achsenzeit sowie zur Geschichte der Menschenrechte bereits Bausteine liefern. Ein weiterer Nachteil ist, daß hier zwar Denker und Gelehrte behandelt werden, für deren Selbstverständnis es wichtig ist, weder Hegelianer noch Nietzscheaner zu sein, daß aber von einer angemessenen Darstellung Hegels und Nietzsches selbst in ihrer eigenen Komplexität nicht wirklich die Rede sein kann. Es geht mir hier nicht darum, der unübersehbaren Interpretationsliteratur zu diesen beiden Denkern einen weiteren Titel hinzuzufügen. Der Zweck, den ich hier verfolge, ist vielmehr, Alternativen zu ihnen vorzustellen.

Chance und Risiko dieses Vorgehens sind ineinander verstrickt. Manche werden es bezweifeln, daß die Beschäftigung mit vergessenen oder wenig bekannten Autoren sich lohnen könne, zumal diese hier oft aus den Disziplinen Theologie und Soziologie kommen, die in der Gegenwart eher als sinkende Schiffe wahrgenommen werden. Andere werden die Intuition teilen, daß sich in den Schriften zum Beispiel von Ernst Troeltsch und Paul Tillich, H. Richard Niebuhr und Paul Ricœur, David Martin und Robert Bellah sowie bei dem durchaus stark an Hegel anknüpfenden Charles Taylor Einsichten finden, die von einem erneuerten Hegelianismus (oder Nietzscheanismus) abweichen oder über diesen hinausgehen. Es gibt zwischen diesen Denkern auch bemerkenswerte Einflußbahnen und Zusammenhänge akademischer Karrierewege, die den Eindruck verstärken, man könne hier in der Tat von einer verdeckten Tradition sprechen. Am Beispiel Paul Tillichs läßt sich dies rasch veranschaulichen. Tillich, der sich selbst als Schüler Ernst Troeltschs bezeichnete, wurde 1928 an die Frankfurter Universität berufen und sah sich dort als geistigen Nachfolger Max Schelers. Er war stark auch von Ernst Cassirer und Rudolf Otto beeinflußt. Als er zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft aus Deutsch12land emigrierte, half ihm in den USA wesentlich H. Richard Niebuhr, der bereits vorher ein Buch Tillichs ins Englische übersetzt hatte. Tillich wurde später (in Harvard) zu einem der wichtigsten akademischen Lehrer Robert Bellahs. Auf seinem Chicagoer Lehrstuhl folgte ihm Paul Ricœur nach, der an ihn auch intellektuell anknüpfte. Ganz unzureichend wäre es, hier einfach an eine liberal-protestantische Tradition zu denken. Weder würden alle hier berücksichtigten protestantischen Denker sich mit dieser Kennzeichnung wohlfühlen, noch paßten die Ähnlichkeiten mit den nichtprotestantischen Autoren dann ins Bild. Noch viel wichtiger als der überkonfessionelle ist der disziplinübergreifende Charakter dieser intellektuellen Entwicklung. Um diesem gerecht zu werden, verwende ich den Begriff »Religionstheorie« in Analogie zum immer üblicher werdenden Begriff »Sozialtheorie«. Institutioneller Ort von Sozialtheorie und Religionstheorie ist nicht ein einzelnes Fach, auch nicht die Philosophie oder die Theologie. Gerade in den Überschneidungen der Fächer haben sich die Entwicklungen abgespielt, um die es mir in diesem Buch geht. Wenn aus dieser Intuition neue Argumentationen werden, ist sein Ziel erreicht.

Mein Dank für Anregung und Hilfe wird, sofern er sich auf einzelne Kapitel bezieht, jeweils dort geleistet. Zusätzlich möchte ich Torsten Meireis (Berlin) für die Gelegenheit danken, einige Teile des Manuskripts in seinem Oberseminar zur Diskussion stellen zu dürfen. Vor allem in der Bearbeitung der Einleitung haben mir seine Hinweise und die anderer Teilnehmer sehr genutzt. Hervorheben aber möchte ich an dieser Stelle, daß sich einige Kollegen und Freunde der Lektüre des ganzen Manuskripts unterzogen haben und deshalb besonderen Dank verdienen. Es sind dieselben drei, die mir schon 2017 bei meinem Buch Die Macht des Heiligen so großartig zur Seite standen. Wegen der schrecklichen Pandemie, die in der Schlußphase der Arbeit über uns alle hereinbrach, konnten ihre Rückmeldungen zu einer ersten Fassung mir nicht in persönlichen Treffen gegeben werden. Der Philosoph Matthias Jung (Koblenz) und der Sozio13loge Wolfgang Knöbl (Hamburg) haben mir durch ihre kritischen schriftlichen Stellungnahmen sehr weitergeholfen. Der Berliner Theologe (und frühere evangelische Bischof) Wolfgang Huber und ich wollten auf den mündlichen Austausch nicht verzichten. Unser in drei rasch aufeinander folgenden Teilen geführtes, insgesamt mehr als achtstündiges Telefonat mit seiner Mischung von inhaltlicher Auseinandersetzung und gründlicher Arbeit am Text wird mir unvergessen bleiben.

Seit 2014 wird meine Arbeit durch die Porticus-Stiftung, seit dem 1. Januar 2016 zudem durch die Mittel des Max-Planck-Forschungspreises großzügig unterstützt, was ich an dieser Stelle erneut dankend hervorheben will. Meinem Mitarbeiter Jan Philipp Hahn bin ich für seine engagierte und sorgfältige Unterstützung dankbar, Eva Gilmer, Programmleiterin Wissenschaft im Suhrkamp Verlag, für ermutigende Kommentare und unübertrefflich sorgfältige Lektorierung und Christian Scherer für die im höchsten Maße erfreuliche Fortsetzung unserer bewährten Zusammenarbeit beim Korrekturlesen und für die Anfertigung der Register. Und schließlich, as ever, geht ein großer Dank an meine Frau Heidrun für die gedankliche Begleitung meiner Arbeit und ihre mein Leben tragende Nähe.

14Einleitung: Hegels Freiheitsphilosophie und ein blinder Fleck des heutigen Hegelianismus

Dieses Buch beschäftigt sich mit einigen der bedeutendsten Gestalten der Religionstheorie des zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts. Ihrer Auswahl liegt kein vorgängiger Maßstab zugrunde, der zu beurteilen erlaubt, wer das Prädikat »bedeutend« verdient und wer nicht. Die Entscheidung zur Berücksichtigung eines Denkers verdankt sich vielmehr einer forschenden Durchmusterung der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte und ist von der Intuition geleitet, daß jeder der berücksichtigten Autoren für die Fragen von hohem Rang und gegenwärtigem Interesse ist, die sich im Überlappungsbereich von Soziologie, Theologie, Philosophie und Geschichte in ihrer jeweiligen Beschäftigung mit Religion stellen und in diesen Fächern oder in der Religionswissenschaft behandelt werden. Schon der Begriff »Auswahl« klingt für das so zustande kommende Bild zu voluntaristisch. Entsprechend wird keinerlei enzyklopädische Vollständigkeit angestrebt und auf Proportionen zwischen den Konfessionen oder zwischen Gläubigen und den Verfechtern säkularer Weltbilder nicht geachtet; Vertreter anderer Religionen als der christlichen fehlen ganz. Da, wie sich zeigen wird, die Überwindung von eurozentrischen Sichtweisen zu den stärksten Motiven des Buches gehört, empfinde ich selbst das Fehlen nichtwestlicher Denker, christlicher und anderer, am stärksten als Beschränkung meines derzeitigen Kenntnisstands. Die Tatsache – das kann heute nicht unerwähnt bleiben –, daß alle Kapitel männlichen Denkern gewidmet sind, geht nach meinem besten Wissen und Gewissen nicht auf bewußte oder unbewußte Einseitigkeiten meiner Auswahl zurück, sondern auf die Geschichte selbst, die nicht nachträglich korrigiert wer15den kann. Immerhin geben die Einleitungen zu den vier großen Teilen des Buches Hinweise auf weitere einschlägige Denker, die ich bereits an anderer Stelle ausführlich behandelt habe oder die erst noch durch umfangreiche weitere Forschung erschlossen werden müßten.

Es war hinsichtlich der Religionstheorie bereits die Rede von einem Überlappungsbereich verschiedener Disziplinen, der besonderes Interesse verdient. Auch hier steht nicht eine subjektive Entscheidung im Vordergrund, nicht eine abstrakte Vorliebe für Interdisziplinarität, als wäre diese notwendig zielführender als eine strikt disziplinäre Vorgehensweise. Leitend ist vielmehr die substantielle These, daß sich über Religion und Religionsgeschichte heute nicht anders reden läßt als im Zusammenhang mit den normativen Forderungen und der Geschichte der politischen Freiheit, und dies, nach einer welthistorischen Phase zunehmender Globalisierung, deren Zukunft heute unklar ist, notwendig in einem globalen Rahmen – also nicht begrenzt auf ein Land, einen Kontinent, eine Kultur oder eine Religionsgemeinschaft. Dieser Zusammenhang zwischen Religions- und Freiheitsdiskurs wird durch den Titel des Buches signalisiert. Das Gespräch über den Glauben ist, so behaupte ich, explizit oder implizit seit dem achtzehnten Jahrhundert in den »Bannkreis der Freiheit« eingetreten.

Mit diesem Ausdruck lehne ich mich an eine Formulierung an, die ich in dem ehrgeizigen Entwurf einer Gerechtigkeitstheorie gefunden habe, den der Philosoph Axel Honneth vor wenigen Jahren vorgelegt hat.[1]  Dieser Entwurf versteht sich in wesentlichen Zügen als Wiederbelebung und Aktualisierung von Gedankengängen, die sich zuerst in der Rechtsphilosophie Hegels breit entwickelt finden. Gleich zu Beginn des ersten 16Hauptteils lesen wir in Honneths Buch, daß es heute beinahe unmöglich geworden sei, einen der Werte der Moderne zu artikulieren, ohne ihn zu einer bloßen zusätzlichen Facette der Idee individueller Autonomie zu erklären: »Wie durch magische Anziehung sind alle ethischen Ideale der Moderne in den Bannkreis der einen Vorstellung der Freiheit geraten, vertiefen sie bisweilen, verleihen ihr neue Akzente, aber setzen ihr nicht eine selbständige Alternative entgegen.«[2] 

In einer Fußnote zu dieser Stelle verweist Honneth auf eine in dieselbe Richtung weisende Argumentation des kanadischen Philosophen Charles Taylor. Dies ist insofern irritierend, als bei Taylor, schlägt man die entsprechende Stelle nach,[3]  keineswegs davon die Rede ist, daß der Wert der Freiheit eine unbezweifelbare Hegemonie in der Konkurrenz der Werte errungen und diese Konkurrenz damit faktisch außer Kraft gesetzt habe. Taylor ging es vielmehr darum, die Moderne durch ein in sich pluralistisches und differenziertes, keineswegs widerspruchsfreies »Paket« von Wertorientierungen zu kennzeichnen. Dieses nötige die Individuen dazu, eigenständige Balancen zwischen den Werten zu finden, die alle in diesem Paket koexistieren, obwohl sie einander auszuschließen scheinen. Hegemonial ist nach Taylor also nicht ein bestimmter Wert, auch nicht der der Freiheit, sondern »ein Gefühl des Selbst, das sowohl durch die Kräfte der desengagierten Vernunft als auch durch die der schöpferischen Phantasie bestimmt wird«. Wir modernen Menschen seien alle »in die typisch neuzeitlichen Auffassungen von Freiheit, Würde und Rechten, in die Ideale der Selbsterfüllung und der Selbstäußerung sowie in die Forderungen des allgemeinen Wohlwollens und der universellen Gerechtigkeit verstrickt«.[4]  Keineswegs gehe es damit nur um Abschattungen des einen Ideals der Freiheit. 17Dennoch würde auch Taylor vermutlich nicht bestreiten, daß im »Paket« moderner Werte das Freiheitsideal ein wichtiger Bestandteil ist und alle Orientierungsfragen in den Bannkreis dieses die Freiheit enthaltenden Wertkomplexes eingetreten sind.

In der kritischen Diskussion über Honneths Gerechtigkeitstheorie ist der Abstand zwischen Honneth und Taylor an diesem Punkt nicht unbemerkt geblieben. In einem besonders scharfsinnigen Beitrag geht Christoph Halbig sogar so weit, von einem »gerade entgegengesetzten Fazit« zu sprechen, das Taylor im Vergleich zu Honneth ziehe.[5]  Wichtiger aber noch als diese Beobachtung ist Halbigs Unterscheidung dreier denkbarer Lesarten der Bannkreis-These. Der Primat des Werts der Freiheit könne – davon war schon die Rede – normativ gemeint sein, in dem Sinne, daß in Wertkonflikten etwa zwischen Selbstbestimmung und Gleichheit immer zugunsten von Freiheit als Selbstbestimmung zu entscheiden sei. Der Primat könne aber auch explanatorisch gedacht sein, das heißt so, daß etwa »der Wert des menschlichen Subjekts in seiner Fähigkeit zur Selbstbestimmung liegt«,[6]  was allerdings keineswegs aus evidenten moralischen Intuitionen hervorgeht. Schließlich könne, so Halbig, der Primat sogar ontologisch-semantisch aufgefaßt werden. Das muß gemeint sein, wenn davon die Rede ist, daß alle anderen Werte der Moderne sich nur noch innerhalb des Freiheitsideals, als dessen Bedeutungskomponenten, verstehen ließen, was einen eigentlichen Wertkonflikt zwischen Freiheit und anderen Werten prinzipiell ausschließt.

Der kritische Nachweis der Vieldeutigkeit seiner Bannkreis-These gab Honneth eine Chance zur Klarstellung, die er in seiner Replik auch wahrnahm. Er betont dort, daß es ihm, den Absichten einer Gerechtigkeitstheorie entsprechend, nicht wirk18lich um die Vielfalt der Werte gehe, die Individuen als leitend für ihr Leben ansehen, sondern nur um den Anteil, »der sich verallgemeinern lässt oder […] der in den Bereich eines ›overlapping consensus‹ fällt, so dass von da aus Rückschlüsse auf die sozialen oder institutionellen Voraussetzungen einer für alle gleichermaßen möglichen Verwirklichung ihrer Freiheit gezogen werden können«.[7]  Diese Klarstellung kann freilich auch als Rückzug auf die gewissermaßen orthodoxe Position einer liberalen Gerechtigkeitstheorie aufgefaßt werden, wie sie in John Rawls' epochalem Werk vorliegt.[8]  Der Primat der Freiheit beschränkte sich dann auf die Vorstellung einer institutionellen Gewährleistung von »Freiheitssphären«, »die im gleichmäßigen Interesse von uns allen, den Mitgliedern moderner Gesellschaften, liegen, unabhängig von unseren je besonderen Zielen der Selbstverwirklichung«.[9]  Ein Primat der Freiheit wäre dann nur im Sinn eines Gerechtigkeitsbegriffs gegeben, der von der Fragestellung der Gewährleistung gleicher Freiheit aus gedacht wird. Der hegelianische Ehrgeiz Honneths wäre dann aber unverständlich.

So einfach läßt sich die verwirrende Argumentationssituation also nicht auflösen. Damit würde man auch der Absicht Honneths, unterschiedliche Versionen von Freiheit zu denken und Wertkonflikte im öffentlichen Raum als Auseinandersetzungen über das richtige Verständnis von Freiheit zu deuten, nicht gerecht. Das wird um so deutlicher, wenn die geschichtliche Dimension einbezogen wird, die in einer Gerechtigkeitstheorie à la Rawls ja gar nicht notwendig, bei Hegel aber unverzichtbar ist. Ganz ausdrücklich nimmt der Hegelianer Honneth nämlich in dieser Hinsicht eine »teleologische Perspektive« ein, die er sogar als »unvermeidliches Element des Selbstverständ19nisses der Moderne«[10]  bezeichnet. Der Siegeszug des Freiheitsideals in der »westlichen Moderne« soll damit nicht als bloßes kontingentes und im Prinzip reversibles Produkt historischer Entwicklungen gedacht werden, sondern als ein Prozeß von universellem normativem Geltungsanspruch. Die Vieldeutigkeit der Bannkreis-These wiederholt sich allerdings an dieser Stelle. Empirisch ist die Rücknahme der Errungenschaften der Freiheitsgeschichte ja – wie nicht zuletzt die Geschichte des »Dritten Reiches« es unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt hat – nicht ausgeschlossen, und auch Honneth selbst müßte nicht gegen »kognitive Barbarisierung« polemisieren, wenn er solche Rückgängigmachung für empirisch ausgeschlossen hielte. Eine nicht empirisch, sondern rein normativ gemeinte Teleologie hat wohl tatsächlich vom Standpunkt derer, die eine Wertüberzeugung teilen, etwas Unvermeidliches an sich,[11]  hat aber empirisch keinerlei Erklärungskraft. Und eine »semantische« These, der zufolge es schlicht nicht sinnvoll wäre, auch auf der Ebene einer normativen Theorie der Gesellschaft einen größeren Wertepluralismus zuzulassen, als Rawls und Honneth dies tun, wird mit dem schnellen Schritt zur Teleologie hin nicht eigentlich begründet.[12]  Noch schärfer artikuliert Halbig das Bedenken, daß die Engführung auf den Wert der Freiheit zu einer »Verarmung moralischer Begründungsmuster« und zur inhaltlichen Verzerrung von Alternativen füh20re[13]  – einer Konsequenz, die Honneth gewiß nicht beabsichtigt hat. Sie ergibt sich aber – so scheint es an diesem Punkt –, wenn im Anschluß an Hegel Ansprüche erhoben werden, für die es bei diesem metaphysische Hintergrundannahmen gab, die von Honneth allerdings ausdrücklich zurückgewiesen und überhaupt von kaum jemandem mehr ernsthaft vertreten werden. Es ist die Annahme eines sich in der Weltgeschichte selbst schrittweise verwirklichenden »Geistes«, die eine Teleologie der Freiheits- und Religionsgeschichte ermöglicht, aber heute ihre Nachvollziehbarkeit verloren hat.

Der Ausgangspunkt meiner bisherigen Überlegungen war die These, daß auch der Diskurs über Religion spätestens seit dem achtzehnten Jahrhundert in den Bannkreis der Freiheit eingetreten sei. Diese These ist letztlich unabhängig davon, ob sie im Sinne eines Wertepluralismus oder im Sinne eines Monismus des Werts der Freiheit vertreten wird; obwohl diese Unterscheidung immer wieder auftreten wird, ist sie im vorliegenden Zusammenhang nicht ausschlaggebend. Leicht ist anschaulich zu machen, was die wie auch immer verstandene Zentralstellung der Freiheit auf diesem Gebiet bedeuten kann. Der religiöse Glaube wird in den entsprechenden Diskussionen entweder als Hindernis für die politische Freiheit, als Mittel zur Aufrechterhaltung von Ungleichheit und Unterdrückung religionskritisch angeprangert oder umgekehrt, zumindest in der Form des Christentums oder der jüdisch-christlichen Tradition, gerade als Ermöglichungsbedingung politischer Freiheit verteidigt. Die religiöse Erfahrung selbst wird von manchen als eine der intensivsten Erfahrungen der Freiheit aufgefaßt, die Menschen zuteil werden kann – von anderen dagegen als krasse Form von Heteronomie, der Bereitschaft zur Unterwerfung unter imaginäre Schicksalsmächte. Ein und dieselbe religiöse Tradition kann, so wird argumentiert, zwar auf der Ebene der Lehre Freiheit begründen, als gelebte Praxis aber, etwa in engstirniger Moralität, 21individuelle Freiheit verbauen. Es kann aber auch umgekehrt eine Religion, die in ihrer Doktrin sich ablehnend zu politischen Freiheitsforderungen verhält, durch die Ermöglichung von Erfahrungen via religiöser Praxis sich als Kraft- und Freiheitsquelle der Menschen erweisen. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Freiheit und seines Status in einer umfassenderen Philosophie und Sozialtheorie schlägt sich entsprechend auch vielfältig in der Religionstheorie nieder, wenn diese sich im Bannkreis der Freiheit befindet. Dasselbe gilt für die Frage, wie das Verhältnis von Glaube und politischer Freiheit geschichtlich zu beurteilen sei. Auch hier konkurrieren die verschiedensten Auffassungen in unübersichtlicher Weise miteinander.[14]  Klärung erhoffen sich manche durch die Orientierung an der grandiosesten Synthese von Religions- und Freiheitsgeschichte, die das abendländische Denken hervorgebracht hat, nämlich der Geschichtsphilosophie Hegels, und an ihren Revisionen und Aktualisierungen im zeitgenössischen Denken. So verständlich diese Blickrichtung ist und so nahe es liegt, nach dem Glaubwürdigkeitsverlust des Marxismus und insbesondere seines Religionsverständnisses auf Hegel zurückzugehen, so verfehlt scheint mir dieser Schritt zu sein. Hegels Synthese hat sich vielmehr, so die These dieses Buches, selbst als eine Sackgasse der Religionstheorie erwiesen. Sie muß in fundamentalen Hinsichten radikal in Frage gestellt und überwunden werden, wenn die Probleme geklärt werden sollen, die sich der Religion »im Bannkreis der Freiheit« stellen. Das soll in den einzelnen Teilen dieses Buches und durch Anknüpfung an Denker, welche die Hegelsche Sackgasse als solche erkannt haben, dargestellt werden. Die hauptsächlichen Hinsichten, in denen dies in den Teilen dieses Buches geschieht, sollen in dieser Einleitung vorgreifend benannt werden. Das ist deren wichtigste Aufgabe. Kehren wir zunächst aber noch einmal kurz zu Honneths Gerechtigkeitstheorie unter dem hier lei22tenden Gesichtspunkt zurück. Das ist nötig, weil so exemplarisch dem Eindruck entgegengewirkt werden kann, man könne in der heutigen Sozialphilosophie und Sozialtheorie getrost auf Religionstheorie verzichten.

Die bisher erwähnten philosophischen Bedenken haben nämlich in der Diskussion interessante soziologische und theologische Parallelen und Ergänzungen gefunden. Soziologisch hat vor allem Wolfgang Knöbl insofern an der hegelianisch-teleologischen Argumentation Honneths Anstoß genommen, als dieser eben doch von der »normativen Rekonstruktion« vergangener Entwicklungen immer wieder in Aussagen hinübergleite, die den Ideen selbst und speziell der Freiheitsidee eine geschichtsgestaltende Macht zusprechen, die so stark ist, daß ihr Siegeszug letztlich unaufhaltsam sei.[15]  Für Knöbl steckt darin eine Überbietung des evolutionistischen Optimismus der sozialwissenschaftlichen Modernisierungstheorie der 1950er und 1960er Jahre im Sinne einer philosophischen Begründung für einen noch gesteigerten Zukunftsoptimismus. Honneth reagiert darauf mit einer deutlicheren Einschränkung kausaler Ansprüche seiner Theorie, als sie in seinem Buch zu finden ist.[16]  Von theologischer Seite ist vor allem ein Vorwurf erhoben worden, der im vorliegenden Zusammenhang Gewicht hat. Rolf Schieder, protestantischer Theologe, macht in der Hinführung zu seinen eigenen Überlegungen über die Chancen von Religionsformen, die das Individuum heute vor der Entfremdung durch Programme der Selbstoptimierung schützen können, schlicht auf die er23staunliche Tatsache aufmerksam, »daß in Axel Honneths ›Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit‹ weder die Bildung noch die Religion als Institutionen ihrer Reproduktion berücksichtigt werden – schon gar nicht in ihrer gegenseitigen Verwobenheit«.[17]  Das sei um so bemerkenswerter, als Honneths Buch mit einem Plädoyer für eine transnationale Öffentlichkeit ende, die doch seit Jahrhunderten in den »Weltreligionen« und den Universitäten schon vorweggenommen sei. Honneths Reaktion auf die freundliche Mahnung Schieders, in einem Folgeband diese offensichtlichen Lücken zu schließen, muß als verblüffend bezeichnet werden. Er räumt nämlich den einen Vorwurf, »den Stellenwert der öffentlichen Bildung für die demokratische Sittlichkeit gänzlich«[18]  übersehen zu haben, vollständig ein, führt »dieses große Versäumnis« auf eine »sklavische Orientierung an der Anlage der Hegelschen Schrift« zurück, kritisiert Hegel und verweist auf eigene Versuche der Besserung. Den anderen Vorwurf aber, auf das Thema Religion gar nicht eingegangen zu sein, quittiert er mit völligem Schweigen.

Nur höchst indirekt und flüchtig ist in seiner Erwiderung an anderer Stelle von kulturellen Anregungen die Rede, welche der Religion entspringen können, oder von kirchlichen Gemeinden als einer Form intermediärer Organisation neben Vereinen oder dem Kulturbetrieb.[19]  Wichtiger ist vielleicht der etwas kryptische Hinweis, daß eine geplante Abschlußbetrachtung unterblieben sei, weil dann vielleicht auch »ein ganzes Kapitel zur heutigen Formation des ›absoluten Geistes‹ vonnöten« gewesen wäre:[20]  Bei Hegel ist ja bekanntlich dies der systematische Ort der Religionsphilosophie. Man kann diese Bemerkung auch 24als Ausdruck des Respekts vor der Größe einer unerledigten Aufgabe lesen. Tatsache aber ist, daß damit in dieser wichtigen sozialtheoretischen Reaktualisierung Hegels nicht nur das Thema Religion unbehandelt bleibt, sondern sogar stillschweigend die Scharnierstellen unkenntlich gemacht werden, an denen Hegels Rechtsphilosophie mit seiner Religionsphilosophie und seinem Verständnis von Religion und Geschichte zusammenhängt.

Dies ist, wie mir scheint, eine Beobachtung, deren Bedeutung weit über die Feststellung einer thematischen Lücke bei einem einzelnen Autor hinausgeht. Die Beobachtung, daß Hegel um sein Religionsdenken verkürzt wird, läßt sich nämlich auch bei anderen zeitgenössischen Linkshegelianern machen. Am wichtigsten und prominentesten in dieser Hinsicht ist der amerikanische Philosoph Robert Pippin, der in seinem Lebenswerk die verschiedensten Werkteile Hegels von der Ästhetik bis zur Logik aktualisiert hat und – anders als Honneth – auch eine Möglichkeit sieht, Hegels metaphysische Prämissen durch eine ingeniöse Neudeutung der Logik Hegels zu retten.[21]  Aber von Hegel und der Religion, Hegel und dem Christentum ist auch bei ihm dabei nie die Rede. Pippins Hegel-Bild ist bereits so säkularisiert, daß ihm keine Notwendigkeit zu bestehen scheint, dessen Denken im Lichte von Religionstheorie oder Religionskritik neu zu betrachten. Das ist insofern noch auffallender, um nicht zu sagen sensationell, als es doch gerade Hegels Religionsphilosophie war, anhand deren einst »der Streit um die systematische Geltung seiner Philosophie im ganzen am heftigsten ausgetra25gen wurde« und die Einstellung zu ihr »die Gretchenfrage für die Hegelkritiker und -apologeten der ersten Stunde« war.[22]  Während für die Rechtshegelianer unter den Staatsphilosophen und protestantischen Theologen der Nexus zwischen der Rechts- und Staatsphilosophie Hegels und seiner Rechtfertigung des Absolutheitsanspruchs der christlichen Religion leitend blieb – bis hin zur Vorstellung vom Staat als »irdischem Gott«[23]  und der zukünftigen Entbehrlichkeit der Kirche als vom Staat unterschiedener Organisation der Gläubigen[24]  –, lag für die frühen Linkshegelianer in Hegels Christentum der größte Differenzpunkt. Sie markierten diesen in der Religionskritik und militan26ten Atheismus-Propaganda, die wir bei Ludwig Feuerbach, dem jungen Karl Marx und anderen finden und die sich als enorm geschichtsmächtig erwiesen hat. Es ist offensichtlich, daß die heutigen linken Hegelianer sich damit nicht identifizieren und nicht in deren Nähe wahrgenommen werden wollen. Doch heißt dies bei ihnen nicht, daß sie den Punkt zu treffen versuchen, an dem die Religionskritik ihrer Vorgänger sich von Hegel unterscheidet, um ausdrücklich in eine andere, vielleicht weniger religionskritische Richtung zu steuern. Sie übergehen diesen Punkt mit Schweigen. Sie wollen weder der Religionskritik der Linkshegelianer noch der protestantischen Staatsvergottung der Rechtshegelianer zustimmen, die nach Hegels Tod, als in der Philosophie die Hegelianer »selten wurden wie die Steinböcke und leicht wie etwas komische Figuren wirkten«,[25]  sein Erbe in der Theologie antraten. Das ist auch völlig verständlich, aber insofern unproduktiv, als es nicht in eine explizite Revision auch Hegels überführt wird. Man könnte zuspitzend fragen, ob ein säkularisiertes Hegel-Bild bei ihnen geradezu Voraussetzung für die emphatische Hegel-Aneignung ist.

Selbstverständlich darf die Kritik an einzelnen Hegelianern nicht den Anspruch erheben, ein vollständiges Bild der Forschungssituation zu Hegel und seinem Religionsverständnis zu liefern. Es geht an dieser Stelle nicht um ein Urteil zur spezialistischen Literatur, sondern um systematische gegenwärtige Theorieentwürfe, die sich auf die Schultern Hegels stellen. Auch unter diesen finden sich Arbeiten – genannt seien vor allem die von Charles Taylor und Michael Theunissen –, die Hegels Christentum wahrlich ernst nehmen.[26]  Eine ausdrückliche Revision 27der Annahmen Hegels, die in seiner Schülerschaft zu Staatsvergötterung oder Atheismuspropaganda geführt haben, läßt sich aber auch ihnen nicht entnehmen. Ich insistiere auf diesem Punkt nun aber nicht deshalb, weil ich selbst Interesse daran hätte, einen stärker christlich verstandenen Hegel als Leitfigur zu restituieren. Ganz im Gegenteil ist mein Motiv, Hegels Weg als Sackgasse der Religionstheorie erkennbar zu machen. Dies kann aber nur geschehen, wenn die Sackgasse weder auf der einen noch der anderen Seite weiter beschritten wird. Nötig ist vielmehr, wenn es sich um eine Sackgasse handelt, der Weg zurück zu der Gabelung, an der man in sie gelangt ist.

Einer solchen Umkehr stehen massive Hindernisse im Weg. Nicht nur das enorme Prestige Hegels und der ganzen deutschen klassischen Philosophie läßt – zumindest in Deutschland – alle solche Versuche als vermessen erscheinen. Es sind nämlich auch alle Darstellungen zu revidieren, die der deutschen Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts eine innere Zwangsläufigkeit unterstellen, die weit über kulturelle Besonderheiten hinaus als systematisch-gedankliche Konsequenz erscheint. Typisch für diese Tendenz ist das glänzende Buch Karl Löwiths Von Hegel zu Nietzsche.[27]  Löwith war weder Hegelianer noch Nietzscheaner und betont in seinem Buch nicht die Kontinuität, sondern einen »revolutionären Bruch« in der deutschen Geistesgeschichte. Er zeichnet aber doch ein Bild, das ganz von Deutschland geprägt bleibt und Nietzsches Kampf gegen alles latente Christentum und gegen alle Halbherzigkeit in der Verteidigung christlicher Moral nach der Erschütterung des christlichen Glaubens als Vollendung einer von Hegel begonnenen Entwicklung erscheinen ließ. Löwiths Tonfall ist dabei, was das Christentum betrifft, eher melancholisch und gewiß nicht 28militant-ablehnend wie im Marxismus oder hysterisch seine Überwindung als Befreiung feiernd wie bei den Nietzscheanern. Dennoch ist seine Darstellung so verstanden worden, als erkläre er – in den Worten Reinhart Kosellecks –, »daß es keinen Weg zurück mehr geben könne, weder zurück zum Christentum, etwa aus Trotz gegen das neudeutsche Heidentum, noch zurück zum Judentum, von dem er sich emanzipiert wußte, noch gar zurück zum klassischen Neuhumanismus, zu ›Goethe‹«.[28]  Dies ist eine verständliche Deutung, da Löwith ja tatsächlich nicht der realen Geschichte hegemonialer Denker »von Hegel zu Nietzsche« wenigstens in Andeutungen eine alternative Geschichte – etwa »von Schleiermacher zu Troeltsch« – entgegengesetzt hat. Die Deutung ist insofern aber auch eine Verkürzung, als Löwith im kaum bemerkten Schlußabsatz seines großen Buches durchaus, wie vage auch immer, eine Alternative andeutet:

Daß es mit dem Christentum dieser bürgerlichen Welt schon seit Hegel und besonders durch Marx und Kierkegaard zu Ende ist, besagt freilich nicht, daß ein Glaube, der einst die Welt überwand, mit der letzten seiner verweltlichten Gestalten hinfällig wird. Denn wie sollte die christliche Pilgerschaft in hoc saeculo jemals dort heimatlos werden können, wo sie gar nie zuhause ist?[29] 

Kein Zurück zum Christentum in der Gestalt, die es in der bürgerlichen Welt in Deutschland oder Europa angenommen hat, heißt damit aber auch für Löwith nicht, daß das Christentum überhaupt keine Zukunft habe. Und kein Zurück zu Hegels Christentum heißt nicht, daß das Christentum nur in der Gestalt, die es in Hegels Philosophie angenommen hat, gerechtfertigt werden kann oder daß es jede Rechtfertigung verliert, wenn 29es mit dieser Philosophie zu Ende ist oder ihre Vertreter sich für Hegels Christentum nicht mehr interessieren.

Löwiths geschichtliche Rekonstruktion ist keineswegs die einzige, die die innere Logik der deutschen Geistesgeschichte übertreibt. Sie findet Parallelen in marxistischen oder aufklärerisch gesinnten Rekonstruktionen, die das deutsche Denken unter dem Gesichtspunkt der Entstehung des Nationalsozialismus und seiner Vorgeschichte analysieren.[30]  Auch das Monumentalwerk zur Philosophiegeschichte, das Jürgen Habermas kürzlich vorgelegt hat, krankt an der Ausgangsannahme, daß der entscheidende Scheideweg zwischen Hume und Kant liege, wobei aus dem einen nur ein reduktionistischer Naturalismus folge, wohingegen aus dem anderen nur Gestalten einer Moral- und Geschichtsphilosophie hervorgehen könnten, die bestenfalls als Erben, nicht aber als Artikulationen des Christentums verstanden werden können.[31] 

Steht deshalb jeder von vornherein auf verlorenem Posten, der sich aus dieser Lage befreien möchte? Handelt es sich um eine Donquichotterie, um die Unfähigkeit einzusehen, daß etwas geschichtlich untergegangen ist und nicht wiederkommen wird? Solche Selbstzweifel wären meinerseits stärker, wenn die »forschende Durchmusterung der Geistes- und Wissenschaftsgeschichte«, von der ich zu Beginn gesprochen habe, nicht eine Fülle von Ansatzpunkten liefern würde, um eine Alternative zu 30Hegels Narrativ der Geschichte der Religion und der politischen Freiheit zu entwickeln. Die ausführliche Darstellung dieser Ansatzpunkte wird in den Kapiteln dieses Buches erfolgen. Vorwegnehmend sollen in thesenhafter Zuspitzung nur die wichtigsten Differenzen markiert werden, und zwar nicht in Form ausführlicher Hegel-Deutungen. Es ist letzten Endes an dieser Stelle nicht entscheidend, ob Hegel dieses oder jenes genau so gedacht beziehungsweise an anderen Stellen seines Werks davon abweichende Gedanken geäußert hat. Es geht eher um Behauptungen, die sich gegenüber ihrem Urheber verselbständigt haben, als solche wirkungsmächtig geworden sind und erörtert werden können.[32]  Aber diese haben ihre klassische Ausdrucksform bei ihm, wie weit auch immer sich die spätere kulturprotestantische Geschichtserzählung von ihm entfernt haben mag.[33] 

Am besten zugänglich ist Hegels einflußreicher Gedankengang nicht im kurzen Schlußteil seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts (§ 341-360), der wichtigsten einschlägigen Stelle in den von ihm selbst zum Druck gegebenen Schriften, sondern in den Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte, die er an der Berliner Universität beginnend im Wintersemester 1822/23 alle zwei Jahre bis kurz vor seinem Tod 1831, also insgesamt fünfmal, gehalten hat und die in verschiedenen Nachschriften und darauf basierenden gedruckten Fassungen überliefert 31sind.[34]  In diesen Vorlesungen werden nach einer ausführlichen methodischen Reflexion auf die möglichen »Behandlungsarten der Geschichte« die Grundzüge von Hegels philosophischen Vorstellungen vom »Geist«, seiner Verwirklichung in der Geschichte und des Gangs der Weltgeschichte entwickelt, bevor dann gewissermaßen empirisch die geographischen Grundlagen der Weltgeschichte erläutert werden. Im Hauptteil werden in vier großen Abschnitten die »orientalische«, die griechische, die römische und die germanische Welt näher dargestellt. Entscheidend ist dabei, daß diese verschiedenen kulturellen »Welten« nicht einfach nebeneinandergestellt, auf mögliche wechselseitige Beeinflussungen untersucht und auf Entwicklungspotentiale hin befragt werden. Sie werden vielmehr in eine wertbezogen-hierarchische Ordnung gebracht, für die sogar die Metaphorik von den Lebensaltern der Menschheit herangezogen wird. In ihnen sieht Hegel die Stufen eines einzigen welthistorischen Prozesses, in dem eine in der Geschichte der Menschheit angelegte Idee ihre schrittweise Verwirklichung erfährt. Diese Idee aber ist die der »Freiheit«. Die Geschichte als ganze wird damit als die Geschichte der Selbstverwirklichung des Geistes gedeutet, als die Geschichte der fortschreitenden Selbsterkenntnis der göttlichen Vernunft.

So leicht es ist, Hegelsche Formulierungen dieses Grundgedankens zu finden, und sosehr diese Formulierungen in philosophischen Kreisen geläufig sein mögen, so schwer ist es bei einiger Distanz, wiederzugeben, was hier eigentlich gemeint ist. Am leichtesten fällt es heute, den Begriff »Selbstverwirklichung« zu verwenden, da damit ein in der Gegenwart äußerst einflußreiches Ideal, ein spezifisch »expressives« Freiheitsverständnis, ausgedrückt wird.[35]  Bei genauerem Nachdenken zeigt sich zwar 32schnell eine merkwürdige Paradoxie in diesem Begriff, weil ja recht unklar ist, was dieses Selbst vor seiner Verwirklichung ausmacht, welcher Wirklichkeitscharakter dem nichtverwirklichten Selbst eigentlich zugesprochen werden kann. Doch hat dieses begriffliche Problem den Siegeszug des Selbstverwirklichungsideals in der »westlichen« Kultur und darüber hinaus nicht verhindert. Aber hier ist immer nur die Selbstverwirklichung von Individuen, in einzelnen Fällen von Kollektiven gemeint, aber nicht die des »Geistes«.

Hegel selbst scheint zwar der erste gewesen zu sein, der den Begriff »Selbstverwirklichung« philosophisch verwendet hat,[36]  und selbstverständlich ist der Begriff »Geist« zentral für sein reifes Denken. Mit der Formel »Selbstverwirklichung des Geistes« haben aber erst spätere Denker in Hegels Gefolge gearbeitet.[37]  Was schon bei den Individuen schwierig zu denken ist, ist in der Anwendung auf diesen »Geist« erst recht mysteriös. Hegel setzt im Laufe seiner Werkentwicklung immer mehr auf diesen Begriff, der es ihm erlauben sollte, aus einer bloßen Gegenüberstellung von Ideal und Wirklichkeit herauszukommen. Wenn Ideale selbst ein Produkt historischer Entwicklungen sind, mußte dieser Sachverhalt ja selbstreflexiv in alle Überlegungen zu Geschichte und Moral einbezogen werden. Dann bot sich die Chance, die Entwicklung der Ideale selbst als stufenförmigen Bildungsprozeß zu denken, durch den hindurch, wie im Bildungsprozeß der Individuen, eine Selbstverwirklichung stattfindet. Diesem »Geist« werden dabei freilich ebenso wie der »Vernunft« Züge zugeschrieben, die sich schwerlich jenseits der Individuen und ihrer Beziehungen zueinander denken lassen, es sei denn in religiöser Hinsicht.[38]  Unverkennbar haben »Geist« 33und »Vernunft« bei Hegel denn auch Prädikate des Göttlichen, was auch den Übergang in Vorstellungen über ein Tätigsein dieser Entitäten verständlich macht.

Der »absolute Geist« kann so wie der »lebendige Gott« des Christentums gedacht werden. Dieser denkerische Schritt ist aber von tiefster »Zweideutigkeit«,[39]  was den christlichen Glauben betrifft. Unklar ist ja, ob damit der christliche Glaube im tradierten Sinne aufgegeben oder in neuer Weise geschichtsphilosophisch gerechtfertigt wird. Ganz deutlich zeigt sich diese Zweideutigkeit auch dort, wo die Religionen einschließlich der christlichen von Hegel auf die Sphäre des Gefühls und der (bloßen) Vorstellung beschränkt werden, der gegenüber erst das begriffliche Denken in Gestalt der Philosophie dem in der Religion also nur Empfundenen und Geahnten zu seiner vollen Gestalt verhelfen könne.

Schon dieses in wenigen Strichen skizzierte Bild zeigt, wie schwer es ist, sich dem Sog der Hegelschen Begrifflichkeit zu entziehen, wenn man seine Gedankengänge erläutern will. Es ist deshalb kein Zufall, daß viele Anknüpfungen an Hegel in ihrer Sprache wie der Meister selbst klingen. In meiner Sicht liegt aber ein fundamentales hermeneutisches Problem vor, wenn ein Denker nur in seiner eigenen – und in Hegels Fall auch noch selbsterzeugten – Begrifflichkeit wiedergegeben wird. Gerade die entscheidenden Weichenstellungen werden dann ja nicht als solche kenntlich gemacht. Wenn die Begriffe eines Denkers gar nicht oder kaum in einer anderen Sprache als seiner eigenen formulierbar sind, sollte dies nicht als Zeichen seiner unübertrefflichen Tiefe, sondern als Indiz für eine Problematik genommen werden.

Der Grundriß von Hegels Geschichtsphilosophie besteht al34so in einer Konzeption des »Geistes«, der sich von der (ungeistigen) Natur unterscheidet und im stetigen Kampf mit seinen bisherigen Verwirklichungsformen über diese hinaustreibt, bis er selbst seine angemessene Form der Verwirklichung gefunden hat – sich selbst verwirklicht hat. Auf diesem Grundriß fußt das Gebäude von Hegels Geschichtsphilosophie, die unter Verarbeitung beträchtlichen zeitgenössischen Wissens die großen historischen Stufen in der Entstehung des Staates als einer Form positiver Verwirklichung der Freiheit nachzeichnet, zuerst im »Orient«, dann der Entstehung von Vorstellungen über die Freiheit des Bürgers (und nur des Bürgers) in der griechischen Welt und der unbeschränkten Freiheit, die in der römischen Welt aufbricht, der »Geburtsstätte« der christlichen Religion.[40]  In der Geschichte des Christentums sind es für den deutschen Lutheraner Hegel dann »die germanischen Nationen«,[41]  die zur geschichtlichen Entwicklung dieser Freiheit entscheidend beitragen, und ist es insbesondere die Reformation, die das christliche Freiheitsverständnis in seiner Reinheit gegenüber den Abirrungen des Mittelalters wiederherstellt, sich auf den (frühneuzeitlichen) Staat formativ auswirkend. Durch Aufklärung und Revolution entstehe dann die politische Gestalt des freiheitsverbürgenden Staates, der in Preußen im Gefolge der Reformen, die auf die Niederlage gegen die napoleonische Armee reagieren, seine historisch höchste und endgültige Form findet. Hegels systematische Philosophie nimmt damit in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte die Gestalt einer großen Erzählung an, die man zu Recht das »große Epos der europäischen Moderne« genannt hat.[42] 

35Dieses große Epos ist seit Hegels Zeit auf den verschiedensten Ebenen polemisch zurückgewiesen, ja lächerlich gemacht worden. Für meine Argumentation sind nicht alle geäußerten Einwände gleich gewichtig. Das vorliegende Buch konzentriert sich auf vier aus meiner Sicht zentrale Punkte, aus denen sich dann sein Aufbau in vier Teile ergibt: auf den Vorwurf eines intellektualistischen Verständnisses des religiösen Glaubens bei Hegel (1); auf die Infragestellungen von Hegels Vorstellungen über den Zusammenhang von Religion und politischer Freiheit, hier vornehmlich anhand der Erfahrungen in den Epochen nach Hegel, insbesondere im zwanzigsten Jahrhundert (2); auf neue Impulse für das Verständnis von Freiheit, die über Hegel hinausführen (3); und schließlich auf die Überwindung von Hegels eurozentrischem und christentumszentrischem Verständnis der Weltgeschichte (4). Zusammengenommen sollen diese vier Gesichtspunkte meiner Rede von einer Hegelschen Sackgasse in der Religionstheorie Plausibilität verleihen.

(1) Der Vorwurf eines intellektualistischen Glaubensverständnisses bei Hegel mag zunächst unberechtigt scheinen, da Hegel doch schon in seinem Frühwerk und gerade gegenüber einer moralistischen Verengung des Glaubensverständnisses bei Kant sehr wohl die Dimensionen des Gefühls, der Anschauung und der Vorstellung berücksichtigt hat. In der Phänomenologie des Geistes aber läßt er, erkennbar schon in der Architektur des Werkes, keinen Zweifel daran, daß es ein »absolutes Wissen« geben müsse, das höher ist als der Geist auch der »offenbaren Religion«. Für Hegel darf der Glaube nicht nur nicht auf dieser vorbegrifflichen Ebene verbleiben. Entscheidend ist für ihn, daß solche vorbegriffliche subjektive Religiosität aus sich heraus für beliebige Gehalte offen sei. Hier lag der systematische Punkt, an dem, neben allen persönlichen Dimensionen ihres Verhält36nisses, Hegel und Schleiermacher radikal differierten. Wenn Schleiermacher Religion über ein Gefühl definierte, nämlich das der »schlechthinnigen Abhängigkeit«, dann war dies für Hegel völlig unzulänglich. Hegel äußerte hierzu in einer berühmten Sottise, daß dann ein Hund der beste Christ sei, da er in einem ständigen Abhängigkeitsgefühl gegenüber seinem Herrn lebe und der Erhalt eines Knochens bei ihm »Erlösungsgefühle« auslöse.[43]  Was wie eine souveräne Zurückweisung klingt, ist allerdings dem Niveau von Schleiermachers Glaubensverständnis schlicht nicht gewachsen. Dieser verzichtete deshalb auch bewußt darauf, auf Hegels Äußerung öffentlich zu antworten. Es ist ja ein Unterschied, und müßte auch für Hegel wesentlich sein, ob ein freiheitsfähiger Mensch sich in seiner selbstbewußten Freiheit als gleichwohl schlechthin abhängig erkennt oder ob ein Hund auf seine naturale Abhängigkeit beschränkt bleibt. Entscheidend ist die Frage, ob im religiösen Gefühl oder, wie später gesagt werden wird, in der religiösen Erfahrung bestimmte kognitive Gehalte immer schon so angelegt sind, daß sie artikuliert werden können und müssen, womit von Beliebigkeit des Gefühls oder der Erfahrung gegenüber den Gestalten der Artikulation nicht mehr die Rede sein kann. Entscheidend ist aber auch, wie die Grenzen der begrifflichen Artikulation gedacht werden, wodurch diese nicht mehr als selbstverständlich an37deren Symbolisierungen überlegen erscheint, sondern immer auch als vereinseitigend und verarmend.[44]  Hier liegen wichtige Fragen sowohl der Hegel-Interpretation als auch und vor allem der anthropologischen Grundlagen der Religionstheorie. Die Aussicht auf ein anderes Verständnis der menschlichen Körperlichkeit, als sie in der Konzeption des »Geistes« angelegt ist, wird in diesem Buch immer wieder eröffnet.

(2) Der Vorwurf, den Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gewachsen zu sein, wird ebenfalls zunächst als trivial oder unfair gegenüber Hegel erscheinen. Doch darf es nicht als unberechtigt bezeichnet werden, eine umfassende Rekonstruktion der Weltgeschichte im Lichte späterer Entwicklungen kritisch zu betrachten. Selbst wenn in normativer Hinsicht der preußische Rechtsstaat in Hegels Zeit unübertroffen gewesen sein sollte – aber wer würde diese These bei aller kritischen Haltung gegenüber Frankreich, England oder Österreich in dieser Zeit heute wirklich verteidigen wollen? –, muß der spätere Geschichtsverlauf und müssen insbesondere die Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts ein Anlaß sein, über das Vertrauen in die sichere Etabliertheit politischer Freiheit neu nachzudenken. Gerade die preußisch-deutsche Geschichte und die Verwicklungen des Christentums in diese nötigen dazu. Damit aber wird der zukunftsbezogene, prognostische Wert einer teleologischen Geschichtsrekonstruktion fundamental in Frage gestellt. Geschichte wird vom großen überpersönlichen Prozeß wieder zum kontingenten Geschehen, in dem die Zukunft maßgeblich auch vom Handeln in der Gegenwart, von situativ richtigen und moralisch gebotenen Handlungen unter nie ganz beherrschbaren Bedingungen abhängt. Sosehr Hegels Philosophie ein Ausdruck der radikalen Verzeitlichung und Historisierung ist, die 38im achtzehnten Jahrhundert einsetzte, so sehr erstarrt diese Historisierung gleich wieder, wenn die Geschichte als ganze im Sinne eines einzigen notwendigen Prozesses und die Phasen der Vergangenheit als Stufen in einer überblickbaren Entwicklung gedacht werden. Kontingenz wird damit zu einem Oberflächenphänomen, durch das sich der Philosoph in seiner Betrachtung der historischen Notwendigkeit nicht ablenken läßt. Er spricht in diesem Fall über die Geschichte als ganze nicht im Modus einer riskanten Stellungnahme, die empirisch und praktisch durch die Konfrontation mit den Ereignissen widerlegt werden kann. Er eignet sich vielmehr den Tonfall einer (schlechten) Offenbarungstheologie an, die Prätention, ein sicheres Wissen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und über den Endzweck der Weltgeschichte zu haben. Die Zweideutigkeit Hegels hinsichtlich der Säkularisierung, von der Karl Löwith sprach, ist auch hier mit Händen zu greifen. Was von der einen Seite als Auflösung des Glaubens an eine göttliche Vernunft in eine rein irdische Weltgeschichte erscheint, enthüllt sich von der anderen Seite als eine Sakralisierung der Vernunft, die mit der Inbrunst religiöser Heilsgewißheit vorgetragen wird.[45] 

(3) Gerade unter Hegelianern selbst ist wiederholt die Frage aufgeworfen worden, inwiefern Hegels Freiheitskonzeption dem in seiner Philosophie angelegten Denken in Kategorien der Intersubjektivität tatsächlich gerecht wird. In einem allgemeineren Sinn muß diese Frage hier nicht interessieren. Sie berührt allerdings Hegels Konzeption politischer Freiheit, insofern in ihr ein höchst ambivalentes Verhältnis zur Idee der Öffentlichkeit deutlich wird. Jürgen Habermas hat schon in seinem frühen Werk Strukturwandel der Öffentlichkeit auf den illiberalen Etatismus hingewiesen, der hier bei Hegel die Oberhand gewinnt, und Axel Honneth nimmt entsprechend, sobald er sich in seiner Gerechtigkeitstheorie der demokratischen Öffentlichkeit zuwendet, vom Vorbild der Hegelschen Rechtsphilosophie, das 39ihn sonst leitet, ausdrücklich Abstand.[46]  Damit aber stellt sich die Frage eines gegenüber Hegel revidierten Verständnisses von Freiheit zumindest auch dort, wo es um die Religion in der Öffentlichkeit, um öffentliche Religion geht. Es wird dann nicht ausbleiben können, daß die Suche nach einem angemessenen Verständnis öffentlicher Religion auch ausstrahlt auf das Verständnis des Glaubens insgesamt. Einfache Vorstellungen über das Christentum als solches oder auch über den Protestantismus als solchen und ihre jeweiligen Wirkungen in der Geschichte werden dadurch in ihrer Problematik erkennbar. Verschiedene Gläubige und verschiedene Religionsgemeinschaften werden in unterschiedlicher Weise ihren Glauben auf Politik oder Politik auf ihren Glauben beziehen. Es wird dabei zu Kontroversen und Beeinflussungen über die Grenzen von Glaubensgemeinschaften hinaus kommen. Konkret auf Hegel bezogen heißt dies auch, daß sein Antikatholizismus der Revision bedarf. Wie immer wir heute den Katholizismus zu Hegels Zeit einschätzen, es bleibt der Eindruck eines undifferenzierten und statischen Urteils, das auf tieferliegende Schwierigkeiten verweist. Diese werden hier in einer übertriebenen Vorstellung von der Autonomie der Vernunft und in einer mangelnden Berücksichtigung der Idee »verdankter Freiheit« verortet. Erst eine noch stärker pragmatische und hermeneutische Vorstellung von der Vernunft als bei Hegel und eine noch konsequentere Relativierung des Ideals der Selbstbestimmung durch Reflexion auf ihre Konstitution erweisen sich dann als verträglich mit den Idealen politischer Freiheit. In Teil III dieses Buches geht es deshalb nicht um einen Bruch mit Hegel, sondern um eine Weiterentwicklung von Motiven, die sich bei ihm bereits angelegt finden, aber erst nach ihm konsequent entwickelt wurden.

(4) Es wird wohl niemand heute ernsthaft bestreiten, daß He40gels Geschichtsphilosophie bis in ihren Kern hinein eurozentrisch ist. In einem der Pionierwerke der modernen Globalgeschichtsschreibung wird einleitend der über die Schulen vermittelte »Glaube an eine westliche Abstammungslehre« beklagt, »wonach das antike Griechenland das alte Rom hervorgebracht hat, Rom wiederum das christliche Europa, das christliche Europa die Renaissance, die Renaissance die Aufklärung und die Aufklärung die politische Demokratie sowie die industrielle Revolution«.[47]  Ein solches Schema der geschichtlichen Entwicklung sei aus zwei Gründen irreführend. Es verwandle die Geschichte in ein »historisches Etappenrennen, bei dem jeder Teilnehmer die Fackel der Freiheit an den nachfolgenden Stafettenläufer übergibt«, was zu einer »märchenhaften Legende« führe, in der die Sieger der Geschichte sich als Werkzeuge für moralische Anliegen verstehen dürfen. Gleichzeitig reduziere sich damit das Interesse an der Geschichte auf die »Vorboten der endgültigen Idealgestalt«,[48]  statt uns für die realen Konflikte und Entwicklungsmöglichkeiten der Geschichte zu sensibilisieren.

Die zitierten Sätze könnten, wenn die Renaissance durch die Reformation ersetzt und der Bezug zu Demokratie und industrieller Revolution gekappt würde, auf Hegel gemünzt gewesen sein. Das liegt daran, daß Hegel, die Historiographie seiner Zeit aufnehmend und weiterführend, ein Epos komponiert hat, das stilbildend wirkte. Selbst wenn es in seinen Einzelheiten modifiziert wurde, blieb es in seiner Grundstruktur erhalten. Vor- oder antistaatliche Gesellschaften werden charakteristischerweise von Hegel im einleitenden Teil über »geographische Grundlagen« behandelt, weil ihnen die Dignität, Geschichte zu haben, 41gar nicht zuzukommen scheint. Geschichte beginnt für Hegel mit Staat und Schrift, und die Geschichte in diesem Sinn (angeblich) mit China. Aber was er etwa über China zu sagen hat, ist von einer tiefen Abwertung sowohl der staatlichen wie der religiösen Traditionen Chinas gekennzeichnet. Geschichtsloser patriarchalischer Despotismus, gestützt von einer Religion, dem Konfuzianismus, die das Gegenteil der Freiheitsidee verkörpere, bestimmen für Hegel das Bild.[49]  Auch Indien wird als völlig erstarrt in seiner Kastenordnung und damit fundamentalen sozialen Ungleichheit dargestellt. Gewiß wäre es zu billig, Hegel für zeitgebundene Ansichten und Kenntnislücken zu tadeln, obwohl er in diesem Fall nicht einfach nur Opfer herrschender Vorurteile war, sondern wichtiger Akteur im Prozeß der »Entzauberung Asiens«. Hegel trug wesentlich dazu bei, »den asiatischen Kulturen weltgeschichtliche Bedeutsamkeit nurmehr für längst vergangene frühe Zeitalter«[50]  zuzugestehen, und bejahte die europäische Unterwerfung Asiens. Ohne mit der Wimper zu zucken, sagte er voraus, auch China werde »diesem Schicksal sich fügen müssen«.[51]  Obwohl also keine übertriebenen empirischen Ansprüche an große philosophische Entwürfe gerichtet werden dürfen, sollte man auch nicht so tun, als bleibe eine Philosophie unberührt von den Mängeln der Wirklichkeitseinschätzung, die in sie eingegangen sind oder auf ihr beruhen.

Hier geht es nämlich um mehr als nur Korrekturen einzelner Aussagen. Es geht um die Infragestellung von Hegels Geschichtsphilosophie in einer ganz entscheidenden Hinsicht. Es geht um 42den Punkt, den Ernst Troeltsch im Auge hatte, als er sich, bezogen auf die Geschichte des Christentums, auf Ranke und nicht auf Hegel stützte.[52]  Der oft belächelte Satz Rankes, daß jede Epoche unmittelbar zu Gott sei, wird von Troeltsch als tiefsinnig bezeichnet, weil er uns lehre, Epochen nicht einfach als Stufen einer Entwicklung aufzufassen, die ein Ideal verwirklicht, sondern als eigenständige Versuche der Verwirklichung von Idealen, die aber nie ganz verwirklicht werden und auf deren nicht verwirklichten Anspruch wir unter unseren jeweiligen Bedingungen immer neu zu reagieren haben. Damit ist nicht nur Hegels Eurozentrismus zu sprengen, sondern auch die Vorstellung, das Christentum sei die absolute Religion. Ein demütigeres Verhältnis zum Christentum und ein neugierigeres und offeneres Verhältnis zu anderen Religionen werden durch den Abstand zu Hegels Geschichtsphilosophie nahegelegt – ebenso wie eine kritische Distanz gegenüber den Tendenzen säkularistischer Hegelianer, Hegels Heilsgewißheit auf ihre eigenen säkularen Weltbilder zu übertragen.

Mit der Erwähnung von Schleiermacher und Ranke wurden schon die Namen von zwei Denkern genannt, die sich wohl zunächst gegenüber dem übermächtigen Einfluß Hegels geschlagen geben mußten, im weiteren Verlauf der Geschichte der Geisteswissenschaften aber die Oberhand gewannen. Diese Beschreibung gilt freilich nur für die Geisteswissenschaften, nicht für die Philosophie, in der der große Theologe und der große Historiker bis heute meist nicht ganz ernst genommen werden.[53]  Nicht auf diese sich lebenszeitlich mit Hegel überschnei43denden Alternativen zu ihm aber zielt dieses Buch, sondern auf spätere Denker, die sich im historischen Abstand auf Hegel bezogen, als sie ihre Alternativen formulierten, oder ihn einfach links liegenließen. Sie waren zudem meist auch von einer veränderten intellektuellen Atmosphäre geprägt, in der Hegels Wirkung von den Provokationen Nietzsches verdrängt oder überlagert wurde. Und viele von ihnen hatten Anteil an der Überwindung des eurozentrischen Blicks auf die Religionsgeschichte, für die es unter anderem bei Schopenhauer erste Ansätze gab, die aber erst im zwanzigsten Jahrhundert wirklich Früchte trugen.

Die Rede von den Provokationen Nietzsches ist an dieser Stelle bewußt doppeldeutig. Gemeint sind damit einerseits die übermäßig polemischen Töne in Nietzsches Kritik des Christentums, die oft als Reaktionen auf bestimmte erlittene Formen dieser Religion durchaus verständlich sind, durch deren haltlose Verallgemeinerung und ihre überscharfe Fassung freilich auch abstoßend wirken können. Gemeint sind andererseits die tiefen denkerischen Herausforderungen, die von Nietzsche ebenfalls ausgingen und zu einer produktiven Kraft für ein neues Verständnis von Geschichte und Moral sowie eben auch des Christentums wurden. Während ich mich in dieser Einleitung ganz auf Hegel konzentriert habe, werde ich im Schlußteil auf dem Wege einer Auseinandersetzung mit Nietzsche das Versprechen einlösen, das im Untertitel dieses Buches steckt, nämlich das einer Reflexion auf die Bedingungen der Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche.

In den vier Hauptteilen dieses Buches werden in einzelnen Porträts, wie erwähnt, Religionsdenker vorgestellt, die für das Projekt von Bedeutung sind, sich jenseits der Hegelschen gro44