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Aufbauend auf seinen Büchern über religiöse Erfahrung und die Zukunftsmöglichkeiten des Christentums (z.B. "Glaube als Option", Herder 2012) wendet sich Hans Joas in seinem neuen Aufsatzband einem Thema von höchster Aktualität zu: Warum hat das Christentum überhaupt die besondere Organisationsform "Kirche" hervorgebracht? Kann man nicht auch Christ sein ohne die Kirche? Inwiefern ist der christliche Glaube in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen eine Alternative zu bloßer individueller Selbstoptimierung?
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Seitenzahl: 312
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Hans Joas
Warum Kirche?
Selbstoptimierung oder Glaubensgemeinschaft
© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2022
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Nachweis:
Kapitel 10 »Kirche als Moralagentur?« ist in überarbeiteter Form
entnommen aus: Hans Joas, Kirche als Moralagentur?,
© 2016, Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House
Verlagsgruppe GmbH
Umschlaggestaltung: Verlag Herder, Freiburg
Umschlagmotiv: ©Bildagentur Zoonar GmbH/ shutterstock
E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau
ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82501-9
ISBN Print 978-3-451-39064-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82502-6
Für Susanna Schmidt und Joachim Hake
1. Einleitung
2. Warum Kirche? Ist Transzendenz organisierbar?
3. Problematische Prognosen. Religion im säkularen Zeitalter
4. Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz
5. Glaube oder Selbstoptimierung? Zur kulturellen Rolle der Kirche
6. Ein Christ durch Krieg und Revolution. Alfred Döblins Erzählwerk »November 1918«
7. Christentum ohne Kirche? Der Denkweg Leszek Kołakowskis
8. Der Glaube an die Menschenwürde als Religion der Moderne?
9. Ist die Menschenwürde noch unser oberster Wert?
10. Kirche als Moralagentur?
11. Globale Verantwortung und partikulare Verpflichtung der Kirche
Literaturverzeichnis
Über den Autor
Den Anstoß zu diesem Buch gab der Journalist Volker Resing, langjähriger Chefredakteur der Monatszeitschrift »Herder Korrespondenz«, eines bedeutenden meinungsbildenden Organs der katholischen Christen in Deutschland. Resing verdankte sich auch schon die Initiative zu einer langen Diskussion zwischen dem (inzwischen verstorbenen) großen katholischen Philosophen Robert Spaemann und mir, die er moderierte und in Auszügen 2018 als Buch unter dem Titel »Beten bei Nebel. Hat der Glaube eine Zukunft?« herausgab. Bei manchem gemeinsamen Mittagessen, aber auch im erweiterten Kreis mit Lektoren des Herder-Verlags sprachen wir darüber, welche Frage heute in christlichen Kreisen hierzulande die Gemüter in ähnlicher Weise bewege, wie es am Anfang des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert die Frage gewesen war, ob Religion denn überhaupt noch eine Zukunft habe. Es war damals die Zeit, in der eine Debatte immer weitere Kreise zog, die in den Sozialwissenschaften schon einige Jahrzehnte früher eingesetzt hatte.
Die Rede ist von den Ansätzen zur Kritik und Überwindung der sogenannten Säkularisierungstheorie, also der These, dass wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Modernisierung mit innerer Notwendigkeit eine Schwächung aller Religion herbeiführe. Diese Debatte ergriff damals mehr als je zuvor die breitere Öffentlichkeit in den Kirchen und darüber hinaus. »Braucht der Mensch Religion?« lautete entsprechend die Frage, die auf dem ersten jemals in Deutschland veranstalteten Ökumenischen Kirchentag im Jahr 2003 Gegenstand des ersten Hauptvortrags war. Diesen zu halten hatte ich damals die Ehre; aus diesem Ereignis ging auch ein Aufsatzbändchen von mir unter demselben Titel im Jahr 2004 hervor.1
Nun ist es nicht so, als sei die Stimme der Vertreter der Säkularisierungstheorie im bezeichneten Sinne heute völlig verstummt. Die Abwendung von den Kirchen, insbesondere von der katholischen, die ohnehin in manchen Ländern im Gange war, hat sich durch die Aufdeckung zahlloser Fälle sexuellen und geistlichen Missbrauchs durch Kleriker und durch die gewohnheitsmäßige Vertuschung dieser Fälle oder durch die unzureichende Einsicht in die eigenen Verfehlungen auf Seiten kirchlicher Amtsinhaber noch verstärkt. Diese Abwendung ist weder zu bestreiten noch ist sie schwer nachzuvollziehen. Insofern ist es kein Wunder, wenn die Vertreter einer in die Defensive gedrängten wissenschaftlichen Position sich wieder verstärkt zu Wort melden und doch einen globalen Niedergang der Religion konstatieren zu können glauben. Der vielleicht prominenteste Autor unter ihnen war der im Jahr 2021 verstorbene führende Erforscher des Wertewandels, Ronald Inglehart. Er hatte 2004 zusammen mit seiner Koautorin Pippa Norris2 einen originellen Weg gefunden, den Grundgedanken einer durch Modernisierung voranschreitenden Säkularisierung mit dem gleichzeitigen, unter diesen Voraussetzungen aber paradox wirkenden Befund einer immer religiöser werdenden Welt zu vereinbaren. Dies geschah durch die verstärkte Berücksichtigung der demographischen Dimension, d. h. der unterschiedlichen Kinderzahl und des unterschiedlichen Bevölkerungswachstums von Gesellschaften je nach dem Grad ihrer Säkularisierung. Sein Erklärungsvorschlag war zwar in vielen Hinsichten problematisch,3 aber doch ein wichtiger Schritt vorwärts. In neueren Arbeiten setzte er aber wieder verstärkt auf die konventionelle Säkularisierungstheorie.4 Dabei diente ihm vor allem der Anstieg der Zahl von Menschen als Beleg, die in den USA keiner Religionsgemeinschaft mehr angehören. Darauf werde ich deshalb noch zurückkommen.
Bevor dies geschieht, ist aber noch zu schildern, dass in den erwähnten Gesprächen leicht Einigkeit über einen anderen Punkt zu erreichen war, den nämlich, dass heute für viele Christen die drängende Frage nicht ist, ob Religion und Christentum überhaupt eine Zukunft hätten, sondern die, ob es für diese Zukunft eigentlich einer Kirche bedürfe. Viele Zeitgenossen und Zeitgenossinnen empfinden das christliche Ethos der Nächstenliebe zumindest in seinem Kern als plausibel und christliche Spiritualitätsformen als attraktiv. Sie halten es deshalb nicht für wirklich vorstellbar, dass dieses Erbe in der Zukunft seine Kraft völlig verlieren und verschwinden werde. Jedenfalls sind viele von ihnen entschlossen, persönlich an ihm festzuhalten, selbst dann, wenn starker Widerstand erkennbar wird. Aber sie fragen sich immer mehr, warum man nicht Christ sein könne, ohne einer Kirche anzugehören. Nicht »Braucht der Mensch Religion?« ist heute also die akute Frage, sondern »Braucht der religiöse Mensch, brauchen Christen eine Kirche?« Wäre vielleicht ein freies, d. h. institutionsloses Christentum besser für die Verbreitung der christlichen Botschaft? Verdecken Kleriker und Kirche diese Botschaft mehr, als dass sie ihr helfen? Was würde fehlen – so fragen sich heute katholische Christen –, wenn es keine Priester, Bischöfe, Päpste mehr gäbe?
Diese Fragen sind keineswegs historisch völlig neu. In mancher rebellischen Bewegung in der Kirchengeschichte und im Protestantismus, insbesondere in seinen radikaleren Formen und in Reaktion auf die Erstarrung der reformierten Kirchen, wurden sie schon vor langer Zeit gestellt. Sektenhafte Abspaltungen und mystische Rückzugsversuche begleiten die Geschichte der Kirchen seit jeher. In der Theologie der Aufklärungszeit wurde die Unterscheidung von Kirche und Christentum sogar zentral, sowohl im Sinne des Anspruchs von Individuen, selbst zu bestimmen, was das christliche Ethos von ihnen verlange, als auch darin, unbefangen das Christentum in seiner historischen und kulturellen Vielfalt und seinen Übereinstimmungen mit anderen religiösen Traditionen wahrzunehmen. Es scheinen aber heute nicht vornehmlich intellektuelle und politische Motive zu sein, aus denen sich diese Impulse ergeben – nicht wie in der Vergangenheit ein Protest gegen die Verfilzung der Kirche mit feudalen Machtstrukturen, keine utopischen Umsturzhoffnungen der Unterschichten oder politische und intellektuelle Autonomiebestrebungen des Bürgertums. Heute liegt der Quell wohl eher in den kulturellen Tendenzen zu verstärkter Individualisierung, die auch außerhalb des Gebiets religiöser Institutionen dazu führen, dass die Dauermitgliedschaft in Organisationen, lebenslange Treue zu politischen Parteien oder gar selbstloses »Parteisoldatentum« im Verschwinden begriffen sind. Auch dafür gibt es Vorläufer spätestens in den religiösen Suchbewegungen um 1900 mit ihrer Unterscheidung des Spirituellen vom Religiösen oder in den Hoffnungen von Denkern wie dem pragmatistischen Philosophen John Dewey in den 1930er Jahren, dass das »Religiöse« sich von aller institutionellen Gestalt emanzipieren müsse, von allen tradierten Mythologien und Dogmen und von jedem Exklusivitätsanspruch, um sich endlich frei entfalten zu können.5 Leicht fällt es unter diesen Umständen vielen Menschen nur, ihren Glauben durch seine stärkende, tröstende, beflügelnde Wirkung anzupreisen und damit als etwas, was ihnen persönlich hilft, vielleicht sogar sie zu Selbstbestimmung und zum Einsatz für andere befähigt. Schwieriger wird es für sie aber dann, der Kirche als Institution eine konstitutive Rolle für ihre persönliche Entwicklung zuzusprechen, die katholische Kirche etwa mit der Metapher von der »Mutter Kirche«6 zu beschreiben, und auch mögliche restriktive Wirkungen des Glaubens anzuerkennen, die aus der Bindung an Ideale folgen und eine Umpolung in der Lebensorientierung weg von der Konzentration auf die Entfaltung der eigenen Möglichkeiten und der Optimierung des eigenen Selbst darstellen.
Warum Kirche also? Ganz bewusst wird im Titel dieses Buches die Warum-Frage gestellt und nicht die Wozu-Frage. In der schon erwähnten Rede »Braucht der Mensch Religion?« habe ich zwei mögliche Bedeutungen dieser Frage unterschieden.7 Die Frage kann so gemeint sein, als suchten wir nach irgendwelchen Vorteilen, welche die Individuen, die Gesellschaft oder die Menschheit aus der Religion bezögen, z. B. Glück, stabile Moralität, seelische Gesundheit, gesellschaftlichen Zusammenhalt, Frieden. An dieser Frageweise stört der autosuggestive Unterton. Dabei wissen doch letztendlich alle, dass selbst der überzeugendste Beweis von der Nützlichkeit des Glaubens nicht zum Glauben führt. Deshalb müssen wir einen anderen Sinn im Wort »braucht« entdecken, den nämlich, ob etwas unter bestimmten Voraussetzungen überhaupt entbehrlich sein kann. Bei der Frage nach der Religion zielt dies auf die menschlichen »außer-alltäglichen« Erfahrungen, die im Glauben artikuliert werden. Bei der Frage nach der Kirche geht es entsprechend nicht um die Rechtfertigung einer Institution, weil sie einen Zweck erfüllt oder sich als »funktional« für ein bestimmtes »System« erweist, sondern um eine Reflexion auf die Ursachen, welche die an Jesus Christus Glaubenden einst dazu gebracht haben, eine Institution hervorzubringen und mit Leben zu erfüllen, die sich von allen zeitgenössisch gegebenen Sozialformen wie denen der Familie und Verwandtschaft, aber auch der des politischen Gemeinwesens unterscheidet. Nicht alle Religionen haben ja eine solche Institution hervorgebracht. Die Reflexion auf diese historischen Ursachen kann dann aber, wenn sie überzeugend ausfällt, selbst Gründe und Motive Gestalt annehmen lassen, an der Sozialform Kirche auch in der Gegenwart festzuhalten, an ihr aktiv teilzuhaben – und dies sogar bei aller Enttäuschung, ja Verzweiflung über ihre konkrete Gestalt in Ort und Zeit.
Darum also geht es in diesem Buch. Allerdings stellt es keine Monographie dar, sondern eine Sammlung von Aufsätzen, die das Thema nicht systematisch Schritt für Schritt behandeln, sondern eher umkreisen. Die meisten dieser Texte sind aus konkreten Anlässen heraus entstanden, über die hier kurz Auskunft gegeben werden soll; alle wurden für die Aufnahme in diesen Band mehr oder minder stark überarbeitet. Im Hintergrund all dieser Arbeiten steht aber durchgehend mein langfristiges Projekt, der sogenannten Säkularisierungstheorie, aber auch den großen und einflussreichen Geschichtserzählungen von einem welthistorischen Prozess der Entzauberung (wie bei Max Weber) oder der Weltgeschichte als einer fortschreitenden Selbsterkenntnis der göttlichen Vernunft (wie bei Hegel) oder der säkularen Vernunft (wie bei Habermas) historisch und systematisch eine Alternative entgegenzusetzen. Diese Alternative besteht in einer Globalgeschichte des moralischen Universalismus, d. h. der Einsicht in die Vielfalt religiöser und philosophischer Quellen eines Ethos, das sich auf die ganze Menschheit richtet. An dieser Stelle soll dazu nichts weiter gesagt werden, als dass damit das Christentum in ein Licht gerückt wird, das einen neuen Blick auch auf die Kirche erlaubt.8
Im ersten Aufsatz dieses Bandes soll dieser Zusammenhang von moralischem Universalismus und angemessener sozialer Organisation am direktesten angesprochen werden. In diesem Text, der auf eine Vorlesung an der Katholischen Universität Löwen in Belgien und auf die Feier zur Verabschiedung des langjährigen Direktors des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD Gerhard Wegner zurückgeht, wird grundsätzlich danach gefragt, ob der Bezug zur Transzendenz überhaupt organisierbar sei. Erst auf diesem Hintergrund, d. h. nach einer Vergewisserung des Sinns der Institution Kirche, kann dann sinnvoll auch nach Macht, Herrschaft und Gewaltenteilung in der Kirche gefragt werden. Diese Fragen stellen sich zwar in allen menschlichen Institutionen und Organisationen; sie stellen sich aber nicht überall in der Weise, die für die eigentlich politischen Institutionen typisch ist. Deshalb formuliere ich hier auch Vorbehalte gegen die Parole einer notwendigen Demokratisierung der Kirche.
Auf diesen Schüsseltext des Bandes folgt ein Kapitel, das in knapper Form meine Sicht auf das Scheitern der Säkularisierungs- und der Entzauberungs-»Prognosen« bilanziert und dies auch für einige grundsätzliche Überlegungen zu den Grenzen historischer Prognose überhaupt und insbesondere derjenigen auf dem Gebiet der Religion zum Anlass nimmt. Der Text »Problematische Prognosen« geht auf eine von Judith Könemann und Michael Seewald in Münster organisierte Tagung über »Wandel als Thema religiöser Selbstdeutung« zurück. Meine Überlegungen an dieser Stelle werfen die hier nicht weiter verfolgte Frage auf, wann eigentlich in der Geschichte des Christentums der Gedanke, es könne wieder untergehen, in der Antike zuletzt und in der »Moderne« zuerst aufgekommen sei. Für mehr als ein Jahrtausend war es – so meine Vermutung – trotz aller Bedeutung apokalyptischer Aussagen im Christentum nicht denkbar, dass die Welt weiterbestehen könnte, nachdem das Christentum wieder verschwunden wäre.9 Heute aber reden viele so, als sei unser Eintritt in ein »postchristliches« Zeitalter eine ausgemachte Sache.
Auf diese beiden Kapitel folgen der bereits früher veröffentliche Vortrag auf dem Ökumenischen Kirchentag 2003, in dem meine Überlegungen zu den Erfahrungen der Selbsttranszendenz anschaulich entwickelt wurden, sowie eine neue, bisher nur in schwedischer Sprache publizierte Arbeit. Verfasst als Festvortrag zum hundertjährigen Jubiläum der schwedischen katholischen Kulturzeitschrift »Signum« versucht dieser Text, noch deutlicher als der vorausgehende, den Sinn des christlichen Glaubens gegenüber dem Einfluss von Selbstoptimierungsideen in der Gegenwart abzugrenzen und daraus einige Konsequenzen für die kulturelle Rolle der Kirchen in der Gegenwart abzuleiten. Besonderer Nachdruck wird dabei auf den Zugang zu einer Sphäre von Erfahrungen gelegt, in denen die Individuen über die Grenzen ihres Selbst hinausgehen können, etwa in der Liturgie und im Zutritt zu »heiligen Räumen«. Religiöse Erziehung hängt auch in ihren rationalen Formen vom Zugang zu dieser Sphäre ab.
Das nächste Kapitelpaar verbindet zwei Texte, die mir besonders am Herzen liegen, die aber auf manche Leser auch irritierend wirken mögen. Das erste davon enthält den Text meiner an der Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 2015 gehaltenen Mosse Lecture zum Thema »Konversion«. Ich habe zu diesem Anlass eine Interpretation des großen, im Exil entstandenen »Erzählwerkes« von Alfred Döblin zur deutschen Revolution von 1918/19 vorgetragen, weil Döblin im Kontext seiner eigenen Konversion zum katholischen Christentum und im Licht seiner Emigrations- und Exilerfahrungen eine Sichtweise der politischen Geschichte Deutschlands in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt hat, die mir unerhört brisant zu sein scheint. Er fragt jenseits aller etablierten Formen des politischen Katholizismus oder überhaupt sich christlich nennender Politik danach, wie ein Mensch, der die Botschaft des Evangeliums durch und durch ernst nimmt und dabei genauso durch und durch ein Realist im Blick auf die Menschen sein will, sich in und zu dieser Geschichte hätte verhalten müssen. Döblin tut dies in einer von Anschaulichkeit geradezu strotzenden Prosa, hinter der alles analytische Sprechen notwendig zurückbleibt.
Der andere Text gilt der geistigen Entwicklung des vielleicht größten polnischen Philosophen im zwanzigsten Jahrhundert, Leszek Kołakowski. Er war als Marxist, Dissident vom Marxismus und Historiker des Marxismus einst sehr prominent und ist heute ein wenig in Vergessenheit geraten. Zwei Gründe sind es, die mich bewogen haben, ihm hier eine Studie zu widmen. Zum einen liest sich sein Weg vom stalinistischen Religionskritiker und Kirchenhasser in der Frühzeit des kommunistischen Polen Schritt für Schritt zu einer positiven Einschätzung des Christentums und dann sogar der Kirche wie ein Lehrstück über den Weg eines säkularen Denkers, der bei aller Skrupulosität und Authentizität bis hin zum Christentum oder zumindest in dessen Nähe führt. Kołakowski scheint mir seinen Weg in der hier interessierenden Hinsicht konsequenter gegangen zu sein als der heute ungleich mehr diskutierte Jürgen Habermas. In meinem Artikel zu seinem achtzigsten Geburtstag im Jahr 2007, um den mich die polnische katholische Wochenzeitung »Tygodnik Powszechny« gebeten hatte, hob ich hervor, dass dieser Weg von einem christentumsfernen zu einem christentumsnahen Denken hilfreich dabei ist, »eine neue Sprache« (so der damalige Titel) für den christlichen Glauben zu finden. Diese Motive konnte ich wegen der Vorgaben dort aber nur kurz anklingen lassen; erst hier finden sie sich deshalb jetzt genauer dargelegt. Zum anderen hat Kołakowski auf diesem Weg in den 1960er Jahren ein bis heute in Deutschland praktisch unbekanntes fundamentales historisches Werk über die Bestrebungen zu einem nichtkonfessionellen oder sogar nichtinstitutionellen Christentum in der Zeit zwischen Reformation und Aufklärung vorgelegt, das höchst instruktiv ist für die Frage »Warum Kirche?« und deshalb hier gründlichere Berücksichtigung verdient.
Das vierte Paar von Kapiteln ist auf die Grundidee dessen gerichtet, was in der Sprache der Philosophie als moralischer Universalismus bezeichnet wird. Es geht um die Idee universeller Menschenwürde, der gleichen Würde aller Menschen, die sie nicht durch irgendeine Leistung erworben haben und derer sie durch keine Missetat verlustig gehen können. Für viele Christen und Juden, aber auch für zahlreiche Nichtgläubige, liegt in dieser Idee das moralische und politische Ideal schlechthin – ein Ideal, dessen Untergang sie sich nicht vorstellen können und zu dessen Verteidigung sie entschlossen sind. Die Frage lautet dann aber, ob dieses universalistische Ideal und insbesondere auch seine Auswirkungen auf dem Gebiet sexualmoralischer Vorstellungen und Sensibilitäten den Kern einer neuen Religion – jenseits aller tradierten Religion – darstellen oder selbst nur im Zusammenhang mit eigenen, in diesem Sinne dann partikularen, religiösen oder nichtreligiösen Gestaltbildungen existieren soll und kann. Dem ist die erste Studie gewidmet, während die zweite, viel kürzere, ursprünglich von der deutschen Wochenzeitung »Die Zeit« angeregte, unter dem Eindruck krasser Verstöße gegen die Menschenwürde in der Folterpraxis der US-amerikanischen Kriegführung im Irak, gewissermaßen aus Erschütterung, verfasst wurde und danach fragt, ob denn die Vorstellung einer verbreiteten Durchsetzung des Ideals der Menschenwürde heute überhaupt noch als realistisch zu betrachten sei oder ob es sich bei ihr nur um eine Art Schönwetterphänomen handele, das sich in Krisenzeiten wie denen einer kriegerischen Auseinandersetzung rasch als illusorisch erweise.
Der Band wird abgeschlossen mit einer Auseinandersetzung, die auf mein kleines Buch von 2016 »Kirche als Moralagentur?« zurückgeht. Ich habe damals unter dem Eindruck der bedingungslosen Rechtfertigung einer liberalen Einwanderungspolitik durch die beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland nicht etwa ihre politische Rolle überhaupt infrage gestellt, wie mir verschiedentlich unterstellt wurde. Ich habe allerdings Vorbehalte gegen die Eindeutigkeit geäußert, mit der auf einem einzelnen Politikfeld christlich argumentiert wurde, und auf die Selektivität hingewiesen, mit der in der Migrationspolitik, aber z. B. nicht in Sachen Frieden und Abrüstung, aus dem Ethos des Evangeliums ohne große Vermittlung politische Konsequenzen abgeleitet wurden. Im ersten der beiden hier kombinierten Texte rufe ich meine Argumentation dazu in Erinnerung, um dann im zweiten auf die Stellungnahmen einiger der prominentesten Kritiker und Kommentatoren (von Annette Schavan bis Peter Dabrock) meiner Position einzugehen. Damit soll der zentrale Punkt meiner Argumentation deutlich gemacht werden, dass nämlich der moralische Universalismus nur unter der gleichzeitigen Berücksichtigung inkommensurabler partikularer Verpflichtungen gelebt werden kann. So wichtig der moralische Universalismus des Christentums für mein Verständnis von Kirche ist, so wenig darf Kirche nämlich zur bloßen Moralagentur werden, auch nicht im Namen einer universalistischen Moral.
Wie dieser Überblick zeigt, ist dieses Buch nicht ein Manifest zur Kirchenreform, kein Vademekum etwa für den Synodalen Weg in Deutschland. Das heißt natürlich nicht, dass ich keine Meinungen hätte zu den umstrittenen Fragen wie dem Priestertum der Frau, dem Pflichtzölibat der Priester, der Sexualmoral oder der Intransparenz kirchlicher Entwicklungsprozesse. An vielen Stellen in meinen Veröffentlichungen habe ich diese auch bereits vorgetragen oder zu erkennen gegeben.10 Aber nicht diese Meinungen und ihre Begründungen stellen das Spezifische dar, was ich in dieser emotional hoch aufgeladenen Krisensituation der Kirche beitragen möchte. Ich habe vielmehr die Hoffnung, dass die in diesem Buch vorgetragenen Überlegungen einen Beitrag leisten könnten, die Auseinandersetzungen zwischen Reformern und Bewahrern nicht einfach als Machtkampf zu führen. Nichts ist ja damit gewonnen, wenn eine der Seiten kurzfristig obsiegt, aber langfristig die Institution Schaden leidet. Das gemeinsame Ziel muss sein, alle institutionellen Fragen an den leitenden Idealen orientiert zu reflektieren und an der Aufgabe, die Kirche in ihrer Mission zur Verbreitung des Ideals universaler Menschenwürde zu stärken. Nur aus der verstärkten Orientierung an dieser Aufgabe können auch neues Selbstbewusstsein und neue Kraft gewonnen werden, nicht schon aus der Überwindung von Missständen, so wichtig diese ist. Wer die gegebenen institutionellen Formen nur verteidigt, ohne zeigen zu können, dass sie diesem Ideal gedient haben und dienen, aber auch wer sie ändern will und dabei als positives Modell nur die politische Demokratie anführt und keine auf den Sinn von Kirche bezogene eigene Leitvorstellung entwickelt, verfehlt in meiner Sicht die Aufgabenstellung. An diese soll hier erinnert werden, und das scheint geboten selbst dann, wenn keine volle Klarheit über den zukünftigen Weg besteht.
Gerade in Deutschland finden die Debatten über Kirche und Kirchenreform oft in einer Stimmung des drohenden Untergangs statt. Diese Stimmung kontrastiert sehr stark mit dem Befund, der sich aus der Globalisierung des Christentums ergibt, dass sich das Christentum nämlich, weltweit gesehen, gegenwärtig in einer der größten Expansionsphasen seiner ganzen Geschichte befindet.11 Logisch widersprechen sich europäische Schrumpfung und globale Expansion selbstverständlich nicht; das eine kann empirisch gleichzeitig mit dem anderen der Fall sein. Abschließend will ich aber noch kurz auf die Frage eingehen, ob es nicht doch – wie Inglehart behauptet – überzeugender ist, von einem globalen Niedergang der Religion in unserer Zeit zu sprechen. Ich beschränke mich dabei auf Bemerkungen zu den beiden großen Mächten der Gegenwart, deren welthistorische Kollision eine der großen Gefahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts darstellt: die USA und China. Holen die USA heute die europäische Säkularisierung mit epochaler Verzögerung nach? Wird China eine Weltmacht ohne Religion?
Für die Annahme, die USA holten heute die europäische Säkularisierung nach und bögen damit in den klassischen Weg von Modernisierung plus Säkularisierung ein, spricht die rapide Zunahme des Anteils von Menschen, die dort bei Befragungen angeben, keiner Religionsgemeinschaft anzugehören. Vor allem seit den früher 1990er Jahren ist diese Zunahme nicht mehr zu übersehen. Während der Anteil im Jahr 1997 z. B. zehn Prozent betrug, stieg er zehn Jahre später auf fünfzehn Prozent, erreichte im Jahr 2014 zwanzig Prozent12 und nach der jüngsten, im Dezember 2021 veröffentlichten Erhebung des Pew Research Center jetzt sogar neunundzwanzig Prozent. Was einst wie ein bloßer Rundungsfehler aussah, heißt es deshalb,13 ist dabei, ein Viertel der amerikanischen Bevölkerung auszumachen. Nun ist freilich der religionssoziologischen Forschung schon lange bewusst, dass es höchst riskant ist, Aussagen über Religiosität hauptsächlich auf Daten zur Mitgliedschaft in Kirchen und Religionsgemeinschaften zu stützen. Schließlich kann man Mitglied sein, ohne in irgendeinem ernsthaften Sinn dem Glauben eine orientierende Rolle für die eigene Lebensführung zuzusprechen. Umgekehrt kann man auch gläubig sein, ohne zum Zeitpunkt der Befragung einer religiösen Organisation anzugehören. Es ist deshalb von vornherein auszuschließen, die bloße Zunahme der Nichtmitglieder (»religiously unaffiliated«, »nones«) ohne weiteres als Zunahme unreligiöser oder gar antireligiöser Einstellungen zu interpretieren. Für eine solche weitergehende Aussage muss genauer aufgeschlüsselt werden, um welche Einstellungen und Verhaltensweisen in Hinsicht auf Religion und Religionsgemeinschaften es sich bei den »nones« überhaupt handelt. Ob eine solche Aufschlüsselung möglich ist, hängt dann allerdings von den in der jeweiligen Befragung überhaupt vorgegebenen Kategorisierungen ab. Als hilfreich haben sich dabei die Versuche erwiesen, immerhin zwischen entschiedenen Atheisten, Agnostikern und Menschen zu unterscheiden, die sich in puncto Religion als »nothing in particular« bezeichnen.
Geschieht dies, stellt sich eindeutig heraus, dass die Zahl der entschiedenen Atheisten nur etwa ein Fünftel aller religiös Ungebundenen in den USA ausmacht; jeder Versuch von organisierten Atheisten, als Sprecher aller religiös Ungebundenen anerkannt zu werden, ist deshalb zumindest in den USA nicht gerechtfertigt. Auch die Agnostiker haben einen ähnlich großen (bzw. kleinen) Anteil an dieser Gruppe. Mehr als die Hälfte der religiös Ungebundenen sind nämlich Menschen, die sich zwar gegenwärtig keiner spezifischen Religionsgemeinschaft zuordnen, aber keineswegs in ihren Einstellungen als areligiös bezeichnet werden können. Während mehr als ein Viertel der US-Amerikaner heute keiner Religionsgemeinschaft angehört, bestreitet nur ein wesentlich kleinerer Teil (nach manchen Befunden vier Prozent oder, wenn diejenigen hinzugezählt werden, welche die Frage nach Gott für nicht beantwortbar halten, also die »Agnostiker«, zehn Prozent) die Existenz Gottes. Die Gruppe der Ungebundenen ist nämlich in sich äußerst heterogen; zu ihr gehört fast die Hälfte aller US-Amerikaner asiatischer Abstammung, weil deren Traditionen sich der »Konfessionalisierung« des Glaubens entziehen, und ein wachsender Teil der schwarzen Unterschicht. Besonders eindrucksvoll ist der Befund, dass in einer kurzen Zeitspanne von vier Jahren (2010 bis 2014) jeder Vierte der Ungebundenen sich einer Religionsgemeinschaft anschloss, meist einer christlichen. Dies weist daraufhin, dass für einen beträchtlichen Teil der »nones« in den USA die Nichtzugehörigkeit nur eine vorübergehende Lebensphase darstellt. Das ist in anderen Ländern, in denen es gefestigte und schon über Generationen weitergegebene nicht- oder antireligiöse Überzeugungen gibt, sehr anders.
Doch soll damit nicht davon abgelenkt werden, dass die Zunahme der »nones« tatsächlich epochalen Charakter zu haben scheint. In der Literatur werden verschiedene Erklärungsfaktoren dafür ins Spiel gebracht, etwa die Abnahme von Eheschließungen und Elternschaft, da Menschen ohne Ehe und Kind doppelt so häufig keiner Religionsgemeinschaft angehören als die stärker Familiengebundenen. Am stärksten scheinen aber politische Einstellungen für die Veränderung verantwortlich zu sein. Seit den 1970er Jahren werden die christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften – die der sogenannten Mainline Protestants ebenso wie die der Evangelikalen und auch die katholische Kirche – in den USA immer mehr als Verbündete der politischen Rechten wahrgenommen, was dazu führt, dass sich Demokraten und Linksgerichtete immer weniger von ihnen repräsentiert fühlen. Von ihnen abgestoßen, entscheiden sich dann Menschen, ihren religiösen oder spirituellen Weg außerhalb dieser Organisationen weiterzugehen. Das ließe sich (in Anlehnung an den spanisch-amerikanischen Religionssoziologen José Casanova) als die Strafe bezeichnen, die droht, wenn christliche Kirchen und Gruppen einfach Teil der Kulturkämpfe werden, statt Orte zu ihrer Überwindung zu sein.
Es ist hier nicht der Ort, um diesen Problemen gründlich nachzugehen.14 Festgehalten werden muss aber, dass eine solche politische Erklärung für die abnehmende Bedeutung der Kirchen etwas anderes ist als die Erklärung aus Modernisierungsprozessen. Während die eine den Blick darauf lenkt, in einer einseitigen politischen Positionierung der Kirchen eine Ursache für ihren Glaubwürdigkeitsverlust auch unter Christen zu suchen, behandelt die andere die Schwächung der Kirchen als (begrüßens- oder bedauernswerte) unvermeidliche Folge wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Fortschritts.
Wer schließlich an China mit der Brille der Modernisierungstheorie herantritt, müsste eigentlich dort ein hohes Religiositätsniveau erwarten, ebenso wie ein niedriges für die USA. Die Befunde ergeben aber zunächst genau das gegenteilige Bild. Es ist ganz offensichtlich, dass für die Situation in China in dieser Hinsicht die jahrzehntelange Repression aller Religionen durch den kommunistischen Staat eine zentrale Rolle gespielt hat. Vor allem in der maoistischen »Kulturrevolution« war diese Repression so stark, dass schon triumphierend von der Überwindung aller Religion auf chinesischem Boden gesprochen werden konnte. Für diese Repressionspolitik spielte natürlich die marxistische Religionskritik und die Kontinuität mit der stalinistischen Politik in der Sowjetunion eine große Rolle, doch war das Ausmaß der Unterdrückung sogar stärker als in der Sowjetunion und in den europäischen kommunistischen Staaten. Um dies zu verstehen, muss man sich vergegenwärtigen, wie sehr in China die eigenen religiösen Traditionen schon von nichtkommunistischen Reformern im zwanzigsten Jahrhundert als Hindernisse für wirtschaftliche Modernisierung aufgefasst wurden, als bloße Kulte und Aberglaubensformen ungleich der institutionsbildenden Kraft des Christentums. Gerade in der Institution Kirche konnte man so die Stärke der Christen und des Westens begründet sehen. Bei den Kommunisten kam dann noch das Motiv des Kampfes gegen den Imperialismus hinzu. Wenn die eigenen religiösen Traditionen als Modernisierungshindernis, das Christentum aber als Werkzeug des westlichen Imperialismus und der Buddhismus mit seinen organisatorischen Strukturen als Werkzeug des japanischen Imperialismus erschienen, dann schien nur ein radikaler Säkularismus den Weg zur Wiedergeburt Chinas weisen zu können.
Nach dem Tod Maos, aber v. a. ab dem Anfang der 1980er Jahre, setzte in China eine epochale religiöse Revitalisierung ein, die mit einer ebenso epochalen ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Modernisierung einhergeht.15 Die Wiederbelebung der Religion betrifft die kultureigenen religiösen Traditionen ebenso wie das Christentum. Auf die vielfältigen Ausdrucksformen dieser Revitalisierung, auch ihre Bedeutung für ethnische Konflikte (Uiguren, Tibet) und die Unterschiede zwischen katholischer Kirche und protestantischen Freikirchen ist hier nicht einzugehen. Wenngleich die staatliche Repression auf religiösem Gebiet unter Xi Jinping wieder massiv zugenommen hat, wäre es falsch, diese heute als Zeichen für einen tief verwurzelten chinesischen Säkularismus zu deuten. Im Gegenteil: Es ist wohl angebracht, die Repression auf die Wahrnehmung einer wachsenden Attraktivität der Option des Glaubens in China zurückzuführen. Schon vor jeder Institutionalisierung steckt darin für viele Menschen das Potential zu einer über Geschichte und Politik hinausgehenden existentiellen Sinnsuche und Selbstvergewisserung, die schon als solches als bedrohlich für die gegebenen Machtstrukturen betrachtet werden kann. Auf institutioneller Ebene kollidieren dann die Ansprüche auf totale staatliche Kontrolle insbesondere mit denen von übernationalen religiösen Institutionen, sich eben dieser Kontrolle nicht zu unterwerfen. Die Frage, wie diese verschiedenen Ansprüche zu gewichten sind, stellt eine der großen historischen Herausforderungen der Gegenwart dar. Man hat die relative politische Widerstandslosigkeit des Konfuzianismus nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches 1911/12 auch darauf zurückgeführt, dass er eben keine Kirche kannte und damit ohne das Kaisertum zu einer »Seele ohne Körper«16 wurde. Es ist angebracht, die Frage nach dem Sinn der Institution Kirche auch in diese Zusammenhänge zu rücken.
Zum Schluss dieses Vorworts sei noch erwähnt, dass die Widmung dieses Buches zwei Menschen gilt, die die Katholische Akademie in Berlin zu einem der lebendigsten Orte des kulturellen und religiösen Gesprächs in der deutschen Hauptstadt und zu einem Treffpunkt aller, die bereit sind, einander zuzuhören, und mir persönlich zur Heimat gemacht haben. Voller Dankbarkeit und in Freundschaft widme ich Susanna Schmidt, Direktorin 1997 bis 2006, und Joachim Hake, Direktor seit 2007, dieses Buch.17
1 Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg 2004.
2 Pippa Norris/Ronald F. Inglehart, Sacred and Secular: Religion and Politics Worldwide, Cambridge 2004.
3 Zur Kritik vgl. etwa Daniel Silver, Religion without Instrumentalization, in: Archives européennes de sociologie 47 (2006), S. 421–434.
4 Ronald F. Inglehart, Giving Up on God. The Global Decline of Religion, in: Foreign Affairs 99 (2020), S. 110–118.
5 John Dewey, A Common Faith, New Haven 1934.
6 Hans Joas, Mutter Kirche, in: Herder Korrespondenz 75 (2021), 12, S. 15–16.
7 Hans Joas, Braucht der Mensch Religion?, (in diesem Buch S.77–79). Dieses Kapitel ebenso wie Kapitel 8 werden hier aus dem früheren Buch übernommen.
8 Für die genauere Beschäftigung mit meiner hier nur angedeuteten Forschung vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011; ders., Die Macht des Heiligen. Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung, Berlin 2017; ders., Im Bannkreis der Freiheit. Religionstheorie nach Hegel und Nietzsche, Berlin 2020 (in den beiden letztgenannten Büchern v. a. die Schlusskapitel).
9 Erste Überlegungen dazu bei Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg 2012, S. 29–34 und ders., Wann glauben Religionen an sich selbst?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.8.2015, S. 9.
10 So in Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, a. a. O. und in vielen kleineren Texten und Interviews.
11 So Philip Jenkins, The Next Christendom. The Coming of Global Christianity, Oxford 2002.
12 Zu vielen der im Folgenden auftauchenden quantitativen Angaben und zu ihrer statistischen Interpretation vgl. Ryan P. Burge, The Nones. Where They Come From, Who They Are, and Where They Are Going, Minneapolis 2021.
13 Ebd., S. 4.
14 Weiterführend Philip Gorski, Am Scheideweg. Amerikas Christen und die Demokratie vor und nach Trump, Freiburg 2020.
15 Einen äußerst anschaulichen Eindruck vermittelt das Buch des langjährigen amerikanischen China-Korrespondenten: Ian Johnson, The Souls of China. The Return of Religion After Mao, New York 2017.
16 Yu Yingshi, hier zitiert nach Ji Zhe, Religion, modernité et temporalité. Une sociologie du bouddhisme chan contemporain, Paris 2016, S. 46.
17 Dank gebührt außerdem Daniel Deckers für wertvolle inhaltliche und redaktionelle Hinweise zum gesamten Manuskript des Buches und meiner Mitarbeiterin Emma Sandner für ihre Hilfe bei der Beschaffung von Literatur und der Erstellung eines druckreifen Manuskripts.
»Kirchensoziologie« – dieser Begriff nahm seit den frühen 1960er Jahren in den Sozialwissenschaften und insbesondere in der Religionssoziologie immer mehr einen schlechten Klang an. Man verstand darunter zunehmend eine Art von Forschung, die sich angeblich zum bloßen Instrument der Kirchenleitungen machen ließ, indem sie etwa Daten sammelte und auswertete, die diese Leitungen benötigten, oder zur Rationalisierung der Organisationsstrukturen in den Kirchen beitrug. Diese Art von kirchensoziologischer Auftragsforschung diente aufstrebenden Vertretern des Faches als bloße Folie, gegen die sie ihre eigenen Projekte definierten, zum Beispiel Forschungen über neue Formen der Spiritualität, die sich außerhalb kirchlicher Institutionen identifizieren ließen. Für sich selbst nahmen diese Forscher einen weiteren Horizont und eine intellektuelle Unabhängigkeit in Anspruch, die sie den sogenannten Kirchensoziologen zugleich absprachen. Dieser Zerfall des Feldes in zwei Lager – das der Kirchensoziologen und das derjenigen, die (unter dem Einfluss von Thomas Luckmann) hauptsächlich Mikrophänomene des gegenwärtigen religiösen Lebens studierten und dabei von der Vorstellung einer immer weiter voranschreitenden Privatisierung der Religion geleitet wurden – hatte eine ironische Konsequenz: Beide Seiten vernachlässigten nämlich die Aufgabe, die Institution Kirche ganz grundsätzlich aus soziologischer Perspektive zu analysieren. Für die einen war »Kirche« schlicht die unbefragte Voraussetzung ihrer Arbeit; für die anderen hauptsächlich ein Relikt der Vergangenheit, das in naher Zukunft, spätestens im Jahr 2000, praktisch verschwunden sein würde – so der bekannte österreichisch-amerikanische Soziologe Peter Berger in einer Äußerung im Jahr 1968 in der »New York Times«, was er später sehr bedauerte und zurücknahm.1
Eine Soziologie der Kirche hat nun meines Erachtens, anders als eine rein praktisch orientierte Kirchensoziologie, zu ihrem Ausgangspunkt die Staunen erregende und zum Nachdenken zwingende Tatsache zu nehmen, dass es so etwas wie die Kirche überhaupt gibt. Wir nehmen es viel zu sehr als selbstverständlich hin, dass es in unserer Welt und trotz allem sozialen Wandel eine Institution gibt, die sich bei allen Konflikten und Spaltungen doch auf eine im Prinzip kontinuierliche Tradition von fast 2000 Jahren berufen kann. Auch diejenigen, denen diese Behauptung zu katholisch klingt und die den großen Bruch der Reformation betonen, werden zumindest die große Kontinuität der Institutionen seit der Reformation nicht in Abrede stellen. Niemand kann bestreiten, dass dies ein bemerkenswertes Phänomen ist; manche werden sich sogar versucht fühlen, darin eine Art Wunder zu sehen. Nur sehr wenige Staaten auf der Welt können eine ähnliche ununterbrochene Kontinuität für sich behaupten, am ehesten Japan und bis zu einem gewissen Grade China. Aber dies sind eben Staaten, d. h. politische Einheiten, die auf Macht und einem spezifischen Territorium beruhen. Diese Staaten haben zwar selbst eine religiöse Dimension, sind aber nicht religiöse Gemeinschaften mit einer über jedes begrenzte Territorium hinausreichenden, auf die gesamte Menschheit zielenden, in diesem Sinne universalistischen Orientierung. Es gibt zwar religiöse Traditionen von anhaltender Lebenskraft in der Welt, die älter sind als das Christentum, etwa den Buddhismus und das Judentum, aber diese haben bei aller Bedeutung des Mönchtums und der Klöster im Buddhismus und der Netzwerke von Synagogen im Judentum keine institutionelle Struktur ausgebildet, die mit der »Kirche« der Christen vergleichbar wäre. Man kann sogar sagen, dass überhaupt keine der sogenannten Welt- oder Universalreligionen eine ähnliche institutionelle Gestalt hervorgebracht hat, und von den Stammes- oder Nationalreligionen gilt dies wegen ihrer sozial begrenzten Reichweite ohnehin. Der Konfuzianismus hat keine selbständigen institutionellen Strukturen ausgebildet, was den organisierten Widerstand gegen die kommunistische Zwangssäkularisierung unter Mao praktisch unmöglich machte. Der Islam kennt bei aller Kraft zur Institutionenbildung und trotz Ansätzen zu klerikalen Strukturen in der Schia keine Kirche, und während man oft hören kann, ihm fehle eine Reformation, sagen andere, es fehle ihm vor allem das Papstamt und damit eine Instanz der autoritativen Zurückweisung willkürlicher Formen der Politisierung der Religion. Obwohl es durchaus gängig ist, von einer daoistischen »Kirche« in der Geschichte Chinas zu sprechen, wäre es abwegig, in ihr eine ähnliche universalistische Orientierung am Werk zu sehen, wie dies beim Christentum der Fall ist. Oft gibt es bei diesen religiösen Traditionen eine stärkere Fusion von Religion und Ethnizität als im Christentum – so bei Judentum und Hinduismus – oder von Religion und Imperium bzw. Staat – so traditionell im chinesischen Fall.
Trotz des Fehlens einer der christlichen Kirche ähnlichen Struktur in anderen Weltreligionen muss aber der erste Schritt zu deren historisch-sozialwissenschaftlichem Verständnis gerade darin bestehen, die Organisationsprobleme all derjenigen Religionen zur Kenntnis zu nehmen, die über ein bestimmtes Volk und einen bestimmten Staat hinaus auf alle Menschen zielen. So richtig es ist, »das Gesellschaftliche nicht aus dem Wesen der Religion aus(zu)klammern« und damit aller Religion notwendig auch Sozialgestalt zuzuschreiben, so sehr greift man doch zu kurz, wenn man damit schon das spezifische Organisationsproblem »universalistischer« Religionen wie des Christentums erfasst zu haben meint.2 Man spricht heute weniger von Weltreligionen als von nach-achsenzeitlichen Religionen. Damit ist in Anlehnung an Gedanken und die Begrifflichkeit des deutschen Philosophen Karl Jaspers3 gemeint, dass es in der Religionsgeschichte der Menschheit Durchbrüche zu einem Verständnis von Transzendenz und moralischem Universalismus gab, die diese Religionen von der einfachen Gleichsetzung mit bestimmten Völkern, Kulturen, Staaten oder Imperien abtrennten. Es kamen in all diesen Durchbrüchen Ideale auf, die sich vom Heldenethos der Stammesgesellschaften und dem kriegerischen Geist archaischer Imperien radikal unterschieden. Diese neuen Ideale etwa des Verzichts auf Gewalt ließen sich unter den gegebenen Bedingungen aber nicht verwirklichen; sie sind im Übrigen ja auch heute weit von ihrer Verwirklichung und vielleicht sogar prinzipiell von aller Verwirklichbarkeit entfernt. Eben deshalb aber, wegen der Schwierigkeit oder Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung, konnten diese Ideale nur bewahrt werden, wenn es Institutionen zu ihrer Bewahrung gab oder solche neu entstanden. Um die Ideale am Leben zu erhalten, um sie den Nachkommen weiterzugeben und weitere Menschen mit ihnen in Verbindung zu bringen, um die Mitglieder der so entstehenden Gemeinschaft zu schützen, um in gemeinsamen Ritualen die Ideale immer wieder neu zu verlebendigen und um Formen des Zusammenlebens zu ermöglichen, die sich in größerer Harmonie mit den Idealen befinden, als es die Lebensführung im Allgemeinen zulässt – aus all diesen Gründen bedurfte es neuer Institutionen, und dies angesichts der Schwierigkeiten, die Ideale zu verwirklichen oder sich eine Verwirklichung überhaupt nur durch menschliches Handeln vorzustellen. Das ist die soziologische Dynamik, die zur Entstehung des buddhistischen Mönchtums geführt hat und zur Entstehung philosophischer Schulen und »Akademien« um griechische und chinesische Weisheitslehrer herum.4 Wenigstens in einzelnen Hinsichten sind diese Institutionen funktionale Äquivalente für das, was Kirche im Christentum bedeutet. Während also nicht alle Weltreligionen eine Kirche ausgebildet haben, haben sie doch Organisationsformen hervorgebracht, die ihren Inspirationen entsprechen, und je mehr diese Inspirationen sie über die vorhandenen Sozialformen hinaustrieben, desto mehr.
An dieser Stelle werde ich die Spur des soziologischen interreligiösen Vergleichs freilich nicht weiterverfolgen. Ich beschränke mich vielmehr auf das Christentum. Auch innerhalb des Christentums ist nämlich die Kirche nicht die einzige soziale Organisationsform der Gläubigen. Mein Ziel wird es sein, der Sozialform Kirche im Vergleich mit diesen anderen Formen der sozialen Organisation der Christen ein deutlicheres Profil zu geben, dabei aber auch zu fragen, was die Kirchen von diesen anderen Sozialformen des Christentums lernen können.