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Die Kirchen in Deutschland können sich gegenwärtig nicht über einen Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit beklagen. Es lässt sich allerdings auch eine skeptische Haltung vor allem gegenüber der Institution Kirche feststellen. Wir befi nden uns in einer Lage, in der eine neue sozialwissenschaftliche und theologische Reflexion auf das, was Kirche ist, notwendig ist. Hans Joas geht der Frage nach: Ist Kirche bloß eine Moral-Agentur der Gesellschaft und sollte sie sich überhaupt als eine solche verstehen?
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Seitenzahl: 58
Hans Joas
Kirche als Moralagentur?
Kösel
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: Weiss Werkstatt München
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-19744-5V001www.koesel.de
Inhalt
Einleitung
Erneuerung aus (welchem?) Ursprung
Der Glaube in einer Welt der Optionen
Die Kirche und die Frage der sozialen Organisation der Gläubigen
Moralagentur Kirche?
Schluss
Anmerkungen und Literatur
Einleitung
Die Kirchen in Deutschland können sich gegenwärtig nicht über einen Mangel an öffentlicher Aufmerksamkeit beklagen. In der sogenannten Flüchtlingskrise seit Sommer 2015 sind sie durch spektakuläre Aktionen und Appelle aufgefallen, die ein breites Echo in der Öffentlichkeit gefunden haben. Nicht alle Aufmerksamkeit, die sich auf sie richtet, ist freilich von wohlwollenden Motiven geleitet. Obwohl etwa die Reaktionen der Medien und vieler Menschen in Deutschland auf den persönlichen Stil und die ersten Handlungen und Äußerungen von Papst Franziskus äußerst positiv ausfielen, wissen wir alle, wie rasch die Popularität öffentlicher Figuren auch wieder verlorengehen kann. Auf protestantischer Seite war es Wolfgang Huber jahrelang gelungen, in erstaunlicher Weise die Wahrnehmung höchster kirchlicher Ämter mit scharfsinnigen Einlassungen zu vielfältigen Themen der öffentlichen politischen und moralischen Debatten zu verknüpfen. Er wurde so – neben dem prononciert kirchenkritischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf – zum profiliertesten öffentlichen Intellektuellen des deutschen Protestantismus in unserer Zeit. Heinrich Bedford-Strohm, Hubers Nachfolger im Amt des EKD-Ratsvorsitzenden, tritt sehr bewusst in die Fußstapfen seines akademischen Lehrers und Vorbilds, während Margot Käßmann andere Bedürfnisse der Menschen anspricht als die des intellektuellen Disputs und damit andere Teile der Öffentlichkeit für sich einnimmt.
Neben dieser aufnahmebereiten, stark personenzentrierten Aufmerksamkeit lässt sich allerdings auch eine skeptische Haltung vor allem gegenüber der Institution Kirche feststellen, die sich in einer Bereitschaft zu Skandalisierungen äußert. Vor allem die katholische Kirche hat dies in den letzten Jahren – teils verdient, teils unverdient – stark erlebt. Die Aufdeckung zahlreicher Fälle sexuellen Missbrauchs und ihrer gewohnheitsmäßigen Vertuschung hat viele Menschen, gläubig oder nicht, tief erschüttert. Das Finanzgebaren des Bischofs von Limburg und die institutionelle Ermöglichung dieses Verhaltens haben viele von der Institution Kirche abgestoßen. Weitere Enthüllungen etwa über das Innenleben des Vatikans erscheinen als jederzeit möglich. Manche Kommentatoren gingen während des Pontifikats von Benedikt XVI. so weit, von der größten Krise der katholischen Kirche seit der Zeit der Reformation zu sprechen. Das erscheint allerdings als weit übertrieben und erstaunlich wenig geschichtsbewusst, d. h. vergesslich gegenüber existenzbedrohenden Krisen in der Zeit der Französischen Revolution, der Säkularisation, in Bismarcks »Kulturkampf« und vor allem während der Herrschaft von Nationalsozialismus und Kommunismus. Aber das Gefühl, dass die gesellschaftliche Verankerung der Kirchen durch Milieuerosion, Überalterung und Schrumpfung unsicherer geworden sei und deshalb jede Änderung der Windrichtung in der allgemeinen Öffentlichkeit beträchtliche Auswirkungen auf die Kirchenmitglieder und ihre Bereitschaft zur Zugehörigkeit hat, ist weitverbreitet und nicht unbegründet. Es besteht die Gefahr, dass sich die öffentliche Rolle der beiden großen Kirchen in Deutschland zunehmend in einem Missverhältnis befindet zu ihrer tatsächlichen Stärke. Ich glaube deshalb, dass eine Lage entstanden ist, in der eine neue sowohl sozialwissenschaftliche wie theologische Reflexion auf das, was Kirche bedeutet, angebracht ist. Diese muss alle interessieren, für die der religiöse Glaube mehr ist als ein individuelles Stärkungs- und Trostmittel. So wird er zwar von denjenigen vorwiegend empfunden, die sich heute als »unkirchlich, aber nicht unreligiös« definieren. Wenn aus dem Glauben aber etwas für das Handeln gegenüber anderen Menschen folgen soll und wenn der Glaube vielleicht ohne andere Menschen, die ihn teilen, gar nicht dauerhaft gelebt werden kann, dann stellt sich unweigerlich die Frage nach der richtigen sozialen Organisationsform der Gläubigen. Mit kritischer Distanz zur Kirche, wie sie ist, ist es dann nicht getan. Vielleicht gibt es ja überlegene soziale Organisationsformen, die dann erörtert werden müssten. Weil weiterhin biblisch gestützte lehramtliche oder theologische Bestimmungen dessen, was Kirche sei, oft nur ein Ideal aufrichten und sich zu wenig um das Maß der gelungenen Verwirklichung dieses Ideals kümmern, müssen auch die Sozialwissenschaften notwendig korrigierend mit ins Spiel kommen.
Leitend für die folgenden Überlegungen ist die Frage nach der Stellung der Kirchen zur Moral der Gesellschaften, in denen sie sich befinden, und zur Rolle der Moral in ihrer Verkündigung und öffentlichen Präsenz – ob Kirche eine Moralagentur der Gesellschaft sei, ihr diese Aufgabe angetragen werde und sie sich selbst als solche verstehen solle. Ich werde – so viel sei vorweggenommen – eine sehr skeptische Antwort auf diese Fragen geben. Der Weg dahin beginnt mit einer kurzen Darlegung des normativen Bezugsrahmens meiner Überlegungen und führt dann über eine knappe Erläuterung dessen, worin ich das wichtigste Kennzeichen der religiösen Situation der Gegenwart sehe, zur eigentlichen und an dieser Stelle zentralen Reflexion auf die Sozialgestalt Kirche. Aus diesen drei Gedankengängen versuche ich dann die Antwort auf die Leitfrage zu gewinnen. Der Schluss fasst die verschiedenen Argumentationsstränge pointiert zusammen und erklärt, warum eine Moralisierung oder Politisierung der christlichen Botschaft und der Aufgabenstellung der Kirchen mir nicht als angemessene Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart erscheint.
Erneuerung aus (welchem?) Ursprung
Für katholische Christen liegt es nahe, zur Klärung ihres normativen Bezugsrahmens auf das Zweite Vatikanische Konzil (1962 – 65) zurückzugehen. Es brachte bedeutende Texte zum Selbstverständnis der Kirche in der Welt der Gegenwart hervor, von »Lumen Gentium« zu »Gaudium et Spes«, einschließlich »Dignitatis Humanae« und »Nostra Aetate«1. Ein halbes Jahrhundert später lässt sich freilich die Frage nicht umgehen, warum die Wirklichkeit der katholischen Kirche sich weiterhin stark von dem unterscheidet, was in diesen Dokumenten artikuliert und versprochen wurde. Die verbreitete Begeisterung über die Konzilstexte könnte auch ein Ausdruck des Unmuts oder der Verzweiflung über das sein, was seit dem Konzil mit der Kirche geschah oder nicht geschah. Sozialwissenschaftler sind aufgerufen, Erklärungen zu suchen für die offensichtliche Diskrepanz zwischen dem Geist des Konzils und den harten Wirklichkeiten der postkonziliaren Kirche.
Die einfachste mögliche Erklärung besteht darin, dem Konzil selbst insofern die Verantwortung aufzubürden, als es seine Vision der Kirche nicht in ein klares und machbares Programm institutioneller Reformen übersetzte. Eine der grundlegenden Lehren der Organisationssoziologie bestätigt die menschliche Erfahrung, dass institutionelle Strukturen eine Trägheit aufweisen, die sich gegenüber vollmundigen Deklarationen von Leitbildern widerständig auswirkt. Nach einer Phase der Unruhe stabilisieren sich die alten Strukturen leicht wieder. Die Ansätze zu ihrer Umformung, die es gegeben haben mag, werden dann oft wieder zurückgedrängt. Über ein eigenes Exekutivorgan verfügte das Konzil ohnehin nicht, und der Kurienreform, die Papst Paul VI. nach Beendigung des Konzils in Angriff nahm, war kein großer Erfolg beschieden.2