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Dieses Buch gibt einen einzigartigen Überblick über die Entwicklung der Sozialtheorie von 1945 bis heute. Nach einer ausführlichen Behandlung des Versuchs von Talcott Parsons, das Erbe der Klassiker Weber und Durkheim zu einer Synthese zusammenzuführen, werden die produktiven Widerstände gegen diesen Versuch (etwa Rational Choice und Symbolischer Interaktionismus) dargestellt. Danach geht es um die großen neuen Syntheseentwürfe seit etwa 1970 (Habermas, Luhmann, Giddens), aber auch um die kritische Fortführung der Modernisierungstheorie (Eisenstadt), Strukturalismus, Poststrukturalismus, Antistrukturalismus (Touraine), Feminismus, neue Diagnosen einer Krise der Moderne, den Neopragmatismus und die wichtigsten Aufgaben gegenwärtiger Arbeit. Das Buch behält den Duktus von Vorlesungen bei und liegt nun in einer aktualisierten Neuauflage vor. Eine vorzügliche Einführung für Studierende und fachfremde Leser.
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Seitenzahl: 1363
Dieses Buch gibt einen Überblick über die Entwicklung der Sozialtheorie seit 1945 und ihren heutigen Stand, wie er so bisher nicht vorliegt. Als Sozialtheorie wird dabei der Kern sozialwissenschaftlicher Theoriebildung bezeichnet, der sich von politischer Theorie und Kulturtheorie deutlich abheben läßt. Nach einer ausführlichen Behandlung des Versuchs von Talcott Parsons, das Erbe der Klassiker Max Weber und Émile Durkheim zu einer Synthese zusammenzuführen, werden die produktiven Widerstände gegen diesen Versuch (wie Rational Choice und Symbolischer Interaktionismus) dargestellt. Danach geht es um die großen neuen Syntheseentwürfe seit etwa 1970 (Habermas, Luhmann, Giddens), aber auch um die kritische Fortführung der Modernisierungstheorie (Eisenstadt), den Strukturalismus, Poststrukturalismus, Antistrukturalismus (Touraine), Feminismus, neue Diagnosen einer Krise der Moderne, den Neopragmatismus und die wichtigsten Aufgaben gegenwärtiger Arbeit. Aus dem akademischen Unterricht in Deutschland und den USA hervorgegangen, behält das Buch den Duktus von Vorlesungen bei. Es ist damit auch als Einführung für Studierende und fachfremde Leser geeignet. Es liegt nun in einer aktualisierten und mit einem neuen Vorwort versehenen Ausgabe vor.
Hans Joas ist Max-Weber-Professor und Leiter des Max-Weber-Kollegs für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien an der Universität Erfurt sowie Professor für Soziologie und Social Thought an der University of Chicago.
Wolfgang Knöbl ist Professor für Soziologie an der Universität Göttingen.
Von ihnen ist im Suhrkamp Verlag außerdem erschienen: Kriegsverdrängung. Ein Problem in der Geschichte der Sozialtheorie (stw 1912)
Hans JoasWolfgang Knöbl
Sozialtheorie
Zwanzig einführendeVorlesungen
Aktualisierte, mit einem neuen Vorwort versehene Ausgabe
Suhrkamp
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2004, Berlin 2011 (Vorwort)
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
eISBN978-3-518-73212-0
www.suhrkamp.de
3Inhalt
Vorwort zur dritten Auflage
5
Einleitung
7
Erste Vorlesung
Was ist Theorie?
13
Zweite Vorlesung
Der klassische Versuch zur Synthese:Talcott Parsons
39
Dritte Vorlesung
Parsons auf dem Weg zumnormativistischen Funktionalismus
72
Vierte Vorlesung
Parsons und die Ausarbeitung des normativistischen Funktionalismus
117
Fünfte Vorlesung
Neo-Utilitarismus
143
Sechste Vorlesung
Interpretative Ansätze (1):Symbolischer Interaktionismus
183
Siebte Vorlesung
Interpretative Ansätze (2):Ethnomethodologie
220
Achte Vorlesung
Konfliktsoziologie/-theorie
251
Neunte Vorlesung
Habermas und die KritischeTheorie
284
Zehnte Vorlesung
Habermas’ ›Theorie deskommunikativen Handelns‹
315
Elfte Vorlesung
Niklas Luhmanns Radikalisierungdes Funktionalismus
351
Zwölfte Vorlesung
Anthony Giddens’ Theorie derStrukturierung und die neuere britische Machtsoziologie
393
Dreizehnte Vorlesung
Die Erneuerung des Parsonianismusund der Modernisierungstheorie
430
4Vierzehnte Vorlesung
Strukturalismus und Poststrukturalismus
474
Fünfzehnte Vorlesung
Zwischen Strukturalismus und Theorieder Praxis – die KultursoziologiePierre Bourdieus
518
Sechzehnte Vorlesung
Französische Anti-Strukturalisten(Cornelius Castoriadis, Alain Touraine,Paul Ricœur)
558
Siebzehnte Vorlesung
Feministische Sozialtheorien
598
Achtzehnte Vorlesung
Modernitätskrise? Neue Diagnosen(Ulrich Beck, Zygmunt Bauman,Robert Bellah und die Debattezwischen Liberalen undKommunitaristen)
639
Neunzehnte Vorlesung
Neopragmatismus
687
Zwanzigste Vorlesung
Die gegenwärtige Lage
726
Literaturverzeichnis
767
Sachregister
802
Namenregister
812
5Vorwort zur dritten Auflage
Mit großer Freude nehmen wir zur Kenntnis, daß der Suhrkamp Verlag sich entschlossen hat, eine revidierte Neuauflage unseres Buches Sozialtheorie herauszubringen. Wir fassen dies als ein Anzeichen dafür auf, daß das Buch sein Publikum in Deutschland gefunden hat.
Die neue Auflage ist in drei Hinsichten verändert. Wir haben erstens an einigen Stellen, die sich als mißverständlich erwiesen, unsere Formulierungen präzisiert. Wir haben zweitens der traurigen Pflicht Genüge getan, bei allen seit dem ersten Erscheinen unseres Buches verstorbenen, in diesem Buch behandelten Autoren das Sterbejahr einzutragen. Und wir haben drittens im Schlußkapitel eine beträchtliche Erweiterung vorgenommen, nämlich eine lange Passage zu John W. Meyer und seiner Stanford-Schule eingefügt (diese Erweiterung ist in der 2009 bei Cambridge University Press erschienenen englischsprachigen Ausgabe bereits enthalten). Zweifellos wären viele zusätzliche Erweiterungen denkbar. In fast jeder bisher erschienenen Rezension wird der Wunsch nach zusätzlichen Darstellungen oder anderen Gewichtungen artikuliert. Wir bleiben aber dabei, die Akzente wohlerwogen gesetzt zu haben; an eine breitere Aktualisierung des Schlußkapitels ist deshalb erst in einigen Jahren zu denken.
Hans Joas/Wolfgang Knöbl
67Einleitung
Dieses Buch geht auf Vorlesungen zurück, die einer der beiden Autoren (Hans Joas) ursprünglich für eine Gastprofessur an der University of Chicago 1985 konzipiert und seither regelmäßig gehalten hat. Zuerst waren Ende der 1980er Jahre Studierende der Universität Erlangen-Nürnberg die Zuhörer, dann mehr als ein Jahrzehnt lang Studierende der Freien Universität Berlin, außerdem in einzelnen Semestern Studierende verschiedener amerikanischer und europäischer Universitäten. Der jüngere Autor (Wolfgang Knöbl) war in verschiedenen Stufen seiner akademischen Karriere an der Durchführung und ständigen Verbesserung beteiligt: als Student in Erlangen, als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Assistent in Berlin und New York, nun als Kollege an der Universität Göttingen.
Es bedarf keiner Erwähnung, daß sich die Konzeption dieser Vorlesungen im Laufe der Zeit beträchtlich veränderte – und dies nicht nur wegen der selbstverständlichen Notwendigkeit ständiger Aktualisierung, sondern auch in Reaktion auf die Bedürfnisse und Verständnisprobleme der Zuhörer sowie die sich fortentwickelnden eigenen Theorieprojekte der Autoren. Es scheint uns jetzt aber ein Punkt erreicht, an dem wir uns unserer Konzeption und unseres Überblicks so sicher sind, daß wir es wagen dürfen, die Grenzen des Hörsaals zu überschreiten und an ein Lesepublikum heranzutreten. Wir hoffen, mit diesem Überblick den Bedürfnissen der Studierenden sozialwissenschaftlicher Fächer ebenso zu genügen wie denen fachfremder Leser, die gerne verstehen möchten, was sich seit etwa dem Ende des Zweiten Weltkriegs international auf dem Gebiet einer Theorie des Sozialen getan hat und tut.
Wir haben zum Zwecke der Verständlichkeit den Duktus mündlicher Vorlesungen in der Schriftform weitgehend beibehalten. Unser Vorbild waren dabei so ausgezeichnete philosophische Werke wie Ernst Tugendhats Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie und Manfred Franks Vorlesungen Was ist Neostrukturalismus?. Auch auf einem Themengebiet, das dem unseren näher liegt, gibt es ein vergleichbares Werk: Jeffrey Alexanders Twenty Lectures: Sociological Theory since World War II. Wir folgen Alexanders Vorbild nicht nur in der Zahl der Vorlesungen, sondern auch in der Vorschaltung eines wissenschaftstheoretischen ersten Kapitels. Wir 8stimmen mit Alexander zudem darin überein, daß sich die Theorie-Entwicklung nach 1945 in drei große Phasen einteilen läßt: zunächst die Zeit einer Dominanz des Werks von Talcott Parsons und einer heute als konventionell empfundenen Modernisierungstheorie, dann die Phase eines Verlusts dieser Dominanz und des Zerfalls in konkurrierende, sich teilweise sogar heftig befehdende und dabei auch politisch-moralisch argumentierende »Ansätze«, vornehmlich Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, und seither die Entstehung eines – wie Alexander sagt – »new theoretical movement«, d. h. das Aufsprießen ehrgeiziger Theoriesynthesen, teils auf dem Boden der konkurrierenden Ansätze, teils aus neuartigen Motiven.
Hier endet aber unsere Übereinstimmung mit Alexander. Es ist deshalb auch nur in den ersten acht Vorlesungen eine thematische Überlappung mit seinem Buch vorhanden. Alexanders Werk ist nämlich völlig amerika-zentrisch und auf eine quasi-historische Rechtfertigung seines eigenen neo-parsonianischen Syntheseversuchs ausgerichtet (zur Kritik vgl. Joas, Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, S. 223-249, v. a. S. 246-248). Da sich gerade auf theoretischem Gebiet aber seit 1970 die Gewichte sehr stark in Richtung Europa verlagert haben und die ehrgeizigsten und fruchtbarsten Versuche aus Deutschland (Habermas, Luhmann), Frankreich (Touraine, Bourdieu) und England (Giddens, Mann) kamen, war Alexanders Darstellung schon in ihrem Erscheinungsjahr (1987) ungenügend und ist es jetzt erst recht. Wir haben uns allerdings darum bemüht, in unserem Buch die umgekehrte Einseitigkeit zu vermeiden. Deshalb finden sich hier die Selbstrevisionen und Weiterentwicklungen der Modernisierungstheorie und des Parsonianismus ebenso behandelt wie die Renaissance des Pragmatismus und die Entstehung des Kommunitarismus – alles zu beträchtlichen Teilen intellektuelle Produkte Nordamerikas.
Der Anspruch auf Vollständigkeit, Proportionalität und Fairneß, der in diesen Bemerkungen zum Ausdruck kommt, weist schon darauf hin, daß wir sehr wohl den Einsatz dieses Buches in der akademischen Lehre mit im Auge haben. Dennoch ist dieses Buch kein Lehrbuch im strengen Sinn. Es präsentiert nicht gesichertes Wissen in neutraler Form. Wie in der Philosophie gibt es in der Theorie der Sozialwissenschaften, insbesondere wenn sie über das Empirisch-Explanatorische hinausgeht, in dem ja auch Gewißheitsansprüche oft frustriert werden, keine Gewißheit. Und hinsichtlich der Neu9tralität kann auf diesem Gebiet nur gelten, daß fair und umfassend argumentiert wird, nicht aber, daß auf eine eigene theoretische Perspektive verzichtet würde. Wir scheuen deshalb Kritik und Wertung keineswegs. Im Gegenteil verstehen wir dieses Buch durchaus als Teil unserer Arbeit an einer gegenwartsadäquaten umfassenden Sozialtheorie – aber eben als umfassende Verständigung über die vorhandenen Leistungen, Probleme und Aufgaben in diesem Zusammenhang.
Wir haben dieses Buch nicht so benannt wie die zugrundeliegenden Vorlesungen meist hießen, nämlich »Moderne soziologische Theorie«. Dieser Titel paßte zwar ins Curriculum soziologischer Studiengänge, traf aber von jeher nicht die Einbeziehung von Gedankengängen und Wissensbeständen (wie Strukturalismus und Pragmatismus), die im wesentlichen außerhalb der Soziologie beheimatet sind. Das Kriterium für die Berücksichtigung war immer schon ein anderes als das der disziplinären Zugehörigkeit, nämlich das eines Beitrags zu einer Theorie des Sozialen. Da im Deutschen – im Unterschied zum Englischen – der Begriff der »Sozialtheorie« aber ein Neologismus ist, bedarf unsere Entscheidung der Begründung.
Eine Begriffsgeschichte der Verwendung von »social theory« im Englischen liegt uns nicht vor. Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts scheint der Begriff schon ohne weitere Rechtfertigung gebraucht worden zu sein. Er ist dabei einerseits, ähnlich wie der Begriff »social thought«, ohne genauere Bestimmung für ein Gebiet des Denkens verwendet worden, das später die Soziologie für sich reklamierte. Somit bezeichnete er verallgemeinerte Aussagen über soziale Zusammenhänge bzw. über Regelmäßigkeiten des sozialen Lebens. Er hat andererseits aber als Selbst- und Fremdbezeichnung eine Art des Denkens benannt, das den »Individualismus« attackierte oder doch über diesen hinausgehen wollte. Damit war »social theory« gegen zentrale Prämissen ökonomischen, politischen und psychologischen Denkens in der angelsächsischen Welt gerichtet; impliziert war hier eine spezifische theoretische Sichtweise auf kulturelle und soziale Prozesse, die freilich nicht ein für allemal geklärt war, sondern über die es immer auch theoretische Auseinandersetzungen gab. Da ein solcher individualismuskritischer Impuls, mithin eine je spezifische Herangehensweise an soziale Sachverhalte, auch die Disziplin Soziologie im Prozeß ihrer Institutionalisierung wesentlich prägte, 10scheint man zunächst die Spannung zwischen den beiden Verwendungsweisen – auf der einen Seite ein Theoriebegriff, der auf empirische Gegenstände abzielte, auf der anderen Seite einer, der die adäquate Zugangsform zum Phänomen des Sozialen zum Thema hatte – nicht stark empfunden zu haben.
Mit der Etablierung des Fachs und vor allem mit seiner stärkeren Professionalisierung mußte diese Spannung aber immer klarer erkennbar werden. Von der professionell betriebenen und empirisch ausgerichteten Soziologie aus gesehen meinte Theorie vornehmlich »empirische Theorie«, d. h. eine hohe Generalisierungsebene explanatorischer Aussagen (vgl. die Erste Vorlesung zur näheren Erläuterung). Normative Stellungnahmen und orientierende Sinndeutungen sollten aus einem solchen als eng zu bezeichnenden Theorieverständnis eher herausgedrängt werden. Das Unternehmen Theorie, nun in einem weiteren Sinn begriffen, kam aber sogar zur Zeit der Dominanz solcher Auffassungen nie zum Stillstand. Zumindest im Sinne einer Hypothesenquelle und zum Zweck einer historischen Selbstvergewisserung der Identität des Faches wurde eine solcherart verstandene Theorie stets als nützlich erachtet. Und genau einem solchen Theorieverständnis werden sich unsere Vorlesungen dann auch widmen. Dafür gibt es gute Gründe.
Denn nicht nur hat sich das Verständnis der Rolle von Theorie in den Wissenschaften generell in den letzten Jahrzehnten beträchtlich verändert (auch dazu näher die folgende Erste Vorlesung). Es entstanden auch in benachbarten Feldern neue Konkurrenten. So hat sich der Bereich »politische Theorie«, in dem normative Fragen des menschlichen Zusammenlebens in wohlgeordneten, guten und gerechten Gemeinwesen erörtert werden, fest etabliert; Arbeiten auf diesem Gebiet können häufig mit beträchtlicher öffentlicher Aufmerksamkeit rechnen. Und aus den Kulturwissenschaften ist in allerdings sehr vagem Umriß eine »Kulturtheorie« zumindest als Diskursfeld erwachsen, in der ebenfalls Fragen von beträchtlichem normativen Interesse – etwa zu den Geschlechterbeziehungen oder zu internationalen kulturellen Beziehungen – einen Ort finden. Eine sich auf ihren rein empirisch-explanatorischen Charakter versteifende soziologische Theorie muß gegenüber diesen Konkurrenten ins Hintertreffen geraten.
Dem gilt es entgegenzuarbeiten, weil sich ansonsten zwei negative Konsequenzen bemerkbar machen. Zum einen führte ein zu enges 11Theorieverständnis schon im Fach Soziologie selbst zu einer Isolierung der theoretischen und der empirischen Arbeit voneinander, die beiden Seiten nur schaden und den Zusammenhalt des Faches sogar gefährden kann. Zum anderen geriete damit das enorme Potential, das die soziologische Tradition seit Max Weber, Emile Durkheim und George Herbert Mead enthält, in der breiteren Öffentlichkeit und im Gespräch der Fakultäten miteinander ins Abseits, statt im Sinne einer überwölbenden Konzeption, die auch politische und kulturelle Dimensionen einbezieht, ernst genommen zu werden. Mit der Bezeichnung »Sozialtheorie« wird sicher ein solcher überwölbender Anspruch erhoben – was nicht heißt, daß unser Buch diesen völlig realisiert. Es geht uns hier mehr um die Blickrichtung, nicht um ein abschließendes Wort.
Wegen der prekären Stellung der »Sozialtheorie« im Geflecht der akademischen Disziplinen werden neuerdings Stimmen laut, die dafür eintreten, diese als eigene Disziplin zu institutionalisieren; die intellektuelle Reife habe diese Disziplin in statu nascendi bereits (vgl. hierzu das Plädoyer von Stephen Turner, »The Maturity of Social Theory«). Diese Absicht teilen wir nicht, im Gegenteil. Eine solche Trennung würde unseres Erachtens die wechselseitige Ignoranz von Sozialtheorie und sozialwissenschaftlicher Empirie, die wir als Gefahr empfinden, geradezu zementieren. Ohne empirische Fundierung und Kontrolle ginge aber eben das verloren, was die Sozialtheorie von der Philosophie einerseits, dem bloßen Meinungsaustausch andererseits unterscheidet.
Wir haben uns für den Begriff »Sozialtheorie« auch deshalb entschieden, weil uns der mehr im Deutschen als im Englischen übliche Begriff der »Gesellschaftstheorie« Unbehagen bereitet. Mit diesem Begriff wurden oft gegenüber der soziologischen Theorie eher linke, »kritische« normative Dimensionen annonciert. Doch ist, wie etwa in unserer Zwölften Vorlesung ausführlicher argumentiert werden wird, der Begriff der Gesellschaft untergründig so sehr mit dem einer nationalstaatlich verfaßten und territorial klar umgrenzten Ordnung verknüpft, daß er immer schon voraussetzungsreich war und heute, da diese Voraussetzungen offen zutage liegen, endgültig problematisch geworden ist. Auch das Verständnis nationalstaatlich verfaßter Gesellschaften muß wie das aller Gesellschaften in einer Theorie des Sozialen allererst fundiert werden.
Unser Buch beschäftigt sich im wesentlichen mit der Entwick12lung der Sozialtheorie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Unser Ausgangspunkt ist dabei ein Werk, das wenige Jahre vor diesem großen historischen Einschnitt erschien, Talcott Parsons’ The Structure of Social Action von 1937. Auf die Klassiker der soziologischen Tradition, deren großes Potential wir gerade hervorgehoben haben, gehen wir damit nicht ausführlich ein. Wer diese kennenlernen will, muß zu anderen Büchern greifen. Es wird aber deutlich werden, daß ihre Gedankengänge deshalb in diesem Buch keineswegs ignoriert werden. Sie sind vielmehr ständig präsent: in Parsons’ Werk, das ja eben eine Synthese der soziologischen Klassiker zu sein beanspruchte, und als selektiver Gesichtspunkt bei allen folgenden Autoren. Die Klassiker heißen eben deshalb Klassiker, weil sie sich kontinuierlich als fruchtbar, ja unerschöpflich erwiesen haben. Wer sie oder weitere Elemente ihres Werks für unausgeschöpft hält, darf aber nicht einfach auf sie zurückgreifen; er muß den historischen Abstand selbst reflektieren und ihr Potential in die heutige Theoriearbeit einführen. Aus der Arbeit an gegenwärtigen Problemlagen und aus immer neuen schöpferischen Rückgriffen auf ältere Theorien erwächst die Dynamik der »Sozialtheorie«, für die wir mit diesem Buch gerne Begeisterung wecken würden.
Wir bedanken uns sehr herzlich bei allen Freunden, Kollegen und Mitarbeitern, die eine vorläufige Fassung des Manuskripts gelesen und kritisch kommentiert haben. Wir haben versucht, nach Kräften den Verbesserungsvorschlägen zu entsprechen. Der Dank gilt Frank Adloff, Jens Beckert, Sibylle Kalupner, Christoph Liell, Nora Lindner, Katja Mertin, Gabriele Mordt, Florian von Oertzen, Hans-Joachim Schubert, Peter Wagner, Harald Wenzel, Patrick Wöhrle und Heinrich Yberg. Die größten Verdienste erwarb sich Bettina Hollstein (Erfurt), die in außerordentlicher Präzision innere Unstimmigkeiten aufspürte und durch ihre Vorschläge zu deren Überwindung beitrug.
13Erste Vorlesung Was ist Theorie?
Wenn wir unsere Vorlesungsreihe zur modernen Sozialtheorie mit dem Thema »Was ist Theorie?« beginnen, so mag das auf Verwunderung stoßen. Schließlich haben ja nicht wenige von Ihnen Veranstaltungen zu den Klassikern der soziologischen Theorie – etwa zu Emile Durkheim, George Herbert Mead oder Max Weber – besucht, ohne daß die Frage nach dem »Wesen« von Theorie zum Thema gemacht worden wäre. Zu Recht wurde dort davon ausgegangen, daß Sie bereits ein intuitives Verständnis von »Theorie« haben oder dieses bald entwickeln werden. Jedenfalls dürften Sie spätestens jetzt in der Lage sein, die bei Weber, Mead oder Durkheim doch so unterschiedlichen Herangehensweisen an die soziale Wirklichkeit zu charakterisieren: Weber hat bekanntlich den Staat oder politische Phänomene unter völlig anderen Aspekten beschrieben als Durkheim, dieser hatte also eine ganz andere theoretische Auffassung vom Wesen des Politischen als jener, obwohl sich beide bei ihren soziologischen Beschreibungen auf den gleichen empirischen Tatbestand bezogen; Mead hatte offensichtlich eine deutlich andere Auffassung vom sozialen Handeln als Weber, obwohl beide zum Teil ähnliche Begriffe gebrauchten usw. usf. Alle diese Autoren machten also unterschiedliche Theorien (Plural!) zur Grundlage ihrer soziologischen Beschreibungen. Ist man damit aber nicht schon der Lösung der Frage nach dem »Wesen« von Theorie einen entscheidenden Schritt nähergekommen? Wenn man nämlich all diese Theorien miteinander vergleichen, ihre Gemeinsamkeiten herausarbeiten, also den kleinsten gemeinsamen Nenner finden würde, wäre man dann – so die Vermutung – nicht schon bei einem adäquaten Verständnis von Theorie (Singular!) angelangt? Durch einen solchen Vergleich hätte man ja quasi die formalen Bausteine dessen, was eine (soziologische) Theorie ausmacht, was Sozialtheorie tatsächlich ist!
Leider erweist sich aber die hiermit anvisierte Lösung des Problems als nicht sehr fruchtbar, denn die Soziologie ist seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert eine wissenschaftliche Disziplin, in der es nie zu einem völlig stabilen Konsens über Gegenstand und Aufgaben des Fachs gekommen ist. Auch über die zentralen Begriffe war man sich nie wirklich einig, so daß es nicht verwundern kann, 14wenn auch über das jeweils »richtige« Verständnis von Theorie heftig gestritten wurde. Kontrovers war etwa das Verhältnis zwischen Theorie und empirischer Forschung, weil bestimmte Sozialwissenschaftler annahmen, daß uns erst die intensive empirische Arbeit den Weg zu einer vernünftigen sozialwissenschaftlichen Theorie ebnen würde, wohingegen andere behaupteten, daß empirische Forschung ohne vorhergehende, umfassende theoretische Reflexionen bestenfalls sinnlose, schlimmstenfalls aber falsche Resultate liefern würde. Höchst unterschiedliche Auffassungen bestanden auch hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Theorien und Weltbildern: Während die einen betonten, daß soziologische Theorie bzw. Sozialtheorie eine rein wissenschaftliche Angelegenheit sei, fern von politisch-religiösen Weltanschauungen, wurde von anderen hervorgehoben, daß sich die Geistes- und Sozialwissenschaften nie vollständig von derartigen Überzeugungen lösen könnten, daß das Bild einer »reinen« Wissenschaft etwa der Soziologie also eine Schimäre sei. Eng damit zusammen hing auch der Streit über das Verhältnis zwischen Theorie und normativen bzw. moralischen Fragen. Während die einen meinten, daß sich Wissenschaft prinzipiell jeglicher normativen, politischen, moralischen etc. Aussage enthalten solle, plädierten andere für eine gesellschaftspolitisch engagierte Wissenschaft, die sich vor »Sollens-Fragen« (Wie sollen Menschen handeln? Wie soll eine gute oder gerechte Gesellschaft aufgebaut sein? etc.) nicht »drücken« dürfe. Die Wissenschaft und ganz besonders die Sozialwissenschaft dürfe nach dieser Auffassung nicht so tun, als ob sie nur Forschungsresultate zur Verfügung stellte, für deren Verwendung sie dann keine Verantwortung trüge: weil sozialwissenschaftliche Forschung durchaus konsequenzenreich sei, könne es der Disziplin nicht gleichgültig sein, was mit den von ihr produzierten Ergebnissen geschieht. Schließlich ist auch das Verhältnis von Theorie und Alltagswissen heftig diskutiert worden. Während die einen die generelle Überlegenheit der Wissenschaft, auch der Sozialwissenschaften, über das Alltagswissen postulierten, schien es anderen so, als ob die Geistes- und Sozialwissenschaften zu sehr in jenem Alltag verwurzelt und von diesem abhängig seien, um einen derart anmaßenden Anspruch erheben zu können. Der Theoriebegriff selbst ist also – wie Sie sehen – höchst umstritten, und insofern würde dann der vorhin angedeutete Versuch, aus den vorhandenen Theorien der soziologischen Klassiker den kleinsten gemeinsamen Nenner her15auszuarbeiten, ins Leere laufen: Die Frage »Was ist Theorie?« wäre damit nicht zu beantworten, denn eine Entscheidung in diesen eben kurz dargestellten Debatten würden Sie auch dadurch nicht fällen können.
Aber muß man überhaupt so genau ausdiskutieren und klären, was »Theorie« eigentlich ist? Schließlich haben Sie ja auch die soziologischen Klassiker »verstanden«, haben Sie vielleicht diesbezügliche Seminare besucht, ohne den Theoriebegriff explizit hinterfragen zu müssen. Warum also erst jetzt – bei der soziologischen Theorie bzw. Sozialtheorie – diese Grundsatzdebatte über das »Wesen« von Theorie? Zwei Antworten lassen sich darauf geben. Die Antwort ist dabei historischer bzw. disziplingeschichtlicher Natur: Als Weber, Durkheim, Simmel u. a., die sogenannten Gründerväter, die Disziplin »Soziologie« ins Leben riefen, war dies oftmals ein Kampf von einzelnen um die wissenschaftliche Reputation des Faches, war es eine Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen, die der Soziologie ihre Legitimität bestreiten wollten. Natürlich stritten auch Soziologen untereinander – und dies sicherlich nicht zu wenig –, doch war dies nichts im Vergleich zu der Situation, als die Soziologie dann ab Mitte des . Jahrhunderts endgültig an den Universitäten etabliert war. Die moderne Soziologie ist wie die modernen Sozialwissenschaften insgesamt mittlerweile durch eine Vielzahl konkurrierender Theorierichtungen charakterisiert – nicht umsonst benötigen wir noch weitere neunzehn Vorlesungen, um Ihnen diese Vielfalt nahezubringen –, und in dieser massiven Konkurrenz der Theorien spielen wissenschaftstheoretische Fragen eine erhebliche Rolle, Fragen also zu den Voraussetzungen und Charakteristika von Wissenschaft und wissenschaftlicher Theoriebildung. Der Streit zwischen den sozialwissenschaftlichen Theorierichtungen war und ist oftmals einer um das richtige Verständnis von Theorie; insofern benötigen Sie zumindest einen gewissen Einblick in diese Fragen, um begreifen zu können, wie und warum sich die Theorieentwicklung in den modernen Sozialwissenschaften so und nicht anders vollzogen hat.
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