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»Entzauberung« ist ein Schlüsselbegriff im Selbstverständnis der Moderne. Doch worum handelt es sich dabei eigentlich? Sind Max Webers kanonisch gewordene Vorstellungen überhaupt haltbar – oder alternativlos? Hans Joas unternimmt in seinem hochgelobten Buch den Versuch, »Entzauberung« zu entzaubern. In Auseinandersetzung mit Weber entwirft er eine Theorie, die dem machtstützenden Potenzial von Religion ebenso gerecht werden kann wie dem machtkritischen; und er setzt an die Stelle des Geschichtsbilds vom unaufhaltsamen Fortschritt der Entzauberung ein Spannungsfeld zwischen Sakralisierung, ihrer reflexiven Brechung und den Gefahren ihrer Aneignung in Machtbildungsprozessen. Das beinhaltet Zumutungen – für Gläubige wie für Säkulare.
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Seitenzahl: 767
3Hans Joas
Die Macht des Heiligen
Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung
Suhrkamp
Cover
Titel
Inhalt
Hauptteil
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Vorwort
Einleitung
1 Religionsgeschichte als Religionskritik?David Hume und die Folgen
Ein methodischer Durchbruch
Vier religionsgeschichtliche Thesen
Die Folgen
2 Religiöse Erfahrung und die Lehre von den Zeichen
Die Wende zur Erfahrung im Studium der Religion
Exkurs: Schleiermacher als Quelle?
Die Interpretation religiöser Erfahrung: Josiah Royce
3 Das Ritual und das Heilige Zur Anthropologie der Idealbildung
Die Wende zum Ritual
Vom Totemismus zur säkularen Religion?
Die Vorgeschichte der Ritualtheorie Émile Durkheims
Die Persistenz des Rituals
4 Vielfalt der Idealbildung oder Prozeß der Entzauberung? Die Syntheseversuche von Ernst Troeltsch und Max Weber
Eine historische Soziologie des Christentums: Ernst Troeltschs
Soziallehren
und die Frage nach den Wirkungen religiöser Innovationen
Max Weber und die Geschichte von der Entzauberung
Ein Versuch zur Systematisierung
5 Transzendenz als reflexive Sakralität Die »Achsenzeit« als Einschnitt in der Religionsgeschichte
Karl Jaspers: Kommunikation über Transzendenz
Achsenzeit: Wort, Idee, Bedeutung
Exkurs: Lasaulx' Wiederbelebung der christlichen Universalgeschichtsschreibung
Achsenzeit und archaischer Staat
Reflexivität und Sakralität
6 Spannungsverhältnisse Eine neue Deutung von Max Webers »Zwischenbetrachtung«
Webers »Zwischenbetrachtung« — eine neue Deutung
Konsequenzen
7 Das Heilige und die Macht Kollektive Selbstsakralisierung und ihre Überwindung
Sakralisierung als anthropologisches Phänomen
Eine historische Skizze
Ein normativer Schluß
Literatur
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Sachregister
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Es ist eine gute Tradition, im Vorwort eines Buches kurz Auskunft zu geben über die Institutionen und Personen, die zu seinem Gelingen beigetragen haben, und auf diesem Wege ein wenig von der angehäuften Dankesschuld abzutragen. Auch einige Angaben zur Entstehungsgeschichte sind damit leicht zu verbinden und hoffentlich nützlich für ein besseres Verständnis des Buches.
Institutionell läßt sich der Ausgangspunkt für dieses Buch eindeutig identifizieren. Er liegt in den Vorlesungen, die ich im Sommersemester 2012 an der Universität Regensburg unter dem Titel »Sakralisierung und Säkularisierung« gehalten habe. Den Rahmen für diese Vorlesungen bot die Gastprofessur der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung, deren erster Inhaber ich war. Mein Dank gilt der Stiftung und der Fakultät für Katholische Theologie an der Universität Regensburg für die Einladung und den Kollegen Bernhard Laux und Erwin Dirscherl sowie Florian Schuller, dem Direktor der Katholischen Akademie in Bayern, für Gastfreundschaft und Betreuung während meines Aufenthalts. Einen der Vorträge hielt ich unmittelbar vor den Regensburger Vorlesungen auf Einladung des Leiters der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Heinrich Meier, in München. Ihm und dem Mitorganisator der dortigen Vortragsreihe über »Religion und Politik«, Friedrich Wilhelm Graf, gilt ebenfalls mein herzlicher Dank.
Eine weiterentwickelte Version der Vorlesungsreihe konnte ich, damals noch am FRIAS, dem Institute for Advanced Study der Universität Freiburg, tätig, im Herbst 2013 im Rahmen des Lehrprogramms der Theologischen Fakultät der Universität Ba8sel vortragen. Hier gilt mein Dank neben den Studierenden vor allem meinem Gastgeber, dem evangelischen Theologen Georg Pfleiderer. Einzelne Teile habe ich bei verschiedenen weiteren Gelegenheiten öffentlich vorgetragen. Deren Zahl ist aber zu groß, um sie hier im einzelnen aufzuführen. Ich nenne deshalb nur noch zwei weitere institutionelle Zusammenhänge, in denen ich jeweils mehrere Kapitel in vorläufiger Form vorstellen und erörtern durfte. Im Winter 2012 hatte ich die Gelegenheit dazu als William James Scholar an der Universität Potsdam dank einer Einladung von Logi Gunnarsson und Hans Peter Krüger vom dortigen Institut für Philosophie. Im März 2016 und im März 2017 schließlich folgte ich einer Einladung der Radboud-Universität Nijmegen in den Niederlanden zur Vorstellung des ganzen Gedankengangs im Rahmen von Seminaren, die die Thomas-More-Stiftung veranstaltete. Mein Dank gilt hier dem Direktor der Stiftung, Joost van der Net, und stellvertretend für alle weiteren Beteiligten Jean-Pierre Wils (Nijmegen).
Bei der Nennung meiner Regensburger Gastprofessur habe ich durchaus ein leichtes Zögern empfunden. Mir ist natürlich bewußt, daß im intellektuellen Leben in Deutschland, aber nicht allein dort, bei vielen große Skepsis herrscht gegenüber dem Christentum oder aller Religion, gegenüber der Wissenschaft Theologie, dem institutionellen Rahmen der Kirchen — insbesondere der katholischen — und dem Denken und Wirken von Papst Benedikt XVI. Mein Zögern entspringt der Sorge, daß manche die Lektüre des vorliegenden Buches bereits an dieser Stelle, im Vorwort also, abbrechen könnten oder doch zumindest allen folgenden Ausführungen nicht vorurteilsfrei gegenübertreten. Meine Angaben machen es leicht, dieses Buch, das sich sehr kritisch mit Max Webers Konzeption der Entzauberung auseinandersetzt und den Grundriß einer Alternative vorzulegen versucht, von vornherein auf religiöse Motive zurückzuführen und damit abzustempeln. Auch aus diesem Grunde habe ich mich entschlossen, den Stier bei den Hörnern zu packen und in den ersten Kapiteln das Verhältnis zwischen der wis9senschaftlichen Beschäftigung mit Religion und dem religiösen Glauben grundsätzlich und ausführlich zu erörtern.
Der Zusammenhang dieses Buches mit einigen meiner vorausgehenden Publikationen ist eng und offensichtlich. In dem Buch Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums von 2012 habe ich mich unter anderem mit einer Kritik der sogenannten Säkularisierungstheorie und mit den Konsequenzen einer solchen Kritik für unser Verständnis von Moderne und Modernisierung beschäftigt. Dabei leugnet meine Kritik in keiner Weise die Phänomene von Säkularisierung; sie stellt allerdings deren historische Notwendigkeit oder Unvermeidlichkeit radikal in Frage. Mein Buch Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte von 2011 zielte im Gegenzug auf eine seit dem späten achtzehnten Jahrhundert an Stärke gewinnende Sakralisierung — die der »Person«, wie sie in der Geschichte der Menschenrechte erkennbar wird. In weiteren Arbeiten, vor allem zur sogenannten Achsenzeit, die in das fünfte Kapitel dieses Buches eingegangen sind, habe ich mich mit einer fundamentalen historischen Transformation im Charakter des Sakralen auseinandergesetzt. Auf diesen Grundlagen fühlte ich mich herausgefordert, aber auch gerüstet zur Auseinandersetzung mit den einschlägigen, außerordentlich einflußreichen Vorstellungen Max Webers über die religionsgeschichtliche Vorbereitung von Säkularisierung und moderner Rationalisierung. Dabei stelle ich mich in meinem Vorgehen auf die Schultern der großen Denker des amerikanischen Pragmatismus, des Begründers der französischen Soziologie Émile Durkheim und von Webers langjährigem Freund und Rivalen Ernst Troeltsch. Näher an unserer Gegenwart liegen die Einflüsse von drei bedeutenden, zutiefst von Max Weber geprägten, aber in ihren konkreten Darstellungen und Schlußfolgerungen oft weit von ihm abweichenden Soziologen auf mich: Robert Bellah, Shmuel Eisenstadt und David Martin. Ihnen fühle ich mich eng verbunden und zu Dank verpflichtet. Auch meine seit Jahrzehnten anhaltende Auseinandersetzung mit den Schriften Charles Tay10lors ist in diesem Buch erneut zu spüren, wenngleich ich in Hinsicht auf die Entzauberungskonzeption von ihm deutlich abweiche.
Ganz besonderen Dank schulde ich den Freunden und Kollegen, die mir zum ganzen Manuskript oder zu Teilen von ihm wertvolle Hinweise gegeben haben. Es handelt sich um den Theologen (und früheren evangelischen Bischof) Wolfgang Huber (Berlin), den Philosophen Matthias Jung (Koblenz) und den Soziologen Wolfgang Knöbl (Hamburg). Der Weber-Experte Johannes Weiß (Kassel) hat die auf Weber bezogenen Teile der Kapitel 4 und 6 gelesen und hilfreich kommentiert. Der Philosoph Dieter Thomä (St. Gallen) gab vor Jahren einen Anstoß, der für Kapitel 6 wichtig wurde; er meinte nämlich, daß meine im Buch Die Entstehung der Werte von 1997 vorgelegte Theorie geradezu danach rufe, zur Folie einer neuen Deutung von Max Webers »Zwischenbetrachtung« gemacht zu werden. Für diese Anregung und die kritische Lektüre meines entsprechenden Versuchs bin ich ihm sehr dankbar. In der Schlußphase der Arbeit bot mir das südafrikanische Institute for Advanced Study (STIAS) in Stellenbosch erneut wie schon einmal 2011 ausgezeichnete Arbeitsbedingungen; auch dafür an dieser Stelle meinen Dank. Seit 2014 wird meine Arbeit durch die Porticus-Stiftung, seit 1. Januar 2016 zudem durch die Mittel des Max-Planck-Forschungspreises großzügig unterstützt, was ich an dieser Stelle dankend hervorheben will. Meiner Mitarbeiterin Mechthild Bock danke ich für die stets zuverlässige und sorgfältige Erledigung aller anfallenden Arbeiten, Eva Gilmer vom Suhrkamp Verlag für die hervorragende Lektorierung und Christian Scherer — wie oft schon in der Vergangenheit — für vorzügliche Unterstützung beim Korrekturlesen und die Anfertigung der Register.
Schließlich gilt mein Dank meiner Frau Heidrun, mit der das Leben in Freud und Leid gemeinsam verbringen zu dürfen die größte aller Gaben ist.
Berlin, April 2017
Dieses Buch stellt einen Versuch dar, einen der Schlüsselbegriffe des Selbstverständnisses der Moderne zu entzaubern: den der Entzauberung. Dieser Begriff ist, wie sich zeigen wird, von einer tiefen Mehrdeutigkeit, welche auch noch den Gegenbegriffen wie Verzauberung und Wiederverzauberung anhaftet, die seit seiner Prägung zusätzlich in Umlauf geraten sind. Solche Mehrdeutigkeit kann zu Verwirrungen führen und hat in diesem Fall in der Tat vielfach zu solchen geführt. Sie kann auch, da sie ja mit dem Begriff unerkannt transportiert wird, ein Mittel zur Herstellung einer falschen Eindeutigkeit sein. Für die Geschichte von einem sich über Jahrtausende erstreckenden fortschreitenden Prozeß der Entzauberung trifft dies zu; sie kann, wenn meine Argumentation zutrifft, heute nicht einfach fortgeschrieben werden. Wir brauchen deshalb eine Alternative zu ihr oder vielleicht mehrere — neue Narrative der Religionsgeschichte in ihrer Verknüpfung mit der Geschichte der Macht, die an die Stelle des Entzauberungsnarrativs treten können.
Mit dem Namen keines anderen Denkers und Wissenschaftlers ist der Begriff der Entzauberung so eng verbunden wie mit dem Max Webers. In einem strategisch zentralen Teil dieses Buches werde ich mich mit seiner Verwendung dieses Begriffs und ihrer Problematik ausführlich und textnah auseinandersetzen. Für die Skizzierung einer Alternative genügt eine kritische Auseinandersetzung mit Weber aber keineswegs. Für sie sind neben vielfältigen empirischen Befunden auch andere denkerische Versuche der Vergangenheit als der Max Webers heranzuziehen. Bei allem Übergewicht der Narrative von Säkularisierung und Entzauberung — die natürlich nicht miteinander gleichge12setzt werden dürfen, aber auch nicht völlig unabhängig voneinander sind — blieben diese nie ohne Widerspruch und Gegnerschaft. An die berechtigten Motive in den Äußerungen dieser Denker muß deshalb heute anknüpfen, wer eine solche Alternative zusammenhängend entwickeln will.
Das ist auch deshalb nötig, weil eine Kritik an Weber in diesem Punkt, zumindest meiner persönlichen Erfahrung nach, nur allzu leicht auf unterstellte religiöse Motive des Kritikers zurückgeführt wird. Weber erscheint dann als der Inbegriff eines nüchternen und illusionslosen Denkers, dem nur die widersprechen, die eben nicht zum selben Maß an Nüchternheit und heroischer Illusionslosigkeit imstande sind. Ihre hilflosen oder schwärmerischen Versuche fallen, so gesehen, immer nur auf sie selbst zurück. Aber stehen sich hier wirklich Wissenschaft und Glaube, Realitätstüchtigkeit und Illusionismus, Rationalität und Bereitschaft zum Opfer des Intellekts gegenüber? Oder spielen auch auf der Seite Webers und anderer Vertreter der Geschichte von der Entzauberung spezifische religiöse oder antireligiöse Motive eine wichtige Rolle? Können Narrative solcher Größenordnung einfach von den Tatsachen abgelesen und an diesen eindeutig bestätigt oder widerlegt werden? Hätte Max Weber selbst sich jemals so verteidigt? Inwiefern gibt es überhaupt die Möglichkeit einer Wissenschaft von der Religion, wenn unbestreitbar sein sollte, daß religiöse oder antireligiöse Motive in ihr notwendig eine konstitutive Rolle spielen?
Um dieser Fragen willen und um zugleich dem Potential geistesgeschichtlicher Anregungen für eine mögliche Alternative zur Geschichte von der Entzauberung gerecht zu werden, setzt dieses Buch sehr grundsätzlich an. Die ersten drei Kapitel beschäftigen sich auf den Gebieten dreier Disziplinen mit den Problemen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion überhaupt. Im ersten Kapitel geht es um die Geschichtswissenschaft, im zweiten um die Psychologie und im dritten um die Soziologie. Um enzyklopädische Ansprüche zu umgehen, beschränken sich alle drei Kapitel im wesentlichen auf je eine in13tellektuelle Konstellation, die mir im Rückblick auf die Wissenschaftsgeschichte besonders instruktiv zu sein scheint. Konkret geht es zunächst um den frühesten dieser Fälle, nämlich den Versuch des großen schottischen Philosophen und Historikers David Hume in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, eine von allen theologischen Vorannahmen absehende, empirisch fundierte Universalgeschichte der Religion zu konzipieren. Dann wird das unbestritten klassische Gründungsdokument einer empirischen Religionspsychologie zum Thema, die bis heute in vielen Hinsichten inspirierende reichhaltige Phänomenologie individueller religiöser Erfahrungen, die der amerikanische pragmatistische Philosoph und Psychologe William James in den ersten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vorgelegt hat. Für die Entstehung einer spezifisch soziologischen (und auch ethnologisch-anthropologischen) Religionsforschung ist die Lage, was die zu erörternde Konstellation betrifft, nicht ganz so eindeutig wie in den beiden anderen Fällen. Ich habe mich für den vornehmlich in Frankreich geführten Diskurs über die Bedeutung kollektiver Rituale entschieden, der von dem Historiker Numa Denis Fustel de Coulanges zu seinem Studenten, dem Klassiker der französischen Soziologie, Émile Durkheim, und dessen für die Religionssoziologie zentralem Meisterwerk von 1912 zur Religion australischer Aborigines und nordamerikanischer Indianer führt.
Es versteht sich von selbst, daß damit alle drei behandelten Fälle den Gründungsphasen moderner wissenschaftlicher Disziplinen entstammen und noch keine fest etablierten Abgrenzungen der Disziplinen voneinander zu erwarten sind. David Humes Programm für eine Geschichtsschreibung etwa beruht stark auf einer (bestimmten) psychologischen Theorie. Um disziplinhistorische Fragen, auch die der Herausbildung eines eigenständigen Faches namens Religionswissenschaft oder Comparative Religion, geht es im Folgenden nicht eigentlich. Es geht vielmehr um drei exemplarische Fälle, an denen sich die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit wissenschaftlicher Aussa14gen über Religion in sehr verschiedenen Kontexten erörtern läßt und zugleich Elemente einer umfassenderen Theorie gesammelt werden können. Für diese beiden Zwecke ist es nötig, über den jeweils zentralen Autor und sein Werk hinauszugehen und implizite oder explizite Gegner, Vorläufer und Nachfolger wenigstens ansatzweise in den Blick zu nehmen; aus diesem Grund habe ich von »Konstellationen« gesprochen. Im Fall der Geschichtswissenschaft gehe ich deshalb auch auf die Rezeption Humes bei Johann Gottfried Herder ein, da dieser als Christ in höchst aufschlußreicher Weise an das religionsskeptisch motivierte Projekt Humes produktiv anknüpfte und es weitertrieb. Im Fall der Psychologie ist von William James aus sowohl zurück wie nach vorne zu blicken. Zurückzublicken ist, weil in theologischen Kreisen die methodische Innovation von James gerne einhundert Jahre früher datiert und Friedrich Schleiermachers Reden über die Religion »an die Gebildeten unter ihren Verächtern« aus dem Jahr 1799 zugeschrieben wird. Nach vorne zu blicken ist, weil James' Psychologie schon von den Zeitgenossen als einseitig und mangelhaft in Hinsicht auf die Deutung intensivster menschlicher Erfahrungen durch die Subjekte selbst empfunden wurde. Ein Kollege und Freund von James an der Harvard University, der in Europa bis heute fast unbekannte Philosoph Josiah Royce, unternahm in seinem Spätwerk einen im Rückblick geradezu sensationell erscheinenden Versuch, diese Mängel mit Mitteln einer Theorie der Zeichen, der Semiotik also, zu überwinden. Im dritten Fall, der Soziologie, geht es ohnehin um die schrittweise Entwicklung eines methodischen Ansatzes in einem neu entstehenden Fach. Ich stelle diesen Ansatz in einer Weise vor, die sich von der konventionellen Deutung Durkheims weit entfernt; der Ansatz wird zudem durch den Vergleich mit späteren Versuchen der Ritualtheorie in seiner unüberholten Bedeutung für eine Anthropologie der Idealbildung profiliert.
Aus diesen drei Kapiteln soll ein erstes Bild erwachsen, das Religion auf historisch situierte menschliche Erfahrungen von 15etwas, das als heilig empfunden wird, zurückführt — Erfahrungen, die wir nur dann richtig verstehen, wenn wir sie in einer semiotisch transformierten Psychologie des Selbst verankern, in Praktiken verkörpert denken und nicht individualistisch verengen. An dieser Stelle kann diese verdichtete Formel zwar noch nicht voll verständlich sein. Der Vorgriff auf sie signalisiert aber schon, daß sich bereits früh Alternativen zu den Denkformen einer naturalistischen Religionskritik herausgebildet haben und die Geschichte dieser Kritik in Wechselwirkung steht mit anderen Denkformen, die der Wissenschaft und der Religion zugleich gerecht zu werden versuchen.
Erst im vierten Kapitel wende ich mich dann Max Weber und der Geschichte von der Entzauberung zu, aber auch in diesem Kapitel geht es nicht nur darum. Nachdem sich nämlich die Wissenschaften von der Religion in historischer, psychologischer und soziologisch-ethnologischer Forschung durch das ganze neunzehnte Jahrhundert hindurch breit entwickelt und eine große Fülle von Wissen zur Verfügung gestellt hatten, mußte auch das Bedürfnis zunehmen, dieses akkumulierte, aber auch fragmentierte Wissen neu zusammenzufügen, und dies sowohl in historischer wie in zeitdiagnostischer Hinsicht. Ich behaupte, daß die beiden kraftvollsten solchen Syntheseversuche von zwei Gelehrten vorgenommen wurden, die in engstem intellektuellen Austausch miteinander standen, ja sogar einige entscheidende Jahre lang im selben Haus in Heidelberg wohnten: Max Weber und Ernst Troeltsch. Für beide gilt, daß ihre genialischen Syntheseversuche die Dynamiken der Religionsgeschichte einbetten in eine umfassendere, selbst differenziert reflektierte Geschichte politischer, wirtschaftlicher, sozialer und militärischer Entwicklungen. Für diese umfassendere Geschichte verwende ich in diesem Buch das Kürzel einer Geschichte der Macht, angelehnt an Michael Manns mehrbändige soziologische Universalgeschichte am Leitfaden von vier Quellen sozialer Macht.[1]16Während heute von vielen diese beiden Gelehrten (Weber und Troeltsch) in jeder Hinsicht sehr nahe aneinandergerückt werden, sehe ich unter dem Gesichtspunkt der Religionsgeschichte und noch mehr dem einer religionsbezogenen Zeitdiagnose und Zukunftserwartung gravierende Differenzen zwischen ihnen. Man kann von zwei alternativen Synthesen sprechen. Bevor auf Weber eingegangen wird, soll deshalb anhand von Troeltschs historischer Soziologie des Christentums ein Geschichtsbild entwickelt werden, das vom empirischen Faktum der Neuentstehung von Idealen aus die Geschichte des Christentums als Wechsel von Sakralisierungs- und Entsakralisierungsprozessen darstellt und Charakter und Gegenstand dieser Prozesse wesentlich aus der Geschichte des Staates heraus erklärt. Damit — und mit den in den ersten drei Kapiteln gesammelten Elementen — ist dann auch eine Folie gegeben, von der sich die Besonderheiten von Webers Gedankengängen abheben und durch die sie sich kritisch beurteilen lassen.
Sowohl in Max Webers universalgeschichtlich angelegter und theologisch wohlinformierter Soziologie wie in Ernst Troeltschs historischer Theologie, die sich zunehmend um psychologische und soziologische Fundamente bemühte, konnte es Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts so aussehen, als kämen religiös-theologische und säkular-wissenschaftliche Betrachtungsweisen in fruchtbarsten Austausch. Dies änderte sich jedoch bald wieder, und insofern fanden die Impulse von Weber und Troeltsch nicht den Nachhall, den sie verdienen. Zwar ist Max Weber zum unbestritten größten Klassiker der Soziologie aufgestiegen; mit der zunehmenden Abwendung dieses Faches von der Geschichte aber tat sich eine Kluft auf zwischen dem 17hohen Respekt vor Weber und der Zahl der Arbeiten, die tatsächlich ein ähnliches Programm verfolgten. Eine Erklärung für diesen Sachverhalt entwickle ich im sechsten Kapitel. Durch die zahlreichen Arbeiten, die sich eng an Webers Forschungen anlehnen, ohne den seither veränderten Forschungsstand hinreichend zu berücksichtigen, oder die gar seine Behauptungen schlicht kanonisieren, wird diese Kluft im übrigen nicht ernsthaft überbrückt. Noch krasser ist die Situation, was Ernst Troeltsch betrifft. Als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg kam es in der deutschen protestantischen Theologie zu einer weitgehenden, später noch verstärkten Umorientierung, für die der Begriff »antihistoristische Revolution«[2] in Umlauf geraten ist. Damit wurde die Weiterarbeit an Troeltschs Programm in seiner Mutterdisziplin erschwert und außerhalb dieser unterlassen, weil sich der nur oberflächlich plausible Eindruck festsetzte, man habe es bei ihm mit einer bloßen inkonsequenten Variante von Max Webers scharf konturiertem Programm zu tun.
Dies ist hier zu erwähnen, weil die argumentative Stellung 18des folgenden (fünften) Kapitels von einem Verständnis dieser komplizierten Lage abhängt. Durch die genannte Entwicklung konnte sich ein Bedenken verstärken, das viele religiöse Denker schon vorher gehabt hatten. Es lautet, daß empirische Forschung historischer, psychologischer und soziologisch-ethnologischer Art zwar am Platze sei, wo es um »primitive« oder »archaische« Religionen gehe, aber zum Verständnis der auf wirklicher göttlicher Offenbarung beruhenden, wahren Religion — der jüdischen oder christlichen — nichts beizutragen habe. Für viele säkulare Denker ist ein solcher Einwand selbstverständlich absurd; die scharfe Grenze zwischen Offenbarungsreligionen und anderen wird von ihnen häufig gar nicht gezogen, da die Vorstellung einer göttlichen Offenbarung für sie nicht qualitativ von den »Illusionen« anderer Religionen differiert. Bei Troeltsch und Weber (und einigen anderen) war das anders gewesen; mit einem Konzept wie dem der »Erlösungsreligionen« versuchten sie, dem tiefreichenden empirischen Unterschied zwischen diesen und anderen Religionen gerecht zu werden. Meine Behauptung lautet nun, daß sich aus ganz verschiedenen religiösen oder antireligiösen Motiven heraus im zwanzigsten Jahrhundert ein Diskurs zu genau dieser Frage entwickelt hat, und zwar unter dem Stichwort »Achsenzeit«. Dieser Diskurs behandelt die Frage, wann und wo in der Geschichte der Menschheit unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen sich eine fundamentale Transformation im Verständnis des Heiligen abspielte, als deren Resultat im Zusammenhang mit einer grundsätzlichen Steigerung von Reflexivität ein Begriff von Transzendenz entstand im Sinne einer tiefen Kluft zu allem Irdischen. Entscheidend für diese fundamentale Transformation sind die politisch-sozialen Konsequenzen einer Desakralisierung der Strukturen politischer Macht und sozialer Ungleichheit. Das fünfte Kapitel stellt die Vielzahl solcher Denkversuche dar, faßt den empirischen Wissensstand auf diesem Gebiet zusammen und entwickelt daraus einen Begriff der Transzendenz als reflexiv gewordener Sakralität. Diese Überlegungen liefern zu19dem eine weitere wichtige Komponente für eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung.
Schon mit dem knappen Verweis auf entsakralisierende Wirkungen einer moralisch anspruchsvoll gewordenen Religion kommt ein Bruch mit allen Vorstellungen von einem linearen Verlauf der Geschichte zur Sprache. Teils von Max Weber, teils von Émile Durkheim ausgehend, manchmal freilich um deren eigentliche Gedankenführung recht unbesorgt, sind viele Zeitdiagnosen aber genau von der Unterstellung solcher Verläufe geprägt. Das sechste Kapitel geht auf die drei einflußreichsten solcher »gefährlichen Prozeßbegriffe« ein: den Max Weber entlehnten Begriff der Rationalisierung, den an Herbert Spencer, Georg Simmel und Émile Durkheim angelehnten Begriff fortschreitender funktionaler Differenzierung und den heute alles dominierenden Begriff der Modernisierung, der nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA aufkam. Die Reflexion auf die meist unreflektierten Konsequenzen der Verwendung dieser Begriffe ermöglicht eine Neuinterpretation von Webers berühmter »Zwischenbetrachtung«, die diese von der Tradition einer differenzierungstheoretischen Lesart befreit. Es zeigt sich, daß Weber von einer Vielzahl fundamental unterschiedlicher Spannungsverhältnisse spricht, die sich nicht auf die Nenner »Rationalisierung« und »Differenzierung« bringen lassen. Damit wird endgültig das Feld frei für die Skizzierung einer Alternative zur Geschichte von der Entzauberung.
Diese Skizze liefert das siebte Kapitel. Es setzt noch einmal elementar an und führt die zentralen Gedanken einer Theorie des Heiligen beziehungsweise der Sakralisierungsprozesse, die ich in anderen Büchern vorgelegt habe, kurz zusammenhängend an, fügt diesen aber noch einen weiteren hinzu: den der Selbstsakralisierung als einer mit jeder Sakralisierung verbundenen Gefahr. Aus der Spannung zwischen den Forderungen der Transzendenz als einer reflexiv gewordenen Sakralität und den Tendenzen zur Selbstsakralisierung läßt sich ein Bild der Religionsgeschichte entwickeln, das sowohl dem machtkritischen wie 20dem machtstützenden Potential der Religionen gerecht wird. Die Macht des Heiligen zeigt sich bei der Rechtfertigung wie bei der Infragestellung politischer und sozialer Macht, weil die Bindung der Menschen an das von ihnen erfahrene Heilige eine ihrer stärksten Motivationsquellen darstellt. In solcher abstrakter Allgemeinheit klingt diese Behauptung vielleicht trivial. Sie muß ihre gegenstandserschließende Kraft natürlich im einzelnen bewähren. Das siebte Kapitel liefert nicht mehr, aber auch nicht weniger als den Grundriß einer solchen Geschichte.
So weit ein kurzer Vorblick auf den Gang der Argumentation. Auf zwei weitere Aspekte dieser Thematik soll in dieser Einleitung noch kurz eingegangen werden. Es handelt sich zum einen um die Gründe, warum mir gerade heute ein Bild der Religionsgeschichte wichtig scheint, das nicht am Leitfaden der »Entzauberung« orientiert ist, zum anderen um das Verhältnis der Frage einer Wissenschaft von der Religion zur Frage nach einer zeitgenössisch angemessenen Sprache für den Glauben.
Die Diskussionen über Religion sind — so habe ich in meinem Buch Glaube als Option[3] argumentiert — heute davon gekennzeichnet, daß zwei Pseudogewißheiten, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert größten Einfluß hatten, beide ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Gläubige können nicht länger davor warnen, daß Säkularisierungsprozesse zum Verlust aller Moral führten, weil die Wirklichkeit stark säkularisierter Gesellschaften diese Befürchtungen nicht bestätigt hat. Nichtgläubige können ihren Abstand von aller Religion nicht länger als avantgardistischen Schritt in eine Zukunft, auf die die Menschheitsgeschichte von sich aus hinstrebt, interpretieren. Wenn meine Diagnose zutrifft, dann öffnen sich damit neue Dialogmöglichkeiten zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, aber auch ganz neue Fragestellungen. Zu diesen gehört an erster Stelle die Frage nach den Ursachen von Säkularisierungs21prozessen, da diese ja nicht mehr als selbstverständliche Folge von Modernisierungsprozessen aufgefaßt und damit immer schon für erklärt gehalten werden können. Mit dem Versuch einer rechten Erklärung aber kommen notwendig Individuen und Organisationen als Akteure mit Zielen und Vorstellungen in den Blick — Säkularisierung als Projekt.[4] In diesem Projekt spielte Wissenschaft immer eine zentrale Rolle, sei es im Sinn der wissenschaftlichen Widerlegung einzelner religiöser Lehren, sei es im Sinn einer wissenschaftlichen Erklärung der Existenz des als mysteriös empfundenen Phänomens Religion überhaupt. Heute ist der Punkt erreicht, an dem die beiden lange Zeit dominierenden Vorstellungen selbst historisiert werden müssen, die anthropologische Unentbehrlichkeitsthese, was den Zusammenhang von Religion und Moral betrifft, ebenso wie die selbstbewußten Vorstellungen, Religion wissenschaftlich erklären und dadurch auch wirkungslos und überflüssig machen zu können. Jenseits dieser notwendig gewordenen neuen Historisierung liegt dann die in diesem Buch verfolgte Frage nach einer Wissenschaft von der Religion, die nicht von der unfruchtbaren Dichotomie zwischen einer angeblich voraussetzungsfreien wissenschaftlichen und einer angeblich von unbewiesenen und unbeweisbaren Voraussetzungen ausgehenden theologischen Beschäftigung mit Religion geprägt ist. An die Stelle dieser Dichotomie tritt ein Bewußtsein von der Basiertheit aller menschlichen Wertbindungen und identitätskonstitutiven Überzeugungen in historisch situierten Erfahrungen. Doch das genügt natürlich nicht; dieses Bewußtsein erspart niemandem die Last argumentativer Rechtfertigung jeder einzelnen wertenden Stellungnahme. Aber es verändert unsere Haltung in solchen argumentativen Diskursen, unsere Erwartungen an 22sie und unsere Bereitschaft, auch die Grenzen argumentativer Rechtfertigbarkeit zu erkennen und über Möglichkeiten vernünftiger Verständigung nachzudenken, die nicht den strikten Anforderungen rationaler Argumentation entsprechen.
In dieser veränderten Diskussionssituation, in der die Erwartung einer fortschreitenden Säkularisierung nur noch von wenigen gehegt wird, kann die Geschichte von der Entzauberung zwar weiterhin als Vorgeschichte der höchst kontingenten Geschichte der Säkularisierung einiger europäischer Länder gedacht werden, aber nicht mehr als Vorspiel von etwas, das weltweite Geltung erlangen wird. Die Reaktionen auf Entzauberung und Säkularisierung müssen dann in globalen Machtkonstellationen höchst vielfältig und können nicht einfach und ausschließlich nachahmend oder nachholend sein. Es ist meine Hoffnung, daß der hier unternommene Versuch, sowohl auf die Geschichte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion als auch auf die Geschichte der Religion selbst in einer Weise zu blicken, die nicht schon vom Entzauberungsnarrativ geprägt ist, selbst für die von Interesse ist, die letztlich an Weber und seinem Narrativ festhalten.[5]
Schließlich — und an dieser Stelle äußerst knapp — zur Frage nach einer angemessenen Sprache für den Glauben, angemessen im Licht der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion. Eine neu aufkommende Wissenschaft wie die Soziologie konnte ebenso wie die Psychologie oder eine mythenzerstörende Geschichtswissenschaft als große Gefahr für den Glauben wahrgenommen werden. Im selben Jahr, in dem William James sein großes Werk einer nichtreduktionistischen Religionspsychologie veröffentlichte, schrieb Leo Tolstoi eine Erzählung mit 23dem Titel »Die Wiederherstellung der Hölle«. In dieser rühmt sich ein Teufel, daß er auf den Einfall gekommen sei, um die Menschen von der Orientierung an den Lehren Jesu abzuhalten, ihnen einzuflüstern, »daß jede religiöse Lehre, auch die christliche, eine Irrlehre und ein Aberglauben sei, während sie sich über die richtige Art zu leben nur mit Hilfe einer Wissenschaft orientieren können, die ich für sie ersonnen habe, die Soziologie genannt wird und in der Erforschung dessen besteht, auf wie verschiedene Art die Menschen in früheren Zeiten ihr Leben verunstalteten«.[6] Eine Wissenschaft, die sich als Überwinderin des Glaubens versteht, und ein Glaube, der sich von der Wissenschaft nur bedroht fühlt — das waren zwei Seiten derselben Medaille. Ähnlich ist es, wenn sich in der politischen Theorie säkulare Denker anmaßen, über die »Zulässigkeit« religiös motivierter oder auch religiös begründeter Stellungnahmen in öffentlichen Debatten zu befinden, und umgekehrt Gläubige sich der Rechtfertigung ihrer politischen Vorstellungen in einer Weise, die auch Nichtgläubige überzeugen kann, entziehen und statt dessen auf bloße Machtmittel setzen, um ihre Ziele zu erreichen. Bei allen Gefahren, die der wechselseitigen verzerrten Wahrnehmung von Gläubigen verschiedener Religionen oder von Gläubigen und Nichtgläubigen weiterhin entspringen, sehe ich in der veränderten intellektuellen Lage eine beträchtliche Chance dafür, daß sich eine Sphäre öffnet, in der alle ihre Erfahrungen und Annahmen artikulieren und aufeinander beziehen können.[7] Dies meine ich nicht im Sinne einer naiven Unterschätzung der Konflikte und Risiken solcher Versuche. Gerade denjenigen religiös Gläubigen etwa in den christlichen Traditionen wird viel zugemutet, die ihren Glau24ben bisher im Sinne einer Zustimmung zu einem Lehrgebäude auffassen wollten. Das hier entwickelte Religionsverständnis mutet ihnen zu, ihren Glauben in neuer Weise zu artikulieren und dabei doch die Kontinuität mit den tradierten Formen nicht zu verlieren. Den säkularen Geistern mutet der folgende Gedankengang den Abschied von einem Geschichtsbild zu, das bei vielen, nicht allen, in tiefe Schichten ihres Selbstverständnisses eingegangen ist — dem Geschichtsbild eines unaufhaltsamen und fortschreitenden Prozesses der Entzauberung.
Religion zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und Theoriebildung zu machen erscheint heute meist als eine Selbstverständlichkeit. Wie jeder andere Bereich menschlichen Lebens Thema der Geschichtsschreibung, soziologischer oder psychologischer Analysen werden kann, so auch der der Religion. Wenn lange Zeit, etwa in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion international relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde, so lag dies gewiß nicht an der Scheu vor einer Profanierung des Sakralen, sondern ganz im Gegenteil an der verbreiteten Einschätzung, daß Religion zumindest in der Gegenwart ihre Bedeutung weitgehend verloren habe. Warum sollte man sich mit etwas umständlich beschäftigen, das dabei ist, in einem umfassenden Prozeß der Säkularisierung seinem Verschwinden entgegenzugehen?
Als die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Religion in Europa aufkam, war die Situation eine ganz andere. Von einem Gegenstandsbereich »Religion« sprach bis zum achtzehnten Jahrhundert ohnehin niemand. Ein solcher Begriff wurde, insbesondere wenn er den christlichen Glauben mit umgreifen sollte, schon deshalb verbreitet als anstößig empfunden, weil er die Unterschiede zwischen dem wahren (christlichen) Glauben und dem Judentum oder Islam, erst recht aber dem, was man traditionell mit einem Sammelnamen als Heidentum 26und Götzendienst bezeichnete, nivellieren mußte. Von »Religion« in einem solchen umfassenden Sinn zu sprechen, setzt in irgendeiner Weise eine Distanzierung vom eigenen Glauben voraus und eine Einsicht in Gemeinsamkeiten, die diesen mit anderen Formen verbinden. Vor allem in England scheint sich schon im siebzehnten und frühen achtzehnten Jahrhundert aus den ständigen Konfessionsstreitigkeiten zunehmend eine Abstraktion von jeder Konfession des Christentums und schließlich ein Gegenbild zu allen entwickelt zu haben.[9] Dieser war ein langer Prozeß vorausgegangen, in dem sich durch die »Entdeckung« einer »neuen Welt« das Bewußtsein der religiösen Vielfalt ausgeweitet und die seit der Renaissance verstärkte philologische Beschäftigung mit den klassischen und orientalischen Sprachen das Verständnis der Religionsgeschichte vertieft hatte.[10] Das Gegenbild nahm zunehmend die Züge eines Weltbilds der Immanenz an, das heißt eines Verzichts auf Transzendenz oder eine Ablehnung von ihr. Ein solches Weltbild aber ist die intellektuelle Voraussetzung für eine bewußte Abwendung von aller Religion, für eine »säkulare Option«,[11] der gegenüber alles ande27re zu Varianten von etwas Eigentümlichem, eben der »Religion«, werden konnte. Ein solcher Allgemeinbegriff konnte nur schrittweise entstehen und wurde lange Zeit als problematisch empfunden.
Noch im späten neunzehnten Jahrhundert konnte der große deutschstämmige Oxforder Indologe und Sanskritforscher Max Müller deshalb bemerken, daß »schon der Name Religionswissenschaft […] für manche Ohren etwas Verletzendes [hat]«.[12] Dieses Verletzungspotential steckte für Gläubige schon darin, daß ihr Glaube auf diese Weise als bloßes menschliches Phänomen behandelt wird. Es nimmt noch beträchtlich zu, wenn wissenschaftliche Forschungen sogar mehr beanspruchen, als bloße Tatsachen des religiösen Lebens festzustellen, sobald sie nämlich darüber hinaus das Geheimnis zu lüften versuchen, das aller Religion im Prinzip zugrunde liege. Dies ist überall dort der Fall, wo religiöse Phänomene als Folge von etwas anderem gedacht werden: als »Seufzer der bedrängten Kreatur« oder als »Opium des Volkes« (Marx), als »Illusion« oder »Projektion« (Freud), als Selbstmißverständnis der Effekte ekstatischer Erfahrungen menschlicher Kollektive (Durkheim) oder gar als bloße Manifestation von Hirnvorgängen (Dawkins). Für diese Art von Erklärungen in der Wissenschaft von der Religion hat der amerikanische Psychologe und Philosoph William James bereits 1902 die treffende Bezeichnung »nothing but«-Erklärungen gefunden;[13] ihnen zufolge sind religiöse Phänomene jeweils nichts Eigenes, sondern »nichts als« Folgen nichtreligiöser Phänomene, als deren verzerrte Gestalt sie auftreten.
28Unleugbar ist die Geschichte der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion seit ihrem Beginn mit solchen Motiven der Religionskritik und des Säkularismus beziehungsweise deren Zurückweisung eng verknüpft. Dies klingt auch noch in unserer Zeit nach, wenn etwa in wissenschaftspolitischen Debatten über die Stellung der Theologie an den Universitäten behauptet wird, daß religiös Gläubige zur unvoreingenommenen wissenschaftlichen Analyse von Religion grundsätzlich ungeeignet seien. Ihr ganzes Denken, so heißt es, sei so sehr von ihrem Glauben und seinen Annahmen, für die es eben keine wissenschaftlichen Belege gebe, durchdrungen, daß sie keine ernsthaften Kandidaten für die Wissenschaft der Religion sein könnten. Dem wird natürlich von Gläubigen entgegengehalten, daß Säkularisten in Sachen Religion doch ebenfalls keineswegs neutral oder voraussetzungslos seien. Ihr Argument wird noch stärker, wenn hinzugefügt wird, daß es den einen Säkularismus als solchen gar nicht gebe, vielmehr nur vielerlei Varianten, deren jede von einer spezifischen Opposition zu spezifischen Formen von Religion geprägt sei. Außerdem könnte es doch sein, so lautet ein weiteres Argument gegen den Anspruch einer säkularistischen Religionswissenschaft, daß ein zumindest imaginärer Zugang zu religiösen Phänomenen eine wenigstens hilfreiche, wenn nicht sogar notwendige Voraussetzung für deren Studium ist. Darf man wirklich »religiös unmusikalisch sein«, wenn man über Religion arbeitet? Dürfte man im wörtlichen Sinn unmusikalisch sein, wenn man die Musikwissenschaft zu seinem Arbeitsgebiet gewählt hat?
Diese Bemerkungen zielen nicht auf eine Polemik zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen, sondern vielmehr auf die Frage der grundsätzlichen Möglichkeit einer Wissenschaft von der Religion, insbesondere im Sinne eines Ortes, an dem Gläubige (der verschiedensten Art) und Nichtgläubige (der verschiedensten Art) in fruchtbarer Weise miteinander ins Gespräch kommen können. Ein solcher Ort könnte die Religionsgeschichtsschreibung sein. Oder ist diese notwendig ein Teil der 29Religionskritik? Das ist die Frage, der ich in diesem Kapitel nachgehen will.
Der epochale Durchbruch zu einer sich konsequent aller theologischen Annahmen methodisch enthaltenden, in diesem Sinne rein profanen Universalgeschichte der Religion geht auf den schottischen Philosophen und Historiker David Hume zurück. Er nannte sein 1757 erstmals erschienenes, rasch eine weite internationale Verbreitung erfahrendes Buch eine »Naturgeschichte der Religion« — The Natural History of Religion — und signalisierte dadurch vermutlich schon mit dem Titel, daß es ihm um eine Geschichte der Religion als eines rein menschlichen (»natürlichen« und nicht »übernatürlichen«) Phänomens gehe und um nichts sonst.[14] Es ist allerdings nicht gesichert, daß diese Vermutung zutrifft, da Hume den Begriff der Naturgeschichte an keiner Stelle seines Werks definiert und ihn übrigens auch in der in Rede stehenden Schrift selbst außer im Titel nirgends verwendet. Vor Hume wurde der Begriff im engsten Sinn zunächst für Arbeiten in Anspruch genommen, die natürliche Phänomene wie Mineralien oder Fossilien selbst in ihrer historischen Dimension behandeln.[15] Er wurde aber in der Folgezeit 30zunehmend auch als Bezeichnung für Untersuchungen verwendet, die moralische, das heißt kulturelle Phänomene aus natürlichen Bedingungen, etwa denen des Klimas, heraus zu erklären versuchten. Wieder andere sprachen von Naturgeschichte, wenn die Sammlung von Tatsachen aus einem bestimmten Phänomenbereich und darauf aufbauend eine induktive Ermittlung von Gesetzmäßigkeiten in Angriff genommen wurde oder, ganz anders, gerade der unkalkulierbaren Vielfalt der Phänomene ein idealisiertes theoretisches Modell einer eigentlich »natürlichen« Entwicklung entgegengesetzt wurde. Manche dieser Verwendungen des Begriffs »Naturgeschichte« passen besser, andere schlechter zu Humes faktischem Vorgehen. Vielleicht war es, wie schon Zeitgenossen vermuteten, Hume schlicht um Provokation zu tun, was ihm gewiß gelang. Einer seiner stärksten Widersacher, Bischof Warburton, meinte, daß das Projekt einer Naturgeschichte der Religion so sinnvoll sei wie das einer »moral history of meteors«.[16] Wie immer der Titel also genau gemeint ist, es liegt nahe, daß eine sich von theologischen Voraussetzungen emanzipierende Geschichtsschreibung sich historisierend auf die Herkunft des lange dominierenden Rahmens richten wird.
Zu Recht hat man dieses Buch »den Beginn der modernen sozialwissenschaftlichen Behandlung der religiösen Problematik«[17] genannt. Obwohl Hume zu Beginn seines Buches erklärt, daß »die gesamte Struktur der Welt […] einen intelligenten Urheber« verrate »und kein vernünftiger Forscher […] nach ernsthaftem Nachdenken hinsichtlich der grundlegenden Prinzipien des echten Theismus und der Religion auch nur einen Augen31blick lang im Zweifel sein« (S. 1) könne, wissen wir heute auf der Basis seiner anderen Schriften und seiner Briefe,[18] daß Hume in Wirklichkeit gegenüber jedem solchen Gottesbeweis aus der Natur der Welt heraus zutiefst kritisch eingestellt war; aus berechtigter Sorge vor den Konsequenzen, die eine offen religionskritische Haltung für ihn haben könnte, etwa der Exkommunikation aus der Church of Scotland, glaubte er aber vermutlich, sich verstellen und ein Lippenbekenntnis zum Theismus ablegen zu müssen. Wie sehr Hume mit seiner Schrift indirekt eine Subversion von traditionellen Glaubensbindungen anstrebte, ist selbst in der neuesten Literatur zu ihm umstritten, und erst recht natürlich, ob die vielleicht beabsichtigte Wirkung seiner Darstellung auf den persönlichen Glauben der Leser in argumentativ gedeckter Weise eintreten kann oder muß. Viel wichtiger für uns aber als die Frage nach Humes persönlicher religiöser Überzeugung, seiner Veröffentlichungstaktik und seinen genauen Absichten bei der Abfassung des Werks ist sein dieses Werk bestimmender und — wie ich meine — epochal neuer methodischer Zugriff. Eine göttliche »Offenbarung« konnte für ihn in den Wissenschaften nicht mehr im Sinne einer kausalen Erklärung oder einer eigenständigen Erkenntnisquelle herangezogen werden, sondern nur selbst als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung auftauchen.
Hume betonte jenseits einer bis dahin üblichen Betrachtung aller Religionen vom Standpunkt des Christentums aus die enorme Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Religionen auf der Welt und benutzte diese Tatsache als Argument gegen alle 32Versuche, Religionen »aus einem ursprünglichen Instinkt oder einem ersten Eindruck der Natur« (S. 1) abzuleiten. Diese Feststellung ist freilich in sich noch zweideutig. Sie könnte besagen, daß Religion als solche ein universelles, gewissermaßen anthropologisches Phänomen sei, sich aber die einzelnen Varianten ebendeshalb nicht aus der von allen Menschen geteilten Natur einfach ableiten ließen. Gemeint sein kann aber auch, daß Religion kein ausnahmslos bei allen Völkern anzutreffendes Phänomen sei. Da Hume anführt, man habe »einige Völker entdeckt, die — wenn man Reisenden und Geschichtsschreibern Glauben schenken darf — keinerlei religiöse Empfindungen besaßen« (S. 1), wird schnell deutlich, daß er in der Tat die Universalität von Religion bestreiten wollte. Wahrscheinlich dachte er bei den religionslosen Völkern vor allem an brasilianische Indianervölker wie die Tupinamba, die er an anderer Stelle in seinem Werk erwähnt,[19] vielleicht aber auch an China, da diese Vorstellung im achtzehnten Jahrhundert weit verbreitet war und zur Popularität Chinas unter aufklärerischen Geistern wesentlich beitrug. Voltaire soll ein Bild von Konfuzius über seinem Schreibtisch in Ferney gehabt haben, weil er in diesem Denker zwar keinen völligen Atheisten, aber doch einen praktisch religionslosen Lehrer der Gerechtigkeit im Staat und der Weisheit in der Lebensführung sah. Humes Bezugnahme auf Völker ohne Religion hatte selbstverständlich vor allem einen Zukunftsbezug. Wenn es in der Vergangenheit solche Völker möglicherweise schon gegeben hat, dann mußte die Vorstellung eines Lebens ohne Religion in der Zukunft plausibler werden.
In diesem Sinn war Humes Projekt einer Naturgeschichte der Religion Teil des Aufstieges einer »säkularen Option«. Ich ziehe diesen Begriff, wenn es um Stärke oder Schwäche religiösen Glaubens geht, dem der »Säkularisierung« vor, weil er klarer macht, daß Säkularismus eine Option ist, die in verschiedenen 33Ländern, Regionen oder Milieus in sehr unterschiedlichem Ausmaß wahrgenommen wird und neben der der »Glaube als Option« erhalten bleibt; die säkulare Option ist demnach eine neue Option, die zum Glauben hinzukommt, den Glauben aber eben auch in eine Option unter mehreren verwandelt. Wie aber können Gläubige sich zum Projekt einer »Naturgeschichte der Religion« verhalten? Gibt es auch auf dem Gebiet der Wissenschaften von der Religion nur den Konflikt zwischen Glauben und Unglauben, oder gibt es die Möglichkeit einer Wissenschaft von der Religion jenseits dieses Konflikts? Diese Frage läßt sich nur im Konkreten beantworten, in Hinsicht auf die Aussagen einer solchen Forschung einerseits, auf die faktischen Reaktionen auf Humes Pionierleistung andererseits. Diesen beiden Komplexen wende ich mich jetzt zu.
Humes empirische Behauptungen lassen sich in vier Thesen zusammenfassen. Erstens behauptet er, daß eine vorurteilslose Erforschung der Religionsgeschichte eindeutig zeige, daß der Monotheismus, auch wenn er unter Gesichtspunkten der Vernünftigkeit einleuchtender sei, historisch nicht den Primat habe. »Es wäre ebenso vernünftig, sich vorzustellen, die Menschen hätten Paläste bewohnt, bevor sie Hütten und Katen hatten, oder hätten eher Geometrie als Ackerbau betrieben, wie die Behauptung aufzustellen, sie hätten die Gottheit als reinen, allwissenden, allmächtigen und allgegenwärtigen Geist erkannt, ehe sie als ein mächtiges, obgleich eingeschränktes Wesen mit menschlichen Leidenschaften und Neigungen, Knochen [Gliedmaßen, H. J.] und Organen aufgefaßt worden sei.« (S. 3) Während bisher der Polytheismus häufig als eine korrumpierte Form des ursprünglichen Monotheismus aufgefaßt wurde, da dem Menschen eine Art natürlicher Neigung zu den von der Vernunft beglaubigten Inhalten des christlichen Glaubens zugesprochen 34wurde, negiert Hume dies in historischer Hinsicht komplett. Für ihn ist eindeutig der Polytheismus in fast allen Fällen die ursprüngliche und lange Zeit fast ausschließlich geltende Religionsform, und mit dieser historischen These will er bewußt nicht nur dem biblischen Bild der Selbstoffenbarung Gottes gegenüber den ersten Menschen, sondern auch den aufklärerischen Vorstellungen von einer »natürlichen Religion« der Menschheit einen tödlichen Schlag versetzen. Die »Naturgeschichte der Religion« ist in diesem Sinne keine Stütze der Vorstellungen von einer »natürlichen Religion«, sondern gerade deren Gegner.
Die zweite These beantwortet die Frage, was denn die Grundlage dieses ursprünglichen Polytheismus sei, wenn die Vernunfterkenntnis dafür ausscheidet. Für Hume ist es klar, daß es dann eben die Leidenschaften, die Emotionen der Menschen sein müssen, aus denen solcher polytheistische Glaube erwächst. Insbesondere seien es »die Sorge um das tägliche Leben und (die) unaufhörlichen Hoffnungen und Ängste, die den menschlichen Geist bewegen« (S. 8). Nicht »spekulative Wißbegierde« oder »reine Wahrheitsliebe« (S. 9) nähmen bei »ungebildeten Menschen« die entscheidende Stelle im Seelenleben ein, sondern »die gewöhnlichen Gemütsbewegungen des menschlichen Lebens«: »die ängstliche Sorge um Glück, die Furcht vor künftigem Elend, der Schrecken des Todes, der Durst nach Rache, der Hunger und andere Bedürfnisse«. Hume stellt sich vor, daß die Menschen von Hoffnung, vor allem aber von Furcht getrieben, »mit banger Neugier den Lauf künftiger Ursachen [untersuchen] und […] die vielfältigen und einander entgegengesetzten Ereignisse des menschlichen Lebens« erforschen und in diesem »verwirrten Schauspiel […] mit noch verwirrteren und erstaunteren Blicken die ersten dunklen Spuren einer Gottheit« (S. 9) erblicken. In heutiger Sprache würden wir sagen, daß Hume in den Kontingenzerfahrungen der menschlichen Existenz die psychologischen Wurzeln der Religion zu erkennen meint. Er schreibt der Religion deshalb eine Rolle bei der Bewältigung sol35cher Kontingenzerfahrungen zu, da die Menschen eben durch Gebete, Opfer und in anderer Weise versuchen, ihre Götter oder Götzen günstig zu stimmen. Besonders ausgeprägt sei dies, wo der Zufall am stärksten regiere: auf hoher See, im Krieg oder beim Glücksspiel.
Die dritte These zielt auf die Dynamik der Religionsgeschichte. Für Hume läßt sich die Vorstellung empirisch einfach nicht halten, daß die Religionsgeschichte ein zielgerichteter Prozeß ist, der vom ursprünglichen Polytheismus zum Monotheismus führe. Noch weniger treffe natürlich das Gegenteil zu. In der Religionsgeschichte könne man vielmehr ein Schwanken zwischen den beiden Extremen, eine Oszillation zwischen Polytheismus und Monotheismus, vergleichbar dem Wechsel der Gezeiten, feststellen (»Lex Hume«).[20] Zwar ergebe sich der Monotheismus meist aus vernünftigem Denken, doch sei die Vernunft gegenüber den Leidenschaften meist schwach und weitgehend machtlos, und dies ganz besonders bei den ungebildeten niederen Klassen. Dadurch wird es wahrscheinlich, daß diese auch unter den Bedingungen eines offiziellen Monotheismus, weil dieser bei ihnen nicht vernunftbegründet sei, sondern sich aus der bloßen Sehnsucht nach dem stärksten Gott ergebe, immer wieder zum Polytheismus zurückstrebten. Dieser kann deshalb zumindest überleben oder sogar neu an Kraft gewinnen. Es war vor allem Humes Freund Edward Gibbon, der große Historiker des Niedergangs und Endes des römischen Imperiums, der diesen Gedanken aufgriff und mit ihm die Entstehung des christlichen Heiligenkults in der Spätantike zu erklären unternahm.[21] Aber auch Hume selbst sprach schon in diesem Sinn vom Marienkult des lateinischen Christentums und der Nikolausverehrung in der russischen Orthodoxie. Islam und Protestantismus 36lassen sich so als Gegenbewegungen zu polytheistischen Deformationen interpretieren.
Die vierte These schließlich hat besondere Sprengkraft. Ihr zufolge ist der Polytheismus seinem Wesen nach toleranter als der Monotheismus, da es leicht sei, in ein heterogenes Pantheon auch neue Götter zu integrieren, während Monotheismen per definitionem darauf drängten, die Verehrung keines anderen Gottes zuzulassen. Angesichts ihrer Tendenz zur Unterdrückung oder Vernichtung konkurrierender Religionen und der in die Monotheismen eingebauten Spaltungs-, Missions- und Expansionstendenzen sei Toleranz nur schwer mit ihren Prämissen vereinbar. Für Gibbon war es deshalb völlig verständlich, daß sich der römische Staat gegen seine intoleranten christlichen Bürger mit allen Mitteln zur Wehr setzte.[22] Auch hier ist hervorzuheben, wie stark Hume und Gibbon von dem abweichen, was wir uns landläufig als aufklärerisches Religionsdenken vorstellen. In einer Zeit, in der auch die meisten aufgeklärten Kritiker des Christentums nicht an der moralischen Überlegenheit des Christentums gegenüber anderen Religionen zweifelten, erhob Hume den sensationellen Anspruch, unter dem Gesichtspunkt des Friedens nicht nur allen Religionen ein gefährliches Potential, sondern der vernünftigeren Religion sogar ein größeres Gefahren-, ja sogar Gewaltpotential zuzuschreiben. Überhaupt drängten gerade anspruchsvollere Religionen natürliche moralische Regungen eher zurück. Doch sei auch schon die bloße Betonung von strikt einzuhaltenden Ritualvorschriften in Religionen eine Gefahr für die Befolgung natürlicher moralischer Impulse.
Zumindest einzelne der vier Thesen, auf die ich hier Humes Argumentation gebracht habe, sind heutigen Lesern möglicherweise bekannt — selbst dann, wenn sie sich mit David Humes Werk selbst nie beschäftigt haben. Denn es ist wohl nicht übertrieben, zu behaupten, daß Humes Thesen bis in unsere Zeit we37sentliche Bestandteile, ja geradezu Topoi der Religionskritik darstellen. Dies gilt etwa für die Thesen, daß es keine natürliche Disposition zum Monotheismus gebe und daß Religion aus dem Versuch zur Bewältigung von Kontingenzerfahrungen erwachse. Manchmal werden von Hume inaugurierte Thesen heute eher unter Bezug auf andere Religionskritiker von Feuerbach bis Freud erörtert, aber es ist nicht zu leugnen, daß sich auch die Ideen von Anthropomorphismus und Projektion schon bei Hume finden. Im übrigen klingt selbst das nietzscheanische Motiv einer antichristlichen Aufwertung des Heldischen gegenüber dem Heiligen bei Hume bereits an, wenn er die Religionsformen in Hinsicht auf Mut und Erniedrigung miteinander vergleicht und dabei den Unterschied »zwischen den Maximen eines griechischen Helden und eines katholischen Heiligen«[23] im Umgang mit Ungeziefer und niedrigen Tieren herausarbeitet. Die These zum Gewaltpotential des Monotheismus schließlich ist irritierenderweise hierzulande heute als »Assmann-These« bekannt, obwohl sie sich in sehr ähnlicher Gestalt schon zweieinhalb Jahrhunderte früher bei Hume findet. Es ist faszinierend, die frühen Formulierungen all dieser Gedanken wie in einem Kompendium gesammelt sehen zu können. Zu allen vier Thesen gibt es seit Hume auch eine reiche empirische und theoretische Literatur. Ein kurzer Blick auf diese, wie ich ihn jetzt werfen will, kann der Komplexität der Gegenstände gewiß nicht völlig gerecht werden. Aber er dient hier ja auch nicht dazu, ein endgültiges empirisches Urteil zu sprechen, sondern die Möglichkeit einer empirischen Wissenschaft von der Religion jenseits des Konflikts von Glauben versus Unglauben darzutun.
Der entscheidende Schritt hinsichtlich der ersten These bestand in der religionsgeschichtlichen Forschung darin, die simple Alternative von Polytheismus und Monotheismus zu überwinden. Hume bewegte sich in dieser Alternative, als schöpfe 38sie die Möglichkeiten aus und als böte sie das selbstverständliche Schema für die Klassifikation der Religionen. Das lag daran, daß auch für ihn trotz aller Betonung der Leidenschaften und Gefühle Religionen vornehmlich Glaubenssysteme darstellten, wie sich in seiner Polemik gegen die Rolle von Erzählungen, »zusammenhanglosen und unsicheren Erdichtungen« (S. 52) in den »heidnischen Religionen« zeigt. Das aber änderte sich im neunzehnten Jahrhundert an vielen Fronten. Für die Polytheismus-Frage am wichtigsten waren dabei die Arbeiten des französischen Historikers Fustel de Coulanges zur Religion in der griechisch-römischen Antike.[24] Er demonstriert, daß wir diese überhaupt nicht richtig verstehen, wenn wir sie im Sinne eines Glaubens an ein unübersichtliches Pantheon auffassen. Wir müßten unsere Aufmerksamkeit statt dessen völlig umlenken, nämlich weg von Glaubensvorstellungen und hin zu den Praktiken der in der Antike ausgeführten Rituale. Zentral für ihn waren etwa der Kult um das heimische Herdfeuer als Haus- und Familienkult und Rituale, in denen sich die Polis oder der Staat und das Reich selbst feiern konnten. Ganz unabhängig von der Frage, wie zutreffend diese Analysen waren, ist festzustellen, daß von ihnen ein enorm wichtiger Anstoß ausging, auch andere Religionen ganz neu in Hinsicht auf die konstitutive Rolle von Ritualpraktiken in den Blick zu nehmen. Dieser Impuls wurde auch in der Erforschung der »semitischen« Religionsgeschichte, wie man sagte, aufgenommen[25] und dann, außerhalb des Feldes der Religionsgeschichte, in der Ethnologie oder Anthropologie. Robert Ranulph Marett etwa spricht Ende des neunzehnten Jahrhunderts unter Bezug auf Ritualpraktiken und die damit verknüpften Erfahrungen von »Theoplasma«,[26]39einem Stoff gewissermaßen, aus dem die verschiedensten Gottesvorstellungen sich ergeben — als Versuche von Menschen, die gemachten Erfahrungen zunächst in mythischen Erzählungen und später vielleicht sogar in abstrakten Glaubenssätzen zu deuten. Diese Arbeiten flossen um 1900 ein in den breiten Diskurs über das »Heilige« in den Wissenschaften, die sich mit Religion beschäftigen, ganz besonders in der Schule des französischen Begründers der Soziologie, Émile Durkheim — der übrigens ein Student von Fustel de Coulanges gewesen war. Indem das Heilige zum Definitionsmerkmal von Religion wurde, rückte die Rede vom einen Gott oder von mehreren Göttern aus der Zentralposition heraus. Es wurde nun möglich, apersonale sakrale Kräfte ebenso zu denken wie variierende Weisen, sich das Heilige personal verkörpert vorzustellen.[27]
Mit seiner zweiten These, daß Religion psychologische Wurzeln habe, konnte Hume durchaus seinerseits an Vorläufer seit der Antike (wie Lukrez) und Denker wie Hobbes, Mandeville und Spinoza anknüpfen. Als Inspiration für die sich entwickelnde empirische Religionspsychologie kann man ihn aber kaum bezeichnen, da sich die einfache Vorstellung eines irregeleiteten Begreifenwollens unerwarteter oder gefürchteter Lebensereignisse doch als viel zu eng erwies. Schon der Akzent auf negativer Kontingenz (Furcht und Leid) ist einseitig; in der späteren Literatur werden viel mehr als bei Hume positive Kontingenzerfahrungen wie die der ekstatischen Begeisterung oder überströmenden Dankbarkeit — etwa gegenüber der Schönheit der Schöpfung oder für die Sicherheit des Geliebtwerdens — als ebenso wichtig oder gar wichtiger hervorgehoben. Dies geschah etwa in der brillanten Synthese der frühen religionspsychologischen Forschung bei William James (1902) in seinem 40Buch Die Vielfalt religiöser Erfahrung,[28] ebenso bei Émile Durkheim, der hervorhebt, daß »an der Wurzel des Totemismus […] eher Gefühle freundlicher Zuversicht als Gefühle des Schreckens und des Zwanges« stünden.[29] Das Bild wurde noch viel reichhaltiger, sobald das Wechselspiel von Erfahrung und Deutung, von dem bei Hume keine Rede ist, ernst genommen wurde: die Versuche, der Erfahrung kreativ Ausdruck zu geben, und die Bedeutung, die Religionen dabei haben, Erfahrungen überhaupt erst möglich zu machen oder auch zu verhindern.
Was die dritte These und damit die angebliche Oszillation zwischen Monotheismus und Polytheismus betrifft, sind besonders die Forschungen des großen Kirchenhistorikers und Augustinus-Biographen Peter Brown zur Entstehung des christlichen Heiligenkults bahnbrechend gewesen.[30] In direkter Auseinandersetzung mit Hume und Gibbon hat er nachzuweisen versucht, daß wir uns diesen Prozeß nicht als paganen Rückfall vorstellen dürfen. Zum einen gab es auch schon im hellenistischen Judentum Märtyrerverehrung und, was Christoph Markschies hervorhebt, eine Personalisierung guter (und böser) Mächte etwa in der Lehre von den Engeln und Erzengeln und dem ganzen himmlischen Hofstaat.[31] Zum anderen trifft es empirisch einfach nicht zu, daß vor allem das ungebildete Volk solche Tendenzen zeigte. Auch die Bildungselite und führende Theologen waren daran beteiligt. Die These vom Rückfall würde es nahelegen, den jüngst Christianisierten eine höhere Verführbarkeit 41zur Repaganisierung zu unterstellen; dies ist aber nicht nachzuweisen. Heute hat sich deshalb die Auffassung durchgesetzt, daß wir im Heiligenkult einen Teil einer neu konstituierten sozialen Ordnung zu sehen haben, in der Patronage- und Klientelerwartungen, wie sie in der spätantiken Ordnung üblich waren, von Welt und Staat distanziert auf Märtyrer oder andere Heilige übertragen wurden.
Die vierte These — Toleranz des Polytheismus, Intoleranz des Monotheismus — wurde in den letzten Jahrzehnten zunächst eher etwas spielerisch in der deutschen Philosophie aufgenommen.[32] Zur Prominenz kam sie, wie erwähnt, durch den Ägyptologen Jan Assmann, der von der »mosaischen Unterscheidung« zwischen Wahrheit und Unwahrheit auf dem Gebiet der Religion schrieb.[33] Assmann legt großen Wert darauf, daß er mit seiner These Hume nicht einfach wiederhole. Er spricht von dessen These als einer »uralten Argumentation, in deren ausgefahrenen Bahnen« er sich mit seinem ursprünglichen Moses-Buch »eher nicht bewegen wollte«.[34] Nicht der Monotheismus, sondern die Wahrheitsorientierung sei ausschlaggebend bei der Frage nach Intoleranz und Gewalt. Mit dieser Verschiebung wird eine höhere Plausibilität erreicht. Es wäre ja absurd, mythischen Kulturen ein Ethos der Toleranz zuzuschreiben. Worum es geht, ist vielmehr, daß mythische Erzählungen nebeneinander bestehen können, ohne einander zu verdrängen.[35] Von Hume her kommend ist allerdings zu fragen, ob dann nicht auch die 42Philosophen (und nicht nur die Propheten) der Geschichte von Intoleranz und Gewalt Vorschub geleistet haben.[36] Assmann ist allerdings keineswegs eindeutig; immer wieder bejaht er ausdrücklich die zentrale Bedeutung des Monotheismus für die Entstehung einer »neuartigen, rein religiösen Motivation für Gewalt und Intoleranz«.[37] Die Hervorhebung der Wahrheitsfrage bei Assmann erscheint dann nicht als Alternative zu Humes These, sondern als deren Begründung.
Seine These führte zu einer außerordentlich verzweigten Debatte, die keineswegs beendet ist, hier aber nicht rekapituliert werden soll. In deren Verlauf hat Jan Assmann seine These immer weiter eingeschränkt und damit partiell zurückgenommen; er hat sie dann auch von der Frage nach der Wahrheit zu der nach Treue und Verrat hin verschoben. Nicht aller Monotheismus sei gewaltaffin, nur ein exklusiver — was allerdings in Gefahr ist, auf die Tautologie hinauszulaufen, einer intoleranten Form von Religion die Neigung zu ebendieser Intoleranz zu attestieren.
Diese ganze Debatte blieb sehr stark auf die abrahamitischen Religionen und ihr vermeintliches oder wirkliches Gewaltpotential beschränkt. Sie bedarf dringend der Öffnung gegenüber der Forschung zur Rolle der Gewalt in Konflikten, die von nichtmonotheistischen Religionen inspiriert sind. Für das Verständnis des langjährigen Bürgerkriegs in Sri Lanka oder des heutigen Konflikts in Myanmar ist dies von höchster aktueller Bedeutung. Ein Beispiel aus der historischen Forschung soll dies zunächst veranschaulichen. Der Buddhismus-Experte Perry Schmidt-Leukel hat in faszinierender Weise gezeigt, wie der 43Hinduismus im Zeichen der Bedrohung durch den Buddhismus einen apokalyptischen Gewaltmythos produzierte.[38]