Im Frühling - Karl Ove Knausgård - E-Book

Im Frühling E-Book

Karl Ove Knausgård

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Beschreibung

Die Jahreszeiten-Bände von Karl Ove Knausgård: "Im Frühling" ist der dritte Teil einer aus vier Bänden bestehenden grandiosen Liebeserklärung an das Leben und die sinnlich erfahrbare Welt. Enthalten: ein Tag im Leben einer Familie, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang.

In diesem Kurzroman begleiten wir einen Vater und seine drei Monate alte Tochter durch einen Tag im Frühling. Ein Tag, geprägt vom Anfang des Lebens, von Aufbruch und Licht, aber auch von Dunkelheit und Beschwernis.

"Noch hing etwas Sparsames über allem, die Landschaft war ohne diese tiefe Fülle, die der Sommer brachte, das Grün der Bäume war vorerst nur ein Schimmer, denn so ist der April: Knospen, Keime, Ungewissheit, Zögern. Der April liegt zwischen dem großen Schlaf und dem großen Sprung. Der April ist die Sehnsucht nach etwas Anderem, wobei dieses Andere noch unbekannt ist."

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Buch

Die Jahreszeiten-Bände von Karl Ove Knausgård: »Im Frühling« ist der dritte Teil einer aus vier Bänden bestehenden grandiosen Liebeserklärung an das Leben und die sinnlich erfahrbare Welt. Enthalten: ein Tag im Leben einer Familie, zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang.

In diesem romanhaften Text begleiten wir einen Vater und seine drei Monate alte Tochter durch einen Tag im Frühling. Ein Tag, geprägt vom Anfang des Lebens, von Aufbruch und Licht, aber auch von Dunkelheit und Beschwernis. »Noch hing etwas Sparsames über allem, die Landschaft war ohne diese tiefe Fülle, die der Sommer brachte, das Grün der Bäume war vorerst nur ein Schimmer, denn so ist der April: Knospen, Keime, Ungewissheit, Zögern. Der April liegt zwischen dem großen Schlaf und dem großen Sprung. Der April ist die Sehnsucht nach etwas Anderem, wobei dieses Andere noch unbekannt ist.«

»In diesem Buch wagt Knausgård mehr als je zuvor … eine mächtige Erzählung über die Liebe.« Stavanger Aftenblad

Autor

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt mit seiner Familie an der schwedischen Südküste.

KARL OVE KNAUSGÅRD

IM FRÜHLING

Mit Bildern von Anna Bjerger

Aus dem Norwegischen von Paul Berf

LUCHTERHAND

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die norwegische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »OM VÅREN« im Verlag Oktober, Oslo.

Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert. Der Verlag bedankt sich dafür.

Copyright © der Originalausgabe 2016 Forlaget Oktober as, Oslo

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Luchterhand Literaturverlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Lektorat: Regina Kammerer

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Schutzumschlaggestaltung: buxdesign, München

Schutzumschlagillustrationen: Anna Bjerger

ISBN 978-3-641-18744-6V002

www.luchterhand-literaturverlag.de

EINS

Du weißt nicht, was Luft ist, dennoch atmest du. Du weißt nicht, was Schlaf ist, dennoch schläfst du. Du weißt nicht, was Nacht ist, dennoch ruhst du in ihr. Du weißt nicht, was das Herz ist, dennoch schlägt es regelmäßig in deiner Brust, Tag und Nacht, Tag und Nacht, Tag und Nacht.

Du bist drei Monate alt und in alltägliche Abläufe gehüllt, liegst tagein, tagaus auf einem Lager aus immer Gleichem, denn du hast keinen Kokon wie die Raupen, du hast keinen Beutel wie die Kängurus, du hast keinen Bau wie die Dachse oder Bären. Du hast das Fläschchen mit Milch, du hast die Wickelauflage mit Windeln und feuchten Tüchern, du hast den Kinderwagen mit Kissen und Decke, du hast die großen, warmen Körper deiner Eltern. Umgeben von all dem wächst du so langsam, dass niemand es merkt, am wenigsten du selbst, denn erst wächst du nach außen, indem du greifst und erfasst, was dich umgibt, mit den Händen, dem Mund, den Augen, den Gedanken, die so erschaffen werden, und erst, wenn du dies etwa ein Jahr lang getan hast und die Welt eingerichtet ist, entdeckst du nach und nach, was dich selbst erfasst, und du wächst auch nach innen, zu dir selbst.

Wie ist die Welt für ein neugeborenes Kind?

Hell, dunkel. Kalt, warm. Weich, hart.

Das gesamte Arsenal von Dingen, die sich in einem Haus befinden, all der Sinn, den die Beziehungen in einer Familie stiften, all die Bedeutung, in der alle Menschen wohnen, ist unsichtbar, nicht im Dunkeln verborgen, sondern im Licht des Undifferenzierten.

Jemand erzählte mir einmal, Heroin sei so fantastisch, weil die Gefühle, die es zum Leben erweckt, mit jenen verwandt sind, die wir als Kinder empfinden, wenn sich um alles gekümmert wird, diese unendliche Geborgenheit, in der wir daraufhin leben und die so grundlegend gut ist. Alle, die diesen Rausch erlebt haben, wollen ihn wieder erleben, denn nun wissen sie, es gibt ihn und er ist möglich.

Das Leben, das ich führe, ist von deinem durch einen Abgrund getrennt. Es ist voller Probleme, Konflikte, Pflichten, voller Dinge, die erledigt, getan, bewältigt werden müssen, voller Willen, die befriedigt, Willen, die abgewiesen und vielleicht auch verletzt werden müssen, alles in einem steten Strom, in dem kaum etwas stillsteht, sondern alles in Bewegung ist, und in dem auf alles reagiert werden muss.

Ich bin sechsundvierzig, und das ist meine Erkenntnis, das Leben besteht aus Ereignissen, auf die reagiert werden muss. Und dass sämtliche Glücksmomente um das Gegenteil kreisen.

Was ist das Gegenteil davon, zu reagieren?

Es ist nicht Regression, es ist nicht, sich deiner Welt aus Licht und Dunkel, Wärme und Kälte, Weichem und Hartem zuzuwenden. Es ist auch nicht das Licht des Undifferenzierten, es ist nicht der Schlaf oder das Ruhen. Das Gegenteil davon, zu reagieren, ist, zu erschaffen, zu machen, etwas hinzuzufügen, was vorher nicht da war.

Du warst vorher nicht da.

Liebe ist kein Wort, das ich oft in den Mund nehme, im Verhältnis zu dem Leben, das ich führe, im Verhältnis zu der Welt, die ich kenne, erscheint es mir zu groß. Außerdem bin ich in einer Kultur aufgewachsen, die mit Worten vorsichtig umging. Meine Mutter hat mir niemals gesagt, dass sie mich liebt, und ich habe niemals gesagt, dass ich sie liebe. Für meinen Bruder gilt das Gleiche. Hätte ich zu meiner Mutter oder meinem Bruder gesagt, dass ich sie liebe, wären sie entsetzt gewesen. Ich hätte ihnen eine Bürde auferlegt, in brachialer Weise das Gleichgewicht zwischen uns verschoben, in etwa so, als wäre ich bei einer Kindstaufe betrunken umhergetorkelt.

Als du geboren wurdest, wusste ich nichts über dich, trotzdem wurde ich von Gefühlen für dich erfüllt, zunächst überwältigenden, denn eine Geburt ist überwältigend, auch für den Zuschauer – als würde sich alles im Raum verdichten, als entstünde eine Schwerkraft, die jeglichen Sinn anzieht, so dass er sich für ein paar Stunden nur dort befindet, danach immer geglätteter werdend, gleichsam in den Alltag eingeordnet, verdünnt durch die Ereignislosigkeit aller Stunden, aber trotzdem immer da.

Ich bin dein Vater, und du kennst mein Gesicht, meine Stimme und die verschiedenen Arten, wie ich dich halte, aber abgesehen davon könnte ich für dich irgendwer sein, erfüllt von irgendetwas. Mein eigener Vater, dein Großvater, der nicht mehr lebt, verbrachte die letzten Lebensjahre mit seiner Mutter, und ihr Dasein war erbarmungslos. Er war Alkoholiker und regressiv, er besaß nicht mehr die Kraft, auf etwas zu reagieren, hatte stattdessen alles losgelassen, saß nur noch da und trank. Dass er dies bei seiner Mutter tat, bedeutete etwas. Sie hatte ihn geboren, sie hatte ihn gewickelt und mit sich herumgetragen, dafür gesorgt, dass er warm, trocken, satt gewesen war. Das Band, das so zwischen ihnen entstand, wurde niemals zerrissen. Er versuchte es, das weiß ich, schaffte es aber nicht. Deshalb war er dort. Darin konnte er untergehen. Ganz gleich, wie verquer, ganz gleich, wie hässlich dies sein mochte, war es doch auch Liebe. Irgendwo im tiefsten Inneren gab es Liebe, eine bedingungslose Liebe.

Damals hatte ich noch keine Kinder, deshalb wusste ich das nicht. Ich sah nur das Hässliche, Unfreie, die Regression. Heute weiß ich es. Liebe ist viel, das Meiste an ihr ist flüchtig, verbunden mit allem, was geschieht, allem, was kommt und geht, allem, was uns erst erfüllt, uns dann entleert, aber die bedingungslose Liebe ist konstant und glüht schwach das ganze Leben hindurch, und ich möchte, dass du das weißt, denn auch du wurdest in sie hineingeboren, und sie wird dich umschließen, egal, was auch geschieht, solange deine Mutter und ich leben.

Mag sein, dass du gar nichts von ihr wissen willst. Mag sein, dass du dich von ihr abwendest. Aber eines Tages wirst du verstehen, dass dies keine Rolle spielt, dass es nicht das Geringste ändert, dass die bedingungslose Liebe die einzige Liebe ist, die nicht bindet, sondern befreit.

Was uns bindet, das ist etwas anderes, eine andere Form von Liebe, weniger rein, stärker vermengt mit dem Menschen, der liebt, und sie hat größere Kraft, sie kann einen Schatten auf alles andere werfen, sogar zerstören. Dann muss auf sie reagiert werden.

Ich weiß nicht, wie dein Leben aussehen wird, ich weiß nicht, was aus uns wird, aber ich weiß, wie dein Leben ist und wie es uns heute geht, und da du dich an nichts davon erinnern wirst, absolut nichts, werde ich dir von einem Tag in unserem Leben erzählen, in jenem ersten Frühling, den du erlebt hast. Du hattest dünne Haare, im Licht sahen sie rötlich aus, und sie wuchsen ungleich verteilt; in einem Kreis an deinem Hinterkopf gab es kein einziges Haar, wahrscheinlich, weil er fast immer auf etwas gepresst lag, auf Kissen und Decken, Couch und Stühle, aber ich fand es trotzdem merkwürdig, denn deine Haare waren doch nicht wie das Gras, das nur dort sprießt, wo die Sonne scheint und die Luft strömt?

Dein Gesicht war rund, dein Mund klein, aber die Lippen waren relativ breit, und deine Augen waren rund und recht groß. Du schliefst in deinem Gitterbett am einen Ende des Hauses, wo ein Mobile mit afrikanischen Tieren über dir hing, während ich in einem Bett neben deinem schlief, denn mein Job war es, dich nachts zu behüten, weil deine Mutter so einen leichten Schlaf hatte, während ich tief und fest schlief wie ein Kind, egal, was um mich herum geschah. Es kam vor, dass du in der Nacht aufwachtest und schriest, weil du hungrig warst, aber da ich nicht wach wurde oder dich nur als irgendetwas in weiter, sehr weiter Ferne hörte, musstest du auf die brutale Art lernen, dass du nichts zu erwarten hattest, solange es dunkel war, so dass du nach ein paar Wochen die ganze Nacht durchschliefst, von sechs Uhr abends, wenn du ins Bett gelegt wurdest, bis sechs Uhr morgens, wenn du wach wurdest.

Dieser Morgen begann wie alle anderen. Du wurdest im Dunkeln wach und begannst zu schreien.

Wie viel Uhr war es?

Ich tastete nach dem Smartphone, das eigentlich auf dem Fensterbrett gleich über meinem Kopf liegen sollte.

Da war es.

Das Licht des Bildschirms, der nicht größer war als meine Hand, erfüllte fast das ganze dunkle Zimmer mit vager Helligkeit.

Zehn nach halb sechs.

»Oh, das ist aber früh, mein Mädchen«, sagte ich und setzte mich auf. Es rasselte und pfiff in meiner Brust durch die Bewegung, und ich hustete eine Weile.

Du warst still geworden.

Ich ging die zwei Schritte zum Gitterbett, beugte mich über dich, legte links und rechts eine Hand um deinen kleinen Brustkorb und hob dich hoch, drückte dich an meinen Oberkörper, eine Hand unter deinen Nacken und Hinterkopf gelegt, obwohl du den Kopf inzwischen selbst halten konntest.

»Hallo«, sagte ich. »Hast du gut geschlafen?«

Du atmetest ruhig und hieltst deine Wange an meine Brust gepresst.

Ich trug dich den Flur hinab und ins Bad. Durch das Fenster sah ich einen schmalen Lichtstreif knapp über dem Horizont im Osten, rötlich im Kontrast zum schwarzen Himmel und der schwarzen Erde. Es war kalt im Haus, die Nacht war sternenklar gewesen und die Temperatur mit Sicherheit gefallen, aber zum Glück war in der Nacht der Wäschetrockner gelaufen, und etwas von seiner Wärme, die manchmal beinahe tropisch war, hielt sich noch im Raum.

Behutsam legte ich dich auf die Wickelauflage, die eingeklemmt zwischen Badewanne und Waschbecken lag, und hustete erneut. Ein Pfropfen löste sich im Hals, ich spuckte ihn ins Becken, drehte den Hahn auf, um ihn hinunterzuspülen, sah, wie er auf der kleinen Metallwand im Abfluss liegen blieb, glatt und zäh, während ihn das Wasser von beiden Seiten überspülte, bis er sachte auf die eine Seite hinüberglitt und dann abrupt, wie aus eigenem Willen, im Abfluss verschwand. Ich warf einen kurzen Blick in den Spiegel über dem Becken, auf mein maskenhaftes Gesicht, das mich anstarrte, drehte das Wasser ab und beugte mich über dich.

Du schautest zu mir hoch. Falls du an etwas gedacht hast, konnte dies unmöglich mit Worten und Begriffen geschehen, konnte es nichts sein, was du formuliertest, nur etwas, was du fühltest. »Da ist er«, hast du vielleicht empfunden, wenn du mich ansahst, und auf das Gesicht, das du erkanntest, folgte eine Reihe anderer Gefühle, verbunden mit dem, was ich regelmäßig mit dir machte und wie ich es tat. Vieles in dir muss vage und offen gewesen sein wie die Verschiebungen des Lichts am Himmel, aber in manchen Momenten musste sich alles sammeln und zu etwas Deutlichem und Unumgänglichem werden, das waren dann die grundlegenden körperlichen Gefühle, der Strom aus Hunger, der Strom aus Durst, der Strom aus Müdigkeit, der Strom aus dem zu Kalten und dem zu Warmen. Das waren die Augenblicke, in denen du anfingst zu weinen.

»Woran denkst du?«, sagte ich, um dich ein wenig abzulenken, als ich die ersten Knöpfe des weißen Pyjamas öffnete, aber deine Unterlippe schob sich trotzdem vor, und der Mund begann zu zittern. Ich schnippte mit dem Zeigefinger gegen das Heck eines der kleinen Holzflugzeuge, die über der Wickelkommode hingen, so dass es sich drehte. Anschließend machte ich das Gleiche mit dem nächsten und dem nächsten.

»Sag nicht, dass du auch heute wieder auf den alten Trick hereinfällst«, meinte ich.

Doch das tatst du. Mit großen Augen starrtest du die Bewegungen in der Luft an, während ich dir den Pyjama auszog. Als ich ihn in den Wäschekorb legte, drang durch die Decke über uns das Geräusch von Schritten zu uns herab. Das musste die jüngere deiner beiden älteren Schwestern sein, denn die ältere schlief immer möglichst lange, und dein Bruder war wahrscheinlich schon aufgestanden. Ich löste die Klebestreifen der Windel und zog sie dir aus. Sie war schwer, spürte ich, als ich sie zum Windeleimer trug, auf diese unerwartete Weise schwer, wie Windeln es zuweilen sind, deren Material einen eigentlich etwas Leichtes erwarten lässt. Ich mochte diese Schwere, sie sagte mir, dass alles in Ordnung war. Dass dein Körper funktionierte, wie er sollte. Alles andere ging kaputt, angefangen bei der Neonröhre über dem Herd, die vor über einem Jahr zunächst immer wieder geflackert hatte, dann ganz erloschen war und weiterhin unnütz in ihrer Fassung hing, bis zu dem Auto, das auf einmal angefangen hatte zu klappern, sobald es eine bestimmte Geschwindigkeit überschritt, und das von einem Abschleppwagen geholt und in eine Werkstatt gebracht worden war – ganz zu schweigen von den vielen Lebensmitteln, die verschimmelten oder verdarben, von Hemdknöpfen, die abgingen, oder Reißverschlüssen, die sich verhakten, von der Spülmaschine, die nicht mehr funktionierte, oder dem vom Küchenbecken ausgehenden Rohr, das an irgendeiner Stelle draußen im Garten verstopft gewesen war, wahrscheinlich von erstarrtem Fett, wie der Klempner meinte, als er bei uns war, um das Problem zu beheben. Aber die Kinderkörper in diesem Haus, außen so glatt und weich und innen unendlich komplizierter als jede Maschine oder mechanische Konstruktion, hatten immer perfekt funktioniert, hatten nie den Geist aufgegeben, waren nie kaputtgegangen.

Ich zog dir eine neue Windel an, weitete mit den Händen die Öffnung eines Bodys und streifte ihn dir über den Kopf. Langsam und reptilienartig bewegtest du Arme und Beine. Ich hob dich hoch und trug dich in die Küche, die im selben Moment mit nackten Beinen und verschlafenen kleinen Augen deine Schwester betrat.

»Guten Morgen«, sagte ich. »Hast du gut geschlafen?«

Sie nickte.

»Kann ich sie halten?«

»Ja, das wäre super«, erwiderte ich. »Dann mach ich ihr eine Milch. Setz dich auf die Bank.«

Sie setzte sich auf die Bank, und ich reichte dich ihr. Während ich Wasser in den leuchtend gelben Kocher füllte, Milchpulver und Flasche herausholte, sechs Löffel in das lauwarme Wasser gab, lagst du halb aufgerichtet in ihrem Schoß und strampeltest.

»Ich glaube, sie ist ganz fröhlich«, sagte deine Schwester und hatte deine kleinen Fäuste in ihre Hände genommen, die plötzlich groß wirkten.

Sie war neun Jahre alt und dachte mehr an andere als an sich selbst, ein Charakterzug von ihr und etwas, worüber ich oft nachdachte. Woher er wohl kam? Sie war eine helle Seele, das Leben durchströmte sie ohne viele Hindernisse, und vielleicht führte die Tatsache, dass sie nicht an sich selbst zweifelte, sich selbst nie in Frage stellte, irgendwie dazu, dass alles, was sie war, keine Kraft oder Anstrengungen erforderte, wodurch in ihr viel Raum für anderes war. Wenn ich wütend auf sie wurde und nur ein klein wenig meine Stimme erhob, reagierte sie heftig und brach mit einer Verzweiflung in Tränen aus, die so groß war, dass ich es nicht ertrug und auf der Stelle versuchte, alles zurückzunehmen, meistens in einer der vielen Ecken des Hauses, in die sie sich zurückzog, um mit ihrem Elend allein zu sein. Aber dazu kam es so gut wie nie, zum einen, weil sie kaum jemals etwas anstellte, zum anderen, weil die Konsequenzen für sie so groß waren.

»Ja, das ist gut«, sagte ich, schraubte den Verschluss auf, klappte den weichen Sauger mit dem Daumen zur Seite, damit nichts herausspritzte, und schüttelte das Fläschchen. Im Osten war der rote Streifen gewachsen, und seine Farbe war nicht mehr so konzentriert, es sah aus, als hätte man sie verdünnt, während der Himmel über ihr blasser geworden war. Die Erde, die sich zu allen Seiten hin flach ausbreitete, reflektierte das Licht noch nicht, sowenig wie die Bäume im Garten, im Gegenteil, sie saugte es gewissermaßen an, so dass die Schwärze langsam von gräulichen Körnern gefüllt wurde, vor Dunkelheit fast berstend.

»Hast du Lust, ihr das Fläschchen zu geben?«, sagte ich.

Sie nickte.

»Ich muss nur vorher kurz auf die Toilette.«

Ich nahm dich auf den Arm und ging ins Wohnzimmer, wo dein Bruder mit einem Pad vor sich auf der Couch lag und spielte. Er trug einen grünen Pyjama, der ihm zu klein geworden war, und seine Haare waren zerzaust.

»Hier bist du also«, sagte ich. »Bist du schon lange auf?

»Ja«, sagte er, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.

»Du weißt, dass du morgens nicht spielen darfst?«

»Ja«, sagte er.

Er schaute zu mir hoch und grinste. Du schautest zu der Lampe im Bücherregal.

»Aber es gibt nichts anderes zu tun«, erklärte er.

»Du könntest lesen«, sagte ich.

»Das ist langweilig«, erwiderte er.

»Du könntest dich schon einmal anziehen«, sagte ich und setzte mich. »Oder findest du das auch langweilig?«

»Ja«, sagte er und lachte. »Alles ist langweilig!«

Ich legte dich in meinen Schoß, mit dem Hinterkopf auf meinen Knien, die ich etwas anhob, so dass du in einer fast sitzenden Haltung warst, und begegnete deinem Blick.

Du breitetest die Arme aus und brachtest einen gurgelnden Laut hervor.

»Woran hast du gedacht?«, sagte ich.

Du starrtest mich eifrig an

»Weißt du, was wir heute machen?«, sagte ich.

Du schienst den Kopf bewegen zu wollen, konntest ihn aber nicht wirklich kontrollieren, woraufhin er ein wenig zur Seite fiel.

»Wir besuchen deine Mama in Helsingborg«, sagte ich. »Wir fahren zu ihr, nachdem wir die anderen zur Schule gebracht haben.«

»Ich will auch Mama besuchen«, sagte dein Bruder und kauerte sich neben uns zusammen. Du starrtest mich weiter mit weit aufgerissenen Augen an. Zwei, drei Mal am Tag saßen wir so da, es war eine Art Training, das aus Furcht entstanden war, denn als du neugeboren warst, bekam ich keinen richtigen Kontakt zu dir. In deinem ersten Lebensmonat hast du fast die ganze Zeit geschlafen, und wenn du nicht schliefst, hast du meistens weggesehen. Diesen Zug kannte ich von deinen Geschwistern nicht; im Gegenteil, ich meinte mich erinnern zu können, dass sie meinem Blick mit offenen, neugierigen Augen begegnet waren. Diesen Kontakt hatte ich nicht vergessen, weil er mir das Gefühl gab, sie zu sehen, wer sie waren, dass sie in ihren Augen sichtbar wurden. Wenn ihr Inneres wie ein Wald aus ungetrennten Gefühlen war, erschienen diese Augenblicke wie eine Lichtung in ihm, ein unvermittelt offenes Gelände. In deinen Augen sah ich das nicht, du warst in deinem Blick irgendwie nicht gegenwärtig, und das machte mir Angst. Ich dachte, dass etwas nicht stimmte. Ich dachte, du hättest vielleicht einen Gehirnschaden oder könntest autistisch veranlagt sein. Ich sprach mit niemandem darüber, weil ich daran glaube, dass etwas wahr wird, sobald man es ausspricht. Solange es unausgesprochen bleibt, ist es, als existierte es nicht ganz. Und wenn es nicht ganz existiert, hat es sich nicht festgesetzt, und wenn es sich nicht festgesetzt hat, kann es auch wieder verschwinden.

Ich verschließe mit anderen Worten die Augen vor dem, was unangenehm ist. Und dies war mehr als unangenehm, es war folgenschwer.

Du sahst uns nicht an.

Einen Monat ging das so. Dann bist du allmählich aufgetaucht, dann warst du mehr und mehr anwesend im Raum und nicht nur versunken in dir selbst. Und als ich das sah, dass du in deinen Augen zum Vorschein kamst, und später dann, dass Freude in ihnen war, verschwand meine Sorge. Du wurdest einen Monat zu früh geboren, und vielleicht lag es ja daran, du hast diese zusätzlichen Wochen für dich selbst gebraucht. Doch der Schreck, der mir in die Glieder gefahren war, führte dazu, dass ich besonders darauf bedacht war, dich anzusprechen, dich anzusehen, mit dir zu reden, mit dir zu spielen.

Dass du einen Gehirnschaden haben oder autistisch sein könntest, befürchtete ich, weil deine Mutter in der Schwangerschaft einmal starke Medikamente genommen hatte. Sie war in Not gewesen, und die Medikamente, die ihr halfen, waren an dich angepasst gewesen, so dass eigentlich keine Gefahr bestanden hatte, aber du wurdest sicherheitshalber trotzdem auf einer Spezialstation geboren, auf der du in der ersten Woche beobachtet wurdest. Es gab keine Anzeichen dafür, dass etwas nicht stimmte, du warst kerngesund, aber trotzdem, dass du unseren Blick gemieden und lieber weggesehen hast, wenn wir versuchten, Kontakt mit dir aufzunehmen, musste einem einfach Sorge bereiten.

Andererseits wusste ich, wie robust und stark Säuglinge sind und wie viel passieren muss, um sie aus der physiologischen Lebensbahn zu werfen, der sie folgen. Dass die unterschiedlichen Gemütszustände einer Mutter Auswirkungen auf sie haben sollten, wenn sie im körperwarmen Wasser der Gebärmutter lagen und trieben, glaubte ich zum Beispiel nicht eine Sekunde. Obwohl sie in einer Symbiose mit ihrer Mutter leben, sind sie doch auch autonom, womit ich meine, dass die genetischen Codes, nach denen sie wachsen, vom ersten Augenblick an feststehen. Früher wusste man das, habe ich mir überlegt, genau das ist in dem alten Schicksalsbegriff ausgedrückt: So viel von dem, was geschehen wird, ist bereits festgelegt, wenn das Kind zur Welt kommt.

»Bald besuchen wir Mama alle zusammen«, sagte ich. »Aber heute musst du nun einmal in die Schule.«

»Und wenn ich nicht will?«, entgegnete er.

»Dann muss ich dich wohl hintragen«, antwortete ich.

Im selben Moment kam deine Schwester herein und setzte sich neben uns, sanft und immer noch mit leicht schläfrigen Bewegungen.

»Wenn ihr nach Hause kommt, ist Oma hier«, erklärte ich.

»Aha?«, sagte deine Schwester.

»Ja!«, sagte dein Bruder und sah mich plötzlich eifrig an. »Kann ich bei ihr schlafen?«

»Ich denke schon, dass das geht«, antwortete ich. »Aber heute ist Walpurgisnacht. Da dürft ihr sowieso länger aufbleiben als sonst.«

»Kommt Oma mit?«

»Das weiß ich nicht«, sagte ich und stand auf. »Könnt ihr ein bisschen auf sie aufpassen? Dann gehe ich raus und mache mir einen Kaffee, okay?«

Deine Schwester nickte, und ich legte dich in ihre Armbeuge und reichte ihr das Fläschchen, das sie dir sofort in den Mund steckte.

»Wenn etwas ist, kannst du mich ja holen«, sagte ich und sah deinen Bruder an. »Schafft ihr das?«

»Natürlich«, antwortete deine Schwester, zu sehr auf ihre Aufgabe konzentriert, um zu mir hochzuschauen.

»Holt mich, wenn etwas ist«, sagte ich noch einmal und ging in die Küche, kochte mir eine Tasse Kaffee, trug sie in den Flur hinaus, schob die Füße in meine Schuhe und öffnete die Tür. Die kühle Frühlingsluft legte sich wie ein Film auf mein Gesicht. Die Sonne war inzwischen über den Horizont gestiegen. Das lodernde orange Licht, so deutlich und konzentriert am Himmel dort oben, wurde von der gewaltigen Entfernung verstreut und hatte sich in der Luft hier unten, die hell und leicht war, fast aufgelöst und fiel auf alle Oberflächen, wo es in zarten Farben reflektiert wurde, mit Ausnahme jener Stellen, die von den Sonnenstrahlen direkt beschienen wurden, wie etwa im Wipfel des Apfelbaums, wo die halb ausgeschlagenen Blätter funkelten wie kleine Spiegel.

Ich ging über den Hof zu dem kleinen Haus auf der anderen Seite, das ich als Büro benutzte und in dem ich rauchen konnte. Als wir das Anwesen gekauft hatten, war es eine Werkstatt gewesen, und obwohl ich alle Wände mit Büchern bedeckt hatte, wurde der Raum weiter auf eine undefinierbare Weise davon geprägt, er war gewissermaßen im Hinblick auf grobmotorische Bewegungen eingerichtet, die ihn mit Aktivitäten im Freien verbanden, ein wenig wie eine Garage, wie etwas, das weder Teppiche auf den Fußböden noch Bilder an den Wänden mehr als nur ein wenig gefälliger machen konnten.

Ich setzte mich auf den Stuhl in der Ecke. Auf dem Tisch lag ein Stapel Briefumschläge mit Rechnungen, sie waren mein schlechtes Gewissen, weil ich mich nie dazu durchringen konnte, sie zu bezahlen, und wenn ich es dann endlich doch tat, geschah es immer so spät, dass bereits Mahnungen und Schreiben von Inkassobüros eingetroffen waren. Im Grunde war es doch ganz einfach, ich brauchte nur zu bezahlen, Geld hatte ich ja, trotzdem schaffte ich es nur mit Mühe und Not. Ganz oben auf dem Stapel lag eine Rechnung des Gerichtsvollziehers, was gravierend war, denn wenn sie nicht bezahlt wurde, kam jemand bei uns vorbei. Das war einmal passiert, als wir noch in Malmö wohnten, und ein zweites Mal, als wir schon hier lebten.

Oh!

Ich griff nach dem Umschlag, öffnete ihn, legte die Rechnung vor mir auf den Tisch, schaltete den Mac ein, zog das kleine Etui mit Karten aus der Gesäßtasche, legte es ebenfalls auf den Tisch und sah mich gleichzeitig nach dem kleinen Chipkartenleser um. Da lag er, auf einem Buch von William Blake im Bücherregal, direkt neben meinem Sitzplatz. Ich steckte die Karte hinein, gab das Passwort ein, danach den PIN auf der Homepage der Bank und gelangte auf die Seite, auf der Rechnungen bezahlt wurden.

Als das erledigt war, trank ich einen Schluck Kaffee und griff nach der Schachtel Zigaretten, die im Regal unter Blake lag, auf einem Buch von Sven Nykvist mit dem Titel Ehrfurcht vor dem Licht und einem von Klaus Mann, das ich nie gelesen hatte. Ich besaß diese Bücher schon so lange, und sie hatten so viele Jahre an derselben Stelle gestanden, dass sie mir in einer Art vertraut waren, die eher daran erinnerte, wie einem die Blumen im Garten vertraut sind. Ich begnügte mich bei beiden damit, sie zu betrachten – da standen die Lilien, da standen die Isländersagas, da standen die Schneeglöckchen, da stand Jayne Anne Phillips –, und wenn ich eines der Bücher herauszog und es zu lesen begann, kam es mir vor, als nähme ich Blumen mit ins Haus und stellte sie in eine Vase.

Einmal hatte ich am Schreibtisch gesessen und gearbeitet, fiel mir jetzt ein, als ich hinter mir auf einmal einen dumpfen Knall hörte. Ich drehte mich abrupt um. Ein Buch lag auf dem Fußboden, offensichtlich war es aus dem Bücherregal gefallen. Aber wieso? Es hatte auf einem vollkommen flachen Regalbrett gestanden, eingeklemmt zwischen andere Bücher. Neugierig stand ich auf und ging zu dem Regal.

Konnte ein Tier dahinterstecken? Eine Maus oder eine Ratte?

Nein. Denn in dem Raum, den das heruntergefallene Buch freigegeben hatte, lag die Ranke einer Kletterpflanze. Sie war auf der Außenseite des Hauses an der Wand entlang bis zum Dach gewachsen, hatte eine Passage unter den Dachziegeln hindurch und in den Dachstuhl gefunden, zwischen Balken und Brettern, und war von dort aus an der Innenseite des Raums die Wand herabgekrochen, bis sie auf das Bücherregal stieß, hatte sich daraufhin gegen das Buch gepresst, es handelte sich um Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho, und es unendlich langsam, Millimeter für Millimeter, hinausgeschoben, bis das Buch an diesem Tag auf einmal den Punkt erreichte hatte, an dem die Schwerkraft es anzog und es mit einem festen Knall zwei Meter tiefer auf den Fußboden fiel.

Ich fand das immer noch unglaublich. Und leicht beängstigend, das Blinde an dieser Wuchskraft; als ich die Kletterpflanzen anschließend entsorgte, sie wie Seile aus ihren Kanälen zog, Armvoll für Armvoll, entdeckte ich, dass die Teile, die unter dem Dach gewachsen waren, vollkommen weiß aussahen wie alles, was im Dunkeln lebt.

Ich lehnte mich vor und tippte die kleine Aschehaube auf der Zigarette an der Kante einer Tasse ab. Von meinem Sitzplatz aus konnte ich das andere Haus sehen, die Fenster des Esszimmers und die Tür, und mir eine Art eingebildeten Überblick darüber verschaffen, was dort vorging. Die Minuten, die ich mir so stahl, indem ich deine Geschwister auf dich aufpassen ließ, fühlten sich genauso an, gestohlen, unzulässig. Ich wusste, dass alles gut gehen, dass nichts Schlimmes passieren würde, weshalb mich eher das Gefühl quälte, dass es in den Augen anderer falsch war, als ich mich auf dem Stuhl zurücklehnte und vorsichtig inhalierte, um keinen neuen Hustenanfall zu provozieren, den Rauch ausblies und noch einen Schluck Kaffee trank. Was passieren könnte, wenn in diesem Moment jemand vorbeikommen und feststellen würde, dass ich hier saß und rauchte, während ich die kleinen Kinder auf das fast neugeborene Baby aufpassen ließ. Was sie dann wohl denken würden.

Letzten Sommer, ein halbes Jahr, bevor du geboren wurdest, war ich zu einem Termin bei der Kinderfürsorge einbestellt worden. Es war eine Routinemaßnahme, das taten sie immer, wenn vorfiel, was hier vorgefallen war, trotzdem ging die Sache nicht spurlos an mir vorbei, und das nicht nur, weil es demütigend war, in einem Büro zu sitzen und die Fragen von zwei jungen Frauen zu meinen Kindern und zu unserem Leben beantworten zu müssen, was bedeutete, dass wir uns als Familie der Zone genähert hatten, in der Außenstehende das Recht hatten, sich einzumischen, das Recht hatten, Ratschläge zu erteilen, sogar das Recht hatten, die Kontrolle zu übernehmen. Das würde zwar niemals geschehen, aber es war trotzdem das, was auf dem Spiel stand, es war die letztmögliche Konsequenz dieses Termins.

Deshalb erschien ich dort nicht als ich selbst, ich fuhr nicht ungewaschen hin, mit ungekämmten Haaren und in den Kleidern, die ich schon seit Wochen trug. Nein, an diesem Morgen duschte ich mich, wusch mir die Haare, putzte mir die Zähne, zog saubere, repräsentative Kleider an, setzte mich ins Auto und fuhr in die Stadt.

Es war ein fantastischer Sommer gewesen, ein Tag nach dem anderen mit einem hohen, blauen Himmel, stiller Luft, brennender Sonne, und dieser Tag bildete da keine Ausnahme. Das Sonnenlicht ergoss sich über die Stadt, als ich den Wagen parkte, um mich herum leuchtete es auf Kühlerhauben und Dächern, Fenstern und Fassaden, und obwohl es noch früh war, liefen viele Leute durch die Straßen, in Shorts und T-Shirts, Tops und Hemden, Sandalen und Joggingschuhen. Sogar die Luft im Schatten über dem Bürgersteig vor dem funktionalistischen Gebäude, direkt am Marktplatz, in dem das Treffen stattfinden sollte, war warm und dicht.

Ich meldete mich beim Empfang an und wurde gebeten, Platz zu nehmen und zu warten. Wie in allen Wartezimmern lag auch dort ein Stapel Illustrierte auf dem Tisch, und wie fast immer heutzutage, jedenfalls überall dort, wo ich gewartet habe, in Arztpraxen, im Krankenhaus und in Autowerkstätten, waren darunter auch einige Gratiszeitungen. Ich griff nach einer, warf einen Blick auf das Datum, sie war mehrere Wochen alt, aber das spielte keine Rolle, denn Nachrichten besaßen die eigentümliche Eigenschaft, dass sie vollkommen leer waren, sie hinterließen nicht die geringste Spur. Wenn man sie gelesen hatte, war es, als hätte man sie doch nicht gelesen.

Zwei junge Frauen betraten den Raum. Ich stand auf und gab ihnen die Hand, sie baten mich, sie eine Etage höher zu begleiten. Dort gingen wir in einen großen Raum, sie setzten sich auf die eine Seite eines Tischs, ich mich auf die andere. Sie hatten Formulare vor sich. Sie erklärten, das Ganze sei reine Routine, dass sie dies immer täten, wenn das, was bei uns vorgefallen war, vorfiel. Ich erwiderte, dass ich das verstünde, lächelte sie an und versuchte, so freundlich und normal zu wirken, wie ich nur konnte. Unterhalb des Fensters lag ein kleiner Park, ich betrachtete für einen Moment die regungslosen Baumwipfel, dicht von Blättern voller Licht, die Menschen, die auf der Erde unter ihnen vorbeigingen, die sonnenglänzenden Autos.

Dann sah ich zu den beiden Frauen hinüber.

»Haben Sie Kinder?«, sagte ich.

»Nein, leider nicht«, antwortete die eine. Die andere schüttelte den Kopf und lächelte.

Dann wussten sie also nichts, dachte ich und spürte, wie sehr es mich reizte, dass mich zwei so junge Menschen über meine Familie verhören wollten, ohne eigene Erfahrungen gemacht zu haben, ohne mehr zu wissen als das, was sie sich angelesen hatten und was man ihnen erzählt hatte.

Sie wollten wissen, was passiert war, und ich erzählte es ihnen.