Im Zweifel links - Jakob Augstein - E-Book

Im Zweifel links E-Book

Jakob Augstein

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Beschreibung

Jakob Augsteins Kult-Kolumnen – jetzt endlich als Buch!

Jakob Augstein gehört zu den meistgelesenen und einflussreichsten Journalisten der Gegenwart. Unter dem Motto »Im Zweifel links« hat er in seinen Kolumnen auf SPIEGEL ONLINE beinahe ein Jahrzehnt lang eine Chronik unserer Zeit verfasst. Es war eine Epoche, in der sich unsere Gesellschaft drastisch verändert hat: Der Westen und seine Werte sind kompromittiert und geschwächt. Der Sozialstaat steckt in seiner tiefsten Krise. Die dramatische Ungerechtigkeit, mit der Reichtum und Chancen verteilt sind, nimmt immer weiter zu. Die Lüge und das Vorurteil triumphieren über die Vernunft. Jakob Augstein hat für diese Ausgabe seine streitbaren Texte thematisch zusammengestellt und neu kommentiert.

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Seitenzahl: 345

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Über das Buch:

Jakob Augstein gehört zu den meistgelesenen und einflussreichsten Journalisten der Gegenwart. Unter dem Motto »Im Zweifel links« hat er in seinen Kolumnen auf SPIEGELONLINE beinahe ein Jahrzehnt lang eine Chronik unserer Zeit verfasst. Es war eine Epoche, in der sich unsere Gesellschaft drastisch verändert hat: Der Westen und seine Werte sind kompromittiert und geschwächt. Der Sozialstaat steckt in seiner tiefsten Krise. Die dramatische Ungerechtigkeit, mit der Reichtum und Chancen verteilt sind, nimmt immer weiter zu. Die Lüge und das Vorurteil triumphieren über die Vernunft. Jakob Augstein hat für diese Ausgabe seine streitbaren Texte thematisch zusammengestellt und neu kommentiert.

Über den Autor:

Jakob Augstein, geboren 1967, ist Journalist, Buchautor und Verleger. Nach dem Studium der Politikwissenschaft sowie Germanistik und Theaterwissenschaft war er u. a. für die Süddeutsche Zeitung und die ZEIT tätig. Augstein ist Verleger der Wochenzeitung der Freitag; für sein publizistisches Engagement wurde er 2011 mit dem Bert-Donnepp-Preis ausgezeichnet. Von 2011 an schrieb er acht Jahre lang die regelmäßige Kolumne »Im Zweifel links« für den SPIEGEL und SPON.

Jakob Augstein

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2019 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München, und SPIEGEL-Verlag, Hamburg, Ericusspitze1, 20457 Hamburg Typografie und Satz: Andrea Mogwitz, DVA Gesetzt aus der Minion Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München Umschlagmotiv/Autorenfoto: © Franziska Sinn E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-23948-0V001www.dva.de

Inhalt

Vorwort

I

1 Leben unter Merkel

Die Grinsekatze |Kennen Sie Kohl? |Wir Unverantwortlichen |Merkel und ihre Deutschen |Wir sind geschafft 32Die falsche Kanzlerin |Merkels Hose und die Angst der Deutschen |

2 Die rechte Revolution |

Im Land der Niedertracht |Politik für Männer ab 50 |Mitte und Antipolitik |Der Faschismus lebt |War Hitler links? |Mut zum Gefühl |Von Gauland lernen? |

3 Der Tod der Sozialdemokratie |

Die drei ??? |Ein Fall für Bebel |Wille und Wahl |Wozu SPD? |Merkels Notnagel |Der Tod ist gar nicht so schlimm |

4 Wir und die Migranten |

Land der Mutlosen |Lust der Angst |Heile, heile Hitler? |Wir haben uns geirrt |Burka dir einen! |Leben und sterben lassen |

5 Demokratie und Kapitalismus |

Wie geht es Deutschland? |Die Gesellschaft vor der Kernschmelze |2013 – Jahr der Gerechtigkeit |Das Armutszeugnis |Ostern kommt nicht von Hase |Die Deutschen lassen sich zu viel gefallen |Das Auto? Der Betrug! |Zur Hölle mit den Reichen

II

6 Politik und Krieg

Zehn Kinder |Das Gerede vom Krieg |Gott zum Gruße, Ohne-Michel! |Heiliges Kanonenrohr! |Wie feige sind die Deutschen? |Die Schreie der Verwundeten |Unser Krieg

7 Angst und Terror

Bruder bin Laden |Zehn Jahre 9/11: Der Kampf der Bösen |Vergesst den Islam |Wir sind der Gegner |Keine Panik? Und ob! |Der Terrorstaat |Panik oder Prävention?

8 Europa

Aufräumarbeiten im Finanz-Fukushima |Wir hässlichen Deutschen |Die Spielerin |Last Exit |Thank You! |Deutsches Versagen

9 Alles über Russland

Der Held Asiens |Das gute Gewissen |Alien vs Predator |Putin Mania

10 Wir und die USA

Das Ende des Westens |Das System schlägt zurück |Die weiße Wahl |Das Wohl des deutschen Volkes |Washingtons Hausmeisterin? |Der deutsche Dackel |Der Westen, verweht |Der Traum-Präsident

III

11 Politische Kultur und Unkultur

Der Wulff und die bösen Medien |Die Krise des Mitleids |Witz, komm raus! |Dank den Populisten! |Der Schlaf der Vernunft

12 Widerstand ist nicht zwecklos

Der Counter-Streik |Danke, ihr Lokführer! |Stark durch Streik |Das Tabu der Gewalt |Holt euch, was euch zusteht! |Aufstehen? Oder Sitzen machen?

 

Danksagung Sachregister Personenregister

Vorwort

Der Diplomat, Dichter und Widerstandskämpfer Stéphane Hessel hat in seinem wichtigen Essay »Empört Euch!« geschrieben: »Ich wünsche jedem Einzelnen von Ihnen einen Grund zur Empörung. Das ist sehr wertvoll. Wenn etwas Sie empört, wie mich die Nazis empört haben, werden Sie kämpferisch, stark und engagiert.«

Man liest das und denkt gleich: Das ist ein sehr schöner Satz! Ja, Empörung muss sein! Es gibt genug Grund zur Empörung. Und tatsächlich gibt es auch jede Menge Empörung im Land. Es herrscht an Empörung gar kein Mangel. Wir sind eine empörte Republik. Das Netz, das inzwischen abbildet, was man die öffentliche Meinung nennt, ist voll von Empörung. Da haben alle recht. Keiner hört dem anderen zu. Und es geht immer um alles. Da wächst der Hass, und die Wut wächst auch.

Und währenddessen arbeitet »das System« im Verborgenen einfach weiter: Die Reichen werden reicher, die Mächtigen sichern ihre Macht, und an der Klimakatastrophe ändert sich auch nichts. Wer bei dem Begriff »das System« ins Stutzen kommt, der muss erst einmal erklären, was sonst die deliberative Demokratie an zentralen Herausforderungen scheitern lässt. Oder sind die Gerechtigkeit und das Klima keine zentralen Herausforderungen? Das ist das Theodizee-Problem der Moderne: Wie können wir sagen, die parlamentarische Demokratie sei die letzte Antwort, wenn wir gleichzeitig sehen, welche Ungerechtigkeiten im Rahmen dieser Demokratie möglich sind?

Alle Empörung ändert nichts daran, dass »das System« die Demokratie überwölbt, sie einhüllt, sie durchwirkt.. Im Gegenteil: Die allgemeine Empörung lenkt die Leute einerseits ab von dem, was notwendig wäre – eine andere Politik. Und andererseits sorgt sie auf Dauer dafür, dass die Institutionen, die man für die Reform des »Systems« bräuchte, destabilisiert werden. Dadurch stabilisiert die Empörung »das System«.

Das ist eine schwierige, zirkuläre Erkenntnis, und sie ist es für den Kolumnisten in besonderem Maße. Denn für den Kolumnisten ist Empörung beinahe eine notwendige Arbeitsbedingung. Aber was, wenn selbst die Empörung, die sich in einer Kolumne unter dem Titel »Im Zweifel links« niederschlägt, am Ende nur »das System« stabilisiert?

Meine erste Kolumne auf SPIEGELONLINE – und ich wechsle jetzt in die erste Person, was ich in Artikeln beinahe nie tue – erschien im Januar 2011 und beschäftigte sich tatsächlich mit diesem Essay von Stéphane Hessel. Das ist noch keine zehn Jahre her und doch eine Ewigkeit. Man hat das damals noch nicht gleich gemerkt, aber im Nachhinein wird deutlich, dass sich genau zu dieser Zeit das Wesen der öffentlichen Debatte zu ändern begann. Inzwischen ist der Wandel offenkundig. Die Kolumnen, die Mathias Müller von Blumencron und Jan Fleischhauer damals für SPIEGELONLINE erfanden, darunter auch meine eigene, haben diesen Wandel nicht bewirkt, sie waren eines seiner Symptome.

Kolumnen dürfen persönlich sein, unfair, hart, riskant. Sie sind ein Spiel mit den heiklen und den verbotenen Seiten des Journalismus: mit Meinungen und Übertreibungen, mit dem Populismus, manchmal mit der Propaganda, immer mit der Satire. Ich habe als Kolumnist meine Erfahrungen mit diesen heiklen Seiten gemacht. Kolumnen sind das passende Medium einer rauer gewordenen Debattenlandschaft.

Wer allerdings den einzigen Zweck des Journalismus im sprichwörtlichen »Sagen, was ist« sieht, wird Kolumnen gar nicht für Journalismus halten. Denn das ist nicht ihre wichtigste Aufgabe. Kolumnen nehmen sich die Freiheit, auch das zu sagen, was hätte sein können, was auf keinen Fall sein darf, und vor allem das, was sein soll. Es ist vielleicht darum kein Zufall, dass der bekannteste Journalist unseres frühen 21. Jahrhunderts gar kein Journalist ist, sondern Ökonom und Kolumnist: Paul Krugman von der New York Times.

Andererseits sieht man daran aber auch: Ohne das richtige Medium hilft dem Kolumnisten weder Witz noch Weisheit. In Deutschland ist SPIEGELONLINE das richtige Medium: groß und unabhängig. Die Freiheit, dort Woche für Woche alles schreiben zu können, beinahe alles, und buchstäblich Hunderttausende lesen mit – das ist ein großes Geschenk. In all den Jahren ist nur ein einziges Mal ein Text nicht erschienen – über Joachim Gauck und seine Stasiakte. Tempi passati, wie man in Rostock sagt.

Woche für Woche Hunderttausende von Lesern, Millionen von Klicks im Jahr – von solchen Zahlen könnte der Kolumnist ganz betrunken werden und sich an der Vorstellung berauschen, es mache tatsächlich für unsere Wirklichkeit einen Unterschied, was er da schreibt, er habe eine Wirkung, er habe gar Einfluss. Und Einfluss wäre doch schön. Denn natürlich denkt der Kolumnist, er habe etwas zu sagen und die Leute sollten gefälligst auf ihn hören. Das ist eben die Versuchung, wenn man nicht nur sagen will, »was ist«, sondern auch »was sein soll«. Eine gefährliche Versuchung. Und wenn man darüber eine Weile nachdenkt, gerät man in Verwirrung. Was soll man denn als Kolumnist von seiner Arbeit erhoffen dürfen? Es gibt Autoren und Autorinnen, die tragen mit selbstvollem Ernst ihr Ich vor sich her und sind in ihrer lustigen Kürbisköpfigkeit alles andere als ein Vorbild. Demut tut dem Kolumnisten unbedingt not! Aber von der Demut ist es nur ein kleiner Schritt in die Bitterkeit und in die traurige Erkenntnis der ganzen Vergeblichkeit des eigenen Tuns.

Wie geht man damit um? Wenn man sich wie die Kassandra fühlt, die bei Schiller mit solchen Worten ihre Klage gegen den Gott führt:

»Warum warfest du mich hin

In die Stadt der ewig Blinden

Mit dem aufgeschloßnen Sinn?

Warum gabst du mir zu sehen,

Was ich doch nicht wenden kann?

Das Verhängte muß geschehen,

Das Gefürchtete muß nahn.«

Oder – etwas prosaischer – wenn man sich wie im Kasperletheater vorkommt, wo das Publikum das Krokodil von hinten kommen sieht und versucht, mit lautem Rufen die Protagonisten zu warnen – aber die hören einfach nicht.

Jahr für Jahr warnt man vor Angela Merkel. Und Jahr für Jahr wird sie wieder gewählt. Jahr für Jahr schreit man der SPD ins Ohr, sie solle endlich aufwachen. Und Jahr für Jahr muss man zusehen, wie die Partei sich selber zerstört. Jahr für Jahr beklagt man die zunehmende Ungerechtigkeit im Land und die wachsende soziale Spaltung. Und Jahr für Jahr hört man von Politikern und Leitartiklern, dass die Leute froh sein sollen, dass die Globalisierung sie nicht noch schlimmer erwischt hat.

Noch kurz ein Wort zu Angela Merkel, die in den folgenden Texten eine so große Rolle spielt: Im Frühjahr 2011 habe ich geschrieben: »Wie die Cheshire Cat aus Alice im Wunderland löst sich die Kanzlerin in Luft auf, wenn man sie greifen will. Und es bleibt nur ihr spöttisches Grinsen zurück. Das ist nicht viel.«

In den Jahren danach gab es keinen Grund, dieses Urteil zu revidieren. Es hieß immer, der Erfolg dieser Kanzlerin beruhe auch darauf, dass sie nicht polarisiere, keinen Punkt zum Angriff böte, keine Fläche zur Reibung. Bei mir hat das nicht funktioniert. Sie hat mich vom ersten Tag an wahnsinnig gemacht. Denn Merkel hat ihre zweifellos hohe Intelligenz hinter einem schlecht gespielten stoffeligen Gleichmut versteckt und damit uns alle beleidigt: die Öffentlichkeit, die Medien, die Wähler, mich. Merkel hat die Leute für dumm verkauft und gewonnen. Eine größere Kränkung des demokratischen Souveräns kann es nicht geben.

»Frau Doktor Merkel arbeitet als Fachärztin für politische Anästhesie im Kanzleramt«, habe ich geschrieben – dabei hätte es für sie so viel zu tun gegeben. So vieles wäre möglich und nötig gewesen: Klima, Atomwaffen, Europa, Migration, Bildung, Digitalisierung, Verkehr. So viel stand – und steht – auf dem Spiel. Und noch dazu leidet das Land unter einem unerhörten Generationenkonflikt: Früher meinte man mit dem Wort, dass die Alten beim Anblick der Jugend um ihre Werte fürchteten. Heute meint man damit, dass die Jungen mit atemlosem Zorn zusehen müssen, wie die Alten diese Werte verraten.

Als Kolumnist stößt man auf Dauer unweigerlich auf die Frage: Muss das alles so sein? Oder könnte alles anders sein? Warum wurde Martin Schulz nicht Kanzler? Weil er Fehler gemacht hat, die er hätte vermeiden können? Oder musste er seine Fehler machen, weil er nun einmal der ist, der er ist? Oder war das alles ganz gleichgültig, weil die Sozialdemokratie in einer nicht auflösbaren Krise steckt, aus der kein Schulz der Welt sie hätte befreien können?

Ich weiß nicht, wie groß oder klein der Gestaltungsspielraum der Politik heute ist. Ich glaube, dass es die Geschichte gibt und dass sie irgendwohin treibt. Es gibt die Strukturen, und der Gang der Dinge lässt sich von ihnen prägen. Aber man mag sich ungern ganz von der Idee verabschieden, dass es auch Menschen gibt, die Entscheidungen treffen, und dass diese Entscheidungen einen Unterschied machen können. Geschichte entwickelt sich unter unseren Augen. Wir schreiben an der Realität mit, die unser Roman ist.

Realität ist ein gefährliches Wort. Man muss vorsichtig sein, wenn jemand von Realität spricht. Wenn einer Realität sagt, meint er meistens nur: Man kann nichts machen. Alles bleibt, wie es ist. Linkes Denken soll das Gegenteil davon sein. Es soll von der Veränderbarkeit der Welt handeln.

Die Bundeskanzlerin ist dafür berühmt, eine große Realistin zu sein. Im Jahr 2004, als sie 50 Jahre alt wurde, ließ sie den Hirnforscher Wolf Singer eine Rede darüber halten, dass der Mensch nicht frei in seinem Willen sei, sondern von Neuronen im Kopf gesteuert. »Wir müssen uns von der Utopie der Planbarkeit der Zukunft verabschieden«, erklärte der Forscher. Das war die wissenschaftliche Ableitung von Merkels bevorzugter Lebensweisheit: Es kommt, wie es kommt. Und so kommt sie eben daher, die »organisierte Traurigkeit des Kapitalismus« – das ist eine schöne Formulierung aus einem Zukunftsmanifest der Linkspartei.

Mit Blick auf die Rolle des Theaters hat Bertolt Brecht in den frühen 50er Jahren gesagt: »Die heutige Welt ist den heutigen Menschen nur beschreibbar, wenn sie als eine veränderbare Welt beschrieben wird.« Das wäre mal ein Motto für einen zeitgemäßen politischen Journalismus: dass er von der Welt nur wissen will, wie sie besser werden kann! Wir wissen, dass unsere Wissenschaft die Natur so verändern kann, dass die Welt für den Menschen unbewohnbar wird. Aber wir verlieren den Glauben daran, dass unsere Politik die Gesellschaft so verändern kann, dass sie für jeden Menschen eine Behausung bereithält.

Stéphane Hessel hat geschrieben: »Empört Euch!« Aber das genügt nicht. Es muss noch etwas dazukommen: »Kümmert Euch!«

I

1 Leben unter Merkel

Die Grinsekatze

Angela Merkel genießt bei Freund und Feind den Ruf überragender Intelligenz und ausgeprägten politischen Gespürs. Wieso eigentlich? In der größten politischen Affäre der jüngeren Zeit war davon wenig zu spüren. Merkel hat ihren Minister Guttenberg gedeckt und hat sich damit einem Narziss auf politischer Bühne ausgeliefert. Sie hat dafür die Rechnung bekommen: Sein Abgang beschädigt sie. Was für ein Start in das Wahljahr 2011: Hamburg verloren, der Popstar der Politik zurückgetreten. Und sechs Landtagswahlen stehen noch bevor.

Gleich zu Beginn eine Lektion in Demut: Der Kolumnist dachte, Guttenbergs Abgang müsse die Kanzlerin beschädigen – und irrte sich. Sie blieb einfach im Amt, und wer das Amt behält, ist auch nicht beschädigt. Denn es geht ja nur um das Amt.

Es gibt Momente, in denen der Schleier des Nichtwissens gelüftet wird, der die Wahrheit des politischen Betriebes gnädig vor unseren Augen verbirgt. Als Merkel sagte, Guttenberg sei bei ihr nicht als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt, sondern als Verteidigungsminister, war das so ein Moment: Der Zynismus der Machtphysikerin Merkel wurde in dieser Formulierung enthüllt. Ob Guttenberg ein Lügner und ein Betrüger sei oder nicht, hatte Merkel damit gesagt, spiele für sie keine Rolle. Hauptsache, er sei ein guter Minister. Die Deutschen sind von ihren Politikern einiges gewohnt. Aber das war dann doch zu viel.

Ob Guttenberg zurückgetreten wäre oder nicht – als klar war, dass er große Teile seiner Doktorarbeit abgeschrieben hatte, war auch klar, dass sein Verbleib im Amt die politische Kultur des Landes beschädigen würde. Angela Merkel war das egal. Nach allem, was man über diese Kanzlerin weiß, dient ihr politisches Wirken nur einem Ziel: Kanzlerin zu sein. Die politische Kultur ist ihr dabei schnurz.

Merkel hat ihr Amt von Anfang an nach der guten alten spinozistischen Lehre geführt, dass jede Bestimmtheit eine Verneinung ist, jede Eigenschaft die Abwesenheit einer anderen Eigenschaft bedeutet. Und es darum am besten ist, keine Eigenschaft zu haben und unbestimmt zu bleiben. Es gab bislang keinen einigermaßen wichtigen deutschen Politiker, bei dem der Erhalt der Macht wirklich und im Ernst der einzige Seinszweck war. Strauß, Kohl, Brandt, Schmidt, Schröder, Fischer: Die hatten alle irgendwelche Projekte, Visionen, Hoffnungen. Sie erstrebten irgendetwas oder sie bekämpften irgendetwas. Angela Merkel – ist. Mehr nicht.

Sie bekämpft niemanden, weil man sich damit nur noch mehr Feinde schafft. Sie will nichts, weil jedes Wollen auch Verzicht bedeutet. Sie hat keine Visionen, weil Visionen verlangen, den Blick zu verengen.

Der Begriff der »Asymmetrischen Demobilisierung« wird in späteren Jahren noch eine große Rolle spielen, als diese Kanzlerin langsam auch den Beobachtern unheimlich wurde, die sie im Jahr 2011 noch bewunderten.

Das macht die politische Auseinandersetzung mit ihr so schwer. Die SPD hat das im vergangenen Jahr erlebt. Asymmetrische Demobilisierung hat ein Polit-Forscher Merkels Wahlkampfstrategie damals genannt: Es geht dabei darum, dass möglichst wenig Leute zur Wahl gehen – aber von der gegnerischen Seite noch weniger. Man saugt der Politik das Leben aus, und sie bleibt schlaff und tot und leer am Boden liegen. Aber man hat gewonnen. Das ist der reine Zynismus in Politform, der Kältepunkt der Politik. Die Demokratie erfriert dabei. Die Liebe, die so viele Menschen Guttenberg entgegengebracht haben – man muss das tatsächlich so nennen –, ist ein Zeichen für die Sehnsucht dieser Öffentlichkeit, in der politischen Sphäre geborgen zu sein. Aber Guttenberg war ein Heiratsschwindler der Politik, seine Hände waren leer. Und Merkel kann mit Geborgenheit nicht dienen. Wie die Cheshire Cat aus Alice im Wunderland löst sich die Kanzlerin in Luft auf, wenn man sie greifen will. Und es bleibt nur ihr spöttisches Grinsen zurück. Das ist nicht viel. 3.3.2011

Kennen Sie Kohl?

Es steht nicht gut um Helmut Kohl. Er ist alt und krank. Der SPIEGEL beschreibt Kohls Haus in der aktuellen Titelgeschichte als verschlossene Burg und seine Frau als eifersüchtige Torhüterin. Ein Vertrauter von früher appelliert ausgerechnet im TV-Sender RTL an alte Freunde, Kohl »zu befreien«. Auch das ist nicht gerade ein gutes Zeichen.

Dreißig Jahre ist es her, dass Helmut Kohl Kanzler wurde. Der große Uhrmacher gibt niemandem einen Dispens. Aber hier beobachten wir ein seltenes Schauspiel: Ein Mann geht bei lebendigem Leib in die Geschichte ein. Zum Schicksal historischer Figuren gehört der Streit um das politische Erbe, die Umdeutung der Vergangenheit, die Instrumentalisierung für jeglichen Zweck. So ist das, wenn Gegenwart zu Geschichte wird. Aber ein solcher Prozess der Historisierung vollzieht sich zumeist nach dem Tod – zum Glück. Helmut Kohl widerfährt das zu seinen Lebzeiten. Man gönnt es ihm nicht.

Dabei hatten die Intellektuellen in den Städten vor Vergnügen gegluckst, als der dicke Pfälzer sich damals in Bonn breitmachte. Gibt es einen Politiker, der mit mehr Spott und Häme übergossen wurde als Helmut Kohl? Ja, darüber hinaus: Franz Josef Strauß wurde gefürchtet, Helmut Kohl wurde verachtet. Die Willkommenstexte, die nach dem 1. Oktober 1982 über Kohl geschrieben wurden, zeigten, dass die Intellektuellen viel Humor hatten – aber keine Ahnung von Politik.

Zum Beispiel Hellmuth Karaseks SPIEGEL-Artikel »Der sprachlose Schwätzer«. Es geht um Kohls Sprache, nach Karaseks Maßstäben eher ein Gestammel. Karasek verspottet Kohls Satz: »In Hölderlin war ich gut« und stellt sich vor, was der Neu-Kanzler aus Goethes »Über allen Gipfeln ist Ruh« gemacht hätte: »Wenn wir uns nun auf dem Felde der Meteorologie in die höheren Berglagen begeben, so ist dort ein vollkommenes Nichtstun, wie ich offen sagen darf, zur Anwendung gelangt.«

Lustiger als in diesem Artikel ist nie über einen neuen Kanzler geschrieben worden. Und bösartiger auch nicht. Kein Journalist würde heute in solchen Worten einen neuen Kanzler empfangen. Weil Kohl uns gelehrt hat, dass Intelligenz nichts mit Intellektualismus zu tun hat und der Erfolg in der Politik nicht den glänzenden Rednern zukommt. Kohl ist der bisher erfolgreichste deutsche Bundeskanzler – gemessen am einzig gültigen Maßstab, nämlich der Dauer seiner Amtszeit. Welchen sonst sollte es geben? Es gehört zum Wesen der Politik, den Maßstab ihres Erfolgs nur in sich selbst zu finden.

Aber gerade den Linken könnte noch ein anderer Maßstab einfallen, an dem Kohls Größe zu messen wäre: Die Erinnerung an Kohl steht für eine Politik der Integration, in Europa, in Deutschland. Es ist ein Paradox, dass ausgerechnet der Mann, den die Linken als »Birne« verspotteten, heute zur Leitfigur eines linken Traums taugt – er gilt als einer, der Grenzen eingerissen hat.

Es gehört zur Historisierung, dass Helden einen Kopf kürzer gemacht werden. Umso besser, wenn sie dann immer noch groß sind. Das trifft auf Kohl zu. Am Anfang der Geschichtsschreibung steht die Frage: »Was war?« Aber an ihrem Ende: »Was wäre gewesen, wenn …?« Was also wäre gewesen, wenn ein anderer als Kohl Kanzler gewesen wäre in jenen Jahren, als Deutschland und Europa geeint wurden? Man kann sagen, es wäre alles ebenso gekommen. Weil es da gar keinen Mantel der Geschichte gab, dessen Zipfel es zu greifen galt, sondern nur das Räderwerk einer historischen Mechanik.

Für Deutschland stimmt das. Für Europa ist es unwahrscheinlich.

Man wird es in den Festreden auf den CDU-Veranstaltungen der kommenden Tage nicht so deutlich sagen, aber natürlich war die deutsche Einheit nicht Kohls Werk. Der britische Autor David Pryce-Jones hat schon vor Jahren geschrieben: »Bis weit in das Jahr 1990 hinein war den westdeutschen Außenpolitikern nicht klar, dass sich ein historischer Moment anbahnte. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass sie alle schlafwandelnd in die Wiedervereinigung hineintaumelten.« Niemand sah kommen, was der »imperial overstretch« der Sowjetunion da ausgelöst hatte.

Aber Kohl hat keinen Fehler gemacht. Das ist schon viel. Er hat der Geschichtsmaschine keinen Sand ins Getriebe gestreut. Und darauf wäre ja in Wahrheit die »Eine Nation, zwei Staaten«-Lehre der linken Kritiker hinausgelaufen.

Was Europa angeht, man kann das gar nicht oft genug sagen, hat Kohl mehr getan, als nur keine Fehler zu machen. Sein Biograf Hans-Peter Schwarz tut ihm Unrecht, wenn er Kohl als »Verführten« sieht und »Mitterrand und dessen nationalegoistische Kollegen aus den Weichwährungsländern« als finstere Euro-Gesellen beschreibt, die mit geradezu welscher Schläue den deutschen Michel übervorteilt hätten: »Sie haben den im innersten Kern idealistischen Europäer Helmut Kohl zum langfristigen Schaden aller Beteiligten dazu überredet, ausgerechnet das Geldwesen der Völker Europas zum Gegenstand eines verfrühten Großexperiments zu machen, das sich auf lange Sicht eigentlich nur als sehr riskant herausstellen konnte.« Das bleibt noch abzuwarten.

In der Tat war Kohl Europa-Idealist. Und wenn Gott eine Adresse hätte, müsste man ihm Dank dafür schicken, dass einer wie Kohl seinerzeit im Kanzleramt saß, der die Zeichen der Zeit lesen konnte – und nicht eine Integrations-Analphabetin wie Angela Merkel. Kohl kommt in einer kuriosen Wendung der deutschen Geschichte als Bismarcks gemütlicher Wiedergänger daher, der die Einheit des Landes und die des Kontinents nicht mit »Eisen und Blut« schuf, sondern mit den Mitteln der Moderne: mit Geld, Geduld und guter Laune.

Sonderbare Ironie: je länger Angela Merkel im Amt war und je größer ihr Versagen in der Europapolitik, das erst in der Ära Macron wirklich offengelegt wurde, desto heller leuchtete der Mann, den sie abgeräumt hatte.

Vor allem Geld natürlich. Dass in der Politik mit Bimbes alles geht, das hatte er ja von Adenauer gelernt. In den sechziger Jahren schimpfte Kohl noch, es sei »skandalös«, wie die Union sich finanziere. Aber wir wissen ja, dass er das später gar nicht skandalös fand, sondern praktisch. Und was in der CDU geht, geht auch in Deutschland und in Europa. Die Summen waren andere. Das Prinzip dasselbe.

Kohl hat die deutsche Einheit in Mark bezahlt und die europäische Einigung in Euro. Und alles auf Kredit. Na klar! »L’intendance suivra«, hat de Gaulle gesagt – der Tross folgt der Armee. Anders kann man sich solche Anschaffungen gar nicht leisten. Darin liegt natürlich ein spielerischer Größenwahn. Aber den braucht man nun einmal, wenn man die großen Dinge anfassen will. Und das ist gelungen.

Also: Glückwunsch, Altkanzler! 24.9.2012

Wir Unverantwortlichen

Alles gut? Arbeitslosigkeit niedrig, Exporte hoch, Eurokrise außer Sicht, NSA-Schnüffelei irgendwie verpufft … Alles gut? Die Oberfläche ist glatt. Darunter fault es. Im Jahr acht der Regierung Merkel ist Deutschland ein träges Land der Selbsttäuschung. Wir wissen, dass Politik auf den kurzfristigen Erfolg zielt. Politik redet von Verantwortung, will sie aber zumeist nicht tragen. Aber eine Politikerin, die Verantwortung derart auf die leichte Schulter nimmt wie Angela Merkel, ist selten. Geradezu einzigartig dagegen ist ihr Erfolg. Laut der ARD-Umfrage »Deutschlandtrend« waren die Deutschen seit 1997 noch nie so zufrieden mit einer Regierung wie mit dieser. Es ist paradox: Immer mehr Journalisten und Wissenschaftler entsetzen sich über eine Regierung, die ihr Amt nur zu dem Zweck ausübt, Herausforderungen abzuwenden. Aber was die Journalisten schreiben, ist den Leuten ganz gleichgültig. Mögen die sogenannten Meinungseliten der Kanzlerin Untätigkeit vorwerfen – gerade dafür lieben die Leute sie. Denn in Wahrheit teilen die Deutschen mit Angela Merkel die Angst vor der Zukunft.

Der Philosoph Jürgen Habermas führt im neuen SPIEGEL bittere Klage. Habermas beschwert sich über die Bequemlichkeit der Deutschen. In der Eurokrise sehen sie dabei zu, wie die Kanzlerin den Südländern ihre Krisenagenda aufzwängt und sich gleichzeitig aus der gesamteuropäischen Verantwortung Deutschlands stiehlt: »Deutschland döst auf dem Vulkan«, schreibt Habermas. Er redet von einem »historischen Versagen der politischen Eliten«. Es kostet den philosophischen Greis Überwindung, das Versagen der Kanzlerin zu geißeln. Denn sein Fach, die Soziologie, handelt von der Macht der Strukturen, nicht von Stärke oder Schwäche des Einzelnen. Aber auch Habermas weiß, »dass es außerordentliche Situationen gibt, in denen die Wahrnehmungsfähigkeit und die Phantasie, der Mut und die Verantwortungsbereitschaft des handelnden Personals für den Fortgang der Dinge einen Unterschied machen«. Die wichtigste handelnde Person heißt Merkel – aber sie handelt nicht.

Jeder Bürger weiß, wo es im Argen liegt – Steuersystem, Bildungschancen, Lohngerechtigkeit –, aber die Leute nehmen das Versagen der Regierung achselzuckend hin. »Die von FDP und Union im Koalitionsvertrag vereinbarte Arbeitsgruppe zur Reform des Mehrwertsteuersatzes schaffte es in vier Jahren nicht, auch nur ein einziges Mal zu tagen«, schreibt der SPIEGEL und zitiert einen anderen Philosophen, Peter Sloterdijk, der sagt, in Deutschland herrsche eine »chronische Duldungsstimmung«.

Das wichtigste Thema, das Merkels Regierung mit sehenden Augen verschlafen hat, war natürlich die Migrationskrise – die sich in Italien längst abgezeichnet hat, als Berlin sich immer noch für unzuständig erklärte. Es gehört aber zu den Aufgaben einer Regierung, kommende Krisen rechtzeitig zu erkennen – und nicht erst hektisch zu reagieren, wenn sie bereits eingetreten sind.

Die Verwunderung der Philosophen Habermas und Sloterdijk. Oder die Wut des Soziologen Harald Welzer, der angekündigt hat, der Wahl fernbleiben zu wollen. Das sind Empfindungen einer intellektuellen Elite, die vom Volk nicht geteilt werden. Die Leute haben mit ihrer Kanzlerin eine Koalition der Unvernünftigen geschlossen: Kopf einziehen, Augen schließen und hoffen, dass alles irgendwie vorübergehen wird. Aber das wird nicht geschehen. Die Deutschen werden die Zeche zahlen. Wenn der Euro am deutschen Egoismus zerschellt. Wenn das Bildungssystem an seinen Lebenslügen zerbricht. Wenn das Wort Gerechtigkeit nur noch ein zynisches Grinsen auslöst.

Wenn jetzt der Wahlkampf beginnt, wird man schmerzlich das Fehlen der SPD als einer wehrhaften Opposition bemerken. 100 Jahre ist das »Dreikaiserjahr« der Sozialdemokratie her: 1913 starb August Bebel, Friedrich Ebert übernahm den Vorsitz der SPD und Willy Brandt wurde geboren. Das ist die große Geschichte der SPD, sie handelt von Revolution, Herrschaft, Phantasie. Was ist davon übriggeblieben? Angst. Wie bei Merkel.

Hier zeigt sich eine erste Sehnsucht nach einem linken Populismus, der dem Kolumnisten von hier an immer dringlicher fehlen wird.

Die SPD hätte Angela Merkel öffentlich als das entlarven müssen, was sie ist: eine leere Seele, deren Furcht vor Veränderung uns alle auf ihr Niveau der inneren Ereignislosigkeit herabzieht. Die SPD hätte die Warnungen der Spindoktoren in den Wind schlagen sollen. Sie hätte einen mutigen Wahlkampf führen sollen. Sie hätte Merkel dort schlagen können, wo sie schwach ist: bei der Überzeugung, bei der Begeisterung, bei der Sehnsucht – beim Gefühl. Sigmar Gabriel und Hannelore Kraft, Jürgen Trittin und Claudia Roth hätten für ein rot-grünes Bündnis der Veränderung in einen Wahlkampf ziehen sollen, der diesen Namen auch verdient. Bei allem Respekt – sie hätten höchstens besser, gewiss nicht schlechter abgeschnitten, als Peer Steinbrück abschneiden wird.

Wir lernen daraus: Wenn es um die Rettung der Zukunft geht, sollte man sich nicht auf die Politik verlassen. Es ist schon so, dass wir unsere Sache selber in die Hand nehmen müssen. Wir haben unsere Verantwortung abgegeben. Die Unverantwortlichen, das sind wir selbst. Wir müssen den Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit finden. Ohne Mut zur Radikalität wird das nicht gehen.

Die Selbstermächtigung der Zivilgesellschaft gegen die Trägheit der Mächtigen kommt nicht kostenlos. Kants »sapere aude« setzt Mut voraus. Und zwar den Mut, nicht nur zu denken, sondern zu handeln. Der berühmte Spruch, den wir als »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« übersetzen, ist Teil einer Horaz-Epistel. Und im Original eröffnet sich da noch eine andere Richtung: »Dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude, incipe.« Das heißt: »Wer erst einmal begonnen hat, hat damit schon zur Hälfte gehandelt. Trau dich zu verstehen! Jetzt fang an!«

Wer das Denken beginnt, hat den halben Weg zur Handlung schon hinter sich gebracht. 5.8.2013

Merkel und ihre Deutschen

George Packer ist ein amerikanischer Journalist. Für die Zeitschrift The New Yorker hat er ein Porträt der deutschen Kanzlerin Angela Merkel geschrieben. Mehr: Packer, ein ruhiger Beobachter und ein exzellenter Stilist, hat die Deutschen porträtiert und die Mechanismen der deutschen Öffentlichkeit. Der Blick von außen legt schonungslos frei, was aus der Innensicht den Ruch des Radikalen hat: Volk und Kanzlerin haben einen Pakt der Politikvermeidung geschlossen. Und das Schlimmste: Ganz viele Journalisten helfen eifrig mit.

Der Amerikaner in Berlin zeigt ein Land im Tiefschlaf. Fassungslos wohnt Packer einer Sitzung des Bundestags bei. Sein Fazit: »Angela Merkel, Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und mächtigste Frau der Welt, gibt sich alle Mühe, nicht interessant zu sein.«

Dass die mächtigste Frau der Welt gleichzeitig wie die langweiligste wirkt, ist für den Beobachter aus der angelsächsischen Kultur eine einigermaßen deprimierende Erfahrung. Nicht nur für ihn. Emotionale Apathie als Strategie der Politik, verbale Reduktion als Strategie der Kommunikation – Packer hält das für eine Spätfolge des »Dritten Reichs«: »In einem Land, das durch leidenschaftliche Rhetorik und Macho-Gehabe ins Verderben geführt wurde, sind Merkels analytische Distanz und das scheinbare Fehlen jeder Eitelkeit politische Stärken.«

Aber es gibt einen deutschen Anti-Intellektualismus, der ist viel älter. »Ich hasse die Menschen, die mit ihrer nachgemachten kleinen Sonne in jede trauliche Dämmerung hineinleuchten«, lässt Ludwig Tieck seinen William Lovell sagen. Angela Merkel und ihre ins Nichts führenden Sätze, Helmut Kohl und seine unerschütterliche Gemütlichkeit, damals Strickjacke und Saumagen, heute der Templiner See und Kohlrouladen – in seinen Kanzlern bleibt der Deutsche Michel ganz bei sich.

Packer hat mit vielen Leuten in Berlin geredet. Er wollte herausfinden, wie das möglich ist: diese Frau aus dem Osten, eine Außenseiterin, die keine Hausmacht hat, keinen Stallgeruch, kein Charisma, nichts von dem, was herkömmliche Politiker brauchten. Die Grüne Katrin Göring-Eckardt gab ihm eine vielsagende Antwort: »Die Leute wollen bloß nicht wahrhaben, dass sie einfach eine sehr gute Politikerin ist.«

Aber was ist das, eine gute Politikerin? Wenn Politik bedeutet, die Wirklichkeit nach den eigenen Ideen zu formen, dann ist Angela Merkel gar keine Politikerin. Wenn Politik nur bedeutet, an der Macht zu sein, dann ist Merkel die beste. Ihr politischer Kompass ist so geeicht wie der des Piraten Jack Sparrow: Er zeigt immer dorthin, wo das nächste Ziel liegt.

Merkel und Göring-Eckardt haben offenbar denselben Politikbegriff. Göring-Eckardts Äußerungen lesen sich wie eine Bewerbung für die zweite Geige in einer schwarz-grünen Koalition. Sie wird das sicher sehr, sehr gut machen.

Sie lassen einen frösteln, diese Protestantinnen aus dem Osten.

Selbstkritik gehört leider nicht zu den herausragenden Eigenschaften der Leute, deren Beruf es ist, an anderen Kritik zu üben. Darum versank die Packer-Studie dort, wo so viele unangenehme Wahrheiten versinken: in Vergessenheit.

Das schlimmste Urteil der Packer-Studie gilt aber den Hauptstadt-Journalisten: Er hat mit allen geredet, die in Berlin Rang und Namen haben. Und offenbar haben sie ihm bereitwillig geantwortet. Bis hinein in ihre persönlichen politischen Präferenzen. Die Kollegen haben dem Besucher aus Übersee lauter ganz traurige Dinge über die Kanzlerin gesagt. Dass es ihr nur um Macht gehe und nicht um Gestaltung, dass sie keine Visionen habe, dass man einschlafe, wenn man ihr zuhören müsse, dass sie der deutschen Politik das Blut aussauge. Und dennoch: »Fast jeder politische Reporter, mit dem ich gesprochen habe, hat Merkel gewählt. Es gab für sie keinen Grund, es nicht zu tun.«

Immerhin. Alphajournalist Bernd Ulrich versuchte das nachher über Twitter geradezurücken. Zur Behauptung George Packers, dass deutsche Journalisten schlecht über Merkel reden, sie aber dennoch wählen, schrieb der stellvertretende Chefredakteur der ZEIT: »Bei mir: beides nicht.«

Da muss der Kollege aus den USA etwas falsch verstanden haben. 4.12.2014

Wir sind geschafft

Im vergangenen Jahr gehörte Angela Merkel zu den Favoriten für den Friedensnobelpreis. Sie hat ihn dann nicht erhalten. Das Komitee in Oslo entschied sich nicht für die deutsche Kanzlerin, die Hunderttausenden von Flüchtlingen Schutz geboten hatte, sondern für ein zivilgesellschaftliches Bündnis aus Tunesien. Vielleicht besser so. Zumindest in Deutschland hat Merkels Flüchtlingspolitik alles andere als Frieden gestiftet. Das Land ist tief gespalten. Die Deutschen sind erschöpft. Dass man in ihrem Namen Weltinnenpolitik betreibt, ist ihnen neu. Niemand hatte sie darauf vorbereitet. Auch die Kanzlerin nicht.

»Was auf der Welt los ist, geht alle an«, hat Merkel gerade gesagt. Das weist in die Richtung der Worte, die Willy Brandt 1980 in der Einleitung zum Nord-Süd-Bericht schrieb: »Die Globalisierung von Gefahren und Herausforderungen – Krieg, Chaos, Selbstzerstörung – erfordert eine Art ›Weltinnenpolitik‹.« Es blieb Brandt erspart, diese Politik auszuprobieren. Er ist darum bis heute der Held des guten Gewissens – und übrigens auch der bislang letzte Deutsche mit Friedensnobelpreis. Merkel hatte nicht so viel Glück. Sie musste sich entscheiden. Die Option, nichts zu tun, gab es Anfang September 2015 nicht mehr. Die hatte die Politik in den Jahren zuvor bereits ausgeschöpft.

Merkels Entscheidung wird jetzt schon historisch genannt. Wer weiß, ob kommende Generationen das so sehen. Aber einen Platz im Geschichtsbuch verdient sie allemal – und zwar als Fallbeispiel für Versagen und Gelingen von Politik gleichermaßen. Wer sich für Steuerungsfähigkeit und Gestaltungswillen in der Gegenwart interessiert, dem kann die Krise der deutschen Flüchtlingspolitik eine Lehre sein.

Denn all diese Menschen, die standen ja nicht unerwartet vor der deutschen Tür. Die Deutschen waren die größten Profiteure einer aberwitzigen und unernsthaften Asylpolitik – Stichwort »Dublin« –, durch die alle Lasten der Migrationsströme vom wohlhabenden europäischen Zentrum in die ärmere Peripherie verschoben wurden. Aber, sagt da die Kanzlerin, es gebe nun einmal politische Themen, »die man kommen sieht, die aber im Erleben der Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht angekommen sind«.

Ein Achselzucken, mehr nicht? Als gehöre es nicht auch zu den Aufgaben der Politik, den Leuten die kommenden Dinge zu zeigen. Jeder hat ein Recht auf Schläfrigkeit. Die Kanzlerin nicht. Aber es gehört zu den Schwächen gerade der besonders erfolgreichen Politiker, eine Expertise fürs Nichtstun zu entwickeln. Und Merkel war ohnehin die Fachfrau für vollendete Formlosigkeit. Bis die Flüchtlinge sie zu einer geradezu paulinischen Wende zwangen.

An dieser wichtigsten Folge der Migrationskrise laboriert das Land immer noch: Das bewährte Koordinatensystem taugt nicht mehr zur Beschreibung der politischen Standpunkte. Die Linkspartei wäre über diesem Phänomen beinahe zerbrochen – am Ende musste nur Sahra Wagenknecht gehen.

Seitdem geht es kreuz und quer im Land. Die Migration wurde zum wichtigsten Thema. Und je nachdem, wie einer dazu steht, findet er sich plötzlich in ungewohnter Gesellschaft. Ob jemand von der allgemeinen Furcht vor dem Fremden erfasst wird und von der besonderen Verachtung für den Islam, entscheidet sich nach allem Möglichen – nur nicht nach alten parteipolitischen Präferenzen. Es war zu erwarten, dass wir dabei erst einmal mehr über uns selbst lernen als über die Neuankömmlinge.

Besonders unangenehm war es zu erleben, wie bei vielen der materielle Überfluss und die empathische Armut zu einer dekadenten Mischung aus seelischer Verhärtung und moralischer Verbitterung geronnen. Man erinnere sich an die 34 CDU-Funktionäre, die im vergangenen Herbst in einem offenen Brief schrieben, die »Politik der offenen Grenzen« stehe nicht »im Einklang mit dem Programm der CDU«. Oder man denke an Alice Schwarzer, die jüngst mit Blick auf die vielen selbstlosen Helfer gesagt hat: »Es ging mehr um sie selbst als um die Flüchtlinge. Ein Hauch von Kitsch wehte mich an.« So sehen hilflose Versuche aus, sich die Gegenwart vom Leib zu halten.

Überhaupt Alice Schwarzer: Ihre Verachtung für die islamische Kultur machte sie zur Stichwortgeberin der Rechten. Für mich macht sie das selber zu einer Rechten.

Es ist diese Gegenwart, mit der Merkels Gegner hadern. Die Kanzlerin, so schreibt es Berthold Kohler in der FAZ, glaube schlicht nicht daran, »dass sich das reiche und friedliche Europa im Zeitalter globaler Krisen und Wanderungsbewegungen hinter Mauern und Zäunen verschanzen kann«. Merkels Gegner glauben immer noch an die Macht von Mauern und Zäunen. Erstaunlich viele Menschen aber sind im vergangenen Jahr mit der Kanzlerin gegangen, die vielleicht aus der deutschen Geschichte die Lehre gezogen hat, dass keine Mauer am Ende halten wird.

»Wir schaffen das«, hat Angela Merkel am 31. August 2015 gesagt. Die Tagesthemen haben gerade gemeldet, dass Sigmar Gabriel dasselbe schon am 22. August gesagt hatte. Ihm hat man den Satz nicht zugerechnet. Es wurde stattdessen ihr berühmtester. Ob die Deutschen »das« auch schaffen wollen, hat Merkel nicht gefragt. Sie ist damit die radikale Realistin geblieben, die sie immer war.

Wir schaffen das? Vielleicht. Aber wir sind auch geschafft. 1.9.2016

Die falsche Kanzlerin

Angela Merkel will noch einmal Bundeskanzlerin werden. Es gibt Menschen, die freuen sich über diese Ankündigung. Sie glauben, Merkel könne dann jenes Versprechen wahrmachen, das sie neulich im Bundestag gegeben hat: »Deutschland wird Deutschland bleiben, mit allem, was uns lieb und teuer ist.« Aber das ist ein Irrtum. Deutschland und Europa haben sich in Merkels Amtszeit radikal verändert. Die europäische Integration liegt in Trümmern, und wichtige Regeln der deutschen Politik seit dem Zweiten Weltkrieg gelten nicht mehr. Angela Merkel ist keine Kanzlerin der Kontinuität. Sie ist die Kanzlerin des Wandels.

Merkel und die Deutschen – das ist die Geschichte eines fortdauernden Missverständnisses. Im letzten Bundestagswahlkampf floss ihr ganzes politisches Programm in einem einzigen Satz zusammen: »Sie kennen mich.« Aber das stimmt ja gar nicht. Wir kennen sie eben nicht. Sie verstellt sich. Diese Kanzlerin inszeniert sich als ruhige Kraft. Aber ruhig soll nur der Bürger sein. Frau Dr. Merkel hat im Kanzleramt eine Praxis für politische Anästhesie eröffnet. Operiert wird erst, wenn der Patient eingeschlafen ist. Wir alle sind der Patient.

Der deutsche Sozialstaat, die europäische Einigung, das Verhältnis zu Russland, das Parteiensystem – nichts davon ist mehr so, wie es war, als Merkel an die Macht kam. Man kann solchen Wandel für unvermeidlich halten. Dann aber taugt auch Merkel nicht als Kraft der Kontinuität. Man kann der Kanzlerin zugutehalten, sie habe diese radikalen Transformationen nicht verursacht. Dann aber muss man erklären, warum Merkel künftig in der Lage sein soll, sie zu steuern. So oder so – die Rechnung geht nicht auf, und Merkel bleibt auch nach elf Jahren in der Regierung die große Unbekannte.

»Jeder sieht, was Du scheinst. Nur wenige fühlen, wie Du bist.« Das ist die doppelte Buchführung der politischen Philosophie, wie Machiavelli empfohlen hat. Herfried Münkler hat in einem Interview mit dem Deutschlandradio gerade an ihn erinnert und gesagt, da der Pöbel immer dem Schein folge, bestehe die kluge Politik darin, sich den Schein nutzbar zu machen. Merkel macht nichts anderes. Sie ist die Kanzlerin des Scheins. Das klingt paradox angesichts eines politischen Hütchenspielers wie Donald Trump, dem es gelungen ist, sich against all odds zum Präsidenten wählen zu lassen. Aber was die Benebelung der Öffentlichkeit angeht, kann unsere Kanzlerin durchaus mithalten.

Auch Jahre später ist dieser SZ-Artikel immer noch ein Lehrstück journalistischer Hagiografie. Wieso hält sich eigentlich so hartnäckig das Gerücht, die Mehrheit der Journalisten sei »irgendwie links«?

Merkel gibt sich bescheiden. Aber es gibt eine eitle Bescheidenheit. Merkel beherrscht die Kunst, die Lust an der Macht in die Begriffe der Verantwortung zu verkleiden. Die Süddeutsche Zeitung hat beschrieben, wie die Kanzlerin mit sich gerungen hat, bevor sie sich zum Weitermachen entschloss. Das liest sich wie ein Stück aus der Legenda aurea: die Kanzlerin ist allein, mit wenigen Getreuen, »in sehr kleiner Runde«. Sie denkt ans Aufhören. Das ist ihre Versuchung, der Wunsch zu vollbringen, was keinem gelang: der Abgang aus freien Stücken. Dann jedoch mahnt Joachim Sauer, der Ehemann, es dürfe nicht die Eitelkeit, auch hier die Erste zu sein, den Ausschlag geben. So siegt, nach kurzer Anfechtung, doch die Pflicht. Langsam, beinahe schmerzhaft, erhebt sich die Kanzlerin und geht wieder hinaus in die Schlacht.

Rührend.

Donald Trump ist der Meister der Großkotzigkeit. Angela Merkel ist die Meisterin der Bescheidenheit. Meister der Inszenierung sind sie beide.

Merkels Desinteresse an Europa, ihre Vernachlässigung der sozialen Spaltung, ihre Feindschaft zu Russland – Deutschland hat bereits einen hohen Preis bezahlt für diese Kanzlerschaft, die sich den Anschein von Berechenbarkeit und Stabilität gibt. Der höchste Preis aber ist die Beschädigung der politischen Kultur. Mit der AfD hat sich genau die rechte Partei etabliert, die alle Unions-Chefs vor Merkel bislang verhindern konnten. Die früher so gerühmte Politik der Mitte kommt uns teuer zu stehen: Hass ist an die Stelle von Streit getreten.

Merkel als Mutter der AfD – das ist ein schwerwiegender Vorwurf. Aber ich stehe dazu: Als Chefin der CDU wäre es ihre Aufgabe gewesen, das alte Strauß-Diktum – »keine Partei rechts von uns« – zu verteidigen. Stattdessen hat sie lieber ihr Amt verteidigt.

Angela Merkel tritt also wieder an. Aber die Probleme, die sie jetzt lösen muss, hat sie selber mit verursacht. Wie soll das gehen? Die Kanzlerin gibt vor, sie wolle aus reiner Selbstlosigkeit weitermachen. Danke. Aber nein, danke. Wenn Sie es mit der Verantwortung ernst nimmt, sollte Angela Merkel den Weg für einen Nachfolger frei machen. 24.11.2016

Merkels Hose und die Angst der Deutschen