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Jakob Augstein gegen Nikolaus Blome, links gegen liberal-konservativ, visionär versus vernünftig: In diesem Buch liefern sich die beiden wortgewandten Journalisten mehr als drei Dutzend Streitgespräche zu den großen Themen, die Deutschland bewegen. Ein spritziger, provokanter Schlagabtausch von Merkels Macht und der Flüchtlingswelle in Deutschland über die Euro-Krise bis zur Homo-Ehe, dem richtigen Frauenbild und dem neuen Rechtspopulismus. Für alle, die mitreden und mitstreiten wollen.
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Seitenzahl: 283
Jakob AugsteinNikolaus Blome
Links oder rechts?
Antworten auf die Fragen der Deutschen
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlag: any.way, Walter Hellmann
Umschlagmotiv: Fotolia
Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
ISBN 978-3-641-20047-3 V002
www.penguin-verlag.de
Inhalt
Einleitung
MACHT
Ist Angela Merkel eine gute Kanzlerin?
Dürfen die Deutschen Europa führen?
Braucht Deutschland eine linke Regierung?
Was macht die AfD mit uns?
GELD
Tötet der Kapitalismus die Demokratie?
War der Euro ein Fehler?
MORAL
Verliert die Mitte das Maß?
Was sollen Frauen wollen?
Lügt die Lügenpresse?
HEIMAT
Sind wir endlich ein normales Land?
Wie viel Fremdes ist zu viel?
War da was mit Weimar?
WIR
Werden uns die Briten fehlen?
Sind wir noch Amerikaner?
DIE
Wie böse ist der Islam?
Müssen wir öfter in den Krieg ziehen?
Soll die Welt am Westen genesen?
Register
Jakob Augstein
Ich brauche nur noch ein bisschen Zeit, dann mache ich aus Blome einen echten Herzenslinken. Das wird ein Coming-out!
Nikolaus Blome
Man muss das Ganze als Erziehungsprojekt verstehen. Am Ende kann auch ein linker Träumer wie Augstein in die politische Realität ausgewildert werden. Es wird aber noch dauern, fürchte ich.
Einleitung
Die Idee kam nicht von uns. Es war eine Fernsehidee. Erst mal sucht man sich zwei Typen, die möglichst verschieden sind. Dick und Doof. Tom und Jerry. Don Camillo und Peppone. Hauser und Kienzle. Augstein und Blome. Man packt sie in einen Raum, wirft ihnen ein Thema vor und schaltet die Kamera an. Und dann wartet man ab, was passiert. Offenbar passiert eine Menge! Wir machen die Sendung auf Phoenix, dem Nachrichten- und Dokumentationskanal von ARD und ZDF, seit Anfang 2011. Seitdem stand Blome in Badehose da und Augstein im Wikingerkostüm, es wurde Gurkenpüree serviert und Isländischer Schnaps getrunken, Perücken und Bärte in allen Formen und Farben wurden ausprobiert, wir haben Sirtaki getanzt und Shanties gesungen (vor allem Augstein), und wir haben gestritten. Denn darum geht es ja: um den Streit, die Debatte, die Diskussion.
Mit dem Streit ist es eine sonderbare Sache: Wenn man sich zu nahe ist, kann man nicht streiten – wenn man zu weit entfernt ist, auch nicht. Für die Gesellschaft bedeutet das: Gibt es zu wenig Streit, schläft die Demokratie ein. Gibt es zu viel, zerreißt sie. Wir leben in bewegten Zeiten, die Politik ist zurück, jeder kann es spüren. Es mangelt nicht an Streit: sei es über die richtige Balance zwischen Offenheit, Vielfalt und Fremdem, sei es über die europäische Währung, über die gerechte Gesellschaft oder die neue Rolle Deutschlands in einer kaum noch durchschaubaren Welt voller Krisen. Aber immer öfter wird dieser Streit in unversöhnlichem Ton ausgetragen, mit kaum verhohlener Wut auf den anderen – ob Politiker, Journalist oder einfach nur Nachbar. Immer öfter wird der Streit zum Hass.
Wirtschaftlich geht es Deutschland so anhaltend gut wie ganz lange nicht. Geistig geht es ihm zusehends schlechter. Es gibt einen neuen rechten Populismus, der simple Gedanken in enthemmte Sprache kleidet – und jetzt auch damit durchdringt. Es gibt eine Radikalisierung der bürgerlichen Gesellschaft. In ihren Denksilos, in ihren Internet-Foren, ihren Verschwörungsmagazinen oder auf ihren öffentlichen Märschen gegen das verhasste »System« stacheln sich die Verächter der Demokratie und der offenen Gesellschaft gegenseitig auf.
Unter der Wucht des Angriffs rücken die anderen, die sogenannten etablierten Parteien, näher zusammen. Was zunächst aussieht wie die Antwort der Demokraten, ist in Wahrheit: das Problem. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht von einer »politischen Horizontverengung«. Gerade die großen Parteien werden sich immer ähnlicher – und stärken die Radikalen, deren Narrativ ja heißt: David gegen Goliath, wir gegen »das System«. Wenn eine Koalition aus Grünen, CDU und SPD – wie in Sachsen-Anhalt – notwendig ist, um die rechtspopulistische AfD von der Regierung fernzuhalten, geben diese Parteien gleichzeitig ihre Unterscheidbarkeit auf. Sie versäumen es, dem Wähler eine echte politische Alternative anzubieten. Dabei wäre politische Polarisierung das beste Mittel gegen politische Radikalisierung. Vielleicht ist das ein schmaler Grat, aber für eine liberale Gesellschaft bedeutet er den Unterschied zwischen guter und schlechter Zukunft. Diese Polarisierung fasst sich in zwei Wörter: links und rechts.
Links, rechts – das schien ein überwundener oder überkommener Gegensatz. Als wäre mit dem Fall der Mauer seinerzeit nicht nur im Geostrategischen, sondern auch im Politischen die Geschichte an ihr Ende gelangt. Aber heute wird dieses Muster wieder gebraucht.
Links gegen rechts. Steht da visionär gegen spießig? Oder versponnen gegen pragmatisch? Wenn dieser Streit um die Demokratie mit Kraft, Witz und Respekt neu ausgefochten wird, ist er ein Schutz gegen die Populisten von rechts und links. Dieses Buch will einen Beitrag dazu leisten. Links oder rechts: Es werden die Lager sein, die das Land zusammenhalten.
Fernsehen kann man nicht drucken. Fernsehen sollte man auch nicht kopieren, selbst wenn wir mit der Sendung schon für den Grimme-Preis nominiert waren. Also sind die Gespräche über Geld, Macht, Moral, über Heimat und die weite Welt, für die sich Augstein und Blome mehrere Wochen lang jeweils in den frühen Morgenstunden im Charlottenburger Restaurant Manzini trafen (danke für den Tisch in der Ecke!), anders gefasst, schärfer konturiert, ausführlicher argumentiert als bei den ungeschnittenen Phoenix-Aufzeichnungen unter dem unnachahmlichen Tutorium von Martin Priess.
Hin und wieder werden wir gefragt, ob wir nach so vielen Stunden des gemeinsamen Debattierens nicht längst ein Herz und eine Seele seien, der Streit also in Wahrheit nur eine TV-gerechte Inszenierung. Die ehrliche Antwort lautet: Nein. Das wechselseitige Sie, mit dem wir uns im Jahr 2011 erstmals begegnet sind, haben wir beibehalten. So lässt sich besser streiten.
Wir meinen ernst, was wir schreiben und sagen. Und das schon viel länger, als wir uns nun kennen.
Bei Blome hat das auch mit seinen Eltern zu tun. Mit seinem Vater, der Ludwig Erhard gut kannte. Mit seiner Mutter, heute fast 90, die ihm Bücher von Arthur Koestler zu lesen gab. Blome sagt: »Im Rückblick sieht das sogar aus wie ein Plan der beiden. Erhard war ein Optimist, der das System verändert hat, weil er an die einzelnen Menschen glaubte. Arthur Koestler war ein Pessimist, der wie ein Reporter aufgeschrieben hat, was mit dem einzelnen Menschen geschieht, wenn er für das System nicht zählt. Ich habe wirklich einiges gelesen von Koestler; Sonnenfinsternis ist das beste Buch aller Zeiten. Im guten Sinne ›rechts‹ bedeutet für mich, sich gerade vom Denken dieser beiden, Erhard und Koestler, leiten zu lassen.«
Blome war auch zwei Jahre bei der Bundeswehr. Nicht als kerniger Reserveleutnant-Anwärter (ROA) wie seine beiden Brüder; Blome war bei der NATO. Er wäre um ein Haar auf einem Posten in einem Atombomben-Bunker in Birkenfeld im Hunsrück gelandet, in letzter Minute fand sich aber noch ein Platz als Obergefreiter in SHAPE, dem NATO-Hauptquartier in Mons, südlich von Brüssel. Blome sagt: »Da verdiente man doppelt so viel Geld wie als ROA im Heideschlamm, fuhr ein Auto mit rot-weißem Diplomatenkennzeichen und lernte dauernd Leute aus anderen Ländern kennen. Brüssel war herrlich. Das Gewirr der Sprachen, das Essen, das lässig Chaotische, ganz Europa in einer in Wahrheit ziemlich kleinen Stadt. Mein Ehrgeiz als junger Journalist war, dort einmal Korrespondent zu sein, Korrespondent für NATO und EU. Das habe ich geschafft, zwei Mal sogar, und zwei Mal zu kurz. Es waren wunderbare Jahre, so vielfältig im Job, so glücklich zum Leben. Darum hat mich der Brexit viel mehr angefasst, sehr persönlich, als Angela Merkel oder eine Bundestagswahl es je könnten.
Und Sie, Augstein?«
»Wenn Blome persönlich wird, muss ich wohl auch. Bei Blome ist also Ludwig Erhard Schuld und seine Mutter und Arthur Koestler und vielleicht der Papst. Bei mir war es vor allem Franz Josef Strauß. Der wollte 1980 unbedingt Bundeskanzler werden. Ich war damals 13 Jahre alt. Radikaler ist man nie. Der Bayer hatte seine Rechnung ohne mich gemacht. ›Stoppt Strauß!‹ war ein klarer Auftrag Der Aufkleber kam auf meinen Schulranzen direkt neben ›Atomkraft? Nein danke!‹. Von meinem Kinderzimmer in Hamburg-Othmarschen aus betrachtet, war der schwere schimpfende und schwitzende Bayer tatsächlich ungefähr so gefährlich wie ein Kernkraftwerk. Es dauerte danach noch mal 13 Jahre, bis ich selber mal ein paar leibhaftigen CSU-Politikern gegenüberstand. Das war während meines Volontariats bei der Süddeutschen Zeitung in München. Ich war platt: durchaus nicht nur fiese Finsterlinge, obwohl es die schon auch gab. Nein, es waren sogar ein paar wirklich lustige Zeitgenossen darunter. Und wir waren nicht mal dauernd verschiedener Meinung. Nur über Ausländer durfte man mit ihnen nicht reden. Da hörte der Spaß nämlich auf. Und über Homosexuelle. Und über Frauen. Aber am allerschlimmsten war immer das Thema Gerechtigkeit. Wenn sich das überhaupt ergab. Da kamen wir dann nicht mehr zusammen.
Es gibt ja Leute, die kommen besser mit der Ungerechtigkeit zurecht als andere. Jede Gesellschaft ist geronnene Ungerechtigkeit. In seinem Roman Seelenarbeit erzählt der Schriftsteller Martin Walser vom Chauffeur Xaver Zürn. Der leidet wie ein Hund darunter, dass er nachts an seinen Chef denkt und weiß, der denkt nicht an ihn. Damit ist das Unausgleichbare beschrieben. Man kann das allgemeiner formulieren: Die Beschäftigten fürchten die Entscheidungen ihrer Vorgesetzten – aber die Vorgesetzten fürchten nicht die Entscheidungen der Beschäftigten. Das ist die Definition von Abhängigkeit. Wenn man mich fragt, sage ich: ›Links‹ bedeutet für mich, dieses Missverhältnis als Ausgangspunkt aller Politik zu sehen.«
Jakob Augstein und Nikolaus Blome,
im Spätsommer 2016
MACHT
Ist Angela Merkel eine gute Kanzlerin?
B Angela Merkel hat Deutschland gerettet ... Jetzt kommen Sie.
A War Deutschland denn in Gefahr?
B Haben Sie die letzten Jahre auf Ihrer Yacht bei den Inseln hinter dem Winde verbracht? Seit 2008 ist Krise. Erst gingen die US-Banken und die europäische Finanzwirtschaft in die Knie, dann brach die deutsche Volkswirtschaft so schwer ein wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Dann wäre der Euro fast auseinandergefallen, die Russen haben mitten in Europa Staatsgrenzen verschoben und den Kalten Krieg wieder angefangen. Schließlich kam 2015 die große Flüchtlingswelle nach Europa, mehr als eine Million Menschen kamen nach Deutschland. Ich würde sagen: Ja, Deutschland war in Gefahr und ist es noch.
A Interessant. Und Angela Merkel hat diese ganzen Probleme nicht nur gelöst – sondern auch noch alleine gelöst. Im Ernst: Ist es nicht geradezu die Aufgabe des Kanzlers, das Land zu retten, und zwar jeden Tag? Aber lassen Sie uns doch Merkels Kanzlerschaft mal zum Anlass für die Frage nehmen, welchen Einfluss der – oder die – Einzelne in der Politik heute hat. Was wäre anders gewesen, wenn nicht Merkel Kanzlerin gewesen wäre?
B Das ist kontrafaktisch. Anstatt zu überlegen, was gewesen wäre, wenn etwas nicht gewesen wäre, lassen Sie uns doch das anschauen, was ist.
A Sage, was ist – gerne. Europa ist heute in deutlich schlechterem Zustand als zu Beginn von Merkels Amtszeit. Der Euro kriselt seit Jahren. England hat für den Brexit gestimmt. Die Franzosen und Holländer sind unruhig. Österreich schrammt an der Rechtsregierung entlang. Das ist die Lage nach vielen Jahren Merkel. Sie hinterlässt einen europäischen Scherbenhaufen. Denn das größte Land trägt auch die größte Verantwortung! Nebenbei haben wir aber auch das größte Interesse an einer funktionierenden Europäischen Union. Deutschland ist zu klein, um den Kontinent alleine zu dominieren, und zu groß, um hinter irgendeiner Eiche in Deckung zu gehen. Für uns ist die europäische Frage in einer Art und Weise existenziell wie sie es für unsere Nachbarn nicht ist. Wenn man das voraussetzt, dann hat Merkel Deutschland nicht nur nicht gerettet – sondern beschädigt.
Kohl und Merkel sind sich viel ähnlicher, als man meint.
B Das ist schon wieder kontrafaktisch. In der Eurokrise hat Deutschland Europa zusammengehalten. Es gab heftigen europäisch-innenpolitischen Streit um den richtigen Weg, aber ohne die deutsche Wirtschaftskraft und die deutsche Bonität an den internationalen Finanzmärkten hätten die Schuldenländer nicht gerettet werden können. Man kann die Wirtschafts- und Finanzpolitik für falsch halten – ich finde sie richtig –, aber man kann nicht bestreiten, dass Deutschland unter Angela Merkel Verantwortung gezeigt hat. Das hätte Helmut Kohl nicht anders gemacht. Die beiden sind sich viel ähnlicher, als man meint.
A Kohl war ein Kanzler mit klaren Überzeugungen. Merkels Überzeugungen musste man jahrelang mit der Lupe suchen. Ich bin nicht sicher, ob wir inzwischen fündig wurden. Wofür steht denn diese Kanzlerin? Was kümmert sie, was bekümmert sie? Sie war von Anfang an die große Unbekannte. Es gab vielleicht nur einen Moment in dieser Kanzlerschaft, in dem sie sich ins Herz hat blicken lassen ... und das war die Rede, mit der sie sich im amerikanischen Kongress für die Freiheitsmedaille bedankt hat. Da war sie echt gerührt.
B Bei der Washingtoner Rede war ich dabei. Es war eine hoch politische und zugleich ganz verträumte Rede über Wert und Wunder der Freiheit. Über ihr eigenes Leben, über das »Alles ist möglich«. Ich habe mich gefragt: Ist das eine Rede, die man nur hier, in Amerika, halten kann? Oder ist sie eine Person, die nur in Amerika so reden kann? Ich glaube, Letzteres.
A Amerika, Freiheit – da wird die Kanzlerin plötzlich ziemlich ostdeutsch. Sie gehört zu jenen Ostdeutschen, für die das Ende der DDR gleichbedeutend mit Freiheit ist. Darum fehlen Merkel und auch Joachim Gauck jedes Verständnis für moderne Formen von Unfreiheit. Datenschutz, Spionage der Amerikaner, das Schicksal von Edward Snowden oder Julian Assange – das ist diesen Politikern alles herzlich gleichgültig, weil es nicht in ihr Muster von Unterdrückung passt. Aber auf dem Capitol Hill erwärmt sich selbst das Herz einer so nüchternen Brandenburgerin wie Merkel. Daheim in Deutschland kennen wir die Kanzlerin nur als oberste Sachbearbeiterin der Republik: fleißig, kontrolliert strebsam.
B Ich erzähle Ihnen noch eine Geschichte, Angela Merkel kann nämlich doch Pathos. Sie hat im Jahr 2010 einmal eine Rede zu Afghanistan im Bundestag so eröffnet: Sie hat die Namen von sieben gerade gefallenen deutschen Soldaten verlesen und dann gesagt: »Wir können von den Soldaten nicht Tapferkeit verlangen, wenn uns selbst der Mut fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir hier beschließen.« Da war es vollkommen still im Saal, ernsthaft. Trotzdem stimmt, Pathos und Charisma sagen ihr im Grunde nicht viel. Sie haben »Sachbearbeiterin« und die Adjektive fleißig, strebsam etc. eben als Spott gemeint, das ist interessant. Sie glauben, Angela Merkel würde es nicht gerne haben, so beschrieben zu werden, aber sie würde sehr wohl. Auf ein gelöstes Problem ist sie stolzer, scheint mir, als auf eine gute Rede im Bundestag. Sie kann Krise besser als Kunst. Das geht den meisten Deutschen genauso. Überhaupt sind Merkel und die Deutschen einander im Laufe der Zeit immer ähnlicher geworden. »Sie kennen mich«, der eine Satz am Ende des TV-Duells mit Peer Steinbrück im 2013er Wahlkampf, das war Angela Merkel pur. Ihre Erfolgsgarantie.
A Dass die Deutschen und Merkel sich ähnlich geworden sind, ist für beide kein Kompliment – aber wahrscheinlich eine zutreffende Beobachtung. Merkel ist eine Opportunistin der Macht. Sie haben gesagt, Merkel und Kohl seien sich ähnlich. Ist das so? Der Historiker Hans-Peter Schwarz hat über Helmut Kohl geschrieben: »Er gehört zu den großen Willensmenschen.« Das trifft sicher auch auf Angela Merkel zu. Man bleibt nicht zufällig so lange Kanzlerin. Aber was ist damit gesagt? Es kommt darauf an, worauf sich der Wille richtet. Bei Kohl war es die Einheit Europas. Bei Merkel ist es das Amt. Mehr nicht. Für welche Überzeugungen ein Politiker steht, zeigt sich in den Momenten, in denen der Einzelne einen Unterschied machen kann. Wenn es auf Gestaltung ankommt, nicht nur auf Verwaltung. Welche Momente in der Ära Merkel waren das? Wann hat sie etwas getan, das ihr wirklich eigen gewesen wäre? Nicht einmal von jenen zwei Wochenenden im September 2015 lässt sich das sagen, als Merkel die Grenze für die Flüchtlinge öffnete. Gerhard Schröder hatte recht, als er sagte, kein Kanzler hätte in dieser Situation eine andere Entscheidung treffen können.
B Ja, die Flüchtlingswochen im September 2015. Der Auftritt der »neuen Angela Merkel«, der deutschen Mutter Moral. Aber das war eine Erfindung der Linken, die sich damals irgendwie selbst erklären mussten, warum auch sie Merkel plötzlich gut finden durften. Es gab für Merkel noch andere entscheidende Momente, defining moments, wie es heißt: der Nachmittag im August 2008, als sie die Sparguthaben aller Deutschen staatlich garantiert, einfach so, ohne jede Abdeckung durch den Bundestag – aber in der Not eines möglicherweise bevorstehenden Bankruns. Oder die beiden Sommer 2012 und 2015, als sie zwei Mal die Griechen im Euro hielt. Sie wollte nicht, dass mit ihr als Kanzlerin Deutschland den Euro und Europa aufs Spiel setzt. Das ist eine tief verankerte Überzeugung, mit der sie übrigens immer wieder einmal erpresst wird in der EU. Trotzdem ist mir so eine Betrachtung zu sehr Hollywood, zu sehr High Noon oder der Held, der mit noch drei Sekunden auf dem Zeitzünder das blaue und nicht das rote Kabel durchschneidet und alle rettet. Wenn wir nach den Überzeugungen der Kanzlerin fragen, dann findet sich die Antwort in all den Themen und Phasen, wo sie anhaltend gegen eine Umfragemehrheit regiert hat. Und diese Liste ist lang, anders als viele Kritiker sagen: von Afghanistan-Einsatz, Rente mit 67, Eurorettung, bis Putinkritik, Russlandsanktionen und Flüchtlingspolitik.
A In Deutschland wird Außenpolitik oft genug gegen das Volk gemacht. Die Leute wollten weder den NATO-Doppelbeschluss noch den Einsatz in Afghanistan, bekommen haben sie beides. Ich glaube, für fast alle politischen Entscheidungen dieser Kanzlerin gilt die These, die Brecht über Ibsens Theater aufgestellt hat: »Es ist nicht mehr der Mensch, der handelt, sondern das Milieu. Der Mensch reagiert nur.« Natürlich gilt das nicht nur für Merkel. Aber andere Machtpolitiker hatten neben einer gesunden Portion Opportunismus noch Überzeugungen. Strauß, Kohl, Brandt, Schmidt, Schröder, Fischer: Da gab es Projekte, Visionen, Hoffnungen. Sie erstrebten irgendetwas oder sie bekämpften irgendetwas. Merkel bekämpft niemanden, weil man sich damit nur noch mehr Feinde schafft. Und sie will nichts, weil jedes Wollen auch Verzicht bedeutet. Sie selbst haben in Ihrem Merkel-Buch geschrieben: »Der rote Faden von Angela Merkels Regieren ist – das Regieren.«
B Wenn Sie einem Politiker vorhalten, dass er (wieder-)gewählt werden will, können Sie genauso gut einem Mittelstürmer vorwerfen, dass er Tore schießen will. Das ist doch widersinnig. Die Frage muss anders lauten: Hat die Bundeskanzlerin schon einmal etwas Richtiges unterlassen oder Falsches getan, nur um ihre Macht zu retten? Dann wäre zumindest im Ansatz jene Machtversessenheit bewiesen, die den eigenen Verbleib im Amt nicht mit dem Wohl des Landes verbindet, sondern das eine über das andere stellt.
A Aber das Kanzleramt ist doch kein Seminar zur Selbstverwirklichung. Macht ist nicht Zweck der Politik, sondern ihr Mittel. Der Moment ihres Versagens war der Höhepunkt der europäischen Krise. Da hat die Kanzlerin darauf verzichtet, den Integrationsschritt zu machen, der Europa gerettet hätte. Sie hätte das deutsche Gewicht und auch das deutsche Geld dafür nutzen müssen, die Währungsunion zu vervollständigen, den Schritt in Richtung politische Union zu gehen, den Kohl und Mitterrand nicht gegangen sind. Sie hat es nicht einmal versucht. Warum? Weil ihr entweder die schöpferische Kraft fehlt. Oder weil Europa ihr egal ist.
B Das ist ein Denkfehler. Sie finden etwas falsch, nämlich das Unterlassen des nächsten Integrationsschrittes, das ist Ihre Prämisse. Und Sie schließen aus Ihrer Prämisse, dass Merkel dieses Falsche nur getan haben kann, weil sie ihre Macht ja eh immer nur absichern will. Was aber, wenn Ihre Prämisse falsch ist. Es ist meines Erachtens nämlich kein Fehler, den Integrationsschritt nicht zu gehen, wenn man vorher weiß, dass er scheitern würde. Die Europäische Union wird für lange Zeit mit der Vertragslage zurechtkommen müssen, die sie heute hat. Für eine neue Verfassung gibt es keine Mehrheit in den Mitgliedstaaten, der erste Versuch ist vor mehr als einem Jahrzehnt schiefgegangen. Angela Merkel hat einen sehr uneitlen Angang zu ihrer Macht, sie hat einmal gesagt: »Ich kann sagen: Das will ich nicht. Aber ich kann nicht sagen: Das will ich.« In derart komplexen politischen Systemen wie dem deutschen oder dem europäischen ist die Macht selbst des Mächtigsten nur noch mittelbar einsetzbar. Selbst die famose »Richtlinien-Kompetenz des Kanzlers« reicht nur so weit, wie der Koalitionspartner es zulässt.
A Nun sind Sie es, der die Kanzlerin kleiner macht, als sie ist. Ich glaube, dass der Mensch ein Getriebener der Geschichte ist. Aber wenn ein Politiker keinen über die Macht hinausgehenden Willen hat, kann er nicht einmal die schmalen Momente nutzen, die das Schicksal ihm für echten Einfluss bietet. Wenn Angela Merkel in den 90er Jahren Kanzlerin gewesen wäre, dann gäbe es den Euro vermutlich gar nicht. Weil ihr der notwendige Wille gefehlt hätte. Die Dinge haben die innere Eigenschaft, sich aufzulösen. Wer immer nur verwaltet, stellt dieser Auflösung nichts entgegen. Wenn Sie den Vergleich mit Kohl wollen, kann man sagen, Kohl war der Kanzler der Einheit, der deutschen und der europäischen. Merkel ist die Kanzlerin der Spaltung.
B Ich will jetzt nicht mit Zahlen, Statistiken oder meinem Taschenrechner kommen. Nehmen wir einfach die drei zentralen Sätze aus bald zwölf Jahren Amtszeit der Kanzlerin: 2008/09 in der Finanz- und Wirtschaftskrise sagte sie, Deutschland werde »stärker aus der Krise herauskommen als es hineingegangen ist«. Da hat sie Wort gehalten. In der Eurokrise ab 2010 war es dasselbe Versprechen: Der Euro solle nach der Krise stärker sein als vorher. Davon ist, regulatorisch wie politisch, immerhin mehr geglückt als misslungen. Für die Flüchtlingskrise 2015 schließlich steht der Satz: »Wir schaffen das!«. Das ist noch nicht ausgemacht, aber glauben Sie im Ernst, wir schaffen das nicht und Deutschland geht unter? Ein Volk von 80 Millionen Menschen und bald drei Billionen Euro Wirtschaftsleistung im Jahr? Wenn Sie gegen Merkels Satz ernsthaft antreten, stehen Sie automatisch in einer Reihe mit Pegida und den sieben Alu-Hüten. Der Letzte, der in einem ganz wichtigen deutschen Moment sagte: »Wir schaffen das nicht«, das war Oskar Lafontaine 1990. Und dann verlor er gegen Helmut Kohl, der für seine »blühenden Landschaften« so heftig kritisiert wurde.
Einerseits ist der Satz »Wir schaffen das!« genial.
A Ja, einerseits ist der Satz: »Wir schaffen das!« genial. Er ist nicht zu widerlegen – andererseits hat er auch Merkels erste und dafür um so größere Schwäche entblößt: Denn die Leute wenden sich von ihr und dem Satz ab und sagen: Wir wollen das gar nicht schaffen.
B Da haben Sie allerdings recht. Merkel ist den Deutschen ein Stück zu weit voraus. Paradoxerweise ist sie aber nicht enteilt, weil sie plötzlich visionär geworden wäre oder die Re-Inkarnation von Martin Luther. Merkel bleibt Merkel. Sie ist pragmatisch wie immer schon, hat aber früher als andere erkannt, dass eine Million Flüchtlinge die nächste Stufe einer umfassenden Globalisierung sind. Deutschland kann sich aus dieser Globalisierung nicht verabschieden, wir sollten das auch nicht wollen. Das ist auch so eine von Merkels festen Überzeugungen.
A Aha, das wäre dann visionärer Pragmatismus. Das wird mal ein großartiges Epitaph: Angela Merkel, die visionäre Pragmatikerin. Oder die pragmatische Visionärin?
B Angela Merkels Eintrag in das Geschichtsbuch wird einer zu Europa sein, etwa dieser: Während ihrer Kanzlerschaft wurde Deutschland zur verantwortlichen Führungsmacht Europas, mit allen Fehlern, Erfolgen, Risiken und Nebenwirkungen. Damit setzte sie das Werk Helmut Kohls mit den angemessenen Mitteln fort und es gelang, die Europäische Union in einer zehnjährigen Dauerkrise vor dem Zerbrechen zu bewahren.
Dürfen die Deutschen Europa führen?
A Wer diese Frage stellt, hat weder ein Interesse an Europa noch an Deutschland. Die Frage allein ist schon gefährlicher Unsinn. Europa funktioniert durch Einigkeit und nicht durch Führung. Wir brauchen eine starke europäische Identität, die sich auf lange Sicht über die nationale Identität wölbt – sie aber nicht ersetzt.
B Amen.
A Erinnern Sie sich noch an Helmut Kohl? Eine deutsche Führung in Europa wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Und François Mitterrand sicher auch nicht.
B Wir erleben eine Ballung von Problemen, die nach Führung schreit, nach Führung durch einen oder mehrere der großen EU-Mitgliedstaaten: die Eurokrise, die Flüchtlingskrise, der Kampf gegen den islamistischen Terror. Das muss gar nicht immer und in jedem Fall Deutschland sein, aber das supranationale Brüssel, die EU-Kommission, kann es auf keinen Fall sein. Warum? Weil »Brüssel« trotz der bemerkenswerten Demokratisierung seiner Instanzen nicht über genug Legitimität verfügt, so tief greifende Beschlüsse zu fassen, wie sie in diesen Krisen unausweichlich sind: Hunderte Milliarden an Euro aus Steuermitteln als Haftung ins Risiko stellen, Soldaten in den Einsatz auf Leben und Tod schicken, die Aufnahme von Millionen Flüchtlingen verfügen. Darüber können bis auf Weiteres nur nationale Parlamente und Regierungen entscheiden. Darum muss es ein Mitgliedstaat sein, der in diesen Phasen führt.
Wir brauchen eine europäische Regierung.
A Aber ihre Beispiele belegen doch nur die Notwendigkeit der weiteren europäischen Einigung. Keine dieser Krisen kann ein Staat allein lösen. Sie überschreiten die nationalen Grenzen und Kompetenzen. Ihre Beispiele sind das beste Argument für mehr Europa.
Natürlich braucht Europa Führung – aber es muss sich selber führen. Es liegt im Wesen der Demokratie, dass sie sich selber führt. Und Europa ist der Kontinent der Demokratie. Wir brauchen also eine europäische Regierung, ein europäisches Parlament mit Budgetrecht, Demokratie vom Nordkap bis nach Sizilien.
B Sie wollen das manifeste Führungsproblem der EU mit der Abschaffung der Nationalstaaten lösen? Davon hab ich früher auch geträumt, dazu wird es aber auf ganz lange Sicht nicht kommen. Die Leute tun sich doch schon schwer genug damit, dass die nationalen Grenzen selbst im Notfall nicht mehr sind, was sie einmal waren. Die EU mit bald über 30 Mitgliedstaaten ist außerdem zu groß und zu vielfältig, um schnell weiter zu integrieren und sich auf »mehr Brüssel« zu einigen, erst recht übrigens nach dem Brexit. Vielleicht kommt eines Tages doch noch eine EU-Verfassung zustande wie die 2005 gescheiterte, aber nicht so schnell, wie wir die Probleme angehen müssen, die die Europäische Union heute dreifach tödlich bedrohen. Die Flüchtlingsnot stellt die Freizügigkeit ohne Grenzen infrage, die Schuldenkrise den Euro und der Terror unsere tolerante Vielfalt, den European way of life.
A Natürlich müssen die Krisen von heute auch heute gelöst werden. Das ist doch eine Binse. Und natürlich wird eine europäische Föderation nicht morgen erstehen. Die Frage ist aber doch, ob man dieses Ziel anstrebt oder aufgibt. Sie haben kapituliert. Ich nicht. Bei den vergangenen Europawahlen gab es das erste Mal zwei regelrechte Kandidaten. Mir ist schon bewusst, dass das in Deutschland stärker wahrgenommen wurde als in den anderen Mitgliedstaaten, unter anderem deshalb, weil der Präsident des EU-Parlaments Martin Schulz ein Deutscher ist. Aber ich habe das als wichtigen symbolischen Schritt wahrgenommen.
B Den Wahlsieger Jean-Claude Juncker ins Amt als Kommissionschef zu bringen, war ein schöner, starker Moment europäischer Selbstfindung, der demokratische »Putsch« eines Parlamentes gegen seine Fürsten. Dennoch bleibt die EU auf lange Sicht an wichtigen Punkten ein Bund von Nationalstaaten, etwa bei Währung, Außenpolitik, Militär, Anti-Terror oder auch in weiten Teilen der Sozialpolitik. Wer Europa hier zusammenhalten will, muss sich führen lassen oder selbst führen. Somit ist die Frage nur noch: Wer kann, darf oder muss es machen? Die Antwort liegt auf der Hand, Deutschland, das große Land in der Mitte. Denn die Mitte wird immer wichtiger, je disparater die Ränder sind, je vager auch die Grenzen nach Osteuropa. Man stelle sich nur vor, Deutschland würde diese Verantwortung nicht annehmen und sich verhalten wie Großbritannien, das große Land am Rand. Man stelle sich nur vor, die Deutschen würden in der Mitte des Kontinents über einen Ausstritt auch nur beginnen nachzudenken – sofort wäre die »deutsche Frage« wieder da, die Angst vor den Deutschen auf Alleingang.
A Egal ob Zentrum oder Peripherie – die Staaten sehen, wie ihre Souveränität erodiert. Und sie stehen vor der Wahl, ihren Einfluss zu bündeln und gemeinsam mehr zu erreichen, als ihnen allein möglich wäre. In der Handelspolitik ist das längst Alltag, jüngstes Beispiel die Verhandlungen mit den USA zum TTIP-Abkommen. Dieser Weg steht den Staaten auch in den von Ihnen genannten Politikfeldern ohne Weiteres offen. Oder sie entscheiden sich tatsächlich dafür, sich der Führung Berlins zu unterwerfen. Wenn man Franzosen, Spaniern und Polen diese Alternative gibt, was meinen Sie, wofür die sich entscheiden?
B Diese Staaten würden dem nächsten großen Schub von Hoheitstransfer auf die europäische Ebene derzeit nicht zustimmen. Aus unterschiedlichen Gründen gibt es eine Renaissance des Bigott-Nationalen. Im Osten ist es vermutlich eine späte Reaktion auf die 50 Jahre unter Sowjetherrschaft. In Ländern wie Frankreich oder Großbritannien liegt es zum Teil an der Sehnsucht nach einstiger nationaler Größe.
In allen Fällen gilt: Das supranationale »Brüssel« kann diese Länder nicht im Boot halten. Nur eine starke Macht in der Mitte kann, wenn sie es klug anstellt, die Zentrifugalkräfte bändigen. Und klug führen heißt, Brüssel nicht platt durch Berlin zu ersetzen, sondern immer dann aus Berlin durch Brüssel zu steuern, wenn es nötig ist. So hat es Merkel in der Eurokrise gehalten: Die großen Linien waren deutsch geprägte, das haben alle durchschaut. Aber praktisch gehandhabt wurden sie von der Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und eben der Europäischen Kommission. Das war akzeptabel.
A Osteuropa ist in der Tat ein Problem. Der Osten verweigert sich der Vernunft. Sie erinnern sich an den früheren Präsidenten Lech Kaczyński? Er ist mit einem Flugzeug voller Generäle und Geistlicher über Smolensk im Nebel abgestürzt, weil er auf Teufel komm raus die Landung erzwingen wollte. Das ist ein Sinnbild für Osteuropa. Bevor man sich der Vernunft der Moderne unterwirft, wählt man lieber den Tod. Ich habe ernste Zweifel daran, ob die »immer engere politische Union«, von der in der Präambel des Vertrages von Maastricht die Rede ist, mit Osteuropa überhaupt zu machen ist. Jacques Delors, der frühere EU-Kommissionspräsident und fraglos der bedeutendste Europapolitiker der vergangenen Jahrzehnte, hielt die Ost-Erweiterung der EU im Jahr 2004 für einen Fehler. Es sei dafür schlicht zu früh, sagte er: »Kein einziger Kandidat ist bereit beizutreten.« Heute wissen wir: Wenigstens was die wichtigsten der neuen Mitglieder anging, hatte Delors Recht: Polen und Ungarn. Meine Hoffnung liegt dennoch und kurioserweise in der Kraft der Bürokratie. Sie unterschätzen die autopoetischen Mechanismen der Brüsseler Beamtenherrschaft. Da wird supranationale Identität ganz von selbst erzeugt. Die Lobbyisten der großen Konzerne wissen längst, an wen sie sich wenden müssen, um ihre Interessen durchzusetzen. Eine andere europäische Hoffnung kann im antigermanischen Reflex liegen. In der Griechenlandkrise ist es Wolfgang Schäuble eben nicht gelungen, die Griechen aus dem Euro zu drängen. Frankreich und Italien wollten das nicht mitmachen.
B Deutschland hatte in Sachen Grexit den Führungsanspruch erhoben, aber sich nicht durchgesetzt. Trotzdem bleibt Deutschland der Mitgliedsstaat, der am ehesten führungsfähig ist. Dazu braucht es eine starke Wirtschaft, die Maßstäbe setzt, internationales Gewicht, aber auch weiche Faktoren wie moralischen Kredit und eine verlässlich europafreundliche Wählerschaft, die garantiert, dass sich auch bei Regierungswechseln am pro-europäischen Kurs des Landes nicht viel ändert.
A Sie postulieren da etwas – aber sie erklären nicht, warum sich die anderen europäischen Staaten dem deutschen Diktakt unterwerfen sollten.
B Ist das Diktat oder Freiheit, nämlich die Einsicht in das Notwendige? Zu Zeiten von D-Mark, Gulden und Franc machte die Deutsche Bundesbank die Währungspolitik in Europa. Wenn sie die Leitzinsen anhob, mussten alle anderen nolens volens nachziehen. Daran hat sich im Kern nichts geändert. Und in extremen Lagen wie diesen ist deutsche Führung erst recht das kleinere Übel.
Schäuble sagte, Hollande und Renzi würden nur bluffen, aber Merkel war anderer Meinung.
A Es fällt leichter, die Steuerung von Zins und Währung abzugeben als die Entscheidung über die Frage nach Militäreinsätzen oder Asylpolitik. Der öffentliche Rechtfertigungsdruck ist nicht vergleichbar.
Übrigens bin ich auch der Ansicht, dass Ihre Idee aus einem anderen Grund nicht funktionieren kann: Die Deutschen sind dem nicht gewachsen. Sie tun so, als wäre Deutschland in der Lage, die Rolle eines wohlwollenden Hegemons einzunehmen. Das ist Wunschdenken. Sie erleben in Berlin längst einen neuen deutschen Hochmut gegenüber Resteuropa. Dieses deutsche Gefühl, wir sind besser, weil wir »es« besser können. Die deutsche Europolitik ist in Europa sehr übel aufgenommen worden. Wir wollen glauben, das Dritte Reich und seine Verbrechen sind lange vorüber. Aber wir als Täter entscheiden nicht über das Gedächtnis unserer Opfer. Italiens Ministerpräsident Renzi hat gesagt, Europa müsse 28 Ländern dienen und nicht nur einem – soviel zu Ihrer Idee deutscher Führung.
B Als der Grexit – von Schäuble unter den Euro-Finanzministern vorbereitet – zum Greifen nah war, ließ sich die Kanzlerin von einer Vetodrohung der Franzosen und Italiener beeindrucken. Schäuble sagte, Hollande und Renzi würden nur bluffen, aber Merkel war anderer Meinung. Sie sollten sich nicht einreden lassen, deutsche Führung sei nur ein anderes Wort für »Viertes Reich«. Das erzählen überwiegend jene Leute, die zu viel Schulden gemacht haben und jetzt einen suchen, der ohne zu mucken für sie die Zeche zahlt.
A Ihre Argumentation ist Teil des Problems. Sie argumentieren auf eben jene deutsche Weise, die Europa zerstört: mit einer Scheinvernunft. Sie wiegen das Bruttosozialprodukt, sie vergleichen Bevölkerungszahlen, und am Ende ist Europas Zukunft nur noch eine Machtfrage. Das ist es aber nicht. Das sollte es nie sein. Es war das große Verdienst von Helmut Kohl, das erkannt zu haben. Unterschätzen sie doch nicht die Dämonen der Vergangenheit.
Und außerdem: Was meinen Sie denn, wenn Sie sagen, Frankreich schwächelt? Der französische Anspruch, Europa mitzugestalten, ist doch gleichgeblieben. Ich sage ihnen: Wenn Sie Brüssel aufgegeben haben, dann haben Sie Europa aufgegeben. Wenn Sie wirklich der Meinung sind, dass das einige Europa mit seiner gemeinsamen Politik, für die Brüssel ja steht, gar keine positive Vision mehr ist, dann bedeutet das einen Rückfall ins 19. Jahrhundert. Mit allen Risiken.
B Frankreich hat in den letzten Jahren vielfach die alte Rolle verlassen, nämlich Brücke zwischen dem lateinischen Süden und dem protestantischen Norden der EU zu sein. Das liegt auch an der Reformunfähigkeit des Landes, François Hollande hat sich in dieser Not zum Klassensprecher der Südliga und der Sozialisten gemacht. Wenn das so weitergeht, wird das deutsch-französische Tandem nie wieder richtig fahren. Und dann? Was tun wir denn, wenn fast alle in der EU auf uns schauen, so wie in der Euro- oder der Ukrainekrise? Wenn wir allein deshalb Führungsmacht werden, weil die anderen uns dazu machen? Reluctant hegemon