19,99 €
Mit »Dearly« veröffentlicht Margaret Atwood nach zehn Jahren erstmals wieder einen Lyrikband. Es geht darin um all das, womit sie sich, berühmtermaßen, auseinandersetzt: ob hinreißend genaue Naturbeschreibungen oder witzige Begegnungen mit Außerirdischen, ob drängende politische Fragen oder Mythen und Legenden. Klug, dabei oft verspielt sprechen die Gedichte von Abwesenheit, Altern und Rückschau, aber auch von Neubeginn und Glück. »Dearly« ist Atwood pur, voller Einsichten, Empathie und Humor.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:
www.berlinverlag.de
Für Graeme, in absentia
Übersetzung ins Deutsche von Jan Wagner
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Dearly« bei Chatto & Windus, London
© O.W. Toad Ltd. 2020
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2022
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)
Covergestaltung: zero-media.net, München, unter Verwendung des Originalumschlags von Suzanne Dean / Penguin Random House
Covermotiv: Umschlagabbildung: Echo (detail), 2019, Kate MccGwire, mixed media with magpie feathers www.katemccgwire.com
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.
Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.
Cover & Impressum
Liebe Leserinnen und Leser
I.
Late Poems
Späte Gedichte
Ghost Cat
Geisterkatze
Salt
Salz
Passports
Reisepässe
Blizzard
Blizzard
Coconut
Kokosnuß
Souvenirs
Souvenirs
The Tin Woodwoman Gets a Massage
Die blecherne Waldfrau bekommt eine Massage
If There Were No Emptiness
Gäbe es keine Leere
II.
Health Class (1953)
Gesundheitskurs (1953)
A Genre Painting
Genrebild
Princess Clothing
Wie die Prinzessin sich kleidet
Cicadas
Zikaden
Double-entry Slug Sex
Nacktschneckensex, doppelt verkoppelt
Everyone Else’s Sex Life
Das Geschlechtsleben aller andern
Betrayal
Untreue
Frida Kahlo, San Miguel, Ash Wednesday
Frida Kahlo, San Miguel, Aschermittwoch
Cassandra Considers Declining the Gift
Kassandra erwägt, die Gabe abzulehnen
Shadow
Schatten
Songs For Murdered Sisters
1. Empty Chair
2. Enchantment
3. Anger
4. Dream
5. Bird Soul
6. Lost
7. Rage
Coda: Song
Lieder für ermordete Schwestern
1. Leerer Stuhl
2. Verzauberung
3. Wut
4. Traum
5. Vogelseele
6. Verloren
7. Zorn
Koda: Lied
The Dear Ones
Die Lieben
Digging Up the Scythians
Ausgrabung der Skythen
III.
September Mushrooms
Septemberpilze
Carving the Jacks
Beim Schnitzen der Halloweenkürbisse
A Drone Scans the Wreckage
Eine Drohne sichtet die Überreste
Aflame
In Flammen
Update on Werewolves
Werwölfe, letzter Stand
Zombie
Zombie
The Aliens Arrive
Die Außerirdischen landen
Siren Brooding on Her Eggs
Eine Sirene brütet über ihren Eiern
Spider Signatures
Spinnenunterschriften
At the Translation Conference
Auf der Übersetzerkonferenz
IV.
Walking in the Madman’s Wood
Ein Gang durch den Wald des Irren
Feather
Feder
Fatal Light Awareness
Tödliche Lichtanziehung
Fear of Birds
Angst vor Vögeln
Short Takes on Wolves
Kurze Szenen mit Wölfen
Table Settings
Gedecke
Improvisation on a First Line by Yeats
Improvisation über eine Anfangszeile von Yeats
»Heart of the Arctic«
»Herz der Arktis«
Plasticene Suite
1. Rock-like Object on Beach
2. Faint Hopes
3. Foliage
4. Midway Island Albatross
5. Editorial Notes
6. Sorcerer’s Apprentice
7. Whales
8. Little Robot
9. The Bright Side
Plastizän-Suite
1. Steinähnliches Objekt am Strand
2. Leise Hoffnungen
3. Blattwerk
4. Albatros auf den Midwayinseln
5. Anmerkungen des Lektorats
6. Zauberlehrling
7. Wale
8. Kleiner Roboter
9. Die positiven Aspekte
Tracking the Rain
Aufspüren des Regens
Oh Children
O Kinder
The Twilight of the Gods
Götterdämmerung
This Fiord Looks Like a Lake
Dieser Fjord sieht aus wie ein See
V.
One Day
Eines Tages
Sad Utensils
Traurige Utensilien
Winter Vacations
Winterurlaube
Hayfoot
Heufuß
Mr. Lionheart
Herr Löwenherz
Invisible Man
Der Unsichtbare
Silver Slippers
Silberne Schuhe
Within
Im Innern
Flatline
Nulllinie
Disentchanted Corpse
Entzauberter Leichnam
Dearly
Innigst
Blackberries
Brombeeren
Nachbemerkung zur deutschen Übersetzung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Liebe Leserinnen und Leser,
vor kurzem durchforstete ich eine Schublade voller Texte aus meinen Jugend- und Collegejahren. Ich kritzelte damals ununterbrochen: Erzählungen, Essays, Stücke. Und Gedichte – fertige, unfertige, teilweise fertige. Die meisten waren ziemlich schlecht, dafür gab es eine Unmenge von ihnen. Einige waren voller Zuversicht an Zeitschriften geschickt worden, natürlich mit einem frankierten Rückumschlag, in dem sie dann, meistens jedenfalls, zurückkamen. Es gab eine Vielzahl von Themen in diesen Gedichten: Pfingstrosen, der ungarische Volksaufstand von 1956, Winter, abgeschlagene Köpfe. Das Übliche.
Die Gedichte wurden mit Tinte, Bleistift, Kugelschreiber, was immer gerade zur Hand war, zu Papier gebracht: auf liniertem und unliniertem, weißem, gelbem, blauem – auch hier, was immer gerade zur Hand war. Schaue ich mir die handschriftlichen Originale der Gedichte aus Innigst an, dann stelle ich fest, daß sich an meinem Verfahren nichts geändert hat. Ich gebrauche das Wort »Verfahren« sehr frei; ich habe nie irgendeine Art von Verfahren gehabt, habe nie einen Kurs belegt, in dem mir eines beigebracht worden wäre. Derartige Kurse gab es nicht im Kanada der späten fünfziger Jahre.
Zwischen zwei Lyrikbänden ließ ich den Haufen meiner handschriftlichen Gedichte in der Schublade anwachsen. Gelegentlich bearbeitete ich einige von ihnen, tippte sie mit meinen vier Schreibmaschinenfingern ab, korrigierte sie, tippte sie abermals ab. Von Zeit zu Zeit legte ich die abgetippten Gedichte nebeneinander auf den Fußboden – im Grunde ganz so, wie Jo es in dem Film Little Women mit ihren Schriftstücken tut – und ordnete sie neu an, fügte hinzu und verwarf, wägte ab.
So war es auch bei den Gedichten für Innigst. Mit der Hand geschrieben, in die Schublade gesteckt, abgetippt, überarbeitet. Diese Gedichte wurden zwischen 2008 und 2019 verfaßt. Während dieser elf Jahre verdunkelte sich die Welt. Auch wurde ich älter. Menschen, die mir sehr nahestanden, starben.
Lyrik beschäftigt sich mit dem Kern menschlicher Existenz, mit Leben, Tod, Erneuerung, Wandel, aber auch mit Redlichkeit und Unredlichkeit, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Mit der Welt in ihrer ganzen Vielfalt. Mit dem Wetter. Zeit. Trauer. Freude.
Und mit Vögeln. Es tauchen in diesen Gedichten mehr Vögel als jemals zuvor auf. Ich wünsche mir, daß es im nächsten Lyrikband, sollte es denn einen geben, abermals mehr sind, und auch in der Welt, wünsche ich mir, möge es mehr Vögel geben.
Laßt uns alle miteinander hoffen.
Margaret Atwood
These are the late poems.
Most poems are late
of course: too late,
like a letter sent by a sailor
that arrives after he’s drowned.
Too late to be of help, such letters,
and late poems are similar.
They arrive as if through water.
Whatever it was has happened:
the battle, the sunny day, the moonlit
slipping into lust, the farewell kiss. The poem
washes ashore like flotsam.
Or late, as in late for supper:
all the words cold or eaten.
Scoundrel, plight, and vanquished,
or linger, bide, awhile,
forsaken, wept, forlorn.
Love and joy, even: thrice-gnawed songs.
Rusted spells. Worn choruses.
It’s late, it’s very late;
too late for dancing.
Still, sing what you can.
Turn up the light: sing on,
sing: On.
Dies sind die späten Gedichte.
Die meisten Gedichte sind späte,
versteht sich: zu spät,
wie der Brief eines Seemanns,
der eintrifft, nachdem er ertrunken ist.
Zu spät solche Briefe, um hilfreich zu sein,
und mit späten Gedichten ist es ähnlich.
Sie werden wie durch Wasser gereicht.
Was es auch war, es ist längst passiert:
die Schlacht, der sonnige Tag, das mondbeschienene
Hinabgleiten in die Lust, der Abschiedskuss. Das Gedicht
wird wie Treibgut ans Ufer gespült.
Oder spät, wie in: zu spät zum Abendbrot,
und alle Wörter längst kalt oder gegessen.
Halunke, Unbill, bezwungen,
oder verharren, weilen, flugs,
verlassen, elend, tränenblind.
Sogar Liebe und Freude – dreifach zernagte Lieder.
Eingerostete Formeln. Verschlissene Refrains.
Es ist spät, allzu spät;
zu spät zum Tanzen.
Und doch, sing, was du nur kannst.
Dreh die Lichter auf: Sing weiter,
sing: Weiter.
Cats suffer from dementia too. Did you know that?
Ours did. Not the black one, smart enough
to be neurotic and evade the vet.
The other one, the furrier’s muff, the piece of fluff.
She’d writhe around on the sidewalk
for chance pedestrians, whisker
their trousers, though not when she started losing
what might have been her mind. She’d prowl the night
kitchen, taking a bite
from a tomato here, a ripe peach there,
a crumpet, a softening pear.
Is this what I’m supposed to eat?
Guess not. But what? But where?
Then up the stairs she’d come, moth-footed,
owl-eyed, wailing
like a tiny, fuzzy steam train: Ar-woo! Ar-woo!
So witless and erased. O, who?
Clawing at the bedroom door
shut tight against her. Let me in,
enclose me, tell me who I was.
No good. No purring. No contentment. Out
into the darkened cave of the dining room,
then in, then out, forlorn.
And when I go that way, grow fur, start howling,
scratch at your airwaves:
no matter who I claim I am
or how I love you,
turn the key. Bar the window.
Auch Katzen leiden an Demenz. Wußtest du das?
Unsere jedenfalls. Nicht die schwarze, die als Neurotikerin
klug genug war, dem Tierarzt zu entgehen.
Die andere, Kürschnermuff, Schnuffelpuff.
Sie räkelte sich auf dem Gehweg,
schmiegte sich an die Hosenbeine zufällig
Vorbeikommender, bis sie verlor, was man
Verstand hätte nennen können. Sie streifte nachts
durch die Küche, nahm hier einen Bissen
von einer Tomate, dort vom reifen Pfirsich,
vom Hefezopf, von einer schon weichen Birne.
Ist das die richtige Nahrung für mich?
Wohl nicht. Doch was dann? Und wo?
Dann kam sie die Treppe hoch, mottenfüßig,
eulenäugig, jammerte
wie ein winzig-flauschiger Dampfzug: Iii-joooo! Ooo-juuuu!
So geistlos und erloschen. Wieso? Wozu?
Kratzte an der Schlafzimmertür,
die verschlossen war. Laßt mich ein,
umhegt mich, sagt mir, wer ich war.
Umsonst. Kein Schnurren. Kein Behagen. Und
hinein in die dunkle Höhle des Speisezimmers,
dann hinaus, dann hinein, Verlorene.
Wenn ich so werde, Fell bekomme, heule
und mich in eure Ätherwellen kralle:
Ganz gleich, wer ich zu sein, wie sehr
ich euch zu lieben behaupte,
schließt ab. Verriegelt das Fenster.
Were things good then?
Yes. They were good.
Did you know they were good?
At the time? Your time?
No, because I was worrying
or maybe hungry
or asleep, half of those hours.
Once in a while there was a pear or plum
or a cup with something in it,
or a white curtain, rippling,
or else a hand.
Also the mellow lamplight,
in that antique tent,
falling on beauty, fullness,
bodies entwined and cherishing,
then flareup, and then gone.
Mirages, you decide:
everything was never.
Though over your shoulder there it is,
your time laid out like a picnic
in the sun, still glowing,
although it’s night.
Don’t look behind, they say:
You’ll turn to salt.
Why not, though? Why not look?
Isn’t it glittery?
Isn’t it pretty, back there?
War damals alles gut?
Ja. Es war gut.
Wußtest du, daß alles gut war?
Damals? Zu deiner Zeit?
Nein, denn ich machte mir Sorgen,
war vielleicht hungrig
oder schlief die Hälfte der Zeit.
Gelegentlich war da eine Birne, eine Pflaume
oder eine Tasse mit etwas darin,
ein weißer, sich kräuselnder Vorhang
oder vielleicht eine Hand.
Dann noch der sanfte Lampenschein
in jenem uralten Zelt,
der auf Schönheit und Fülle fiel,
auf Körper, umschlungen, liebkost,
dann ein Aufflackern, dann verschwunden.
Trugbilder, du entscheidest:
alles fand niemals statt.
Doch hinterm Rücken ist es da,
liegt deine Zeit ausgebreitet wie ein Picknick
in der Sonne, die noch leuchtet,
obschon es Nacht ist.
Blick nicht zurück, heißt es:
Du wirst zu Salz erstarren.
Doch warum nicht? Warum nicht hinsehen?
Ist es nicht ein Glitzern?
Ist es nicht bezaubernd, dort hinten?
We save them, as we save those curls
culled from our kids’ first haircuts, or from lovers
felled too early. Here are
all of mine, safe in a file, their corners
clipped, each page engraved
with trips I barely remember.
Why was I wandering from there to there
to there? God only knows.
And the procession of wraiths’ photos
claiming to prove that I was me:
the faces grayish disks, the fisheyes
trapped in the noonhour flashflare
with the sullen jacklit stare
of a woman who’s just been arrested.
Sequenced, these pics are like a chart
of moon phases fading to blackout; or
like a mermaid doomed to appear onshore
every five years, and each time altered
to something a little more dead:
skin withering in the parching air,
marooned hair thinning as it dries,
cursed if she smiles or cries.
Wir heben sie auf – wie jene Locken
vom ersten Haarschnitt unserer Kinder oder
von früh verstorbenen Liebsten. Hier sind
meine, allesamt in einem Ordner, die Ecken
gekappt, die Seiten graviert
mit Reisen, an die ich mich kaum noch erinnere.
Weshalb nur trieb es mich von dort nach dort
nach dort? Weiß der Himmel.
Und die Prozession von Gespensterfotos,
die beweisen soll, daß ich war, die ich war:
die Gesichter gräuliche Scheiben, die Fischaugen
gefangen im Photoblitz der Mittagsstunde
mit dem mürrischen Lichtkegelstarren
einer Frau, die soeben verhaftet wurde.
Als Sequenz erinnern die Bilder an ein Schaubild
der Mondphasen bis zur Verdunklung. Oder
eine Meerjungfrau, die verdammt ist, alle fünf Jahre
an Land zu gehen; mit jedem Mal wird sie
noch etwas lebloser als zuvor:
die Haut verdorrt in der sengenden Luft,
die Haare gebändigt zu trockenen Strähnen,
sie selbst verflucht, mit Lächeln oder Tränen.
My mother, sleeping.
Curled up like a spring fern
although she’s almost a century.
I speak into her topmost ear,
the one thrust up like a wrinkled stone
above the hills of the pillows:
Hello! Hello!
But she shows a clenched resistance
to waking up.
She’s down too deep, a diver
plunged into dangerous caverns:
it’s blank in there.
She’s dreaming, however.
I can tell by the way she’s frowning,
and her strong breathing.
Maybe she’s making her way
down one more white river,
or walking across the ice.
There are no more adventures for her
in the upper air, in this room
with her bed and the family pictures.
Let’s go out and fight the storm,
she used to say. So maybe
she’s fighting it.
Meanwhile I watch a spider
laying a trail across the ceiling,
little dust messenger.
The clock ticks and the day shrivels.
Dusk sifts down on us.
How long should I stay?
I put my hand on her forehead,
stroke her wispy hair.
How tall she used to be,
how we’ve all dwindled.
It’s time for her to go deeper,
into the blizzard ahead of her,
both dark and light, like snow.
Why can’t I let go of her?
Why can’t I let her go?
Ende der Leseprobe