Penelope und die zwölf Mägde - Margaret Atwood - E-Book
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Penelope und die zwölf Mägde E-Book

Margaret Atwood

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Beschreibung

Penelope – die spartanische Prinzessin gilt als Sinnbild der treu liebenden Ehefrau und Mutter, die jahrzehntelang geduldig die Heimkehr des heldenhaften Ehemanns erwartet. So erzählt es die »Odyssee«, aber ist es auch die Geschichte, die Penelope selbst erzählen würde? Nein, findet Margaret Atwood. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen hält ihre Penelope Rückschau auf ihr Leben, berichtet von der gnadenlosen Konkurrenz mit der hübschen Cousine Helena, von der Zwangsverheiratung mit Odysseus, einem Mann, dem der Ruf vorauseilte, ein Aufschneider zu sein, und den Intrigen und Skandalen am Hofe Ithakas. Ergänzt wird Penelopes Erzählung vom Chor ihrer Mägde, die ihren Dienst mit dem Leben bezahlten und nun nach Gerechtigkeit verlangen.

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Buch

Penelope – die spartanische Prinzessin gilt als Sinnbild der treu liebenden Ehefrau und Mutter, die jahrzehntelang geduldig die Heimkehr des heldenhaften Ehemanns erwartet. So erzählt es die »Odyssee«, aber ist es auch die Geschichte, die Penelope selbst erzählen würde? Nein, findet Margaret Atwood. Launig und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, hält ihre Penelope Rückschau auf ihr Leben, berichtet von der gnadenlosen Konkurrenz mit der hübschen Cousine Helena, von der Zwangsverheiratung mit Odysseus, einem Mann, dem der Ruf vorauseilte, ein Aufschneider zu sein, und den Intrigen und Skandalen am Hofe Ithakas. Ergänzt wird Penelopes Erzählung vom Chor ihrer Mägde, die ihren Dienst mit dem Leben bezahlten und nun nach Gerechtigkeit verlangen.

Autorin

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays. Ihr dystopischer Roman Der Report der Magd wird als Kultbuch verehrt. Atwood wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Man Booker Prize und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sie lebt in Toronto.

Roman

Aus dem Englischen übertragen vonMarcus Ingendaay und Sabine Hübner

Neuübersetzung der Originalausausgabe, die 2005 unter dem Titel The Penelopiad bei Canongate Books Ltd., Edinburgh erschien.

2005 erstmals auf Deutsch erschienen unter dem Titel DiePenelopiade. Der Mythos von Penelope und Odysseus.

Die Prosapassagen wurden von Marcus Ingendaay übersetzt, die Gedichte und das Kapitel »Wir folgen dir« von Sabine Hübner.

Sämtliche Zitate im deutschen Text stammen aus: Homer, Odyssee, übersetzt und kommentiert von Kurt Steinmann, München: Penguin, 2007.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Wunderraum-Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Copyright © O.W. Toad Ltd, 2005

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by arrangement with Canongate Books Ltd, 14 High Street, Edinburgh EH1 1TE

Umschlaggestaltung und Konzeption: Buxdesign | München

Umschlagmotiv: © Ruth Botzenhardt

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-29624-7V001

www.wunderraum-verlag.de

Für meine Familie

»Seliger Sohn des Laertes, erfindungsreicher Odysseus,

wahrlich ein tugendreiches Weib hast du dir gewonnen;

wie war doch trefflich der Sinn der untadeligen Penelopeia,

des Ikaros Tochter! Wie treu gedachte sie ihres

ehlichen Gatten Odysseus! Drum wird ihres sittsamen Wesens

Ruhm nie vergehen; die Götter werden den Erdenbewohnern

liebliche Lieder stiften Penelopeia zu Ehren.«

Odyssee, Vierundzwanzigster Gesang (192 – 198)

Sprach’s und knüpfte das Tau eines dunkelbugigen Schiffes

an den stattlichen Pfeiler und warf es rings um den Rundbau,

zog es dann straff in die Höh’, daß kein Fuß den Boden erreichte.

Wie wenn flügelbreitende Drosseln oder auch Tauben

in einem Netz sich verfangen, das aufgestellt ist im Dickicht,

wenn sie nestwärts fliegen, doch grausig empfängt sie das Lager:

So aufgereiht hielten die ihre Köpfe, und rund um die Hälse

aller waren Schlingen gelegt, daß kläglichst sie enden.

Kurz nur noch zappelten sie mit den Füßen, gar nicht sehr lange.

Odyssee, Zweiundzwanzigster Gesang (465 – 473)

Inhalt

Einleitung

I Eine niedere Kunst

II Der Chor: Ein Seilhüpflied

III Meine Kindheit

IV Der Chor: Kleiner Kummer. Klagelied der Mägde

V Asphodeliengrund

VI Meine Hochzeit

VII Die Narbe

VIII Der Chor: Wär ich ein Prinzesschen … (auf eine volkstümliche Melodie)

IX Die brave Glucke

X Der Chor: Die Geburt des Telemachos. Eine Idylle

XI Helena zerstört mein Leben

XII Warten

XIII Der Chor: Der listige Käpt’n. Ein Seemannslied

XIV Die Geier fressen sich voll

XV Das Leichentuch

XVI Albträume

XVII Der Chor: Traumboote. Eine Ballade

XVIII Neues von Helena

XIX Freudenschrei

XX Üble Nachrede

XXI Der Chor: Penelope lebt gefährlich. Ein Drama

XXII Helena begibt sich zum Bade

XXIII Odysseus und Telemachos liquidieren die Mägde

XXIV Der Chor: Anthropologischer Exkurs

XXV Herz aus Stein

XXVI Der Chor: Der Strafprozess gegen Odysseus, nach einer Videodokumentation der Mägde

XXVII Im Hades ist es immer noch am schönsten

XXVIII Der Chor: Wir folgen dir. Ein Liebeslied

XXIX Epilog

Anmerkungen

Danksagung

Einleitung

Die Geschichte von der Heimkehr des Odysseus nach zwanzigjähriger Abwesenheit kennt man in erster Linie aus der Odyssee. In Homers Versepos irrt Odysseus nach dem Sieg über Troja zehn Jahre lang durch die Ägäis, ehe er wieder auf seiner Heimatinsel Ithaka anlangt. In dieser Zeit hat er zahlreiche Entbehrungen zu erdulden, manches Ungeheuer zu bezwingen und landet auch mehr als einmal auf dem Liebeslager von Göttinnen. Die Persönlichkeitsstruktur des »Erfindungsreichen« wurde bereits umfänglich kommentiert. Er gilt als der Inbegriff des Verwandlungskünstlers und geschmeidigen Manipulators, der Bedrohungen gezielt umtänzelt und allein durch seine Cleverness überlebt. Hin und wieder scheint es gar, als sei er fast ein bisschen zu schlau für seine Welt. Dann bringen ihn seine eigenen Tricks in Bedrängnis. Zum Glück hat er bei alledem göttliche Unterstützung in Gestalt von Pallas Athene, die ihn für seinen blitzhellen Verstand anhimmelt.

Dagegen wird Penelope, Tochter des Spartanerkönigs Ikarios und Cousine der schönen Helena, durchweg als Musterbeispiel der treuen Ehefrau dargestellt, hochintelligent zwar, aber selbst unter größtem Druck von unverrückbarer Loyalität. Sie ist die Strategin, die mit der berühmten Webelist ihre Bedenkzeit in die Länge zieht und die zunehmend übergriffigen Freier im Palast an der Nase herumführt. Auch ihr Sohn Telemachos macht Probleme, er begehrt nicht nur gegen die mordsgefährlichen Hausbesetzer auf, sondern auch gegen seine Mutter selbst. Erst eine Gewaltorgie im Finale des Epos rückt alles wieder gerade. Vater und Sohn erledigen die Freier gemeinsam, die zwölf Mägde, die sich mit den Freiern einließen, werden gehängt, und die Eheleute sind wieder vereint.

Allerdings ist Homers Odyssee nicht die einzige Version der Geschichte. Da Sagenstoffe wie dieser lange Zeit ausschließlich mündlich tradiert wurden, existieren vielfältige lokale Varianten. Das heißt, ein und dieselbe Geschichte wurde in einem Dorf so erzählt, eine Tagesreise weiter aber schon ganz anders. Auf diese nichthomerischen Quellen habe ich vor allem dort zurückgegriffen, wo es um Penelopes Herkunft, ihre Jugendjahre und ihre Hochzeit geht. Dabei zeigte sich, dass über sie, immerhin eine fiktive Gestalt, die wildesten Gerüchte im Umlauf waren.

Ich habe mich entschieden, aus der Sicht von Penelope und der zwölf Mägde zu erzählen. Wobei die Mägde einen antiken Chor bilden, der in seinen Liedern und Sprechgesängen immer wieder um zwei Fragen kreist, Fragen, die sich bei genauer Lektüre förmlich aufdrängen. Erstens: Wieso mussten die Mägde hängen? Und zweitens: Welche Absicht verfolgt Penelope wirklich? Die Odyssee beantwortet diese Fragen nämlich nicht, der Text enthält in dieser Hinsicht schlicht zu viele Ungereimtheiten. Doch das elende Ende der Mägde treibt mich um, seit ich zum ersten Mal davon las. Und zumindest in meiner Version lässt ihr Schicksal auch Penelope keine Ruhe.

IEine niedere Kunst

Wenn ich einmal tot bin, werde ich endlich die ganze Wahrheit erfahren. So hoffte ich. Aber wie so viele Hoffnungen hat auch diese sich nicht erfüllt. Was ich erfuhr, stillte höchstens meine oberflächliche Neugier. Dass der eigene Tod dafür ein viel zu hoher Preis ist, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.

Dafür bin ich, seit ich tot bin, ein bloßer Schatten im Zustand der Knochen-, Lippen-, Brüstelosigkeit, mit Wahrheiten konfrontiert, die ich nicht mal geschenkt haben wollte. Wie wenn man an offenen Fenstern lauscht oder fremde Post liest. Wer also jemals den Wunsch verspürte, Gedanken lesen zu können, sollte sich das gut überlegen.

Hier unten kommen jedenfalls alle mit einem großen Sack an, vergleichbar mit diesen ledernen Schläuchen, in die unsere Helden auf der Insel Ailos die tosenden Winde packten. Manche Säcke sind klein, andere groß. Mein eigener Wörtersack entspricht etwa der Größe, die man bei einer Frau meines Alters erwarten würde, wenngleich sich so manches darin eher auf meinen prominenten Mann bezieht. Einige verstehen nicht, wie man sich nur so zum Narren machen kann. Dabei habe nicht ich mich zum Narren gemacht, sondern er. Es war seine Spezialität: andere zum Narren halten. Und damit durchzukommen. Denn darin, sich jeder Verantwortung zu entziehen, war er groß.

Seine Erklärungen und Ausflüchte waren immer plausibel. Deshalb halten ja auch so viele seine Version der Ereignisse für die einzig wahre. Plus/minus ein paar Morde, Bettgeschichten und einäugige Monster, wir wollen mal nicht kleinlich sein. Sogar ich glaubte ihm, zumindest zeitweise. Dabei wusste ich ganz genau, dass ihm nicht zu trauen war. Mein Mann war ein notorischer Lügner. Nur hätte ich nicht gedacht, dass er mich ebenso belügt wie alle anderen. War ich ihm nicht immer treu geblieben? Hatte ich nicht gewartet und gewartet, selbst dann noch, als die Versuchung und der Druck von außen übermächtig wurden? Und was war das Ende vom Lied? Das Ende vom Lied, zumindest des Liedes, das am Ende das offizielle werden sollte, war: eine Heiligenlegende. Und eine Rute, mit der andere Frauen gezüchtigt wurden. Warum konnten sie nicht so umsichtig, verlässlich und allduldend agieren wie ich, die Ikone aus Ithaka? Bei allen Sängern und Geschichtenerzählern lief es auf diesen Punkt hinaus. Ich hingegen kann nur davon abraten. Mehr noch, am liebsten würde ich es euch – ja, euch! – in die Ohren brüllen: Folgt meinem Beispiel auf gar keinen Fall. Aber sobald ich das versuche, klinge ich wie eine Eule.

Natürlich gab es Warnzeichen: seine aalglatte Art, seine Verschlagenheit, dieses Doppelbödige, diese, wie soll ich sagen, Gewissenlosigkeit war kaum zu übersehen. Und doch ließ ich ihm alles durchgehen. Ich tat so, als hätte ich nichts bemerkt, und hielt meinen Mund. Und wenn ich ihn doch mal aufmachte, dann nur, um sein Lob zu singen. Ich widersprach nicht, nie, stellte auch keine unangenehmen Fragen, wollte nichts genauer wissen. Ich wollte, dass alles schön ist, und am schönsten ist es, wenn du gewisse Türen schön geschlossen hältst. Und schlafen gehst, wenn das Blut fließt.

Kaum war das Drama vorbei und der postheroische Alltag wieder eingekehrt, fiel mir auf, dass hinter meinem Rücken über mich gelacht wurde. Und nicht nur das. Bald waren erste Geschichten über mich im Umlauf, auch schmutzige. Ich wurde zur Zielfigur einer bestimmten Art Witz, der selbst bei stoischer Veranlagung nicht so leicht wegzustecken ist. Aber was soll eine Frau tun, wenn über sie gelästert wird? Wenn sie sich verteidigt, klingt das wie ein Schuldeingeständnis. Ich wartete also abermals ab.

Jetzt, da sich die übelsten Gerüchte gelegt haben, kann ich darangehen, meine eigene Geschichte dagegenzusetzen. Es dauerte, bis ich dazu bereit war. Geschichtenerzählen ist nicht gerade eine standesgemäße Beschäftigung. Das sieht man schon daran, wer bei uns die Geschichten erzählt. Alte Weiber, Bettler, blinde Sänger, Hausmädchen, Kinder, also Leute mit viel Zeit. In meinem vorigen Leben hätten mich alle mit Spott überzogen, wäre ich mit so einer Idee gekommen. Nichts ist so lächerlich wie eine Aristokratin, die sich in den Schönen Künsten versucht. Hier unten hingegen spielt die Meinung der Leute keine Rolle mehr, sie sind ohnehin nur noch Schatten, hohle Echos einer untergegangenen Welt. Die Gelegenheit ist also günstig, das Gewebe der alten Geschichten noch einmal aufzudröseln – und neu zu spinnen. Aber diesmal so, wie ich es will.

Es gibt nur ein Problem: Mir fehlt der Mund, durch den ich sprechen könnte. Man hört mich nicht, jedenfalls nicht in eurer Welt, der sogenannten körperlichen, wo die Leute noch Zungen haben und Finger. Deswegen habe ich meistens auch kein Publikum, nicht auf eurer Seite des Styx. Und selbst diejenigen unter euch, die hin und wieder ein geisterhaftes Raunen vernehmen, verwechseln es leicht mit dem Wind im trockenen Röhricht, mit dem Flügelschlag von Fledermäusen, mit einem Albtraum.

Aber Zähigkeit war schon immer eine meiner Haupteigenschaften. Langmütig nannten mich die Leute immer. Das ist nicht einmal verkehrt. Ich bringe die Dinge gern zu Ende.

II Der Chor: Ein Seilhüpflied

Wir Mädge sind’s,

die du getötet hast,

verraten

wir tanzten in der Luft,

unsere nackten Füße zuckten,

als sie ins Leere traten

es war nicht fair,

du, der uns rügt,

hast dich mit jeder Göttin, Nutte, Königin vergnügt

bei uns viel weniger,

das es zu tadeln gab,

doch brachst du über uns den Stab

dein war der Pfeil,

dein der Entscheid,

auf dein Geheiß

schrubbten das Blut wir

unserer toten Buhlen

vom Boden auf, von Stühlen

von Stufen, Türen,

im Wasser kniend,

während du

auf unsere Füße starrtest,

es war nicht fair,

du schmecktest unsere Furcht

hast dich daran ergötzt,

auf deinen Wink hin

stürzten wir ins Leere

tanzten auf Luft,

durch dich getötet

verraten

III Meine Kindheit

Wo anfangen? Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: am Anfang oder nicht am Anfang. Der einzig wahre Anfang wäre der Anfang der Welt, wonach eines zum anderen führt, bis ich auf der Bildfläche erscheine. Die These ist jedoch strittig, weswegen ich bei meiner Geburt anfange.

Mein Vater war König Ikarios von Sparta, meine Mutter eine Najade. Najadentöchter gab es damals zuhauf im Mittelmeerraum, ich war also nichts Besonderes. Trotzdem ist so eine halbgöttliche Herkunft erst einmal nichts Schlechtes. Auch wenn sich das ändern kann.

Als kleines Mädchen ließ mich mein Vater ins Meer werfen. Den genauen Grund dafür sollte ich mein Lebtag nicht erfahren, heute vermute ich ein Orakel dahinter. Möglicherweise war meinem Vater prophezeit worden, dass ich einst sein Leichentuch weben würde. Er dachte wahrscheinlich, wenn er mich vorsorglich umbrächte, würde sein Leichentuch nie gewoben, und er wäre somit unsterblich. Die Logik verstehe ich durchaus, es war der nachvollziehbare Wunsch, Unheil von sich fernzuhalten. Jedoch muss er sich irgendwie verhört haben (oder das Orakel selbst hatte sich verhört, die Götter äußern sich oft recht vernuschelt), denn es ging dabei gar nicht um sein Leichentuch, sondern um das meines Schwiegervaters. In diesem Punkt sollte sich das Orakel sogar bewahrheiten, das Leichentuch kam mir zur fraglichen Zeit sehr gelegen.

Wie man hört, sind Handarbeiten für Mädchen heute etwas aus der Mode gekommen, aber damals war das glücklicherweise noch nicht so. Es ist stets von Vorteil, wenn man sich still mit etwas beschäftigen kann. So muss man beispielsweise nichts sagen, wenn jemand eine unpassende Bemerkung macht, sondern kann glaubhaft so tun, als hätte man nichts gehört. Schweigen ist Gold.

Aber vielleicht stimmt das mit dem Leichentuch-Orakel auch gar nicht, und ich habe es nur erfunden, um mein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Hier unten wird viel getuschelt, und das nicht nur in den düsteren Gelassen, sondern auch oben auf der freien Wiese. Bei diesem Hintergrundrauschen kann es dir passieren, dass du am Ende selber nicht mehr weißt, wen du gerade hörst, die anderen oder die Stimme in deinem Kopf. Wobei »Kopf« natürlich sinnbildlich gemeint ist, hier unten verzichten wir auf so etwas.

Wie auch immer, ich landete jedenfalls erst einmal in der grauen Salzflut. Entsinne ich mich, wie die Wellen über mir zusammenschlugen? Entsinne ich mich der Luftbläschen, die aus meiner Lunge sprudelten? Habe ich das Glockengeläut noch im Ohr, das Ertrinkende angeblich hören? Ach, i wo! Die Geschichte wurde mir lediglich so zugetragen. Irgendeine wichtigtuerische Sklavin oder Amme findet sich ja immer, die ein Kind mit Horrorgeschichten über seine Eltern ergötzt, vorzugsweise aus Zeiten, an die das Kind selber keine Erinnerung hat. Aber natürlich verbesserte die Anekdote das Verhältnis zu meinem Vater nicht. Auch mein grundsätzliches Misstrauen gegenüber anderen Menschen führe ich letztlich auf dieses frühkindliche Erlebnis zurück.

Gleichzeitig war es natürlich ganz schön dämlich von Ikarios, ausgerechnet die Tochter einer Wassernymphe ersäufen zu wollen. Wir stammen schließlich von Okeanos ab, und das Wasser ist unser Element. Auch wenn wir nicht so gut schwimmen wie unsere Mütter, es reicht allemal, um nicht in den Wellen zu versinken. Außerdem sind wir immer noch bestens vernetzt mit anderen Meeresbewohnern. In meinem Fall war es ein Schwarm lilageflügelter Enten, der mir zu Hilfe kam und mich an Land zog. Nach so einem Gottesurteil war mein Vater natürlich gezwungen, mich wieder anzunehmen. Ich bekam sogar einen neuen Namen – »Entchen« lautete von nun an mein Kosename. Ich bin sicher, ihn plagten Schuldgefühle, die er dadurch kompensierte, dass er sein Entchen in der neu entdeckten Vaterliebe förmlich badete.

Ihr könnt euch vorstellen, dass ich es einigermaßen schwierig fand, seine Bezeigungen angemessen zu erwidern. Etwa wenn ich mit meinem Vater auf den Klippen oder an einem Flussufer entlangging oder mit ihm an einer Brüstung stand. Der Gedanke, dass er mich unversehens in die Tiefe stoßen oder mit einem Stein erschlagen könnte, war nie fern. Es kostete mich Überwindung, in diesen Momenten den arglosen Schein zu wahren. Erst später, auf meinem Zimmer, konnte ich meinen Tränen freien Lauf lassen. (Diese Weinkrämpfe, das kann ich jetzt ruhig sagen, sind ein Schwachpunkt aller Najadenkinder. Ich verbrachte wohl ein Viertel meiner Lebenszeit mit Weinen. Zum Glück trug man damals Schleier. Dahinter konnte ich meine rot geschwollenen Augen gut verbergen.)

Meine Mutter war, wie alle Najaden, ausgesprochen schön, aber ebenso gefühlskalt. Sie hatte wellenlange Haare, muntere Grübchen, ein perlendes Lachen – und bot doch so wenig Halt wie ihr aquatisches Element. Als kleines Kind versuchte ich oft, meine Ärmchen um sie zu schlingen, aber sie besaß diese quirlige Art, mir zu entrinnen, und ich wähle dieses Wort mit Bedacht. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass sie immerhin die Enten zu meiner Rettung gerufen hatte, aber selbst das muss so nicht stimmen. Sie schwamm viel lieber im Fluss, als sich um ihren Nachwuchs zu kümmern, und oft vergaß sie mich sogar ganz. Hätte mein Vater mich nicht von der Klippe gestoßen, hätte mir im Beisein meiner Mutter dasselbe Schicksal drohen können, aus Unachtsamkeit oder einer plötzlichen Aufwallung heraus. Sie besaß nur eine minimale Aufmerksamkeitsspanne, dafür aber ein aufbrausendes Temperament.

Daraus mögt ihr ersehen, dass mir gar nichts anderes übrig blieb, als möglichst bald erwachsen zu werden. Wenn Selbstverantwortung eine Tugend ist, so lernte ich sie jedenfalls in Rekordzeit. Denn ich wusste, in dieser Welt würde niemand für mich eintreten, schon gar nicht meine Familie.

IV Der Chor: Kleiner Kummer. Klagelied der Mägde

Auch wir waren Kinder. Nur wurden wir den falschen Eltern geboren. Armen Eltern, Sklaveneltern, Kleinbauerneltern, Leibeigeneneltern. Eltern, die uns verkauften, Eltern, denen wir geraubt wurden. Unsere Eltern waren keine Götter, auch keine Halbgötter, Nymphen oder Najaden. Wir mussten von klein auf im Palast arbeiten und von früh bis spät Frondienste leisten. Wenn wir weinten, kam niemand, der unsere Tränen getrocknet hätte. Wenn wir schliefen, wurden wir mit einem Fußtritt geweckt. Man sagte uns, wir hätten keine Mutter. Man sagte uns, wir hätten keinen Vater. Wir hörten immer nur, wir seien faul. Und schmutzig. Tja, wir waren schmutzig. Schmutz war unser Ding. Schmutz war unser Job, Schmutz war unser Element, Schmutz war unsere Schuld. Wir waren die schmutzigen Mädchen. Und wenn unser Besitzer, oder die Söhne des Besitzers, oder hoher Besuch, oder die Söhne des hohen Besuchs, mit uns schlafen wollten, durften wir uns nicht verweigern. Weinen nützte nichts. Es nützte auch nichts, wenn wir sagten, dass sie uns wehtäten. All das wurde uns Kindern angetan. Und wenn wir hübsche Kinder waren, erging es uns nur noch schlechter. Wir mahlten das Mehl für üppige Hochzeitsmähler, aber für uns blieben immer nur die Reste. Für uns würde es niemals ein Hochzeitsfest geben oder reiche Brautgeschenke. Unsere Körper hatten praktisch keinen Wert. Und trotzdem wollten auch wir einmal singen und tanzen und fröhlich sein. Mit den Jahren wurden wir geschickter, lernten, uns zu entziehen und heimlich zu spotten. Wir wackelten mit den Hüften, lagen auf der Lauer, klimperten mit den Augen, schon als Kinder; hinterm Schweinestall trafen wir uns mit Jungs, egal ob vornehm oder nicht. Wir wälzten uns im Stroh, im Mist, im Schlamm und in den weichen Betten der Herrschaft. Wir tranken die Weinreste aus den Bechern. Wir spuckten auf die Servierteller. Auf dem Weg vom hellen Festsaal zur düsteren Spülküche stopften wir uns Bratenstücke in den Mund. Wir lachten miteinander, nachts in unserer Dachkammer. Wir klauten wie die Raben. 

V Asphodeliengrund

Dunkel ist es hier unten, da sind sich die meisten Kommentatoren einig. Von »Hades’ Haus in den Tiefen der Erde« ist dann die Rede, vom »Dunkel der Erde«, wo die »Schattengebilde der Toten« umgehen. Das mit den Schattengebilden hat durchaus Vorteile. Wenn man nicht mit jemandem sprechen will, kann man immer so tun, als hätte man ihn nicht gesehen.

Daneben gibt es noch den Asphodeliengrund. Dort kann man lustwandeln, wenn man denn will. Es ist heller dort, und es darf sogar getanzt werden. Doch klingt »Asphodeliengrund« romantischer, als es ist. Die kleinen weißen Blüten der namensgebenden Pflanze (Asphodelus albus oder Weißer Affodill) sind zwar ganz hübsch, aber als Monokultur schlägt sie einem bald aufs Gemüt. Ein bisschen Vielfalt statt der ewigen Weißdominanz, eine interessante Streckenführung mit wechselnden Aussichten und ein paar Steinbänke zum Verweilen hätten der Anlage sicher gutgetan. Ich hätte zumindest ein paar Hyazinthen erwartet, oder Krokusse, wenn’s nicht zu viel verlangt ist. Na ja, da wir hier keinen Frühling haben oder sonstige Jahreszeiten, erübrigen sich auch die Frühlingsboten. Ich frage mich ernsthaft, was sich die Macher dabei gedacht haben, als sie diese Ödnis entwarfen.

Ehe ich es vergesse: Es gibt auch nichts anderes zu essen als Weißen Affodill. Das sagt eigentlich alles.

Doch ich will nicht nur meckern.

Interessant hier unten sind die dunklen Kavernen. Dort unterhält man sich viel kurzweiliger als auf Asphodeliengrund, vorausgesetzt man trifft auf die entsprechenden Halunken. Taschendiebe, Börsenhändler, kleine Zuhälter, sowas in der Art. Denn wie viele brave Mädchen fühlte ich mich von solchen Männern angezogen.