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Persönlichkeitsanteile als Schlüssel für Veränderung „Ich fühle mich hin- und hergerissen“, „Diese Entscheidung ist wirklich ein innerer Kampf“ – wer hat solche Aussagen nicht schon einmal im Coaching gehört? Wir sprechen davon, dass zwei Herzen in unserer Brust schlagen oder wir unseren inneren Schweinehund überwinden müssen. Die Vorstellung, dass unsere Persönlichkeit in verschiedene Anteile strukturiert ist, wird mittlerweile von der modernen Gehirnforschung gestützt: Je nach aktiviertem Ich-Zustand springen andere Nervenzellnetzwerke in unserem Gehirn an. Dies macht die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen zu einem unverzichtbaren Methodenbaustein für jeden Coach. In diesem Buch lernen Sie ein integratives Modell kennen, das die Teilearbeit in sieben übergeordnete Prozessphasen unterteilt. Anfänger erhalten so ein sicheres Fundament, das ihnen im praktischen Coaching Orientierung gibt. Coaches, die bereits mit Ego-State-Interventionen arbeiten, gibt das Buch eine Grundstruktur an die Hand, mit der sie ihre Arbeit auf die nächste Ebene heben können. Darüber hinaus finden Sie in diesem integrativen Ansatz der Teilearbeit Emotionsprocessing-Techniken, die das Ego-State-Coaching erleichtern, sowie konkrete Interventionen, die Sie direkt einsetzen können.
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Seitenzahl: 518
Dirk W. EilertIntegratives Ego-State-Coaching mitemTraceEmotionscoaching mit Persönlichkeitsanteilen
Persönlichkeitsanteile: Der Schlüssel zur Veränderung
„Ich fühle mich hin- und hergerissen“, „Diese Entscheidung ist wirklich ein innerer Kampf“ – wer hat solche Aussagen nicht schon einmal im Coaching gehört? Die Vorstellung, dass unsere Persönlichkeit in verschiedene Anteile strukturiert ist, wird von der modernen Gehirnforschung gestützt: Je nach aktiviertem Ich-Zustand springen andere Nervenzellnetzwerke in unserem Gehirn an. Dies macht die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen zu einem unverzichtbaren Methodenbaustein für alle Coaches. In diesem Buch lernen Sie ein integratives Modell kennen, das die Teilearbeit in sieben übergeordnete Prozessphasen unterteilt. Anfänger:innen erhalten so ein sicheres Fundament, das ihnen im praktischen Coaching Orientierung gibt. Coaches, die bereits mit Ego-State-Interventionen arbeiten, gibt das Buch eine Grundstruktur an die Hand, mit der sie ihre Arbeit auf die nächste Ebene heben können.
Dirk W. Eilert ist Wirtschaftspsychologe (M.Sc.), spezialisiert auf emotionale Intelligenz. Als einer der führenden Mimik- und Körperspracheexperten im deutschsprachigen Raum ist seine Expertise regelmäßig in Radio, TV und Printmedien gefragt. http://www.eilert-akademie.de
Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2023
Covergrafik: © puckillustrations – stock.adobe.com
Grafikdesign der Abbildungen: © Susanne Liebenow, Berlin
Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn
Alle Rechte vorbehalten.
Erscheinungsjahr dieser E-Book-Ausgabe: 2023
Die Begriffe emTrace®, Mesource®, Mimikresonanz®, Motivkompass® und Wholeception® sind geschützte Wortmarken der Eilert-Akademie, Berlin.
ISBN der Printausgabe: 978-3-7495-0345-2
ISBN dieses E-Books: 978-3-7495-0346-9 (EPUB), 978-3-7495-0348-3 (PDF).
Elisabeth kam irritiert zu mir ins Emotionscoaching. Sie erzählte mir, dass sie vor ca. 20 Jahren unter Flugangst gelitten hatte, die aber mit der Geburt ihrer Tochter vollkommen verschwunden war. Nun war sie vor einem Monat das erste Mal wieder mit ihrem Mann allein verreist. Darauf hatten sich beide sehr gefreut. Umso mehr erwischte es sie eiskalt, als sie – in dem Moment, in dem sie ins Flugzeug einstieg – spürte, wie die alte Flugangst wieder in ihr aufstieg. Dabei war sie noch zwei Wochen vor ihrem Urlaub für einen Wochenendtrip mit ihrer Tochter nach London geflogen – und zwar mit vollkommener Entspannung während des Flugs. Die Flugangst erwischte sie so schlagartig wie ein plötzlicher Stromausfall, wenn man gerade in die schönste Liebeszene von Titanic versunken ist. „Wie lässt sich dies erklären?“, fragte sie mich und schaute mich gleichermaßen verwirrt wie hilfesuchend an. Denken wir unsere Persönlichkeit nicht als kongruente Einheit, sondern vielmehr als Team, so lässt sich dies leicht begreiflich machen. Je nachdem, in welcher Situation – in welchem Kontext – wir uns befinden, werden andere Facetten unserer Persönlichkeit aktiviert. Hier spricht die Forschung auch von Ego-States, also unterschiedlichen Ich-Zuständen. Die Anwesenheit ihrer Tochter aktivierte bei Elisabeth die Facette ihrer Persönlichkeit, die mit ihrer Mutterrolle resonierte. Als sie hingegen mit ihrem Mann in den Urlaub flog, war eine andere Persönlichkeitsfacette „am Drücker“. Dieser Wechsel auf der inneren Bühne der Persönlichkeitsanteile sorgte dafür, dass sie in dem einen Kontext mit ihrer Tochter keine Flugangst zeigte, diese in dem anderen Zusammenhang aber wieder auftauchte.
Eine Erklärung für solche Phänomene liefert die Gehirnforschung: Sind wir stark mit einem inneren Anteil assoziiert (wie dies z. B. sehr deutlich bei Patienten mit dissoziativer Identitätsstörung passiert), so reagieren wir auf einen spezifischen Stressor mit einer spezifischen neuronalen Reaktion, die vom assoziierten inneren Anteil abhängig ist. Je nach aktiviertem Ich-Zustand springen also andere Nervenzellnetzwerke an (Schlumpf et al., 2013). Unterschiedliche Persönlichkeitsanteile werden folglich auch auf neurobiologischer Ebene unterschiedlich repräsentiert. Dies erkannte intuitiv wohl schon Johann Wolfgang von Goethe und drückte es in Faust mit dem berühmt gewordenen Vers „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ aus. DasPrinzip der Persönlichkeitsvielfalt (wir sind nicht eine Person, sondern viele) findet sich auch in der Alltagssprache. Wir sprechen davon, dass ein Teil von uns etwas möchte, wir uns hin- und hergerissen fühlen oder dass wir uns plötzlich wie ein anderer Mensch fühlen. Achten Sie erst einmal auf solche Formulierungen in der Sprache Ihrer Klienten, werden Sie noch viel mehr davon entdecken. Diese Bewusstheit zu entwickeln, ist der erste Schlüssel, um die Persönlichkeitsanteile Ihrer Klienten effektiv und nachhaltig für eine vom Klienten gewünschte Veränderung zu nutzen. Genau darum geht es in diesem Buch. Es vermittelt Ihnen die Kompetenz, mit emotionalen Kernthemen, die auf der zweiten neuro-logischen Ebene liegen, im Emotionscoaching gekonnt umzugehen.
Um Ihre Bewusstheit für die Wechsel auf der inneren Bühne der Persönlichkeit zu schärfen, achten Sie einmal darauf, wie im Laufe des Tages in unterschiedlichen Kontexten verschiedene Facetten Ihrer Persönlichkeit zum Schwingen kommen: Wer sind Sie, wenn Sie morgens aufstehen? Welcher Anteil steht im Lichtspot auf der Bühne, wenn Sie das Büro betreten? Wie kommen in Ihrem Beruf unterschiedliche Seiten Ihrer Persönlichkeit zum Schwingen, wenn Sie z. B. mit Ihrem Chef oder einer Kollegin sprechen? Usw. Notieren Sie jeweils die Uhrzeit, die konkrete Situation und welche Facette Ihrer Persönlichkeit dabei aktiviert wurde. Lassen Sie sich überraschen, wie viele Seiten Ihres Ichs Sie entdecken. Diese Aufgabe gebe ich auch gern meinen Klienten mit, damit sie ein Verständnis für das Prinzip der Persönlichkeitsvielfalt entwickeln. Dies ist eines der drei Prinzipien der Teilearbeit, die wir uns später noch im Detail anschauen werden.
Der präzise Blick dafür, welche der vier neuro-logischen Interventionsebenen (Level 1 bis 4) in der Persönlichkeit des Klienten durch sein im Coaching formuliertes Problem involviert wird, sowie die daran anschließende punktgenaue (oder vielmehr level-spezifische) Auswahl der passenden Intervention sind zentrale Elemente im Emotionscoaching mit emTrace. Die damit erreichte Passgenauigkeit der Intervention zur inneren Landkarte des Klienten macht den Zauber und die Wirksamkeit in der Arbeit mit emTrace aus. Lassen Sie uns deshalb die Struktur der zweiten neuro-logischen Ebene und ihre Abgrenzung zu den benachbarten Levels zu Beginn dieses Buchs etwas tiefer beleuchten. Eine detaillierte Beschreibung der einzelnen Interventionsebenen des Wholeception-Klärungsmodells finden Sie im emTrace-Grundlagenbuch Integratives Emotionscoaching mit emTrace: Wie emotionale Veränderung wirklich gelingt (Eilert, 2021).
Unser zentrales Selbstverständnis (Level 3) stellt unser übergeordnetes Ich-Gefühl dar. Hierbei handelt es sich um das zentrale und situationsübergreifende Gefühl unserer Identität. Im Unterschied zu Level 3 sind unsere Persönlichkeitsanteile, die jeweils mit spezifischen Glaubenssätzen und Werten verbunden sind, eher situationsabhängig und spiegeln lediglich einzelne Facetten unserer Identität wider: Zum Beispiel kritisiert uns ein Kollege und wir fühlen uns, ausgelöst durch den konkreten Trigger, hilflos oder wertlos. Damit sich es bei dieser Reaktion um ein Level-2-Thema handelt, ist es wichtig, dass das ausgelöste Gefühl nicht dem zentralen Selbstverständnis des Klienten entspricht. Die Kritik bringt lediglich eine Seite von ihm zum Schwingen, mit der er sonst nicht oder nur selten in Kontakt ist. In diesem Fall wissen Sie, dass hier nicht die dritte transsituative Ebene der Identität involviert ist, sondern das situations- und facettenspezifische zweite Level. Das Problem wird auf dieser Ebene stets durch eine konkrete Situation getriggert und bringt eine spezifische Seite unserer Persönlichkeit in uns zum Schwingen, die wir allerdings nicht als übergeordnetes Ich-Gefühl erleben. Dies ist die Ebene der Ego-States – also das Level der Ich-Anteile, die einzelne Aspekte der Persönlichkeit (des Ichs) widerspiegeln. Alternativ sprechen wir auch von Seiten der Persönlichkeit, Aspekten oder Anteilen. Auf neuronaler Ebene sind auf diesem Level zwar ebenso die Schaltkreise der Selbstsysteme aktiviert, diese springen hier aber eher situationsbedingt und nicht generell an.
„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“ – mit diesem oben bereits zitierten Vers brachte Johann Wolfgang von Goethe in Faust ein Grundthema der zweiten neuro-logischen Interventionsebene zum Ausdruck: Wir fühlen uns zwischen zwei Alternativen hin- und hergerissen. Einerseits wollen wir uns selbstständig machen, um uns selbst zu verwirklichen. Andererseits wollen wir die Sicherheit nicht aufgeben, die uns das Angestelltenverhältnis gibt. In solch einer Situation, die jeder schon einmal erlebt hat, kämpfen zwei Seiten in uns um die Oberhand. Genau solch ein innerer Konflikt kann durch eine Level-2-Intervention gelöst werden. Hier spielen im Hintergrund stets konfligierende Werte und Glaubenssätze eine Rolle – z. B. ein Konflikt zwischen den Werten Selbstverwirklichung und Sicherheit, die im Motivkompass in gegenüberliegenden Feldern liegen. Die beteiligten Glaubenssätze könnten hier lauten: „Selbstständigkeit ist unsicher“ oder „Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach“ (im Sinne von „Gib dich lieber mit etwas Kleinem und sicher Erreichbarem zufrieden, als etwas Größeres und Wertvolleres zu wollen, dessen Erreichbarkeit nicht garantiert ist“). Auf Level 2 spielt als Intervention die Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen die zentrale Rolle. Dabei nutzen wir stets eine konkrete Situation, um den Klienten emotional in Kontakt mit dem entsprechenden dysfunktionalen Aspekt seiner Persönlichkeit zu bringen. Es kann sein, dass wir als Brücke zu der entsprechenden Ich-Facette einen einschränkenden Glaubenssatz herausarbeiten. Bei emTrace definieren wir einen Glaubenssatz als einen Gedanken mit emotionaler Resonanz. Dies können wir hier konkretisieren: Der Gedanke eines Glaubenssatzes resoniert nämlich stets mit mindestens einer Facette unserer Persönlichkeit. Statt einen Glaubenssatz herauszuarbeiten, können wir den jeweiligen Persönlichkeitsanteil auch direkt fokussieren. Typischerweise imaginiert der Klient dabei im Coaching die entsprechenden Persönlichkeitsaspekte, um sie auf diese Weise zugänglich für die Veränderungsarbeit im Coaching zu machen. Der aktivierte Persönlichkeitsanteil ist als Facette des Ichs situationsübergreifender als eine rein emotional konditionierte Reaktion auf Level 1 (z. B. die Angst vor Hunden nach einem Hundebiss), aber spezifischer in seiner Natur als das übergeordnete Ich-Gefühl auf Level 3. Denn der aktivierte Anteil repräsentiert nicht das zentrale Identitätsverständnis, sondern nur eine Teilfacette unseres Ich-Gefühls, das eher situationsspezifisch als -übergreifend ist. Er fasst ein bestimmtes Cluster an Situationen und emotionalen Reaktionen zusammen. Sinnbildlich wird jeder im Motivkompass abgebildete Bedürfnisbegriff (jeder Wert) durch einen Aspekt (eine Seite) unserer Persönlichkeit verkörpert. Je nachdem, ob wir im Laufe unserer Entwicklung eine funktionale oder dysfunktionale Strategie zur Erfüllung dieses Bedürfnisses ausgebildet haben, gelingt uns hier eine zufriedenstellende Befriedigung dieses Bedürfnisses oder wir empfinden eine Blockade.
Wird im emTrace-Grundprozess, den ich ausführlich im emTrace-Grundlagenbuch Integratives Emotionscoaching mit emTrace: Wie emotionale Veränderung wirklich gelingt (Eilert, 2021) beschrieben habe, die negative bzw. positive Ich-Kognition (kognitiv-emotionale Selbstbewertung in einer konkreten Situation, z. B. „Ich bin wertlos“ vs. „Ich bin wertvoll“) miteinbezogen, so setzt dieser als Intervention auf Level 2 an. Denn eine Ich-Kognition resoniert wie oben beschrieben mit einer bestimmten Facette unseres Ich-Gefühls und aktiviert damit diese Seite unserer Persönlichkeit emotional. Dazu ein abschließendes Beispiel: Ein Klient kam wegen Prüfungsangst zu mir ins Coaching. Nachdem wir die ihn stressende Prüfungssituation herausgearbeitet hatten (für ihn war der entscheidende Stressmoment der wartende Blick des Prüfers), fragte ich ihn: „Wenn Sie an diesen Moment denken, was denken Sie dann über sich selbst?“ Er antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Ich bin ausgeliefert.“ Das Herausarbeiten einer solchen Ich-Kognition bewirkt im Coaching einen entscheidenden Unterschied: Der Klient wird sich des dahinterstehenden Themas – des Situationsclusters – bewusst (diesem liegt ein kognitiv-emotionaler Lernprozess zugrunde). Dadurch ist der Veränderungsprozess stärker generalisiert als ein Coaching, das sich nur auf die Entstressung des „wartenden Blicks des Prüfers“ richtet (reine Verknüpfung von Sinnesreiz und emotionaler Reaktion im Sinne einer klassischen Konditionierung auf Level 1). Nachdem mein Klient drei Minuten den Aktivierungs-SPOT (der Blickpunkt, an dem das Stressempfinden am intensivsten ist) fokussiert hatte, „ploppte“ plötzlich eine Erinnerung auf: Er sah sich gedanklich in eine Krankenhaussituation vor zehn Jahren zurückversetzt, in der er um sein Überleben kämpfte und der Arzt ihm sagte, dass seine Überlebenswahrscheinlichkeit bei nur zehn Prozent läge. Nachdem diese Situation sich gelöst hatte, atmete mein Klient tief durch und schaute mich erleichtert an: „Die Angst ist jetzt weg!“ Die negative Ich-Kognition hatte hier den entscheidenden Unterschied gemacht, um das Thema hinter dem „Knacken des Astes“ (der Prüfungsangst) aufzudecken. Der emotional aufgeladene Gedanke von „Ich bin ausgeliefert“ war das verbindende Glied zwischen den Situationen: Ein Außenstehender (Prüfer bzw. Arzt) entscheidet, ob er „durchkommt“. Dies war die Facette seiner Persönlichkeit, die durch die Ich-Kognition aktiviert wurde. Am nächsten Tag rief er mich an und erzählte mir unter Tränen, dass er seit zehn Jahren zum ersten Mal wieder durchgeschlafen hatte.
Emotionscoaching ist vergleichbar mit einer Expedition. Es gibt einen Ausgangspunkt (das Problem des Klienten), einen Zielort (der erwünschte Zielzustand), ein Territorium (das emotionale System), das durchquert bzw. erkundet wird, sowie verschiedene Hilfsmittel wie Karten, einen Kompass, das richtige Schuhwerk etc. (im Coaching sind dies die Interventionen und Erklärungsmodelle, die wir einsetzen). Als integrativer Emotionscoach haben wir die Funktion eines Expeditionsleiters. Wir begleiten und unterstützen unsere Klienten auf ihrem Weg, können den Weg aber nicht für sie gehen. Eine der essenziellen Fähigkeiten einer hervorragenden Expeditionsleiterin ist ihre herausragende Kenntnis des Territoriums. Schauen wir uns als Erstes das Territorium des zweiten neuro-logischen Levels an. Hier spielen drei Prinzipien die Schlüsselrolle, die wir in Grundzügen zu Beginn des Coachings im Rahmen der Psychoedukation ebenso dem Klienten vermitteln. Anschließend betrachten wir die unterschiedlichen Typen von Bewohnern dieses Territoriums (die drei Kategorien von Persönlichkeitsanteilen).
Noch eine wichtige Bemerkung vorab, die mir am Herzen liegt: Inklusivität und eine geschlechtersensible Sprache sind mir wichtig. In diesem Buch sind stets alle Geschlechter gemeint, auch wenn – mit Rücksicht auf Lesbarkeit und Sprachästhetik – nicht immer alle möglichen Formen aufgezählt werden.
Die zweite neuro-logische Ebene wird in Bezug auf die Persönlichkeitsanteile durch drei Prinzipien organisiert. Diese lauten:
Das Prinzip der Persönlichkeitsvielfalt: Wir sind viele.
Das Prinzip der Zweckgerichtetheit: Jeder Anteil verfolgt eine positive Absicht.
Das Prinzip der unbewussten Organisation: Der Großteil unseres Verhaltens und Erlebens organisiert sich unbewusst.
Die drei Prinzipien können Sie sich mit dem Akronym PZU leicht merken (Persönlichkeitsvielfalt, Zweckgerichtetheit, unbewusste Organisation). Die Abkürzung PZU steht übrigens auch für Postzustellungsurkunde. Diese gilt als Beweis, dass einem Empfänger ein bestimmtes (meist amtliches) Schriftstück förmlich zugestellt wurde. In Bezug auf die Teilearbeit bedeutet das für uns im übertragenen Sinne: Versteht ein Klient die PZU-Prinzipien, hat er alle Informationen bekommen, damit der nachfolgende Prozess der Teilearbeit als relevant für die gewünschte Veränderung wahrgenommen wird.
Im Folgenden schauen wir uns die drei Prinzipien der Teilearbeit detailliert an.
Sie können sich die Persönlichkeit eines Menschen vorstellen wie ein Theaterhaus, in dem es zugeht wie in einer normalen Firma. Manche Kollegen können gut miteinander, andere weniger. Bei einigen freut man sich, wenn sie einem auf dem Flur begegnen, vor anderen versteckt man sich schnell hinter dem Kopierer, wenn man sie entdeckt. Und dann gibt es sogar noch die, bei denen man überrascht ist, wenn man sie sieht, weil man sie an diesem Ort noch nie gesehen hat. Eine besondere Rolle in einem Theater spielt selbstverständlich die Bühne. Sind wir gerade mit einem inneren Anteil verbunden, so steht dieser sinnbildlich auf der inneren Bühne unserer Persönlichkeit im Spotlight. Eingangs haben Sie bereits eine kleine Übung kennengelernt, um ein Gefühl für den Wechsel auf der inneren Bühne Ihrer Persönlichkeit zu bekommen. Diese eignet sich im Rahmen der Psychoedukation auch hervorragend für Ihre Klienten. Manchmal steht nicht nur ein Anteil im Scheinwerfer, sondern zwei oder auch mehr. Dies ist z. B. der Fall, wenn wir einen inneren Konflikt erleben: Soll ich jetzt lieber schlafen gehen oder doch den spannenden Film noch zu Ende sehen?
Die Bühnenmetapher hilft Ihnen übrigens auch hervorragend dabei, die einzelnen neuro-logischen Ebenen voneinander zu unterscheiden. Während es auf Level 2 um den Wechsel auf der inneren Bühne der Persönlichkeit und die Frage „Auf wen ist gerade der Spot gerichtet?“ geht, fokussiert das dritte Level auf die Grundstruktur des Plots, des Handlungsstrangs der Geschichte unseres Lebens. Hier steht der Protagonist (der Hauptdarsteller) im Mittelpunkt – unser zentrales Identitätsverständnis. Auf Level 4 (Zugehörigkeit) geht es hingegen um die Beziehungsdynamik des Theaterstücks, die sich durch das Zusammenspiel aller Rollen ergibt – Rollen, die wir durch prägende Erfahrungen mit den wichtigen Bezugspersonen (z. B. unserer Kindheit) internalisiert und so zu einem Teil unseres Persönlichkeitssystems gemacht haben.
Die Vorstellung, dass unsere Persönlichkeit in Teilen strukturiert ist, findet sich auch in der Alltagssprache. Wir formulieren Sätze wie „Ein Teil von mir hat sich dagegen gewehrt, aber das Verlangen war stärker“, „Ich bin innerlich zerrissen“ oder wir sprechen davon, „uns im Griff zu haben“. Und jetzt bitte einen lauten Trommelwirbel für den absoluten Promi unter den Persönlichkeitsteilen. Wissen Sie, wenn ich meine? Den inneren Schweinehund. Den kennen wir wohl alle. Da die Vorstellung von Persönlichkeitsanteilen so stark in unserem Denken verankert ist, findet sie sich in vielen therapeutischen Schulen und psychologischen Modellen wieder. Sigmund Freud unterteilte in seinem Strukturmodell der Psyche (auch als Drei-Instanzen-Modell bezeichnet) das innere System in „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“. In der Ego-State-Therapie nach John und Helen Watkins wird von Ich-Zuständen (Ego-States) gesprochen, während Friedemann Schulz von Thun in seiner Kommunikationstheorie vom inneren Team spricht. Eine andere bekannte Struktur ist die Unterteilung in Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und Kind-Ich in der Transaktionsanalyse nach Eric Berne. So ergeben sich viele synonyme Begriffe wie Anteile, Teile, Ego-States (Ich-Zustände) oder Seiten, die im Kern letztlich das Gleiche beschreiben: Wir sind viele und nicht nur eine(r).
Ich-Zustände (oder auch Anteile) definieren wir im Rahmen des Emotionscoachings mit emTrace wie folgt:
„Ich-Zustände sind Energien der Persönlichkeit, die aus der Interaktion mit der Umwelt entstanden sind und oft der Notwendigkeit entspringen, Probleme zu lösen oder Konflikte zu bewältigen. Sie sind kreative Ausgestaltungen sowohl des Gehirns als auch der Persönlichkeit im Bemühen des menschlichen Organismus, durch die Welt zu kommen, in der er lebt. Jeder Ich-Zustand besitzt seine eigenen, relativ überdauernden Affekte, Körperempfindungen, Erinnerungen, Phantasien und Verhaltensweisen, und er hat auch seine eigenen Wünsche, Träume und Bedürfnisse. Ich-Zustände stehen in ähnlicher Beziehung zueinander wie Familienmitglieder. Obgleich sie voneinander getrennt sind, tauschen sie doch Informationen aus, stehen in ständiger Kommunikation, weisen sich (auch leitende) Rollen zu, verfolgen gemeinsame Projekte, Zwecke und Ziele. Wie in Familien kann es auch hier Grüppchen und Allianzen geben und ebenso Feindseligkeiten und Konflikte.“ (Frederick, 2005, S. 19)
Es handelt sich bei einem Ich-Zustand also um ein organisiertes Verhaltens- und Erfahrungssystem, dessen Elemente durch ein gemeinsames Prinzip zusammengehalten werden und das von anderen Ich-Zuständen durch eine mehr oder weniger durchlässige Grenze getrennt ist (Watkins & Watkins, 2019, S. 45). Dabei steht der jeweilige Ich-Zustand eben durchaus auch in Interaktion mit anderen Selbstelementen, so, wie es auch in einer Familie der Fall ist. Wir könnten also sagen: Unsere Gesamtpersönlichkeit ist eine Familie aus Ich-Zuständen.
Wie Sie bereits gelesen haben, springen je nach aktiviertem Ich-Zustand andere Nervenzellnetzwerke an (Schlumpf et al., 2013). Was uns in Kontakt mit einem Persönlichkeitsanteil Angst machen kann, lässt uns hingegen in einem anderen Ego-State kalt. Darüber hinaus konnten Studien beispielsweise auch zeigen, dass die drei transaktionalen Selbstsysteme Eltern-Ich, Erwachsenen-Ich und Kind-Ich durch unterschiedliche neuronale Netzwerke repräsentiert werden (Hine, 2005). Die Vorläufer der Ego-State-Netzwerke treten als sogenannte States of Mind auf. Darunter verstehen wir das vollständige Muster der Hirnaktivierung zu einem gegebenen konkreten Zeitpunkt (Siegel, 2012, S. 186 ff.). Hierbei handelt es sich um ein komplexes neuronales Netzwerk, das sich getreu der Hebb’schen Lerntheorie in Folge durch wiederholte Aktivierung zu einem festen Schaltkreis formt (Hebb, 1949). Dadurch kann es in zukünftigen Situationen schneller und leichter aktiviert werden – es verschmilzt zu einem Ich-Zustand. Aus dieser Perspektive betrachtet, besteht der Wechsel von einem Ich-Zustand in einen anderen in einer Veränderung des States of Mind (Allen, 2000). So entwickelt sich eine gewisse Anzahl von unterschiedlichen „Verarbeitungsmodulen“, jedes mit seinem eigenen einzigartigen Satz von Prozessen, Aktivitäten und Arten von Situationen, mit denen es sich befasst.
Mit offenem Mund lassen uns Erfahrungsberichte staunen, die sich auf die extreme traumabedingte Ausprägung von Ego-States beziehen – die dissoziative Identitätsstörung (früher als multiple Persönlichkeitsstörung bezeichnet), bei der unterschiedliche Persönlichkeitszustände abwechselnd die Kontrolle über Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen übernehmen, ohne dass diese voneinander wissen: „Switcht“ eine Person von einem Ego-State in den anderen, so kann sich dies in einem deutlichen Unterschied in der Physiologie zeigen. So konnten Forscher in einem Experiment nachweisen, dass die Probanden, wenn sie mit ihrem Neutral Identity State (NIS) assoziiert sind, auf Trauma-Triggerreize physiologisch anders reagieren, als wenn sie mit ihrem Trauma Identity State (TIS) verbunden sind. Der NIS dient dem Funktionieren im Alltag. Hier besteht ein gewisser Grad an Amnesie – bis hin zum vollständigen Gedächtnisverlust – in Bezug auf das traumatisch Erlebte. Der TIS ist hingegen mit dem Trauma assoziiert. Im TIS zeigten sich im Vergleich zum NIS in Konfrontation mit den Triggerreizen eine signifikant geringere Herzratenvariabilität (HRV), eine höhere Herzrate sowie höherer Blutdruck (Reinders et al., 2006). In einer anderen Studie wirkte sich der Wechsel des Persönlichkeitszustands sogar auf die Sehfähigkeit der Patientin aus (Waldvogel, Ullrich & Strasburger, 2007): Nach 15-jähriger, als kortikal diagnostizierter Blindheit (sog. Rindenblindheit) begann sie im Laufe einer psychotherapeutischen Behandlung schrittweise wieder zu sehen. Zunächst konnten nur einige wenige Persönlichkeitsanteile wieder sehen, während andere weiterhin blind waren. Das Umschalten zwischen sehenden und blinden Anteilen konnte übergangslos geschehen. Dies wurde durch elektrophysiologische Untersuchungen bestätigt. Der Wechsel zeigte sich also unmittelbar auf gehirnorganischer Ebene und war nicht nur subjektiver Natur. Als neuronale Grundlage der psychogenen Blindheit führten die Forscher eine „Top-down-Modulation“ der Aktivität der primären Sehbahn auf Ebene des Thalamus oder des primären visuellen Kortex an.
Auch wenn solche Ergebnisse sicherlich sprachlos machen und die Gehirnforschung darüber hinaus mittlerweile neuronale Netzwerke identifizieren konnte, die verschiedene Ich-Zustände repräsentieren, denken Sie bitte dennoch stets daran: Das Modell der Teile ist und bleibt eine Landkarte, eine sinnbildliche Beschreibung, wie unsere Psyche strukturiert ist, und stellt keine absolute Wahrheit dar. Es dient uns im Emotionscoaching sehr wirkungsvoll dazu, am inneren subjektiven Erleben des Klienten anzudocken und mit seiner individuellen Struktur eines subjektiv empfundenen Problems effektiv und nachhaltig zu arbeiten, um es zu lösen. Klagt ein Klient beispielsweise, dass er das Gefühl hat, „sich selbst im Weg zu stehen“, kann dieses Sprachmuster vom Coach leicht aufgegriffen und direkt in eine Teilearbeit übergeleitet werden: „Wenn dieser Teil von Ihnen, der Ihnen im Weg steht, eine Person oder Figur wäre, wie würde diese aussehen?“
Nutzen Sie die Theaterhaus- sowie die Bühnen-Metapher, um Ihren Klienten mit einfachen Worten das Prinzip der Persönlichkeitsvielfalt zu erklären. Behalten Sie dabei stets das primäre Ziel im Auge: eine Methodentransparenz herzustellen, damit der Klient die Relevanz der Teilearbeit für die Bearbeitung seines emotionalen Kernthemas versteht.
Selbsterfahrung
Folgen Sie dem QR-Code, um sich einen Fragebogen zur Bestimmung Ihrer Handlungs- und Wahrnehmungspräferenz herunterzuladen. Füllen Sie den Bogen mindestens zwei Mal nacheinander aus – jeweils in Kontakt mit einem anderen Ich-Zustand. Das erste Mal beispielsweise assoziiert mit Ihrer beruflichen Rolle und anschließend für Ihre Partnerschaft und / oder ein Hobby. Legen Sie nach der Auswertung die beiden Netzdiagramme nebeneinander und lassen Sie sich davon überraschen, wie stark sich Ihre Persönlichkeitsanteile in ihren Handlungs- und Wahrnehmungspräferenzen unterscheiden.
Um die Funktionsweise und damit die Zweckgerichtetheit von Persönlichkeitsanteilen zu verstehen, werfen wir nun einen Einblick auf deren Entstehung. Um die Funktionsweise und damit die Zweckgerichtetheit von Persönlichkeitsanteilen zu verstehen, werfen wir nun einen Blick auf deren Entstehung. Hier hilft die Erkenntnis, dass die Forschung vier neurobiologische Grundmotive identifiziert hat, nach denen jeder Mensch strebt: Durchsetzung & Einfluss, Ordnung & Stabilität, Harmonie & Geborgenheit sowie Inspiration & Leichtigkeit. Diese vier neurobiologischen Grundmotive lassen sich in Form eines Kompasses abbilden, mit dessen Hilfe Sie in der Welt des menschlichen Erlebens und Verhaltens zielsicher navigieren können. Dies ist der Motivkompass (siehe Abbildung 1). Die gegenüberliegenden Motivpole stellen dabei gegensätzliche Energien dar. Als Zwischenfelder zwischen diesen Polen ergeben sich im Motivkompass zwei weitere Achsen: eine vertikale Achse mit den Ausprägungen Ruhe und Aktion sowie eine horizontale Achse mit den Ausprägungen Genuss und Kontrolle.
Abbildung 1: Die vier neurobiologischen Grundmotive im Motivkompass
Damit unser psychologisches Motivsystem gleichermaßen in Balance wie unser physiologisches Bedürfnissystem (Essen, Trinken, Schlafen, Atmung, Wärme, Sexualität) ist, hat die Evolution vorgesorgt: Erleben wir physiologisch oder psychologisch einen Mangelzustand in einem der Bedürfnis- / Motivfelder, so aktiviert unser Organismus ein automatisches Handlungsprogramm, das darauf ausgerichtet ist, den Mangelzustand wieder zu beheben. Verspüren Sie z. B. Hunger, suchen Sie sich etwas zu essen. Was genau wir in solch einer Situation essen, hängt sehr stark von der Umgebung ab, in der wir aufgewachsen sind. Wächst ein Kind beispielsweise in Deutschland auf, wird es andere Ernährungsgewohnheiten entwickeln, als wenn es in China groß geworden wäre. Um die Art und Weise zu erklären, wie wir nach Erfüllung unserer psychologischen Grundmotive streben, hat der deutsche Psychotherapieforscher Klaus Grawe die Konsistenztheorie formuliert. Das Grundprinzip der Konsistenzregulation besagt, dass unser Organismus nach einem Zustand strebt, in dem die gleichzeitig ablaufenden psychischen Prozesse miteinander vereinbar sind bzw. übereinstimmen. Konsistenz bezeichnet damit einen Zustand, in dem unsere neurobiologischen Grundmotive ausgeglichen sind. Daraus folgt: Je höher die Konsistenz, desto gesünder ist ein Mensch. Um unsere grundlegenden Motive zu erfüllen, entwickeln wir im Laufe unseres Lebens motivationale Schemata. Dazu schreibt Grawe (2004, S. 188):
„Das Erleben und Verhalten eines Menschen wird unmittelbar von seinen motivationalen Schemata bestimmt. Die motivationalen Schemata sind die Mittel, die das Individuum im Laufe seines Lebens entwickelt, um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen und sie vor Verletzung zu schützen. Entsprechend gibt es annähernde und vermeidende motivationale Schemata. Wächst ein Mensch in einer Umgebung auf, die ganz auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse eingestellt ist, wird er hauptsächlich annähernde motivationale Ziele entwickeln und erwirbt viel Erfahrung mit ihrer positiven Befriedigung. Dazu gehören entsprechende Erwartungen und ein differenziertes Verhaltensrepertoire zur Realisierung der Ziele unter verschiedenen Bedingungen. Wächst ein Mensch dagegen in einer Umgebung auf, in der seine Grundbedürfnisse immer wieder verletzt, bedroht oder enttäuscht werden, entwickelt er Vermeidungsschemata, um sich vor weiteren Verletzungen zu schützen. In einer tatsächlich verletzenden Umgebung kann Vermeidung als angepasstes Verhalten ansehen werden. Stark ausgeprägte Vermeidungsschemata verstellen jedoch später den Weg zur positiven Bedürfnisbefriedigung auch in Situationen, die eigentlich dafür geeignet wären, weil die Situationen eher die besser gebahnten vermeidenden als annähernde Tendenzen aktivieren.“
Zwei besonders wichtige Formen der Inkonsistenz sind laut Grawe a) Inkongruenz und b) Diskordanz.Inkongruenz beschreibt das Verfehlen motivationaler Ziele. Wir wollen beispielsweise im Job ein kniffliges Problem lösen, schaffen dies aber nicht. In solch einem Fall spüren wir unangenehme Emotionen (wie z. B. Ärger oder Resignation). Diese fungieren hier als Inkongruenzsignale und weisen auf unerfüllte Bedürfnisse hin. Angenehme Emotionen sind hingegen Hinweisschilder auf erfüllte Bedürfnisse. Sie fungieren somit als Kongruenzsignale. Der Zustand der Inkongruenz kann weiterhin in zwei unterschiedliche Arten unterteilt werden: eine Annäherungsinkongruenz (wir verfehlen ein Annäherungsziel) und eine Vermeidungsinkongruenz (uns gelingt es nicht, die Verletzung eines Bedürfnisses zu vermeiden). Unter Diskordanz (Uneinigkeit, Missklang) verstehen wir hingegen einen Zustand, in dem annähernde und vermeidende Tendenzen gleichzeitig aktiviert werden und sich dadurch gegenseitig hemmen. Ein klassisches Beispiel für solch eine Situation tritt gelegentlich beim Essen auf. Eigentlich sind wir satt (rein physiologisch sind wir also befriedigt), aber weil es so gut schmeckt, verspüren wir Lust, dennoch weiterzuessen. Eine Stimme in unserem Kopf sagt: „Hör lieber auf, du möchtest doch abnehmen.“ Das ist ein Vermeidungsschema („Vermeide übermäßiges Essen, damit du nicht zunimmst“). Die andere Stimme flüstert uns hingegen zu: „Hey, du lebst doch nur einmal. Genieß das leckere Essen jetzt einfach.“ Dies ist das dem Vermeidungsschema widerstrebende Annäherungsprogramm nach Genuss. Solch einen Moment hat wohl jeder schon einmal erlebt. Grundsätzlich muss es sich bei den beiden Schemata aber nicht um ein annäherndes und ein vermeidendes handeln. Für das Auftreten eines inneren Konflikts reicht es aus, wenn zwei motivationale Schemata sich gegenseitig lahmlegen. Die klassische Coaching-Intervention wäre in solch einem Fall der „Part Negotiation“-Prozess. Nun erahnen Sie wahrscheinlich bereits, wo hier die Brücke zur Teilearbeit besteht: Die Persönlichkeitsanteile entsprechen den motivationalen Schemata.
Eine zentrale Komponente motivationaler Schemata (und damit auch der Anteile) sind neben emotionalen Reaktionsbereitschaften und Handlungsprogrammen die motivationalen Ziele. Bei diesen handelt es sich um Ziele von mittlerem bis hohem Abstraktionsgrad. Als Prozessziele haben sie im Kontrast zu Ergebniszielen keinen definitiv erreichbaren Endpunkt, sondern erfordern stattdessen ein kontinuierliches Streben bzw. Vermeiden (Grosse Holtforth & Grawe, 2000). Beispiele für motivationale Ziele sind Status, Intimität, Geselligkeit und Kontrolle. Ergebnisziele, die sich ein Mensch setzt (z. B. ein bestimmtes Auto zu besitzen), dienen letztlich der Erfüllung der motivationalen Ziele und damit der dahinterstehenden Grundmotive. Menschen unterscheiden sich zwar in ihren motivationalen Schemata und den darin enthaltenen Zielen und Handlungsstrategien, nicht aber in den grundlegenden neurobiologischen Grundmotiven, die damit angesteuert werden (auch wenn sich die konkrete Ausprägung der Präferenz, nach einem bestimmten Grundmotiv zu streben, von Person zu Person unterscheidet). Dies bedeutet, dass jeder Bedürfnisbegriff, den Sie im Motivkompass finden (siehe Abbildung 2), potenziell durch einen Persönlichkeitsanteil verkörpert wird bzw. einem Ich-Zustand entspricht. Manchmal bündelt ein Ego-State aber auch mehrere Bedürfnisbegriffe in Form eines Clusters (z. B. Wärme, Nähe und Mitgefühl). Erinnern wir uns in diesem Zusammenhang noch einmal an die Kerndefinition eines Persönlichkeitsanteils: ein organisiertes Verhaltens- und Erfahrungssystem, dessen Elemente durch ein gemeinsames Prinzip zusammengehalten werden und das von anderen Ich-Zuständen durch eine mehr oder weniger durchlässige Grenze getrennt ist. Das zusammenhaltende Prinzip sind hier die Bedürfnisfelder und die sich daraus ergebenden Cluster.
Abbildung 2: Bedürfnisbegriffe im Motivkompass
Unsere Persönlichkeitsanteile verfügen somit über einen Funktionsteil (das motivationale Schema). Dieser repräsentiert die eben beschriebene Anpassungsreaktion auf frühere Bedingungen. Damit erhöhte der Ich-Zustand zum damaligen Zeitpunkt unsere Anpassungsfähigkeit und diente der Erfüllung bzw. dem Schutz eines Bedürfnisses. Da die damit entstandene Strategie erfolgreich war, lässt sich der Anteil in der Coachingarbeit auch nicht einfach löschen. Dies würde auch keinen Sinn ergeben, da wir damit einen Teil unserer Identität eliminieren würden. Ein wichtiges Grundprinzip in der Teilearbeit lautet deshalb: Alle Anteile bleiben erhalten. Dies ist nicht nur aus Sicht eines gesunden Identitätsgefühls sinnvoll, sondern auch aus rein praktischer Sicht. Jeder Persönlichkeitsanteil steht ja für ein wichtiges motivationales Ziel. Das, was im Alltag Probleme bereitet, ist nicht das Ziel an sich, sondern lediglich, dass der Anteil eine dysfunktionalen Strategie erlernt hat, um dieses Ziel zu erreichen, oder dass das Ziel gemeinsam mit einem gegenläufigen Ziel zum gleichen Zeitpunkt aktiviert wird, es also zu einem inneren Konflikt kommt. Dies führt uns zur elementaren Erkenntnis des Prinzips der Zweckgerichtetheit: Hinter jedem Verhalten, Gedanken oder Gefühl steht eine positive Absicht. So haben wir vielleicht die ungeliebte Gewohnheit, an den Fingernägeln zu kauen. Die positive Absicht dahinter könnte hier darin bestehen, emotionale Anspannung abzubauen und einen Zustand der Ruhe und Entspannung zu erreichen. Oder wir futtern uns im wahrsten Sinn des Wortes ein dickes Fell an, um uns vor zwischenmenschlicher Kritik abzuschirmen. Apropos überflüssige Pfunde: Bei einer meiner Klientinnen, einer 24-jährigen Studentin, bestand die positive Absicht ihres Übergewichts darin, der eigenen Meinung „mehr Gewicht“ zu verleihen. Nachdem wir die positive Intention durch ein Emotionscoaching integriert hatten, nahm sie innerhalb von drei Monaten 20 Kilogramm ab. Denn die gute Nachricht ist: Unsere Persönlichkeitsanteile bestehen zwar auf die Erfüllung der positiven Absicht (des motivationalen Ziels, das mit einem der vier Grundmotive verbunden ist). In der konkreten Zielerreichungsstrategie sind sie allerdings grundsätzlich flexibel. Und dies ist genau einer der zentralen Punkte, an dem wir im Emotionscoaching ansetzen.
Denn vor allem verletzte Persönlichkeitsanteile, die zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als wir jünger waren, haben häufig nichts von unserer weiteren Entwicklung mitbekommen. Sie sind in der Zeit eingefroren und haben nicht bemerkt, dass wir mittlerweile über andere Fähigkeiten verfügen und die alten Strategien nicht mehr angemessen sind. Ihnen ergeht es wie dem japanischen Guerillasoldaten Hiroo Onoda. Onoda wurde 1944 im Alter von 22 Jahren als spezialausgebildeter Dschungelkämpfer mit drei Kameraden auf die philippinische Insel Lubang entsandt. Am 28. Februar 1945 landeten amerikanische Streitkräfte auf der Insel. Sie zwangen Onoda und seine Kameraden zur Flucht. Major Yoshimi Taniguchi gab ihnen den Befehl, durchzuhalten und immer weiter zu kämpfen. „Es kann drei Jahre dauern, es kann fünf Jahre dauern, aber was auch immer passiert, wir werden für Sie zurückkommen“, vergewisserte der Major. Also kämpften die Soldaten und harrten aus, bis nur noch Onoda übrig blieb. Als das japanische Kaiserreich ein paar Monate später im August 1945 kapitulierte, wurden Flugblätter über Lubang abgeworfen, die das Kriegsende verkündeten. Diese hielt Onoda jedoch für einen Trick des US-Geheimdienstes, um ihn aus seinem Versteck zu locken. Weitere Versuche folgten, um Onoda aus dem Dschungel zu retten. Doch auch amerikanische und philippinische Suchtrupps scheiterten bei dem Versuch, ihn auf der gerade einmal 125 km2 kleinen Insel aufzuspüren, und selbst die Lautsprecherdurchsagen seiner Familienmitglieder ließen ihn nicht „weich“ werden, weil er sie für einen Trick hielt. Erst 1974 wurde er von einem japanischen Studenten, Norio Suzuki, in seinem Versteck gefunden. Suzuki war ein Abenteurer, der sein Studium mit dem folgenden Ziel abbrach: „Leutnant Onoda, einen Panda und den Yeti zu finden, in dieser Reihenfolge.“ Doch Onoda weigerte sich immer noch aufzugeben. Nach dem Bericht von Suzuki spürte die japanische Regierung seinen ehemaligen Kommandeur Yoshimi Taniguchi auf und schickte ihn mitsamt Onodas Bruder auf die Insel. Taniguchi sagte ihm, dass der Krieg verloren sei, und entband Onoda seines Dienstes. 29 Jahre länger als alle anderen hatte Onoda im Zweiten Weltkrieg gekämpft. In seiner Heimat wurde er für seine Loyalität als Held gefeiert. In seinen Memoiren erinnerte er sich später: „Auf Lubang glaubte ich, Japan zu verteidigen, indem ich die Insel mit meinen beiden Kameraden Shimada und Kozuka so gut wie möglich zu einer Festung machte. Nachdem beide starben, setzte ich meine Mission allein fort. Als der Zweite Weltkrieg 1974 für mich endete, erschien mir die Vergangenheit wie das Erwachen aus einem Traum.“ Was wir aus dieser wahren Begebenheit für die Teilearbeit lernen können: Unsere Persönlichkeitsanteile sind extrem beharrlich in Bezug auf „ihre“ Ziele / Absichten (die sie letztlich für uns als Gesamtperson erreichen wollen). Sie sind uns gegenüber somit sehr loyal. Auch wenn sie sich manchmal in nicht mehr funktionale, weil veraltete Strategien verrennen, steht hinter ihren Handlungen stets eine zutiefst positive Absicht, die unserem Wohlergehen dient.
Über den Funktionsteil hinaus bestehen die Anteile auch aus einem Inhaltsteil: Jeder Ich-Zustand ist mit einer imaginierbaren Erscheinungsform verknüpft. Ebenso verfügt er über ein Alter und ein Geschlecht. Diese Informationen speisen sich aus dem autobiografischen Gedächtnis des Klienten: Die Eigenschaften des Anteils, die der Klient mit diesem verknüpft, werden mit physischen Merkmalen in der Erscheinung verbunden, die ihm in seinem bisherigen Leben in solch einer Paarung begegnet sind. So kann z. B. ein Anteil, der für innere Kraft steht, in unserer Vorstellung mit einem Löwen als Verkörperung assoziiert werden oder mit einem Action-Filmstar, der uns bekannt ist. Die entscheidende Frage lautet hier stets: Welche emotionale Energie verbinden wir subjektiv mit dem Konzept der jeweiligen Funktion (hier: innere Kraft)? Und welche physische Erscheinung assoziieren wir mit dieser individuellen Konzeptualisierung? Verstehen wir innere Kraft als friedvolle Beharrlichkeit, so könnte auch Gandhi die passende Verkörperung sein. Da die Verkörperung des Anteils letztlich nur eine von mehreren möglichen Brücken für die neuronale Aktivierung des Ich-Zustands ist, ist hier stets die Assoziation des Klienten entscheidend.
Erklären Sie Ihrem Klienten vor der eigentlichen Teilearbeit das Prinzip der Zweckgerichtetheit. Ihr Coachee soll hier zunächst einmal theoretisch verstehen, dass hinter jedem Verhalten, Gedanken oder Gefühl stets eine positive Absicht steht. Schildern Sie dafür zwei bis drei Beispiele aus der Praxis, sodass das Prinzip verständlich wird. Anfangs können Sie ein eigenes Thema oder die Beispiele nutzen, die Sie oben im Text finden. Wichtig ist, dass der Klient die Grundidee der positiven Absicht versteht. Welche positive Absicht sich konkret hinter seinem Kernthema verbirgt, wird dann im Verlauf des Coachings herausgearbeitet.
Exkurs: Wie unsere Persönlichkeitsanteile entstehen
Lassen Sie uns abschließend noch einen Blick auf die unterschiedlichen Möglichkeiten werfen, wie ein Persönlichkeitsanteil (ein motivationales Schema) im Laufe unseres Lebens entstehen kann. Dies hilft Ihnen, deren Funktionalität noch besser zu verstehen. Für die Entstehung der Persönlichkeitsanteile gibt es im Wesentlichen drei Wege, die allesamt auf den oben genannten Entstehungsmechanismus – die Erfüllung der Grundmotive – zurückzuführen sind. Die nachfolgend aufgeführten Wege stellen lediglich unterschiedliche Rahmenbedingungen für die Entstehung der Persönlichkeitsanteile dar. Der konkrete Prozess der Entstehung und Entwicklung der Ich-Zustände läuft dabei vornehmlich unbewusst ab.
Normale Differenzierung
als Erfahrungs- / Verhaltensmuster in einem Kontext (Rolle)
Vertikaler oder horizontaler Selbsttransfer
durch emotional bedeutsame Begegnungen
Pathologische Dissoziation
in Folge eines traumatischen Erlebnisses
Unter normaler Differenzierung verstehen wir die natürliche Entwicklung von Erfahrungs- und Verhaltensmustern in bestimmten Kontexten. Hier geht es um die Herausbildung von Rollen, z. B. als Vater, Sportler usw. Dabei spielen die sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen, in denen ein Mensch aufwächst, eine wichtige Rolle. Diese sind sozusagen die Geburtshelfer der Ich-Zustände. Ein Beispiel: Sind Sie als Einzelkind oder mit Geschwistern aufgewachsen? Allein dies kann einen enormen Einfluss auf die Entwicklung Ihrer Persönlichkeitsanteile haben. Hatten Sie z. B. eine große Schwester oder einen großen Bruder, der stärker war als Sie, werden Sie andere Strategien entwickelt haben müssen, um sich durchzusetzen, als die schiere Kraft spielen zu lassen. Bei normaler Differenzierung kommt primär der assoziative Lernprozess der operanten Konditionierung zum Tragen. Hier wird ein bestimmtes Verhalten, das eine Person zeigt, durch das Gesetz des Effekts beeinflusst: Folgt auf eine Reaktion oder Verhaltensweise eine bedürfnisbefriedigende Konsequenz (eine Verstärkung) – signalisiert durch eine angenehme Empfindung –, so wird diese Reaktion verstärkt, tritt also anschließend häufiger auf. Ist die Konsequenz hingegen nicht befriedigend oder sogar aversiv (erfolgt also eine Bestrafung) – angezeigt durch eine unangenehme Empfindung –, sinkt die Auftretenswahrscheinlichkeit des Verhaltens. Dies lässt sich nun auf zwei unterschiedliche Situationen anwenden: 1) Wir steuern durch ein bestimmtes Verhalten ein motivationales Ziel an, das wir erreichen wollen. Wir halten z. B. in der Schule einen Vortrag, um Anerkennung zu erreichen. Gelingt uns dies nicht nur einmal, sondern vielleicht sogar mehrere Male, entwickelt sich daraus ein relativ stabiles Annäherungsschema für das Motiv nach Anerkennung. Ebenso kann der Vortrag aber auch misslingen, und wir erreichen unser motivationales Ziel nicht. Dann werden wir Vorträge in Zukunft wahrscheinlich eher vermeiden und nach anderen Erfüllungsstrategien suchen. Die spannende Frage hierbei ist stets: Sind die motivationalen Schemata unserer Kindheit und Jugend heute im Erwachsenenalter noch aktuell und angemessen? Haben wir beispielsweise als Kind unsere Mutter durch lautes Weinen davon überzeugt, dass wir die Süßigkeiten an der Supermarktkasse bekommen (das motivationale Ziel lautet hier Durchsetzung), so wird diese Strategie wohl kaum zum Erfolg führen, wenn wir beim Chef nach einer Gehaltserhöhung fragen. Zumindest werden wir das Handlungsprogramm auf der Verhaltensebene an die aktuelle Situation anpassen. Statt tatsächlich zu weinen, drücken wir vielleicht einfach nur mit unseren Worten auf die Tränendrüse (z. B. „Wie soll ich das sonst bloß schaffen!? Wir haben doch vier Kinder!“). Die grundsätzliche Bedürfniserfüllungsstrategie, die hinter diesem Verhalten steht, ist aber die gleiche geblieben. 2) Wir lernen bestimmte Verhaltensweisen (Coping-Strategien), um unsere Bedürfnisse vor Verletzung zu schützen. So wurden wir vielleicht in der Grundschule im Unterricht von unseren Mitschülern ausgelacht, weil wir der Lehrerin eine falsche Antwort gegeben haben. Daraufhin entwickeln wir die Strategie, uns eher zurückzuhalten, um soziale Ablehnung zu vermeiden.
Die operante Konditionierung sorgt dafür, dass wir (als Kind) unbewusste „Überlebensstrategien“ entwickeln, z. B. auch was den Ausdruck bestimmter Emotionen wie Ärger angeht: „Wenn du Konflikte vermeidest, wirst du geliebt.“ Diese Überlebensstrategien können uns als Erwachsene in unserem Lebensglück und unserer Leistungsfähigkeit sehr einschränken. Deshalb ist es für Sie als Emotionscoach aufschlussreich und erhellend, den Einfluss operanter Konditionierung auf den individuellen Emotionsausdruck zu verstehen. Zeigen wir nonverbal etwas anderes, als wir fühlen, so erleben wir eine Diskrepanz zwischen dem Innen und dem Außen – ein Zustand, der als emotionale Dissonanz bezeichnet wird. Dessen negative Folgen hat Friedemann Schulz von Thun (1989) einmal sehr gut auf den Punkt gebracht: „Zu friedlich und zu höflich, das ist friedhöflich!“ In der Tat zeigen viele Studien die negativen Wirkungen emotionaler Dissonanz. Eine holländische Studie unter 108 Krankenschwestern und 101 Polizisten konnte feststellen: Werden Emotionen vermehrt unterdrückt und Mitgefühl vorgespielt, so fördert dies allgemein Burnout und speziell emotionale Erschöpfung, Zynismus und verminderte Empathie (Bakker & Heuven, 2006). In einer weiteren Untersuchung mit 220 Flugbegleitern stellten die Forscher sogar fest, dass emotionale Dissonanz in Emotion-Work-Berufen, in denen zwischenmenschliche Interaktionen im Mittelpunkt stehen, das Burnout-Risiko stärker beeinflusst als ein hohes Arbeitspensum und Zeitdruck (Heuven & Bakker, 2003). Hier stellt sich die Frage, ob wir unsere Emotionen nun einfach ausdrücken sollten, anstatt sie zu unterdrücken. Genau mit dieser Frage hat sich die Forschung in den letzten Jahrzehnten intensiv beschäftigt. Das Ergebnis: Emotionen zu unterdrücken kann erhebliche negative Konsequenzen haben, die eigenen Gefühle unkontrolliert auszudrücken aber ebenso. So ist z. B. das fortwährende Ausdrücken von Ärger ein Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkte (Adler & Matthews, 1994).
Die Lösung aus diesem Unterdrücke-ich-oder-zeige-ich-Dilemma, man könnte auch sagen Expressions-Double-Bind, lautet: Emotionale Ausdrucksflexibilität. Damit ist die Fähigkeit gemeint, Emotionen nonverbal ausdrücken, aber auch unterdrücken zu können, je nachdem, was in einer Situation angemessen ist (Westphal, Seivert & Bonanno, 2010). Oder um es in einer Teile-Metapher auszudrücken: Emotionale Ausdrucksflexibilität bedeutet, ein flexibles inneres Emotionsteam zu besitzen. Emotionale Ausdrucksflexibilität verhindert nicht nur emotionale Dissonanz und die damit verbundenen negativen Wirkungen, sondern hilft auch dabei, uns mit Erfolg emotional auf die Herausforderungen des Lebens einzustellen, auch wenn diese traumatisch sind. So konnten beispielsweise New Yorker Studenten, die eine hohe emotionale Ausdrucksflexibilität besaßen, nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 besser auf ihre kognitiven Ressourcen zugreifen (gemessen an besseren Noten) und hatten am Ende des zweiten Studienjahres weniger Stress als ihre Mitstudenten (Bonanno, Papa, Lalande, Westphal & Coifman, 2004). Eine niedrige emotionale Ausdrucksflexibilität wirkt sich hingegen negativ auf die psychologische Anpassungsfähigkeit eines Menschen aus: Eine Studie mit Kriegsveteranen konnte nachweisen, dass sich die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung umso stärker zeigten, je niedriger die emotionale Ausdrucksflexibilität der Probanden war (Rodin et al., 2017). Ebenso weist die Forschung darauf hin, dass eine niedrige emotionale Ausdrucksflexibilität damit zusammenhängt, dass wir den Verlust eines Lebenspartners schlechter verarbeiten (Gupta & Bonanno, 2011).
Achten Sie im Coaching stets darauf, wie gut die emotionale Ausdrucksflexibilität Ihrer Klienten ausgeprägt ist, und stärken Sie diese gegebenenfalls. Hier kann Ihnen die Teilearbeit wertvolle Dienste leisten. Einer meiner Klienten berichtete mir z. B., dass er Probleme damit hat, Gefühle von Trauer zuzulassen und nach außen zu zeigen. Dies bereitete ihm vor allem in seiner Partnerschaft Schwierigkeiten, weil es für ihn sehr herausfordernd bis unmöglich war, sich fallen zu lassen und zu vertrauen. Sein Gedanke war: „Wenn ich meine Trauer und Verletzung zeige, bin ich schwach und wertlos. Dieses Gefühl macht mir Angst. Ich fühle mich in solchen Situationen, als wenn ich ein kleines Kind wäre.“ Ich fragte ihn, wo er die Angst im Körper spüren würde, wenn er daran denkt. „Mein Magen zieht sich zusammen.“ Dann nutzte ich eine Affektbrücke: „Was ist die früheste Situation aus Ihrem Leben, die Ihnen gerade einfällt, wo Ihnen dieses Gefühl schon einmal begegnet ist?“ Er überlegte kurz, und dann schoss es aus ihm heraus: „Ich erinnere mich an eine Situation mit sieben Jahren. Als ich morgens zur Schule losmusste, entdeckte ich, dass mein Hamster gestorben war. Als ich in Tränen ausbrach, schrie mein Vater mich plötzlich an: ‚Jetzt reiß dich mal zusammen. Du bist doch kein Mädchen. Ein Junge weint nicht.‘ Ich erinnere mich, dass ich mich damals sehr alleingelassen gefühlt habe.“ Die Verarbeitung dieses Schlüsselmoments (wir erreichten dies über die Arbeit mit seinem siebenjährigen Ich, also mit dem inneren Kind) beschrieb er später als den entscheidenden Schritt in unserem Coaching in Bezug auf sein Ziel, in seiner Partnerschaft vollkommen er selbst sein zu können und sich auch mal verletzlich zu zeigen. Die Affektbrücke war eine entscheidende Technik, um diesen Schlüsselmoment an die Oberfläche des Bewusstseins zu befördern und für das Coaching zugänglich zu machen. Die Hintergründe und konkrete Durchführung der Affektbrücke werden wir uns später noch detailliert anschauen.
Ob es nun um Trauer oder Angst geht, Ärger oder Stolz, Freude oder Liebe, jeder Mensch hat ein individuelles Emotionsprofil – manche Emotionen empfinden und zeigen wir mehr, andere weniger. Studien konnten zeigen, dass unser Emotionsprofil (die Emotionen, die wir Tag für Tag erleben) über den Zeitverlauf betrachtet so stabil ist, dass es als Persönlichkeitseigenschaft gesehen werden kann (Eid & Diener, 1999; Hudson, Lucas & Donnellan, 2017). Es lohnt sich, im Emotionscoaching daran zu arbeiten, einen vollen Zugang zum gesamten Spektrum unserer Emotionen zu bekommen. Denn eine hohe Emotionsflexibilität hat – wie Sie bereits gelernt haben – viele positive Auswirkungen. Darüber hinaus hängt sie generell mit besserer psychischer und körperlicher Gesundheit zusammen (gemessen an geringerer Depressionswahrscheinlichkeit und weniger Arztbesuchen) – und zwar unabhängig von Alter, Geschlecht und Persönlichkeit der Studienteilnehmer/innen (Quoidbach et al., 2014). Die folgende Checkliste können Sie für sich selbst nutzen oder auch wunderbar im Coaching für Ihre Klienten einsetzen. Sie gibt Ihnen einen Schnellüberblick und zeigt direkt die Ansatzpunkte für ein mögliches Emotionsflexibilitäts-Coaching. Je nach Kontext, den Sie betrachten, kann sich das Emotionsprofil unterscheiden. So mag es uns vielleicht leichtfallen, gegenüber unserem Liebespartner Trauer auszudrücken. Im Beruf gegenüber den Kollegen oder dem Chef kann uns dies hingegen Schwierigkeiten bereiten.
Betrachten wir als Nächstes den zweiten Weg der Entstehung unserer Persönlichkeitsanteile, den vertikalen und horizontalen Selbsttransfer. Verantwortlich für diesen Weg ist auf neuronaler Ebene das Resonanzsystem der Spiegelneurone. Dies ist im Unterschied zu den neuronalen Selbstnetzwerken bereits mit der Geburt hinreichend funktionstüchtig (Bauer, 2019, S. 21). Faszinierend ist hier: Spiegelneurone sind kein Echo-, sondern ein Resonanzsystem. Während bei einem Echo das echoerzeugende Objekt unverändert bleibt (z. B. die Bergwand, die unseren Schrei zurückspiegelt), verändert sich bei einem Resonanzphänomen das Objekt der Resonanz: Bringen wir eine Gitarrensaite zum Schwingen, so schwingt die gleiche Saite auf einer anderen Gitarre mit – sie verändert sich also auf physischer Ebene. Gehen wir in Resonanz mit einer anderen Person, so beeinflusst und verändert uns dies ebenso auf neurobiologischer Ebene. Auf diese Weise beeinflussen und formen die zwischenmenschlichen Resonanzen während der frühkindlichen Entwicklung unsere Neurobiologie. Stück für Stück entsteht auf dem Boden der erlebten Resonanz auf der neuro-logischen Ebene der Zugehörigkeit (Level 4) nicht nur unser Identitätsgefühl (Level 3), sondern es entwickeln sich ebenso verschiedene Ich-Zustände (Level 2). Da wir in den ersten 24 Monaten unseres Lebens vornehmlich Resonanzwesen sind, wirkt vor allem in dieser Phase unserer Entwicklung das vierte Level über einen Transfer von Selbstelementen nach oben hin auf die anderen neuro-logischen Ebenen und formt diese. Der deutsche Gehirnforscher Joachim Bauer spricht deshalb in diesem Zusammenhang von einem vertikalen Selbsttransfer. Hier spielen zunächst einmal hauptsächlich die Menschen eine Rolle, die für uns in unserer Kindheit emotional bedeutsam waren. Das sind im Kern die wichtigsten Bezugspersonen: unsere Eltern, Geschwister, Großeltern und andere Familienmitglieder.
Aber auch in späteren Jahren – im Jugend- und Erwachsenenalter – kann weiterhin ein vertikaler Selbsttransfer stattfinden. Dieser umfasst alle Selbstelemente, die sich aufgrund einer subjektiv erlebten Gruppenzugehörigkeit (Level 4) auf uns übertragen, z. B. durch die emotional empfundene Zugehörigkeit zu einem Fußballverein oder einer Kultur. Hinzu kommt die Übertragung von Selbstelementen auf horizontaler Ebene, weshalb wir hier von einem horizontalen Selbsttransfer sprechen. Dabei werden über die Spiegelneurone Selbstelemente (wie Emotionen oder Glaubenssätze) anderer Personen auf uns übertragen, mit denen wir – in Abgrenzung zum vertikalen Selbsttransfer – nicht die gleiche soziale Identität teilen. Eine empfundene soziale Zugehörigkeit (vgl. Level 4) ist also für den horizontalen Selbsttransfer nicht notwendig. Hier spielen alle Menschen eine Rolle, die für die jeweilige Person zwar eine emotionale Bedeutung haben, aber nicht zwangsläufig Teil der sozialen Identität sind – Freunde, Sporttrainer, Vorbilder, Idole, aber auch kurze emotional-intensive Begegnungen. Das Prinzip des horizontalen Selbsttransfers wirkt auch in der Beziehung zwischen Coach und Klient. Dieser Entstehungsweg kann ein wahrer Fundus an ressourcenreichen Persönlichkeitsanteilen sein. Überlegen Sie einmal kurz: Wem sind Sie im Leben begegnet, der Ihnen gutgetan und Sie inspiriert hat? Über den horizontalen Selbsttransfer entsteht in unserer Neurobiologie eine Repräsentation dieser im Außen erlebten Ressource. Der Selbsttransfer lässt auf diesem Weg ressourcenreiche Ego-States entstehen, aber auch destruktiv-verletzende. So internalisieren wir beispielsweise den ermutigenden Lehrer, aber ebenso den kritisierenden Chef. Mit beiden Arten von Anteilen können wir im Emotionscoaching sehr effektiv arbeiten und sie für eine Veränderung nutzen.
Während es sich bei den ersten beiden Entstehungswegen von Persönlichkeitsanteilen um eine gesunde Entwicklung handelt (wobei diese auch im Rahmen einer pathologischen Entwicklung eine Rolle spielen können), handelt es sich beim dritten Weg – den wir uns gleich anschauen werden – um einen Pfad, der eine Störung der psychischen Gesundheit zum Ausdruck bringt. Durch die ersten beiden Möglichkeiten bilden sich Ich-Zustände heraus, die mehr oder weniger voneinander abgegrenzt, aber stets mittels durchlässiger Grenzen miteinander verbunden sind. Dies können Sie in der Abbildung erkennen. Eine solch leichte Differenzierung dient der Anpassung und dem gesunden Funktionieren der Persönlichkeit. Wäre dies nicht der Fall, würde unser Inneres einem unaufgeräumten, chaotischen Büro gleichen – im Kontrast zu einem Arbeitsplatz, an dem alle Unterlagen ordentlich in die passenden Ordner einsortiert sind. Auf diese Weise greifen wir beispielsweise in unterschiedlichen Kontexten (z. B. Sportler vs. Führungskraft) auf unterschiedliche automatisierte motivationale Schemata zurück.
Bei einer pathologischen Entwicklung von Ego-States, die durch Traumatisierung bewirkt wird, sind diese Grenzen hingegen starrer und weniger durchlässig bis hin zu undurchlässig. Dabei handelt es sich nicht um eine Entweder-oder-Kategorisierung, sondern um ein Differenzierungs-Dissoziations-Kontinuum, an dessen Ende die Grenzen zwischen den Persönlichkeitsanteilen so undurchlässig sind, dass keine oder nur noch eine geringe Kommunikation zwischen den Ich-Zuständen stattfindet. Der Extremfall davon zeigt sich bei der dissoziativen Identitätsstörung, die früher als multiple Persönlichkeit bezeichnet wurde und bei der unterschiedliche Persönlichkeitszustände abwechselnd die Kontrolle über Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen übernehmen. Wobei zwischen den einzelnen Ego-States typischerweise eine Amnesie vorliegt. Das heißt, der eine Anteil weiß vom anderen nichts. Das Phänomen der dissoziativen Identitätsstörung haben wir bereits weiter oben kurz beleuchtet. Um die Differenzierung im pathologischen Bereich zu beschreiben, findet in der aktuellen Forschung die Theorie der strukturellen Dissoziation Anwendung (Van der Hart, Nijenhuis & Steele, 2008). Auch wenn eine solche Arbeit mit traumatisierten Menschen stets in die Hände eines professionalen Psychotherapeuten gehört, schauen wir uns diesen dritten Weg der Entstehung von Persönlichkeitsanteilen der Vollständigkeit halber an dieser Stelle kurz an. Denn dies hilft Ihnen in der Praxis auch noch einmal besser, ein Emotionscoaching sauber von einer manchmal notwendigen Psychotherapie abzugrenzen.
Die Theorie der strukturellen Dissoziation geht davon aus, dass die Persönlichkeit eines Menschen bedingt durch eine Traumatisierung strukturell aufgeteilt wird. Ziel dieser strukturellen Aufteilung ist es, das Überleben zu sichern und die Funktionsfähigkeit der Psyche zu erhalten. Die Ursache dafür liegt in einer Überforderung des inneren Systems, das nicht fähig ist, das traumatisch Erlebte zu integrieren. Deshalb wird das Trauma innerhalb der Gesamtpersönlichkeit abgespalten. Bereits Pierre Janet (1907) nutzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Begriff der Dissoziation, um Gedanken- und Emotionssysteme zu beschreiben, die abgespalten werden und damit mehr nicht in Verbindung zu anderen Vorstellungen und Empfindungen innerhalb der Gesamtpersönlichkeit stehen. Janet formulierte somit bereits sehr früh die Idee einer traumabedingten „organisierten“ Trennung der Persönlichkeit. Van der Hart et al. (2008) gehen davon aus, dass sich die konkrete Ausprägung einer solchen Dissoziation in Abhängigkeit von Stärke und Dauer der Traumatisierung entlang eines Kontinuums in drei Stufen entwickelt. Sie unterscheiden zwischen primärer, sekundärer und tertiärer Dissoziation. Allen drei Formen gemein ist, dass die Persönlichkeit in einen „anscheinend normalen Persönlichkeitsanteil“ (ANP) und einen „emotionalen Persönlichkeitsanteil“ (EP) unterteilt wird. Während der ANP für das Bewältigen der Alltagsaufgaben und das Überleben zuständig ist, handelt es sich beim EP um den Träger des Traumas. Er ist in der Zeit eingefroren und hängt im vergangenen traumatischen Erlebnis fest. Je nach Ausprägung der strukturellen Dissoziation können sich mehrere EPs oder auch ANPs entwickeln. Letzteres ist bei der dissoziativen Identitätsstörung der Fall (tertiäre strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit), die die stärkste Ausprägung der Dissoziation und damit das extreme Ende des Kontinuums abbildet. Bei einer primären strukturellen Dissoziation (vgl. posttraumatische Belastungsstörung), die den Anfang der Differenzierung darstellt, teilt sich die Persönlichkeit hingegen in nur eine ANP und einen EP auf.
Faszinierend ist, dass Studien der Gehirnforschung zeigen konnten, dass sich solch eine strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit auch messbar auf die Aktivität unseres Gehirns auswirkt – und zwar nicht nur je nach aktiviertem Ego-State in Form unterschiedlicher Nervenzellnetzwerke, sondern sogar im Ruhezustand. Unser Gehirn ist nämlich – entgegen der weitverbreiteten Meinung – beim Nichtstun nicht inaktiv. Dies erklärt, warum es – obwohl es nur ca. 2 Prozent des Körpergewichts ausmacht – selbst im Ruhezustand 20 bis 25 Prozent der Gesamtkalorien verbraucht (Watts, Pocock & Claudianos, 2018). Tun wir „nichts“, springt das sogenannte Default Mode Network (DMN) an. Bei diesem in unserem Gehirn „standardeingestellten“ (von engl. default mode) Schaltkreis handelt es sich um ein neuronales Funktionsnetzwerk, also einen Zusammenschluss weitreichender Gehirnareale zu einem funktionalen Netzwerk (Bressler & Menon, 2010). Andere Beispiele für solche Large-Scale Brain Networks sind das zentrale Steuerungsnetzwerk (frontoparietales Netzwerk) und das limbische Stressnetzwerk. Die verschiedenen Funktionsnetzwerke sind untereinander antikorreliert. Das bedeutet: Springt das zentrale Steuerungsnetzwerk an, fährt das Default Mode Network herunter – und vice versa. Gleiches gilt für das limbische Stressnetzwerk. Betrachten wir nun das Default Mode Network etwas genauer: Der auch als Ruhezustandsnetzwerk bezeichnete Schaltkreis wird u. a. aktiv, wenn wir tagträumen oder über vergangene Ereignisse nachdenken. Das Default Mode Network ermöglicht somit reizunabhängiges Denken. Zu den zentralen Hirnarealen, die Teil des DMN sind, gehören der mediale präfrontale Cortex (mPFC), der posteriore cinguläre Cortex (PCC) sowie die temporo-parietale Verbindung (TPJ) (Wang, Tepfer, Taren & Smith, 2020). Diese Gehirnbereiche sind im abgebildeten fMRI-Scan dargestellt (vgl. Graner, Oakes, French & Riedy, 2013). Eine Vielzahl an Studien konnte zeigen, dass das DMN bei vielen psychischen Störungen verändert ist. So sind z. B. bei Patienten, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, im Ruhezustand die neuronalen Selbstnetzwerke (die u. a. im mPFC liegen und damit Teil des DMN sind) deaktiviert (Bluhm et al., 2009). Dem neuronalen System gelingt es hier sozusagen nicht, das traumatisch Erlebte in die Gesamtpersönlichkeit zu integrieren. Da im Ruhezustand das medial-präfrontale Selbstnetzwerk gehemmt ist, könnten wir sagen: Bei einer PTBS ist im Ruhezustand niemand „zu Hause“.
Abbildung 3: Default Mode Network
Fazit: Unser Persönlichkeitsanteile entstehen über drei Wege. 1) bilden sich über den Weg der normalen Differenzierung verschiedene Ich-Zustände in Form von Erfahrungs- und Verhaltensmustern für bestimmte Kontexte heraus. 2) integrieren wir mittels eines vertikalen oder horizontalen Selbsttransfers Selbstelemente von anderen, für uns emotional bedeutsamen Menschen in unsere eigene Persönlichkeit. 3) stellt die strukturelle Dissoziation der Persönlichkeit eine pathologische Bewältigungsreaktion auf ein traumatisierendes Ereignis dar. Diese ist das Wesen jeder traumabedingten Störung und spielt deshalb in der psychotherapeutischen Teilearbeit eine wichtige Rolle (nicht aber im Coaching).
Exkurs: Bineuronale Aktivierung als grundlegendes Prinzip der Emotionsregulation
In Bezug auf das Default Mode Network ist hier ein weiterer Gedanke interessant – und zwar in Bezug auf die emotionsregulierende Wirkung der Fixierung der visuellen Aufmerksamkeit auf einen festen Blickpunkt (den Eye-SPOT), wie wir es bei emTrace im Rahmen der Grundtechnik des Processings nutzen. Der Klient bekommt hierbei zwar die Aufgabe, innerlich ohne Bewertung zu beobachten, was passiert (die dadurch aktivierte gegenwartsbezogene Achtsamkeit fährt den dorsolateralen präfrontalen Cortex und somit das zentrale Steuerungsnetzwerk hoch), es ist aber nicht auszuschließen, dass bei einigen Klienten während dieses Prozesses die Aufmerksamkeit abschweift und das Gehirn zumindest kurzzeitig aus dem zentralen Steuerungsnetzwerk in das Ruhezustandsnetzwerk umschaltet (Raichle et al., 2001; Yan et al., 2009). Dies wäre, so der Neurowissenschaftler Dr. Dr. Damir del Monte, eine weitere mögliche Begründung für die emotional regulierende Wirkung der Blickpunkt-Fixierung während des Processings. Denn auch das Default Mode Network konkurriert – ebenso wie das zentrale Steuerungsnetzwerk – als neuronales Funktionsnetzwerk mit dem limbischen Stressnetzwerk um Ressourcen: Fährt das eine hoch, wird das andere gehemmt (de Voogd, Hermans & Phelps, 2018). Das Grundprinzip der Emotionsregulation würde somit dennoch das gleiche bleiben: Wir aktivieren im Gehirn des Klienten parallel zum gleichen Zeitpunkt zwei neuronale Funktionsnetzwerke, die antikorreliert sind. Aus Sicht des dahinterstehenden Wirkprinzips sprechen wir deshalb statt von bifokaler Achtsamkeit (einer dualen Aufmerksamkeitsfokussierung) von bineuronaler Aktivierung.
Werfen wir abschließend einen Blick darauf, wie an diesem Punkt im Coachingprozess die übergeordneten Wirkfaktoren einer erfolgreichen emotionalen Veränderung synergetisch zusammenspielen: Die durch eine bineuronale Aktivierung in Gang gebrachte Emotionsregulation bildet gemeinsam mit den Wirkfaktoren der transformativen Allianz und der Ressourcenaktivierung den Rahmen, in dem sich der gestörte Dialog zwischen frontoparietalem Netzwerk und limbischem System in eine gesunde, ressourcenvolle neuronale Kommunikation verwandeln kann. Die drei Wirkfaktoren „transformative Allianz“, „Ressourcenaktivierung“ und „Emotionsregulation“ kreieren also den Veränderungsraum, in dem sich ein ressourcenvoller neuronaler Dialog entfalten kann. Während die Coach-Klienten-Allianz und die Ressourcenaktivierung den sicheren Rahmen bilden (durch den die stabilen neuronalen Problemschaltkreise in den Zustand der Instabilität wechseln), gibt die gezielt aktivierte Emotionsregulation dem Veränderungsraum den entscheidenden Impuls, damit der blockierte neuronale Dialog zwischen frontoparietalem Netzwerk und limbischem System in eine ressourcenvolle Kommunikation übergeht. Die relational-motivationale Klärung identifiziert hingegen präzise die in diesem kreierten Raum zu verändernden Emotionsspuren, und die Core-Aktivierung sorgt dafür, dass diese neuronal aktiviert werden, den Veränderungsraum also sinnbildlich gesprochen betreten. Dieses synergetische Zusammenspiel der fünf Wirkfaktoren ist eben genau die Sinfonie der Veränderung, die wir in unserer Schlüsselkompetenzrolle als Wirkungsdirigent erreichen wollen.
Widmen wir uns nun dem dritten Prinzip der Teilearbeit – dem Prinzip der unbewussten Organisation. Dahinter steht der schlichte Grundsatz: Unser Unbewusstes organisiert unser Leben und Überleben. An dieser Stelle ist es mir wichtig, eine Begrifflichkeit mit Ihnen zu klären. Was meine ich, wenn ich vom Unbewussten spreche? Damit sind schlichtweg die Prozesse gemeint, die sich im jeweils aktuellen Moment außerhalb Ihres Gewahrseins befinden, die Sie also nicht bewusst wahrnehmen. So sind Sie sich wahrscheinlich gerade jetzt Ihrer Atmung nicht bewusst. Zumindest war dies bis gerade eben so. In dem Moment, in dem Sie den Satz gelesen haben, verlagert sich Ihre Aufmerksamkeit, und was vorher noch unbewusst war, rückt ins Zentrum Ihres Gewahrseins. Ebenso unbewusst sind uns – zumindest in den meisten Situationen – unsere motivationalen Schemata, die unser Handeln steuern. Wir sind uns der motivationalen Ziele und Strategien unserer Persönlichkeitsanteile nicht vollends bewusst. Das ist in vielen Fällen auch gut so und funktioniert so lange hervorragend, bis wir uns blockiert fühlen, weil z. B. eine Strategie nicht mehr zeitgemäß und angemessen ist. Es ist gut, dass unsere motivationalen Schemata unbewusst ablaufen, weil unser Unbewusstes nicht nur unendlich viel mächtiger und weiser ist als der bewusste Verstand, sondern seinen Aufgaben auch extrem zuverlässig nachgeht. Diese drei Eigenschaften des Unbewussten werden wir uns gleich noch näher anschauen. Zusammenfassend halten wir zunächst einmal fest: Die Prozesse, die unser Verhalten und Erleben steuern, lassen sich in drei unterschiedliche Kategorien einordnen.
Abbildung 4: Die triadische Struktur des Bewusstseins
Wie Sie in der Abbildung erkennen, gibt es neben dem Bewusstsein zwei unterschiedliche Arten unbewusster Prozesse: Wir unterscheiden das primär Unbewusste (das dem Bewusstsein nicht direkt zugänglich ist) von den bedingt bewussten Prozessen. Letztere sind dem Bewusstsein, wie der Name schon sagt, unter bestimmten Bedingungen zugänglich. Zu den primär unbewussten Prozessen zählen z. B. alle subcorticalen vegetativen und limbischen Funktionen. Der Tätigkeit unserer Amygdala können wir uns beispielsweise nur indirekt bewusst werden, wenn die dadurch vermittelte neuronale Erregung stark genug ist, um durch die bewusstseinsfähige Großhirnrinde wahrgenommen zu werden. Wobei hier dann aber stets eine Umdeutung und Übersetzung dieser Signale durch die Großhirnrinde stattfindet. Wahrnehmungsprozesse, die im Gehirn des Fötus, Säuglings oder Kleinkinds vor Ausreifung des deklarativ-autobiografischen Gedächtnissystems ablaufen (dies betrifft die ersten zwei bis drei Jahre nach der Geburt), gehören darüber hinaus ebenso zu den primär unbewussten Vorgängen wie prämotorische und motorische Prozesse, die Handlungsabsichten in konkrete Bewegungsabläufe umsetzen. Die bedingt bewussten Prozesse sind im Gegensatz dazu bewusstseinsfähig. Da diese in der Regel, bevor sie ins Unbewusste „abgesackt“ sind, schon einmal bewusst waren, bilden sie mit dem Bewusstsein eine unzertrennliche Einheit. Dazu zählen alle Inhalte des explizit-deklarativen Gedächtnisses, die aktuell nicht bewusst sind, aber durch bestimmte Trigger oder ein aktives Erinnern aktiviert werden können. Mit dem Finden eines spezifischen stressgeladenen Blickpunkts (des Aktivierungs-SPOTs) verfolgen wir bei emTrace z. B. das Ziel, bedingt bewusste emotionale Prozesse und Erinnerungen zu aktivieren und infolgedessen zu prozessieren. Ebenso ist die Affektbrücke eine Coachingtechnik, um bedingt bewusste Erinnerungen von der unbewussten Ebene ins Bewusstsein zu heben. Zu den bedingt bewussten Prozessen gehören auch alle ins Langzeitgedächtnis „verdrängten“ Inhalte, die sich in irgendeiner Weise der bewussten Erinnerung widersetzen (z. B. aufgrund starker emotionaler Belastungen, die damit verbunden sind, vgl. retrograde Amnesie). Als drittes Element sind hier noch automatisierte Abläufe zu nennen, die in das prozedurale Langzeitgedächtnis abgesackt sind, z. B. zur Gewohnheit gewordene Tätigkeiten wie Fahrradfahren. Fazit: Wenn wir im Folgenden allgemein davon sprechen, mit dem Unbewussten zu arbeiten, so meinen wir streng genommen also stets die bedingt bewussten Prozesse oder eine durch das Großhirn vollbrachte Übersetzung des primär Unbewussten. Denn nur diese Inhalte sind bewusstseinsfähig und damit im Coaching zugänglich. Die Veränderung dieser Vorgänge wirkt sich indirekt auf die primär unbewussten Prozesse aus.
Nun stellt sich aus neurowissenschaftlicher Sicht die Frage: Was sind die neuronalen „Heimat-Netzwerke“ des Bewussten und Unbewussten? In welchen Gehirnarealen können wir diese verorten? Für den bewussten Verstand spielt die kognitiv-sprachliche Ebene unseres Gehirns die entscheidende Rolle. Diese ist im Neocortex angesiedelt. Das bedeutet nun aber nicht, dass alles, was dort stattfindet, bewusst ist. Wir dürfen die auch als Großhirnrinde bezeichnete Region nicht mit dem bewussten Verstand gleichsetzen. Denn auch hier läuft der Großteil der Prozesse unbewusst ab. Für die kognitiv-sprachliche Ebene und den bewussten Verstand ist der dorsolaterale präfrontale Cortex (dlPFC) von besonderer Bedeutung. Dieser liegt im oberen äußeren Stirnhirn. Er ist Hauptsitz der allgemeinen Intelligenz und des Arbeitsgedächtnisses. Letzteres bildet den Strom unseres Bewusstseins ab – der Gedanken, die wir gerade in diesem Moment denken. Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun auf das Unbewusste, das sich über den Neocortex hinaus vor allem auf die tieferen Hirnregionen erstreckt – die Ebenen des limbischen Systems.