Jan & Julia in Dinkelsbühl - Gerfrid Arnold - E-Book

Jan & Julia in Dinkelsbühl E-Book

Gerfrid Arnold

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Beschreibung

Wer möchte schon nichts von Geistern, Schätzen, habgierigen Betrügern und Hexen in einer alten Stadt wissen? Die Geschwister Jan und Julia verbringen ihre Ferien bei Oma und Opa in Dinkelsbühl. Jan geht in die 4. Klasse, Julia in die 6. Da sind kleine Reibereien an der Tagesordnung. Mit Opa unternehmen sie Stadttouren. Er kennt gruselige Schauplätze, wo es spukt, er erzählt auch vom Spitznamen "Blausieder" und dem Heimatfest "Kinderzeche". Ganz nebenbei werden vergangene Zeiten lebendig. Jan und Julia entdecken auf Schritt und Tritt Geschichte pur, denn Opa weiß überall spannende, kleine Geschichten und erklärt interessante Gebäude. Und in der Adventszeit dreht sich bei Oma und Opa alles um Christoph von Schmid, den Dichter des weltbekannten Weihnachtslieds "Ihr Kinderlein, kommet". Er ist in Dinkelsbühl geboren, sein Denkmal steht auf dem Marktplatz. Sie besuchen die Orte, wo er war und hören etwas von seinen Erlebnissen und Erzählungen. Als Lehrer und Dinkelsbühler Stadtarchivar bringt Gerfrid Arnold sein fundiertes Wissen pädagogisch der Jugend nahe. Ein unterhaltsamer Stadtführer für die ganze Familie: 70 Stationen zum Lesen und Schmunzeln. Stadtpläne und Straßenangaben erleichtern die Orientierung. Mit vielen Bildern.

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Inhaltsverzeichnis

Gruseltour

Station, Weißer Turm, Oberer Mauerweg / Dönersberg Das Turmherrle

Station, Oberer Mauerweg und Kapuzinerweg Der Thomasreiter

Station, Ellwanger Straße 3, Zu den drei Linden Die toten Lämmer

Station, Stadtteil Segringen Der coole Frisörlehrling

Station, Dreikönigskapelle, Adlergässlein 1 Die Gebeine der drei Weisen

Station, Jugendherberge, Koppengasse 10 Das Kornmännle

Station, Am Rossbrunnen, Rossbrunnengasse Die Rossbrunnenelse

Station, Rossbrunnen, Rossbrunnengasse Das Wodansheer

Station, Untere Schmiedgasse, Russelberggasse, Pfluggasse, Obere Schmiedgasse Totschlag bei den Schmieden

Station, Faulturm, am Stadtpark Ein Kriminalfall

Station, Spital, Dr.-Martin-Luther-Straße 6 b Die Schlange Serpentina

Station, Spital, Dr.-Martin-Luther-Straße 6 a Der Kellergeist

Station, Bleiche, Nikolaus-Eseler-Straße Blutige Wäsche

Station, Bechhofener Straße, Bahneinschnitt Der geköpfte Läufer

Station, Altes Rathaus, Altrathausplatz 14 Der Blausieder

Station, Altes Rathaus, Altrathausplatz 14 Der Schneeweiße Rat

Station, Altes Rathaus, Altrathausplatz Die Kinderzeche

Station, Stadtteil Seidelsdorf, Knorrenmühle Der Feuergeist

Station, Karmeliterkloster, Klostergasse 1 Der Dinkelbauer

Station, Karmeliterkloster, Klostergasse 1 Der Klosterschatz

Station, Wethgasse Weißes Schaf und schwarzer Hund

Station, Mönchsrother Straße, vor dem Nördlinger Tor Die zwölf Gartenjungfern

Station, Nördlinger Straße – Deutschhofberg Wunderbrünnle und Hungerbrünnle

Station, Münster St. Georg Das Ratsglöcklein

Station, Münster St. Georg Die seltsame Anna Hosanna

Station, Münster St. Georg Spuk im Münster

Station, Münster St. Georg Maria schwitzte Blut

Station, Münster St. Georg Die ohrfeigende Orgel

Station, Kirchhöflein 4 Die zwölf Silberapostel

Stadttour

Station, Segringer Straße 37 Herr von Goethe und die drei Mohren

Station, Spitalgasse Von einer Prinzessin und zwei Stadtmauern

Station, Bleichspielplatz Eine Wiese zum Bleichen

Station, Spitalhof Eine Maschine aus Holz PS oder Menschenstärke

Station, Am Rothenburger Weiher Robin Hood im Stadtpark?

Station, Altrathausplatz Von blauen Zipfeln, Karpfen und Dieben

Station, Altrathausplatz 14, Segringer Straße 30 Aufstand am geilen Montag

Station, Muckenbrünnlein 11 und 13 Haus und Stadel des Scharfrichters

Station, Spitalhof Die abgehackte Hand

Station, Rothenburger Tor Die Hexen von Dinkelsbühl

Station, Föhrenberggasse 38 Wo die Rösser mahlten

Station, Mönchsrother Straße 1 Die Stadtmühle Rechnen wie die Römer

Station, Schranne, Weinmarkt 7 Von Kornspeichern und einer unanständigen Bürgermeisterin

Station, Deutsches Haus, Weinmarkt 3 Ein Weingott und sieben falsche Planeten

Station, Föhrenberggasse 30 Das Rokokoschloss vom Deutschen Orden

Station, Klostergasse 19 Ein Plumpsklo zwischen den Häusern

Station, Rothenburger Weiher Den Feind im Zwinger bezwingen

Station, Stadtparkruine Vorsicht Fälschung! War der Schwedenkönig hier?

Station, Stadtparkgraben 30 Jahre Krieg Und die Kinder zechten Bier und Brot

Station, Oberer Mauerweg 2, 4, 6, Auch Dinkelsbühl hatte Soldaten

Station, Oberer Mauerweg Türme, Türme, Türme

Station, Dreikönigskapelle, Adlergässlein 1 Schwarze Vögel mit zwei Köpfen

Station, Münster, Marktplatz 1 Wer wohnte auf dem Münsterturm? Feuer und Wasser

Station, Münster St. Georg Die Münster-Euroscheine

Christoph-von-Schmid-Tour

Station, Chr.-von-Schmid-Denkmal, Marktplatz Von einem Denkmal und goldenen Nüssen

Station, Café am Münster Von Weihnachtskleidern und langen Hosen

Station, Chr.-von-Schmid-Denkmal, Marktplatz Ein halbes Denkmal für Kinder

Station, Daheim Die Abendsuppe

Station, Daheim „Ihr Kinderlein, kommet“

Station, Daheim „Ihr Kinderlein, kommet“ geht um die Welt

Station, Klostergasse 19 Das Geburtshaus Geisterstreiche

Station, Klostergasse 19 Weihnachtsabend beim Stophele

Station, Föhrenberggasse 30, Deutschordensschloss Trommelschuss und Perückenpomade

Station, Kirchhöflein 6, Klostergasse 1 Schulstreiche im Kloster

Station, Altrathausplatz 4 In der Lateinschule

Station, Altrathausplatz 14 Zu Besuch bei C. v. S. im Haus der Geschichte

Station, Dr.-Martin-Luther-Straße 5 Auf der Flucht nach Ägypten

Station, Spitalgasse, Spital Ein gespenstisches Rätsel im Schnee

Station, Daheim Eine Weihnachtsgeschichte Paul Arnold

Station, Marktplatz, Münster Geheimnisvolle Weihnachtsmusik beim Löwenbrunnen

Station, Münster Bei der Krippe

Gruseltour

Opa wusste eine ganze Menge über Dinkelsbühl. Er hatte viel in Büchern über die uralte Stadt gelesen, er wusste jeden dunklen Winkel zwischen den engen Häusern. Und als seine Enkelkinder Jan und Julia in den Herbstferien zu Besuch kamen – Jan ging in die vierte Grundschulklasse, seine Schwester Julia in die sechste Klasse Gymnasium – machten sie eine richtige Gruseltour.

Opa hatte alles Nötige dabei: Einen Stadtplan, auf dem er ihren Standort einzeichnete, ein Notizbuch, in das er allerlei geschrieben hatte und das er mal von vorne nach hinten und mal von hinten nach vorne durchblätterte.

Er kannte spannende Sagen und Spukgeschichten und wusste die Plätze und Gassen, in denen sich etwas Geheimnisvolles, Geisterhaftes oder Gruseliges ereignet haben sollte.

Und so waren alle zufrieden: Opa, weil er jemanden hatte, der ihm zuhörte, und dem er ein klein wenig Angst einjagen konnte. Und Jan und Julia, weil sie die gruseligen Orte cool fanden und dabei manchmal ein klein wenig erschraken und eine Gänsehaut bekamen. Aber das gaben sie nicht zu.

„Merkt euch, Kids“, sagte Opa und hob seinen Zeigefinger in die Höhe, „in jedem Spuk und in jeder Sage steckt ein Körnchen Wahrheit. Die Leute haben aus einem wahren Ereignis etwas Geheimnisvolles gemacht, weil sie sich viele Dinge nicht erklären konnten und abergläubisch waren. Und deshalb kann man nebenbei über Dinkelsbühl und die Bürger von früher manches lernen. Geisterspuk gibt es in Dinkelsbühl natürlich ebenso wenig wie anderswo auf dieser Welt.

Die Kids lachten. „Wir glauben jedenfalls nicht an Geister und so Zeug!“, behaupteten sie.

Zuhause bei Oma zeichneten sie, was sie erlebt hatten.

1. Station

Weißer Turm, Oberer Mauerweg / Dönersberg

Das Turmherrle

Es war Samstagmorgen. Sie saßen gemütlich beim Frühstück als im Radio der Wetterbericht durchgegeben wurde. In der Region waren Windböen mit Schauern gemeldet, aber hin und wieder sollte auch die Sonne durch die Wolken kommen.

„Gemischtes Wetter!“, rief Opa munter. Gerade richtig für unsere Gruseltour. Bei strahlendem Sonnenscheinlässt sich der beste Geist nicht blicken.“

„Nee“, meinte Julia und warf einen Blick durch das Fenster auf den düsteren Himmel. „Wollen wir bei dem schlechten Wetter echt raus?“

„Faule Jule, faule Jule“, spottete Jan, „willst du vielleicht den ganzen Tag daheim rumhocken und Däumchen drehen?“

Ehe Julia ihrem kleineren Bruder einen Rippenstoß verpassen konnte, hob Opa beschwichtigend die Hand: „Peace, Kids! Ihr werdet sehen, es wird ein aufregender und unheimlich spannender Tag. Los! Zähne putzen, warme Pullover und Anoraks anziehen! Ihr könnt Omas Regenschirme mitnehmen. Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung!“

„Nee“, meinte Jan, und ahmte seine Schwester nach. „Wollen wir jetzt echt unsere Zähne putzen?“

Da musste auch Julia lachen. „Okay, meinetwegen. Aber wenn es zu nass wird, gehen wir irgendwo rein, Opa! Versprochen?“

„Okay“, brummte Opa gutmütig. „Bildung hat eben ihren Preis.“

So zogen sie nach einer Weile los. Den ersten Halt machte Opa am Weißen Turm.

„Hier beginnt unsere Gruseltour“, begann er. „Der weiße Turm ist viel mächtiger als die anderen Türme am Oberen Mauerweg, wie ihr seht. Schaut ihn genau an, es fällt euch sicher etwas auf!

„Da ist eine kleine Holztür am Turm, mit einem Warnschild auf dem ein Blitz ist. Im Turm ist Elektrizität“, bemerkte Jan.

„Und der Turm ist zugemauert“, rief Julia. „Der hatte früher ein spitzes Tor.“

„Bingo!“, lobte Opa. „Es ist genau so groß wie die anderen Dinkelsbühler Tortürme, es war einmal ein Torturm. Aber nicht lange. Der Berg ist sehr steil, und man musste eine Holzbrücke über den Stadtgraben bauen.“

Opa senkte seine Stimme geheimnisvoll.

„Am Weißen Turm ist es nicht geheuer. Hier treibt sich ein alter Mann mit weißem Bocksbart herum. Man bemerkt, dass er hinkt: Sein linker Fuß ist von einem Ziegenbock.

„Und wer ist das?“, fragte Jan.

„Es ist das Turmherrle, das hier rumlungert und auf leichtgläubige Menschen wartet.

Als der Weiße Turm noch ein Stadttor war, kam ein armer Bursche daher. Es war schon dämmrig, die Nacht brach eben herein und der Wind pfiff und zog durch das Tor.“

„So wie jetzt“, meinte Julia und zog den Reißverschluss vom Anorak bis zum Hals hinauf.

„Mit einem Mal spürte der Bursche eine Grabeskälte. Der Böse hockte in der Durchfahrt in der Wächternische und rief: He, kannst du einen Haufen Geld brauchen? – Das wäre nicht schlecht, seufzte der Bursche. Er zog seinen Geldbeutel hervor und drückte ihn zusammen, als wolle er eine Münze herauspressen.“

Opa ballte seine Faust und hielt sie den Kids vor die Nase, als wollte er einen Euro herauspressen. „Aber der Geldbeutel war total leer.“

„Da erwiderte der Teufel: Das ist gleich passiert, du brauchst mir nur deinen kleinen Finger geben und mit deinem Blut den kleinen Zettel da unterschreiben.

Der Bursche zögerte nicht lange, riss sein Messer vom Gürtel und gab es dem Teufel. Ratsch, schnitt er ihm das letzte Fingerglied ab. Mit schmerzverzerrtem Gesicht krakelte der Bursche mit dem blutigen Stumpf seinen Namen hin.“

Opa meckerte wie ein Ziegenbock los, sodass Julia und Jan erschrocken zusammenfuhren.

„Höhnisch warf ihm der Ziegenbärtige einen prall gefüllten Lederbeutel zu: Und vergiss nicht! Deine Seele gehört jetzt mir!

Der junge Bursche lief davon, er gab nicht viel auf das Geschwätz des Alten. Er ließ es sich gut gehen und lebte in Saus und Braus. Eines Tages war er spurlos verschwunden. Keiner wusste wohin, keiner hat ihn je wieder gesehen.

Aber das Turmherrle, das soll immer noch sein Unwesen am Weißen Turm treiben und nach einem dummen Opfer Ausschau halten, das ihm seine Seele verkauft.

Opa ging zum Turm und schlug mit der flachen Hand auf die Holztür, dass es dröhnte.

„Diese Türe wurde vor rund 200 eingebaut und das Tor wurde mit Steinen zugemauert. Ein Junge hatte sich nämlich im Turm in den Finger geschnitten, weil ihm andere dafür Geld gaben.“ „Vielleicht hat er geglaubt, dass ihn das Turmherrle erscheint und ihn reich macht“, lachte Jan, „ganz schön dumm!

„Und was ist an der Sage wirklich wahr?“, wollte Julia wissen.

Opa zog die Stirn kraus.

„Vielleicht kam es den Leuten merkwürdig vor, weil das Tor da war und es nicht benutzt wurde. Vielleicht trieben sich nachts Jugendliche darin herum.

„Weiter, sagte Jan. Weiter zum nächsten unheimlichen Ort.“

2. Station

Oberer Mauerweg und Kapuzinerweg

Der Thomasreiter

Es fing an leise zu regnen und Jan und Julia zogen ihre Kapuzen über die Köpfe. Langsam gingen sie am Oberen Mauerweg an einigen Türmen vorüber. Kurz vor dem Segringer Tor blieb Opa stehen.

„Stellte euch vor, es wäre Dezember und der Regen käme als Schnee herunter“, sagte er.

Julia schüttelte sich. „Brrr, es ist auch so schon ungemütlich genug, Opa.“

Sie drückten sich an die Stadtmauer, die vor dem Regen Schutz gab.

„Genauer gesagt, wenn es der 21. Dezember wäre“, fuhr Opa fort, „wäre es nicht klug hier und auf dem Kapuzinerweg auf der anderen Seite vom Segringer Tor nachts spazieren zu gehen.

„Warum denn gerade an dem Tag?“

„Am 21. Dezember ist Wintersonnwende. Die Tage werden von da an wieder länger. Das war für die Menschen früher von großer Bedeutung. Deshalb ist dieser Tag von jeher ein Tag voller Geheimnisse. Die Spukgestalten beginnen mit ihrem Unwesen. In den Winternächten, in denen das alte Jahr vergeht und das neue sich ankündigt, kämpfen die finsteren Mächte mit den guten Geistern des Lichts um die Vorherrschaft. Und die Helligkeit gewinnt von Tag zu Tag.

Der 21. Dezember ist auch der Namenstag des ungläubigen Jüngers Thomas, der nicht an die Auferstehung Jesu glauben wollte. Er legte seinen Finger in die Wundmale, um es zu spüren.“

Opa senkte seine Stimme geheimnisvoll.

„Schon mehrere Leute haben den Thomasreiter am Stadtmauerweg gesehen. Seine lange, magere Gestalt hockt zusammengekrümmt auf einer knochigen Schindmähre, die sich müde dahinschleppt.“

Opa zog seinen Kopf ein und seine Schultern hoch und krümmte sich zusammen. Mit einem Bein stampfte er dreimal auf den Boden, und noch dreimal und wieder im gleichen Rhythmus: Bum, bum, bum – Bum, bum, bum – bum, bum, bum.

„Seinen Kopf trägt der Thomasreiter unter dem rechten Arm und sein alter Gaul hat nur drei Beine, das vierte fehlt.

Mit dumpfem Hufenschlag geht es den Oberen Mauerweg entlang bis zum Segringer Tor, hinter der Dreikönigskapelle vorbei zum Kapuzinerkloster hinauf. Dort wendet er seine klapprige Mähre und reitet dieselbe Strecke im grusligen Dreiertakt zurück: Bum, bum, bum – bum, bum, bum – bum, bum, bum.

Wer hier in dieser Nacht unterwegs ist, der sollte an den Thomasreiter denken. Es ist besser, wenn man auf eine Begegnung mit ihm gefasst ist – sonst stolpert man über einen Pflasterstein und bricht sich ein Bein oder man erschreckt sich zu Tode.“

„Und was ist wahr dran?“, wollte Julia wissen.

„Hmm“, machte Opa und schwieg eine Weile, weil er nachdachte.

„Wenig“, sagte er dann. Vermutlich sollten die Leute nachts nicht hierher gehen. An der Stadtmauer war sozusagen eine schlechte Gegend, wo man sich besser nicht aufhielt.“

3. Station

Ellwanger Straße 3, Zu den drei Linden

Die toten Lämmer

Opa lenkte seine Schritte durch das dunkle Segringer Tor hinaus und über die Brücke, unter der in der Tiefe der Stadtgraben lag. Beim ersten Haus links, das im Schatten von drei alten, hohen Bäumen lag, stellten sie sich unter. Er zeigte mit der Schirmspitze nach oben.

„Das sind drei Linden, und das Haus war früher einmal eine Gastwirtschaft mit Metzgerei, und wenn es noch eine wäre, könnten wir jetzt im Biergarten sitzen, anstatt uns die Beine in den Bauch zu stehen.“

„Nicht bei dem Nieselwetter“, wandte Julia ein. „Und warum stehen wir hier herum?“

„Es geht um eine höchst spannende Begebenheit. Der eigentliche Spuk fand an der Dinkelsbühler Straße nach Bechhofen statt. Im Mutschachwald steht gleich neben der Straße das so genannte Weiße Kreuz, eine hohe weiße Säule. Früher begann dort das Gebiet der Reichsstadt Dinkelsbühl, und genau an dieser Stelle war damals eine Wegekreuzung.

„Erzähl schon die Sage, Opa!“ Jan war neugierig geworden.

„Das war so: Zur Osterzeit fuhr der Metzgermeister von da drin“, er nickte mit dem Kopf zum Haus, „regelmäßig mit dem Pferdefuhrwerk nach Halsbach, um beim Dorfschäfer Lämmer für das Osterfest zu besorgen.

Einmal hatte er einen besonders guten Handel abgeschlossen und als Dreingabe ein kleines Lämmchen geschenkt bekommen. Es blökte vor Angst jämmerlich. Deshalb behielt er es bei der Heimfahrt auf seinem Arm.

Es war so ein düsteres Wetter wie heute und es begann schon dunkel zu werden. Da leuchtete ihm im Mutschachwald das Weiße Kreuz hell entgegen.

Plötzlich! Vor seinem Fuhrwerk überquerten drei sonderbare Frauen langsam die Straße. Es waren vornehme Bürgerinnen aus vergangener Zeit. Von Kopf bis Fuß in altmodische weiße Gewänder gehüllt schritten sie schweigend in den finsteren Wald.

Neugierig gaffte der Metzgermeister der eigenartigen Erscheinung nach. Auf einmal drehte sich die letzte der drei weißen Frauen beim Weißen Kreuz um.

Ja, wir sind unser drei, sagte sie ernst.

Der Metzger lachte und rief: Von mir aus! Wegen mir könnt ihr auch zu viert oder fünft in der Mutschach spazieren gehen! Das ist mir Wurst!

Da fuhr ein greller Lichtstrahl vom Himmel und blendete den groben Metzger. Starr und steif saß er auf seinem Bock und konnte keinen Finger mehr rühren. Die Pferde bäumten sich auf und stiegen in die Höhe, aber der Wagen bewegte sich keinen Millimeter von der Stelle.

In seiner Not fiel dem Metzgermeister ein Stoßgebet ein. Das hatte ihm seine Mutter vorgesagt, wenn er nachts schlecht träumte und ihn ein Albtraum plagte.

Alle guten Geister lobet Gott, den Herrn, brachte er stotternd heraus.

Da war der Spuk verschwunden.

Die Pferde waren jetzt nicht mehr zu halten. Sie stürmten zur Mutschachgaststätte hinunter und zur Wilhelmshöhe hinauf, zur Wörnitzbrücke wieder runter, durch die Stadt und den Segringer Berg wieder rauf, bis sie über und über mit Schweiß bedeckt hier vor der Wirtschaft zu den drei Linden erschöpft stehen blieben.

Auf dem Wagen lagen die Schafe alle tot übereinander. Der Metzgermeister war kreidebleich, als ob kein Blutstropfen in seinen Adern mehr wäre. Im Arm hielt er das Lämmchen. Es atmete, es war am Leben geblieben.“

„Na ja“, meinte Julia. „Der Metzger hat seine Lämmer wirklich geholt und wahrscheinlich waren sie auch tot. Vielleicht war es ein Gewitter ohne Regen, vielleicht war es ein Blitz.“

„Ein Kugelblitz!“, rief Jan, „voll cool!“

„Möglich“, antwortete Opa. „Der wahre Kern ist vielleicht, dass im Stadtgebiet Banden Vieh stahlen. An der Stadtgrenze gab es zum Schutz den so genannten Landgraben. Vielleicht sollte beim Weißen Kreuz die Sage von den drei weißen Frauen die Viehdiebe abschrecken.“

Und weil Jan und Julia schwiegen, sagte Opa nach einer Pause: „Mir fällt da gerade eine aufregende Geschichte ein, die zwar nichts mit Spuk zu tun hat, aber sie hat sich in Segringen zugetragen, von dem dieses Stadttor hier seinen Namen hat.“

4. Station

Stadtteil Segringen

Der coole Frisörlehrling

„Kommt“, sagte Opa, „wir sehen uns Segringen an, in der dortigen Gaststätte hat sich eine gefährliche Geschichte zugetragen.“

„Wir wollen doch nicht etwa bis in das Dorf gehen? Nicht wirklich!“, rief Julia entsetzt.

Auch Jan war über diesen Vorschlag nicht erfreut. „Ach nee, Opa. “

„Keine Angst, wir gehen nur ein paar Schritte vom Segringer Tor auf der Ellwanger Straße entlang. Das Dorf liegt auf der Anhöhe.“

Schon nach einer Minute konnten sie tatsächlich in der Ferne den Ort liegen sehen.

„Diese Geschichte“, begann Opa, „handelt von einem Frisörlehrling, der so cool war, dass es gar nicht cooler geht. Eiskalt. Die Sache erregte viel Aufsehen. Bald danach wurde sie vom berühmten Kalendergeschichtenschreiber Johann Peter Hebel abgedruckt. Und der Dichter Adelbert von Chamisso hat ein Gedicht, eine Ballade, daraus gemacht.“

„Erzähl, Opa!“, rief Jan. Der coole Lehrling interessierte ihn brennend.

„Das Ganze passierte im Spätherbst des Jahres 1807. Ein fremder Offizier, der sich verirrt hatte, trabte auf seinem Pferd durch das Dörflein Segringen. Er war kreuz und quer durch die Ellwanger Wälder geritten und stieg nun schlecht gelaunt vor der Unteren Wirtschaft ab. Er hatte wilde schwarze Haare und trug einen wüsten Bart.

Noch ehe er sich etwas bestellte, ließ er vom Wirt den Barbier von Segringen holen. Ihm rief der Fremde zu: Nimm mir den Bart ab, ich zahle vier Taler dafür!“

Der Barbier staunte nicht schlecht, denn das war eine Menge Geld und für das Abrasieren eines Bartes viel zu viel.

Da legte der Fremde einen spitzen, blitzblanken Dolch auf den Tisch: Aber Vorsicht! Ich bin kitzlig. Wenn nur ein Tropfen von meinem Blut fließt, steche ich dich auf der Stelle tot. Du wärst nicht der erste!

Der Meister sah den Dolch auf dem Tisch und sah in die eiskalten Augen des Fremden. Nein, dachte er sich, ich will noch ein bisschen leben. Er machte kehrt und rief seinen Gesellen.

Dem machte der Fremde das gleiche Angebot.

Als der Geselle gehört hatte, worum es ging, sprang er schnell zur Türe hinaus und schickte den Lehrling in die Wirtsstube.

Als der von den vier Talern Lohn hörte, sagte er sich: Donnerwetter, das ist eine Menge Geld! Da kann ich mir eine neue Jacke kaufen und auf die Kirchweih gehen und mir noch eine schöne Kinderzeche in Dinkelsbühl machen. Und wenn ich ihn dabei schneiden sollte, dann weiß ich schon was ich tu.“

„Was denn, Opa?“, wollte Jan neugierig wissen.

„Das wirst du gleich hören, wenn du deinen Mund hältst!“, sagte Julia.

„Seelenruhig klappte er das Rasiermesser auseinander und wetzte es am Lederriemen scharf, schlug das Seifenwasser im Becken schaumig und rasierte den gefährlichen Kunden, der seine Beine gemütlich von sich gestreckt dasaß. Er schabte um die Ohren und die Nase drauf los, als ginge es nur um drei Groschen und nicht um vier Taler oder sein Leben.

Der fremde Offizier hielt still und zuckte nicht eine Sekunde und der coole Lehrling nahm ihm den Bart ab ohne ihn zu schneiden.

Nachdem sich der Offizier den Schaum aus dem Gesicht gewischt und zufrieden in den Spiegel geschaut hatte, zählte er dem Jungen die vier Taler in die Hand.

‚Sag mir nur das eine’, meinte er schmunzelnd, ‚der Geselle und der Meister haben es nicht gewagt mir den Bart abzunehmen. Wieso warst du so mutig? Nur ein winziger Schnitt – und ich hätte dich erstochen!’

Der Lehrjunge verbeugte sich und dankte für die vier Taler. Dann gab er zur Antwort: ‚Ich wäre schneller gewesen. Mein Rasiermesser war nahe beim Hals.’

Da merkte der Fremde, in welcher Gefahr er sich befunden hatte und wurde leichenblass. Nachdenklich griff er in seine Börse und gab dem Barbierlehrling einen Taler extra, weil er ihn so geschickt rasiert hatte.

„Da hat der fremde Offizier ganz schön Glück gehabt“, fand Jan.

„Dem wär recht geschehen“, ereiferte sich Julia. „So ein fieser Kerl! Der hat die anderen mit dem Tod bedroht.“

„Na ja“, meinte Opa, „ich nehme an, es war ein schlechter Scherz, den sich der Fremde erlaubt hat. Der hätte allerdings leicht schief gehen können. Für beide. Der Fremde wäre mit durchgeschnittenem Hals sofort verblutet und den coolen Frisörlehrling hätte man am Galgen aufgehängt.“

5. Station

Dreikönigskapelle, Adlergässlein 1

Die Gebeine der drei Weisen

Sie kamen durch das Segringer Tor in die Stadt zurück. Opa deutete mit der Hand auf ein kleines Kirchlein, das halb in den hinein Berg gebaut war. Mit dem weit herabgezogenen Dach und den seltsam geformten Ziegeln, so genannten Mönchen und Nonnen, sah es wunderlich aus.

„Das ist die Dreikönigskapelle. Wir gehen in den ehemaligen Turm daneben, da ist es trocken. Heute ist er eine Kriegergedächtniskapelle.“

„Und was für eine Sage gibt es da?“

„Eher eine Legende, weil es um Heilige geht. Wie jeder weiß, folgten die drei Weisen aus dem Morgenland dem Stern von Bethlehem, der einen neuen König ankündigte, und brachten dem Jesuskind in der Krippe Geschenke.

Nach ihrem Tod kamen ihre Gebeine in den Dom der italienischen Stadt Mailand. Aber als der deutsche Kaiser Friedrich Barbarossa die Stadt zerstört hatte, nahm sein Kanzler die kostbaren Reliquien als Kriegsbeute mit heim; denn er war zugleich auch der Erzbischof von Köln.

So wurden die Knochen der drei heiligen Könige Kaspar, Melchior und Balthasar im Sommer des Jahres 1164 sorgfältig in einen Eichensarg gebettet und auf ihre letzte Reise geschickt. Von gut bewaffneten Kriegsknechten begleitet rumpelte der Planwagen über die Alpen.

Der Weg nach Köln führte über Dinkelsbühl, und man rastete hier, weil der Ort rundum befestigt war und dem Kaiser gehörte. Da waren die unschätzbar wertvollen Gebeine sicher. Hier, am Segringer Berg, rasteten sie.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht. Alt und Jung versammelten sich aufgeregt auf den Marktplatz. Bei der Kirche bildete sich eine Prozession, und Schritt für Schritt zogen die Leute den Berg hinauf. Mit gefalteten Händen fielen sie vor dem Sarg auf die Knie nieder und beteten.

Später bauten die frommen Dinkelsbühler dort, wo die drei Weisen aus dem Morgenland abgesetzt worden waren, die Dreikönigskapelle.

Und seit drei oder vierhundert Jahren, ziehen fromme Bürgerinnen und Bürger am frühen Morgen des Dreikönigstags hierher. Ihre einzigartige Lichterprozession erinnert an die letzte Reise der weisen Sterndeuter aus dem Morgenland. In Dinkelsbühl gibt es sogar eine Monstranz mit winzigen Knochenteilen der drei Heiligen Caspar, Melchior und Balthasar.“

Und weil Opa aufhörte zu reden, fragte Jan: “Cool, hat hier echt der Sarg mit den Leichen gestanden?“

„Dummerjan“, antwortete Julia, „nur die Knochen, das Fleisch war längst verwest.“

„Na ja, “ meinte Opa, „vielleicht, vielleicht auch nicht. Wahr ist jedenfalls, dass damals eine wichtige Straße von Italien zur Nordsee über Dinkelsbühl führte. Ob aber die Gebeine tatsächlich je in Dinkelsbühl waren, weiß niemand.“

„Ich weiß etwas“, sagte Julia: „Es hat aufgehört zu nieseln.“

6. Station

Jugendherberge, Koppengasse 10

Das Kornmännle

Von der Dreikönigskapelle gingen sie am uralten, schief gewordenen Mesnerhaus vorbei und standen nach wenigen Schritten in der Koppengasse vor einem riesigen Gebäude.

„Wow, das ist ein Bau, schönes Fachwerk“, meinte Jan.

„Und in der Hausmitte ist ein großes Tor“, ergänzte Julia.

„Am Kapuzinerweg, zur Stadtmauer hin, ist noch so ein großes Tor. Die heutige Jugendherberge war nämlich ein Kornspeicher, der so genannte Obere Kasten. Als die Reichsstadt Dinkelsbühl sich selbst regierte, sorgte sie dafür, dass die Bürgerschaft genug Brot zum Essen hatte. Deshalb besaß die Stadt mehrere große Getreidespeicher.“

„Und über die erzählst du uns bestimmt gleich eine höchst spannende Sage, oder?“, lachte Jan.

„Frechdachs! Für diejenigen, die hier wohnen, sogar eine ganz unheimliche Geschichte. In gewissen Nächten ist in der Jugendherberge nämlich ein eigenartiges Rollen und Plumpsen, ein leises Ächzen, Stöhnen und ein furchtbares Fluchen zu hören.

Um zwölf Uhr Mitternacht, wenn in den Gassen alles finster und still ist und der letzte Glockenschlag vom Münsterturm verhallt ist, beginnt auf den sieben Getreideböden eine geheimnisvolle Person zu arbeiten. Zum Glück dauert der Lärm nicht lange, dann ist es in der Jugendherberge wieder ruhig.

Und die alten Leute, die noch Bescheid wissen, sagen scheu zueinander: Das ist das Kornmännle, das umgeht! Das ist ein ehemaliger Kastner, der im Oberen Kasten verantwortlich war und alles in einem Buch aufschrieb.

„Und warum muss er noch heute herumspuken?“, fragte Jan gespannt.

„Warum ist die Banane krumm?“, gab Julia zur Antwort. „Er findet keine Ruhe, ist doch logo.“

„Und warum nicht?“, fragte Jan wieder.

„Warum, warum! Weil sie sonst nicht in die Schale passt!“, rief Julia. Das ist doch ein uralter Witz mit so einem Bart.“ Sie zeigte mit der Hand vom Gesicht bis zum Boden.

„Ich meine das Geistern, du dumme Gans, nicht deine doofe Banane!“, gab der zurück.

„Hört zu!“, lenkte Opa ab. „Es war in einem Jahr, in dem essehr viel geregnet hatte. Das Getreide wurde am Halm schwarz und verfaulte. Es gab eine Missernte und danach eine schlimme Hungersnot.

Der Kastner dachte: Heuer wird das Getreide teuer, da kann ich eine Menge Geld machen! Heimlich brachte er Nacht für Nacht einen halben Sack vom Getreidevorrat beiseite und bereicherte sich an der Not der anderen.

Gemerkt hat es keiner, erwischt hat man den untreuen Verwalter nicht. Aber Gottes Mühlen mahlen langsam: Seit seinem Tod muss er für seine Habsucht schwer büßen.

In den Nächten muss er seinen Diebstahl ungeschehen machen. Er soll das gestohlene Getreide mit der Sackkarre an Ort und Stelle zurückschaffen. Er muss genau den Sack zurückkarren, den er damals fortgeschleppt hat. Weil es aber auf den Getreideböden stockfinster ist und ein Sack ausschaut wie der andere, ist das unmöglich. Und weil es in der Jugendherberge längst keine Getreidesäcke mehr gibt, wird man das Kornmännle noch lange dort rumoren hören.“

„Da möchte ich lieber nicht in der Jugendherberge übernachten“, meinte Jan.

„Du Dummerjan, das ist doch bloß eine Sage, das haben sich doch die Leute nur erzählt, weil es vielleicht einmal einen diebischen Verwalter gegeben hat!“, erklärte ihm Julia.

„Meinetwegen“, antwortete Jan. „Sicher ist sicher!“

7. Station

Am Rossbrunnen, Rossbrunnengasse

Die Rossbrunnenelse

„Wohin jetzt?“, fragte Julia.

„Zur Kindsmörderin!“, sagte Opa. „Zum Rossbrunnen!“

Sie gingen an der Stadtmauer den Kapuzinerweg entlang, am ehemaligen Kapuzinerkloster vorbei und bei der Kapuzinerkirche die breite, steile Treppe am Russelberg in die Stadt hinunter. Bis dorthin, wo die schmale Rossbrunnengasse rechts abbiegt. An ihrem Ende kamen sie auf ein kleines, verlassenes Plätzchen abseits der Hauptgasse. Oberhalb ziehen sich kleine Gärten den grünen Berghang hinauf zum ehemaligen Kapuzinerkloster. Jan und Julia standen abwartend beim Rossbrunnen und betrachteten interessiert die Holzteile, die in die Luft ragten und das gemauerte, zerbröckelnde Brunnenbecken.

„Solche Pumpbrunnen, die an einen Galgen erinnern, gab es früher viele in Dinkelsbühl“, begann Opa.

„Hier am Rossbrunnen ist es in der schönen Jahreszeit nicht ganz geheuer. In den warmen, schwülen Frühsommernächten, wenn die Natur üppig wuchert und die Rosen und Kräuter der Gärten betörend duften, dann sollten sich die Mädchen vor diesem Ort hüten.“

Jan stieß seine Schwester mit dem Ellbogen in die Seite: „Hörst du?!“

„Quatschkopf!“

„Einmal wohnte in der Rossbrunnengasse eine junge, hübsche Magd. Sie hieß Else, lachte gerne und war noch keine fünfzehn Jahre alt. Das Wasser für das Haus holte sie am liebsten erst am Abend. Dann traf sie sich heimlich mit einem jungen Burschen. Sie stellte ihre zwei Kübel auf den Brunnenrand und der Bursche pumpte mit dem Schwengel das Wasser aus der Tiefe. Das ging so lang gut, bis in einer heißen, gewittrigen Sommernacht aus dem lustigen Schwatzen bitterer Ernst wurde.

Sie stand Todesängste aus, als sie bemerkte, dass sie schwanger war. Sie konnte aber verbergen, dass sie ein Kind bekam.“

„Warum Todesängste?“, fragte Julia.

„Früher war das anders als heute“, erklärte Opa. „Eine Magd konnte nicht einfach heiraten, und eine ledige Mutter war eine Schande. Sie wurde vom Stadtknecht unter Schimpf und Spott der Leute mit Rutenschlägen zum Stadttor hinausgepeitscht.

Als es soweit war, brachte sie heimlich ihr Baby in einer Scheune zur Welt. Mutterseelenallein, an einem windigen, kalten Märztag.

Sie wartete bis es Nacht wurde, dann wickelte sie ihr Baby mitsamt einem schweren Stein in ein Tuch. Sie schleppte sich zum Rossbrunnen und legte das blutige Bündel schweren Herzens langsam auf das schwarze Wasser, wo es in die Tiefe sank.“

„Und hat es jemand gesehen?“, wollte Jan wissen.

„Der Kindsmord blieb unentdeckt. Aber die Magd hatte Gewissensbisse und litt ihr Leben lang unter der schlimmen Tat. Auch im Grab fand sie keine Ruhe. Nun treibt sie sich in den Sommernächten beim Brunnen herum, und weint um ihr Baby. Man kann sie dann heulen, seufzen und klagen hören.

Wenn sich ein leichtsinniges Mädchen mit ihrem Liebsten am Rossbrunnen trifft, springt sie ihm zur Warnung als Weibsgespenst auf die Schultern und wird von Schritt zu Schritt schwerer.

In dieser Nacht schläft das Mädchen schlecht und wälzt sich im Bett von einer Seite auf die andere; denn die Rossbrunnenelse bedrückt es mit düsteren Albträumen.“

„Merk dir’s!“, grinste Jan und stieß seine Schwester noch einmal mit dem Ellbogen in die Seite.

„Quatschkopf“, sagte Julia noch einmal. „Ich brauche mein Baby nicht umzubringen wie die arme Magd. “

8. Station

Rossbrunnen, Rossbrunnengasse

Das Wodansheer

„Es gibt noch eine andere Sage vom Rossbrunnen“, sagte Opa, „hier ist es auch im Winter nicht ganz geheuer.

Der Wechsel zwischen dem alten und dem neuen Jahr liegt nämlich genau in der Mitte von den zwölf Raunächten.“

„Opa, was sind die Raunächte?“, fragte Jan.

„Das hängt mit dem Wort Rauch zusammen, denn an diesen zwölf Tagen räucherte man früher das Haus aus. Damit wollte man alle bösen Geister vertreiben.“

„Moment mal“, sagte Julia, „dann beginnen die Raunächte nach dem Heiligen Abend.“

„Und enden am Dreikönigstag“, fuhr Opa fort. „In diesen Nächten soll man einen großen Bogen um den Rossbrunnen machen. Diese Zeit gehört dem Wilden Heer, das um Mitternacht hier vorbeitobt. Es ist die Zeit, in der die Germanen ihr Totenfest feierten. Da treibt Wodan mit seinem Gefolge sein Unwesen.

Wodan, der germanische Göttervater kündigt seine nächtliche Jagd mit einem Drudenwind an, einen Wirbelsturm, den die Wetterhexen und Windbräute für ihn machen. Ganz plötzlich ziehen Wolken vor den Mond zusammen und der Himmel wird finster. Hinter Wodan drein saust das Jagdgefolge durch die Luft und kommt mit einem Höllenlärm und lauten Huihui-Rufen über die Stadtmauer.

Da heult der Wind durch die Gassen und fegt den Schnee zu Haufen. Und vom Kapuzinerberg wirbeln gespenstische Gestalten herunter: Wodan auf einem achtfüßigen Schimmel, umschwirrt von schwarzen Raben, Weiber mit roten Flatterhaaren, die auf Besen und Ofengabeln reiten, teuflisch zusammengeflickte Wesen, halb Tier, halb Mensch, auf Ziegenböcken und kopflosen Schindmähren, Rad schlagende Feuermänner.

Dabei jodelt und johlt, pfeift und keift es, meckert, wiehert, bellt und gellt es, knurrt, kracht und knallt es, dass es in den Ohren schallt.

Alles geht blitzschnell und rasend geschwind, und ehe man den Spuk richtig wahrnimmt, ist er vorbei. Dann scheint der Mond blass vom Winterhimmel und am Rossbrunnen ist es wieder still und einsam.

Aber wehe dem, der es wagt, aus Neugier das wüste Treiben zu stören. Er kann froh sein, wenn er blau geschlagen und mit zerfetzten Kleidern am Leben bleibt.“

„Ist das echt schon jemanden passiert?“, fragte Jan.

„Es gibt einen Trick“, sagte Opa. „Wird man einmal von Wodan und dem Wilden Heer überrascht, muss man sich der Länge nach auf den Boden werfen und sein Gesicht in die Erde drücken. Wenn man dabei die Hände und die Füße über Kreuz legt, sausen Wodan und seine bösen Geister über einen weg.“

„Cool“, rief Jan. „Das muss ich mal zu Hause auf dem Teppich ausprobieren. Hier ist es mir zu schmutzig!“

„Wozu!“, rief Julia. Um Mitternacht bist du sowieso in deinem warmen Bett und knackst, du Schnarchzapfen!“

9. Station

Untere Schmiedgasse, Russelberggasse, Pfluggasse, Obere Schmiedgasse

Totschlag bei den Schmieden

Am Himmel zogen große Wolkenhaufen daher, zwischen denen blaue Fetzen zu sehen waren.

Opa sah hinauf: „Na also, das Wetter wird besser.“

Vom kleinen Platz beim Rossbrunnen kommend, folgten Opa, Jan und Julia der langen Bauhofstraße. Julia, die aufmerksam die Namensschilder der rechts abzweigenden Gassen gelesen hatte, blieb plötzlich stehen. „Zuerst ist die Untere Schmiedgasse weggegangen und hier ist eine Obere Schmiedgasse.“

„Gut beobachtet“, lobte Opa, „da warst du sehr aufmerksam.“ Früher hießen die dazwischen liegenden zwei Gassen die Mittleren Schmiedgassen. In der Gegend hier befand sich nämlich das Dinkelsbühler Schmiedeviertel.“

„Wow!“, rief Jan. „Vier Gassen mit Schmiedewerkstätten in so einer kleinen Stadt!“