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Am Ende des Zweiten Weltkriegs flieht die verwitwete Laura Prochaska vor den anrückenden Russen, muss aber nach einer sechswöchigen Irrfahrt in ihre Brünner Wohnung zurückkehren. Den nachfolgenden tschechisch-russischen Todesmarsch in Richtung Wien kann sie überleben. Im Brünn der k.u.k. Monarchie Österreich-Ungarn 1880 als Kind der angesehenen Familie Swadosch geboren, wird sie nach dem Ersten Weltkrieg mit Ehemann und drei Kindern tschechoslowakische Staatsangehörige und ist danach im Nazi Reichsprotektorat Böhmen und Mähren. Ihre Ruhestätte findet sie in einem Massengrab in Wien. Selbstbewusst und lebenslustig trotzt sie ihrem Schicksal. Eine deutsch-tschechische Geschichte, ein authentisches Kaleidoskop des Sudetenlands und einer Brünner Bürgerfamilie über zwei Generationen. Das handschriftliche Memorial der Laura Prochaska über ihre Flucht und Vertreibung 1945 aus Brünn ist eine ergreifende Schilderung des Kriegsunrechts. Es wurde von ihr unmittelbar nach der Vertreibung niedergeschrieben und ist als seltenes Zeitdokument wörtlich wiedergegeben.
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Seitenzahl: 90
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AM 30. MAI 1945
MUSSTEN DIE DEUTSCHEN
AUS BRÜNN UND DER SPRACHINSEL
IHRE HEIMAT VERLASSEN.
MÖGEN IN ZUKUNFT ALLE MNSCHEN IN EUROPA
IN FRIEDEN UND UNTER ACHTUNG
DER MENSCHENRECHTE LEBEN.
ERRICHTET VOM HEIMATVERBAND
DER BRÜNNER BRUNA
IM MAI 1995
(Gedenkstein in Deutsch und Tschechisch am Eingang zum Mendelanium im Altbrünner Klostergarten)
Dank
gilt meiner Frau Elisabeth.
Ohne sie wäre dieses Buch nicht entstanden.
Sie führte mich zu den meisten
der hier genannten Orte
in Tschechien und nach Brünn.
Laura Prochaska, zwanzigjährig, aufgenommen 1900.
Hochzeitsbild von Franz und Laura Prochaska 1909.
Erste Seite des Memorials.
Letzte Seite des Memorials.
*
Sie saß einfach da, fühlte sich zu erschöpft, um herumzugehen und etwas zu tun, damit sie zur Ruhe käme.
Sie hatte die Schuhe von den Füßen gestreift, die Ärmel ihres Kleides nach oben gekrempelt, saß einfach da am Küchentisch. Der Spätjuni hatte regelrechte Hitzetage gebracht und schwüles Wetter. Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, ihre erregte Nervosität.
Vertrieben, heimatlos, arm. Sie war verbittert, sie wollte nie mehr in ihr einst so geliebtes Brünn zurück, nie mehr durch die Straßen wandern.
Mühsam stützte sie ihre Hände auf die Tischkante und zog sich hoch, schlurfte über den kühlen Steinboden ins Zimmer.
Sie suchte nach Schreibpapier, sie musste sich die Sache von der Seele schreiben, sich beruhigen, wieder klar denken.
In der Kommodenschublade fand sie einen Füllfederhalter, halbleer, und ein kleines Haushaltsheftchen mit blau karierten Rechenkästchen, in dem einige Zahlenkolonnen mit Ausgaben für Lebensmittel standen.
„Das will eh keiner mehr wissen, alles bedeutungslos geworden“, dachte sie, „ohne Sinn, wer weiß, wo die Hilde ist.“
Vorsichtig riss sie die Heftpappe mit dem Titel „Haushaltung“ herunter, löste sorgsam die benützten Seiten von den beiden Heftklammern.
Über zwei Kästchenreihen hinweg schrieb sie auf das erste Blatt, gut leserlich in lateinischen Buchstaben:
Meine Flucht aus Brünn vor Kriegsende!
1945
Empört setzte sie ein Ausrufungszeichen. Darunter das Jahr 1945. Gedankenverloren starrte auf den Titel, dann rappelte sich auf und begann energisch in deutscher Schrift, die ihr geläufiger war, ihr Memorial zu schreiben.
Anfangs wollte ich immer zur Hilde nach Roggendorf, aber ich bekam keinen Durchlassschein, weil die Bahnen nur für Militär waren, und nachher, als ich den Schein bekam, konnte ich nicht mehr zur Hilde.
So entschloss ich mich am 16. April mit einem Auto gegen Iglau zu flüchten.
*
„Wie konnte es nur soweit kommen mit dir, Laura Josefa Swadosch?“
Im Jahr 1880 in Brünn geborene Swadosch – in Brünn, der Hauptstadt von Mähren, Teil der großen kaiserlichen und königlichen Monarchie Österreich-Ungarn, k.u.k.!
Und jetzt saß sie in Niederösterreich, im Bauerndörfchen Roggendorf, sechzig, siebzig Kilometer von Wien entfernt, im russisch besetzen Gebiet. Sie lebte hier im nicht benötigten Ausgedinge eines Hofes, die alten Bauersleute waren verstorben. Ihre Tochter Hildegard war im Januar 1944 aus Wien evakuiert worden und hatte es angemietet.
Immerhin hatte sie den berüchtigten Brünner „Todesmarsch“ überlebt. Eine ausgesprochene Kämpfernatur wie sie gab nicht auf. Sie war beherzt, hart im Nehmen, packte zu, war noch jeder Situation in ihrem Leben gewachsen gewesen.
In ihren Adern floss unverkennbar slawisches Blut. Das herabgezogene Mongolenlid, die schmalen Augen, braungrün gesprenkelt, eine hakige Nase und die hoch angesetzten Backenknochen ließen Zähigkeit und Willenskraft erkennen.
Heute bin fünfundsechzig Jahr alt und bin ohne Wohnung, ohne Pension, hab nichts als ein paar Habseligkeiten in einem Kofferl, von meinen Kindern weiß ich nichts.
Wie lange ich das aushalten werde, weiß ich nicht. Es muss doch endlich anders werden.
Wo werde ich mein müdes Haupt endlich in Ruhe niederlegen? Wohl nur im Grabe.
Anfang des Monats war sie fünfundsechzig geworden. Ihr immer noch langes, dichtes Haar, einst schimmerndes Kastanienrot, war von grauen Strähnen durchzogen.
Sie sah an sich herab und betrachtete ihre Kleidung. Sie, die sich ihre Kleider auch in schlechtesten Zeiten von der Schneiderin hatte nähen lassen; sie, die Schmuck über alles liebte, ihre Ohrgehänge stets farblich passend zur Kleidung wählte, sich für Bälle, Konzerte und Theater mit auffälligem Schick anzog, trug nicht einmal ihr eigenes Gewand. Alles war zu weit, hing an ihr wie ein Sack. Von einer Verstorbenen genommen. Sie, die immer großen Wert auf Benehmen und Erziehung gelegt hatte, saß da ohne Schuhe und Strümpfe, mit bloßen Füßen.
„Was werden nur die Leute sagen!“, war ihr geflügeltes Wort gewesen.
*
Eine geborene Swadosch, verheiratete Prochaska. Sie hatte ihr Leben in Brünn verbracht, zwei Generationen lang! In Brünn war sie auf die Welt gekommen, wie schon ihr Vater, Rudolf Johann Swadosch, und auch dessen Eltern hatten in Brünn gewohnt.
Als junger Mann war ihr Vater in der kaiserlichen Wiener Hofburg Gendarm gewesen, da musste er Junggeselle sein und bleiben. Als er dann ihre Mutter heiratete, die ernste Josefa Onderka aus Köhlersdorf (Kylesovice) bei Troppau (Opava) in Mährisch-Schlesien, war er zur Brünner Stadtpolizei gewechselt. So einfach war das in der Doppelmonarchie gewesen, im Kaiser- und Königreich Österreich-Ungarn.
„Und jetzt sind die Russen in Wien und ruinieren alles“, dachte sie, „und über die Grenzen kommt man nur mit Passierscheinen. Für alles und überall braucht man Scheine.“
Damals, bei der Hochzeit ihrer Eltern im Jahr 1879, war Brünn eine europäische Großstadt mit rund 100 000 Einwohnern gewesen. Die Stadtmauern hatte man geschleift, die Stadtgräben und Wälle eingeebnet, ein Grüngürtel und neunundzwanzig Vororte gehörten schon seit Jahrzehnten zur Stadt. Der Eisenbahnverkehr nach Wien war bereits 1839 eröffnet worden, Brünn galt als Vorort der Kaisermetropole, bald wurde die Bahnlinie von Brünn nach Prag weitergebaut. In der Stadt gab es eine Pferdebahn zum Bahnhof, und schon fünf Jahre nach der Hochzeit wurden die Pferde durch „Dampfrösser“ ersetzt.
Es war eine bevorzugte Dienststelle, die der Vater da in der Hauptstadt Mährens erhalten hatte. Seit über hundert Jahren war Brünn der Sitz des Kriminal- und Appellationsgerichts für ganz Mähren.
„Und schnell musste es gehen“, dachte Laura amüsiert, „als sie heiraten mussten, es war kein Jota anders als bei mir und meinem Franzl.“
In ihrer Familie schien es üblich zu sein, dass sich die Frauen einen bestimmten Mann in den Kopf setzten, ihn umgarnten und auf die eine oder andere Art und Weise becircten. Man musste es nur richtig einfädeln.
Lautschi, wie sie liebevoll von ihrem Vater in Anlehnung an das Tschechische genannt wurde, war die Älteste der Swadoschkinder und kam bereits sechseinhalb Monate nach der Hochzeit zur Welt. Deshalb heirateten die Eltern wohl auch beim Bräutigam an ihrem neuen Wohnort Brünn, wo die merkwürdige Eile nicht so ins Gewicht fiel.
Außerdem waren die Brauteltern, die Onderkas, streng katholisch, sie besaßen eine Mühle mit Land bei Troppau (Opava). Freilich, die Braut Josefa war fünf Jahre älter als der Bräutigam Rudolf. Sie musste sich dranhalten, sie war mit damals zweiunddreißig Jahren für eine Erstgebärende nicht mehr die Jüngste.
Josefas Heiratsgut wurde in mehr als fünf schweren Gepäckstücken nach Brünn geschickt, Holztruhen und Reisekoffer mit gewölbten Deckeln und klappbaren Tragegriffen an den Seiten. Innen waren die Deckel über und über mit kleinen, bunten katholischen Heiligenbildchen beklebt, Magie und Zauberschutz für die junge Familie, der dauerhaften Segen in das neue Heim bringen sollte.
„Und nichts hat es genützt.“ Laura dachte an ihre elf verstorbenen Geschwister.
*
Die Swadoschs hatten anfangs in der südlichen Vorstadt am Dornrössel in Miete gewohnt, die Häuser standen am schmalen Flüsschen Ponavka, das sich in einem Bogen zwischen der Schwarzawa (Svratka) und der Schwitawa (Svitava) dahinschlängelte. Die Laubengänge dieser Häuser lagen zum Wasser hin, und Lautschi hatte dort als Vierjährige an warmen Sommertagen mit Puppengeschirr und ihren Püppchen gespielt.
Durch diese Gegend zog später die breite Straße Dornrych, unweit vom Rosický-Hauptbahnhof, einem schönen Sezessionsgebäude, an dem Lautschi später tausendmal vorbeigehen sollte. Nach ihrer eigenen Heirat hatte sie gar nicht weit entfernt davon ein eigenes Haus nahe bei der Wiener Gasse (Videnská), der breiten Ausfallstraße nach Wien.
Auf den alten Stadtplänen fand sie das romantische Wort „Dornrössel“ noch eingetragen, bei dem sie immer an das Märchen Dornröschen denken musste. Vielleicht auch, weil sie die Geschichten damit verband, die ihr der Vater von der kaiserlichen Wiener Hofburg erzählte. Geschichten von Grafen und Prinzen, vom Kaiser Franz Joseph und Kaiserin Elisabeth und deren prachtvollen Gewändern. Lustig fand sie die Geschichte von den „Brunzerlprinzessinnen“. Alle Hofgendarmen hatten sich über die „Brunzerlprinzessinnen“ geärgert, wie sie die kleinen Hoheiten respektlos nannten, solange sie in die Windeln machten. Sie mussten nämlich jedes Mal heraustreten und salutieren, wenn die Ammen oder Kindermädchen mit ihnen vorbeikamen ohne sie und ihre feschen Uniformen eines Blickes zu würdigen.
Doch nach wenigen Jahren waren sie vom Dornrössel weggezogen; die Mutter Josefa hatte Geld von den verstorbenen Eltern geerbt. Nicht weit fort, man blieb an der Schwitawa, ließen sie sich im Nachbardorf Obrowitz nieder, dem späteren Stadtteil Zábrdovice.
Ein großer Tag für die Familie, denn die Swadoschs hatten dort ein Haus mit einem großen Garten und Ställen für Kleinvieh gekauft. Hühner, Enten, Gänse, sogar Schweine und Ziegen wurden angeschafft. Letzteres wegen der Milch, die von der Mutter für besonders gesund gehalten wurde. Dazu kam noch ein großer Hund. Im Garten wurden Obstbäume und Sträucher in Reih und Glied gepflanzt, auf dem Acker Kartoffeln gesteckt.
Oft hatte Lautschi im Garten auf der schattigen Bank gesessen, die um den Nussbaum gezimmert worden war. Direkt am Stamm hatte man rundum Tischplatten auf Pfosten befestigt, im Sommer war es tagsüber der Mittelpunkt des Familienlebens.
Bei gutem Wetter wurde hier das Gemüse für das Mittagessen oder das Obst zum Einkochen vorbereitet. Die Kinder mussten mithelfen, die Kirschen und Zwetschgen zu entsteinen, die Birnen zu zerteilen und zu entkernen oder die Erbsen und Bohnen auszupulen.
Außer Mehl wurde so gut wie nichts zugekauft, man war Eigenversorger: Es wurde das Brot selbst gebacken, selbst geschlachtet, geräuchert, gepökelt. Am Schlachttag lag der Geruch der Blutsuppe mit den Würsten in der Luft, das ausgelassene Schweinefett rauchte, in dem die braunen Grammeln schwammen. Ungeduldig wartete Lautschi auf das heiße, fette Stichfleisch, das es mit geriebenem Kren am späten Vormittag zum Gabelfrühstück gab.
Ihre Mutter war sehr streng. Sie schrieb eine kräftige Handschrift und konnte laut werden, wenn das Dienstmädchen oder auch die Kinder Lebensmittel verschwendeten oder untätig die Zeit vergeudeten.
*
Laura seufzte.
Ihre Mutter Josefa Swadosch hatte es sicher nicht leicht mit ihr gehabt. Sie waren in wesentlichen Punkten gegensätzlich geartet. Josefa war eine ernste, fromme Frau, die demutsvoll ihren Ehemann als Hausherrn anerkannte und ihre Pflichten erfüllte.
Ein Kind nach dem anderen kam und starb. Vierzehn Kinder hatte sie gehorsam ihrer Kirche und dem Mann geboren. Elf von Lautschis Geschwistern hatte ihre Mutter begraben müssen, sie waren schon als Kleinkinder an der gefürchteten Bräune gestorben, der Diphtherie.
„Gegen die hat weder das Gebet noch die Ziegenmilch geholfen.“
Sie erinnerte sich an die endlosen Stunden, die ihre Mutter mit Gebeten an Kinderbetten gewacht hatte. Bei der Geburt ihres letzten Geschwisterchens hätte Laura längst selbst ein Kind haben und Mutter sein können.