Johnny Ohneland - Judith Zander - E-Book

Johnny Ohneland E-Book

Judith Zander

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Beschreibung

A Girl named Johnny Joana Wolkenzin weiß früh, dass sie anders ist. Sie liest stundenlang und lernt Songtexte auswendig; später verliebt sie sich in Jungs und in Mädchen. Im vorpommerschen Niemandsland der Neunziger gibt sie sich einen neuen Namen: Johnny. Aber bringt ein neuer Name auch neues Glück? Als die Mutter über Nacht die Familie verlässt, kreisen Johnny, ihr Bruder Charlie und ihr Vater auf wackligen Bahnen um eine leere Mitte. Schließlich macht Johnny sich auf die Suche nach einem Leben und einer Erzählung, die ihren eigenen Vorstellungen entsprechen, in Deutschland, Finnland und Australien.

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Seitenzahl: 747

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Über das Buch

Mit einem Namen wie Joana kann man nicht leben, wenn man doch ein Mädchen namens Johnny ist. Eine Familie ist kein vierblättriges Kleeblatt, weiß doch jeder, und das Unglück jedenfalls etwas anderes als unglückliches Verliebtsein.

Ob eine ungelernte Floristin, genannt Mama, einfach so den Laden sich selbst überlassen darf. Ob ein kleiner Bruder erwachsener werden kann als man selbst. Ob ein Vater im Schlaf etwas anderes als Kreuzworträtsel lösen kann. Ob sich mit einem gewonnenen Minifernseher in die Zukunft schauen lässt. Ob die Zukunft verloren geht, wenn man zu viel schwarz-weiß sieht.

Ob es egal ist, wen man liebt, solange nichts passiert. Ob es egal ist, was passiert, solange man nicht liebt. Johnny, no answer.

JOHNNY OHNELAND

 

 

 

 

Wenn es in meiner Macht stünde, mich zuzustutzen, wie ich wollte, so kenne ich keine Form, in die ich hineingepreßt werden möchte, wenn ich sie dann nie wieder ablegen könnte: das Leben ist eine ungleichartige, unregelmäßige, vielgestaltige Bewegung.

Michel de Montaigne, Dreierlei Umgang: Freunde, Frauen, Bücher

 

 

Suppose we all suddenly change to entirely different names. Nobody would ever know who anybody was talking about. The whole world would go crazy. […]

 

The fortune of Big Mama had turned out true – about the sort of trip and a departure and a return […]. And there was the sum of money in her father’s wallet, so that already she had lived up all the fortune Big Mama had foreseen. Should she go down to the house in Sugarville and say that she had used up the whole future, and what was she now to do?

Carson McCullers, The Member of the Wedding

2. SEPTEMBER

 

 

 

 

Johnny, nicht mehr recht in Sicht, so könnte man sagen. Nichts mehr in Sicht, von dir aus. Zwängest du dich, die Augen noch einmal zu öffnen, hielte dein Blickfeld nichts bereit als deinen eigenen Schoß, die immer noch nackt in Sandalen steckenden Füße der Frau neben dir, deine eigenen in den immer noch zu großen alten Coles-Männersocken und die nahe Begrenzung der Rückenlehne vor dir, alles im gedimmten zwischenweltlichen Licht von ungefähr halb vier AEST. Rechts weißt du den Gang, the aisle, ein spät erworbenes Wort. »An aisle seat, please.« Ein Fensterplatz wäre nichts als Blödsinn gewesen auf einem Langstreckenflug, ein Anfängerfehler, und es mag ja sein, dass auch dies wieder nur des Schrecklichen Anfang ist, zunächst aber ist es des Schrecklichen Ende, und etwas anderes ist nicht zu sehen. Kein Abschiedsblick auf die nächtlichen Glühwürmchenlichter einer Stadt, die dir unvertraut blieb, zum Glück. Und es ist kein Abschied. Don’t look back in anger. Don’t look now.

Später, später wird früher sein, und obwohl du Abflugs- und Ankunftszeit kennst, Anfang und Ende, gelingt es dir nicht, Zeitdifferenz und Zeitverschiebung stimmig miteinander zu verrechnen zur Reisedauer, einen Zusammenhang herzustellen zwischen zwei äußersten Punkten und dem Dazwischen. Es gibt einen Widerstand, ein eigentliches Nicht-verstehen-Wollen, der Verdacht ist nicht neu: dass diese Verweigerung wirksamer zu befriedigen vermag als alle Erkenntnis, dass alle kurz- und langlebigen Kulte sich auf ihr gründen, dass alle schlimmen Geschichten eher zu ertragen sind in der Annahme, etwas daran bliebe grundsätzlich und auf immer undurchschaubar, jenseits der unwirtlichen Grenzbereiche unserer Logik, und dass, gingen alle Rechnungen restlos auf, es keinen Grund mehr gäbe weiterzumachen.

Fragt sich, womit. Womit, und: womit? Stellt sich heraus, in zwölf Kilometern Höhe, es existiert kein Wort dafür in der Sprache, an die du dich irgendwann gewöhnt haben musst, nach einer längeren Zeit, in der dir nur noch übel davon geworden war, täglich wie um eine heiße Kartoffel in deinem Mund herumreden zu müssen. Vomit. Auch Wombat hopst dir durch den Kopf, das seine nackte oder haarige Nase, du kannst dich nicht erinnern, beständig gen Zaungrenze reckende Exemplar im Zoo. Womit, ein Wombat mit ewig leerem Beutel. Woman. Geschlechtgewordene Infragestellung. I’ve given up on …

Die Aufgabe ist überschaubar. Es gilt, 27 Stunden in der Luft und dem luftleeren Raum von ein paar Flughäfen zu überstehen und anschließend das Delirium noch so lange im Zaum zu halten, bis du aus einem Taxi einem Nachtportier vors Rezeptionsdesk und endlich in jenes vor einer Woche reservierte Bett gestolpert sein wirst, das unglaublicherweise auf der anderen Seite der Welt sanft und anspruchslos bereitsteht, dich aufzunehmen in die saubere Kühle seiner Laken. Das heißt, es würde ein Laken sein, unten, und eine Bettdecke in einem echten Bezug, oben, nicht dieses ständig verrutschende Gewurschtel eines Laken- und Deckengefüges, das zudem noch mit sich dir nie erschließender Fertigkeit ringsum unter der Matratze festgestopft war, unter dem man so, wie in eine Tüte gesteckt, niemals warm werden und einschlafen konnte, und zerrte man es mühsam heraus und damit unweigerlich auch das untere, das eigentliche Laken, sah alles nur noch nach einem Werk der Zerstörung aus, einer mutwilligen Torpedierung des Ordnungssinns anderer Leute. Selbst Renata war diese alltägliche Unnötigkeit nicht abzugewöhnen gewesen. Oh Johnny. Ihr nachsichtiges Lächeln, als seist du es, der nicht zu helfen ist. Dir ist, als verstündest du es auf einmal: Womöglich hätte das Auslassen dieser Handgriffe eine Lücke in Renatas Tagesablauf verursacht, die, gerade weil sie unter der Bewusstseinsoberfläche geblieben wäre, mit nichts anderem hätte gefüllt werden können, sondern lediglich alles Weitere ins Stocken gebracht hätte. So wie überhaupt ein Vorlauf an Zeit eigentlich nie zu etwas zu gebrauchen ist und nur leichte Panik aufwirft.

Du denkst an dieses Bett in der vaterländischen Fremde wie an eine Wiedergutmachung, ohne dich um diese Stunde dem Zuendeführen eines Gedankens verpflichtet zu fühlen. Wiedergutmachen was an wem oder woran. Schon wieder. Woman. Oh, hebe dich hinweg, du nicht mal falsche Freundin. Welcome womit, wodurch, wobei, wohin, wofern, wovon, worin, woran, wohlan! Not to mention wogegen!

Ich reise gegen die Zeit, formulierst du dir deutlich in deiner Muttersprache, unsicher, ob das in überhaupt irgendeiner Weise einer Tatsache entspricht. Es könnte sein. Es könnte auch sein, dass zwei Bewegungen gleichzeitig stattfinden, grundsätzlich, das ungeschriebene Naturgesetz von der Relativität des Unterwegsseins. Ja, so nennen wir es vorläufig. Bis morgen die Welt schon wieder anders aussieht. Das war stets als Trost gemeint gewesen, auch dies aber hatte sich als zweierlei entpuppt: In der Kindheit tropfte ein sachter Schrecken, es könnte so sein und was, wenn, hinein, obwohl daran nicht recht zu glauben war, keinesfalls gleich morgen, und nur die Ahnung von einem abrupten, womöglich unabwendbaren Hineingeraten in den sogenannten Ernst des Lebens, unter dem doch alle, die ihn beschworen, zu leiden schienen, fällte sich nach und nach sichtbar aus. Und später, später bewahrheitete sich alles.

Zum Beispiel also dieser Nacht-Tag-Nachtflug auf eine Hauptstadt zu – und der Reflex, die zu denken, verlernt sich wie angeblich Schlittschuhlaufen nicht, obschon angespannte Wackligkeit auf den ersten Eismetern die Glieder versteift, und du hast nun einige Winter, Herbst-Winter, Sommer-Winter, keinen zugefrorenen See, Tümpel, Fluss gesehen, das kann doch nicht sein – diese Flugreise also, in einem Dreisprung sozusagen über die Städte Dubai und Düsseldorf, zu gleichen Teilen unvertraut, kann doch, was ein mögliches Protokoll beträfe, kaum anders denn als Rückwärtsbewegung bezeichnet werden. Was die Bewertung einer solchen Bewegung angeht, herrschen verschiedene Ansichten. Der Rückzug, die Flucht, das Scheitern, die Schmach, und auch diese einst in ein Blankobuch abgeschriebene, die du festhieltest wie eine letzte Gewissheit damals: Es gibt aus jeder vertrackten Lage einen Ausgang, in den man hineinfinden kann, …, man muss nur bedächtig rückwärts gehen, so wie ein Krebs in sein Schlupfloch zurückweicht. Und: Wenn man nichts mehr ist, dann ist man immer noch, was man war. Bloß wann? Wann war man das, und was? Diese Methode des Zurückgehens, Zurückverfolgens führt ja schon, wenn man sich ihr nicht ernsthaft, nur mal antestend nähert, an den Rand ihres Magnetfeldes gerät, zu einer wilden Drehung der Gedanken, einem Verrücktspielen der inneren Anzeiger, die nicht entscheiden können, worauf sie sich ausrichten sollen, denn jeder sogenannte Punkt in der Erinnerung, der eigenen Historie, entpuppt sich als ganz und gar nicht klar scheidbar von seiner unmittelbaren Umgebung, den Nachbarpunkten, Punkten nun schon in Anführungszeichen, jenem amorphen Davor und Danach, dem er in jeder ehrlichen Erzählweise – und dahinter kommt man ja nicht, kann man nicht zurück, hinter ein Erzählen – gleichermaßen doch zuzurechnen ist. Das heißt, du Hilfsphilosophin, es gibt nur den Fluss. Oder es gibt ihn nicht. Todd River. Mal so, mal so. Das weiß jeder, und keiner will es so haben. Womöglich, aber dies ist eine aeroplane Idee im Zustand des Nichtschlafenkönnens und der Gewissheit des Nichtschlafenkönnens für den Rest dieser Luftfahrt (ab wann kann man von Rest sprechen, wann von rest, oh, restlose restlessness,ach, das geht doch zu weit), womöglich gab dieses schwimmende Dasein im Fluss, die Schwammigkeit einer Ruhe im Flussbett nicht den letzten Grund ab für Erfindung – oder musste man von Entdeckung sprechen? – und Triumph des Digitalen. Entweder oder. Und es ist doch gar kein neues Kunsthandwerk, das vergangene eigene Leben in den Berichten davon automatisch umzuwandeln von analoger Abfolge in digitale Treppenstufen, zusammenhängende Tonfolgen auch etwas ahnungslos zu zerschneiden in verschiedene Lieder, sodass ein Knacken zu hören ist am Übergang, kann sein, es geht einzig darum, den Beweis der Grenze, der Andersartigkeit der Phasen anzutreten, vor sich selber zuerst.

Als ein Schlupfloch schlechthin aber ist dir doch stets das Reisen vorgekommen. Du verdächtigst dich seit Längerem der Scharlatanerie, wenn du dieses Wort benutzt für das, was richtigerweise Angewohnheit genannt in den Ohren mancher erst recht falsch und kokett klingen müsste, eine Angeberei per Understatement. Vor Jahren wäre das die Wahrheit gewesen. Als du vorhin – vorhin? im anderen Leben noch? – den übergewichtigen Koffer einchecktest, später, der Herde folgend, dich in die Boardingschlange reihtest, durch den Schlauch in den Bauch des Flugzeuges trabtest, stellte sich jedoch als einzige Gefühlswahrheit die ein, dass du nach längerer Abstinenz dich einer alten Gewohnheit wieder überließest. Abhauen, schlichtweg. Sich hinwegbegeben, aber nicht in Haltung und Verfassung einer Flüchtenden, nicht im Krebsgang, zurückweichend. Sondern sozusagen mit zum Pfeifen gespitzten Lippen, La Paloma, als die Taube auf dem Dach, unerreichbar zu bleiben für die begehrlich greifenden Umstände und das Nicht-mehr-Aushalten transformieren ins Nicht-nötig-Haben und in diesem Umhang genäht mit Galoppstichen aus fliegenden Fahnen von dannen ziehen, in den Siebenmeilenstiefeln zweiter Klasse. Freilich ist es seltsam, die Erde nicht mehr zu bewohnen, kaum erlernte Gebräuche nicht mehr zu üben. Dies ließ sich dann, leicht fröstelnd von den Nebenwirkungen der Entschlossenheit, rituell und gutheißend denken.

»I thought her feet must be boiling!« Dir bleibt nichts übrig, als die Stimme der Frau als an dich gerichtet zu deuten, trotz Verwendung der dritten Person, durch die jene Engländerin unwissend, mehr unsensibel als unschuldig – doch trägt einer Schuld an einem Mangel an Feinfühligkeit? und änderte Klarheit in dieser stets wieder auf dem Wochenplan der unverdaulichen Speisen stehenden Frage etwas? und was hat das schon mit der Unbekannten neben dir zu tun? –, die nun also ihre Sympathien gleich verspielt hatte dadurch, dass sie an dich gewandt über deine Füße als die einer Nichtangeredeten mutmaßte. Als die du dir denn auch vorkommst, ein schwächer gewordenes, aber nie ganz verblasstes Nachbild des Kindes vor der Bäckersfrau, Hat sie denn keinen Groschen?, als Subjekt-Objekt, suspekt und unfähig zu einer rettenden, rächenden Reaktion, abhauen geht nicht. So tun, als sei man nicht angesprochen, auch nicht, was überhaupt das Demütigendste daran ist. Die Situation ist (hier und jetzt und immerdar): dein abwesender Blick auf die Hände der Sitznachbarin, wie sie die Sandalenriemen lösten, die nackten Füße, wohl in der Absicht, etwas Reibungswärme zu erzeugen, kneteten, wurde nur allzu bereitwillig aufgefasst als Anteilnahme, gar Neugier, an der sich endlich jener Kommentar anbringen ließ, und zwar einer zu Füßen, die nicht ihre eigenen waren und in dicken, hässlichen Socken steckten, eine Anrede unter Vermeidung einer Anrede, das heißt Erschleichung von Zuwendung ohne Gegenleistung. Verschleierung der Erschleichung, des Nötighabens mittels Herabminderung des Gegenübers zu einem Nichtgegenüber. Schuldig. Wir alle dreimal die Woche. Trivial. Schwachsinn. Immerhin gibt sie doch zu, dass Sandalen fürs Flugzeugklima zu leichtsinnig waren und ihre Vermutung über »ihre«, Johnnys (was sie nicht vermuten würde), also deine in den Socken kochenden Füße falsch; leistet sie also nicht vielmehr ohne Not und sich selbst sogar etwas der Dummheit bezichtigend Abbitte, noch dazu mit der freundlichen Absicht, die dröhnende Anonymität dieses Zusammengepferchtseins aufzulockern, euch das, was nichts als zähes Warten ist, zu verdünnen?

Beides, wie immer beides, du weißt es doch, du hast es doch gewusst. Wie erwartbar, wie variationslos das Leben in seiner Ambivalenz doch irgendwann wird, alles hat zwei Seiten mindestens, das trifft immer zu. Das trifft, immerzu. Aber nicht unbedingt ins Schwarze, die Resultate dieser schwer zu kontrollierenden Neigung, die Worte doppelt und dreifach nutzbar zu machen, ihnen zweite und dritte Ebenen abzupressen, nichts umkommen zu lassen. Und kannst du das nun in Beziehung setzen zur Ambivalenz, stellt es einen durch ihre dir in Fleisch und Blut gezogene Allgegenwärtigkeit entstandenen Fall von vorauseilendem Gehorsam dar oder eher von Unterwanderung durch Übertreibung? Oder auch wieder nur verbale Notzucht? Nebenbei: Du wolltest doch wegkommen von den Absolutismen.

Was auch noch wahr ist: das Dröhnen der Maschine bohrt sich erst jetzt in deine Wahrnehmung, nachdem es von der gar nicht mal unangenehmen Frauenstimme unterbrochen worden ist. Ein Sinnbild aller Routine, denkst du, die erst unerträglich zu lasten beginnt durch den Einbruch des Glücks, das heißt natürlich inklusive seines Wiederverschwindens. Kann das gelten als menschliches Unglück? Mit dem Glück ist es so, das hat man bald heraus, dass das Gegenteil, oder sagen wir milder, die Abwesenheit der Normalfall ist, das, mit dem man lebt, das, was man erwartet und berechtigterweise erwarten zu dürfen glaubt. Das Glück zu erwarten gilt als naiver und vernunftwidriger als jeder Aberglaube, was nichts ändert am abergläubischen Vermeidungsverhalten, eingetrichtert von Verwandtenzungen, eingeübt in einem Alter, in dem man vertrocknete Marienkäfer begräbt und beim späteren Wiederaufwühlen der Stelle darauf setzt, sie nicht mehr vorzufinden, da sie nunmehr in den Himmel gekommen sind: wenn du’s dir zu doll wünschst, passiert’s nicht, freu dich mal nicht zu früh, man hat schon Pferde kotzen sehen. Die ganze Skala, auf der auch das fast todsicher eintretende Glück kaum näher an der Wirklichkeit rangieren durfte als das tollkühnste Wunschdenken, sondern mit dem gleichen Misstrauen bedacht wurde, und bald scheuten die Gedanken von allein vor dem unberechenbaren möglichen Glück zurück, wurden zurückgepfiffen von sich selbst und belohnt in der Logik des Aberglaubens, der nicht nur nüchtern darauf abzielte, eine Enttäuschung zu vermeiden, sondern unter diesem Deckmäntelchen stets auch seine wahre Natur durchblitzen ließ, süßes magisches Denken: Schlägst du die Augen nieder vorm Wunsch, vorm Glück, sieht es auch dich nicht und wagt sich näher heran. Denk gar nicht dran, dann kommt es schon, irgendwann. Wie fest und vollständig dich diese Gänsehaut umspannt, merkst du erst jetzt, wo ja nicht mehr viel passieren kann und du sie dir aus Neugier hier und da abzupulen beginnst mit alltäglichen Wünschen, kleinen Phantasien, die du dir nicht länger versagst und die dadurch offenbar trotzdem nicht davon abgehalten werden, sich zu verwirklichen. Doch ganz überzeugen tut es dich nicht, das sind nichtige Testfälle, hasenfüßige Simulationen, die wohl kaum etwas aussagen über die Chancen eines echten ersehnten Glücks. Und da kannst du nichts sehen, es liegt außer Reichweite vor allem schon deshalb, weil dir seit Wochen ist, als hättest du alle Fähigkeit eingebüßt, überhaupt solch einen Wunsch zu entwickeln, du kannst keine Vorstellung in dir bilden davon, in welchen Formen bestenfalls die Zukunft auf dich zukommen sollte, vorläufig kommst du nicht weg von diesem blinden Fleck. Ein Wunschfensterplatz auf einem Langstreckenflug mag gedankenlos sein, auf einem Nachtflug aber ist er sinnlos.

Witzlos. Dass sich dieses Wort plötzlich wieder anfindet, das irgendwann da und in Gebrauch war, in dem der anderen, irgendwann auch euch manchmal entschlüpfte, dir mit dem Gefühl einer Verunreinigung, Charlie hatte da weniger Skrupel, doch auch aus seinem Mund klang es dir als Urteil fremdbestimmt, nicht nach Charlie, witzlos im ursprünglichen Sinne, ohne Sinn und Verstand, herzlos. Einmal lasest du über Bach, in seinem Nekrolog hieße es, er habe von Natur aus ein etwas blödes Gesicht gehabt, womit nichts weiter gemeint gewesen sei, als dass er kurzsichtig war. Es gefällt dir immer noch, diese einstigen Bedeutungen mitzudenken, in deinem Reden mitschwingen zu lassen, das heißt, inzwischen kannst du wohl nicht mehr anders, nur ist es witzlos fürwahr, pointless, damit mehr als nur den gegenwärtigen Endpunkt der Bedeutungsverschiebung auch im Gegenüber anklingen lassen zu wollen. Doch geht ja auch dein Blick, dein Empfinden stets vom Ende der Geschichte aus und lässt die historischen Stufen und Schwundstufen in einem deiner Natur entsprechenden leicht komischen Licht erscheinen, die fortwährende Verschiebung, Metaphorisierung ist nicht retuschierbar. Es wäre auch schade drum, setzt du jetzt, wo du denkst, dass du nur an die Worte denkst, hinzu.

Sich das Unglück vorzustellen, ist kein Witz und auch nicht weitsichtig, es ist blödsinnig, es ist die umgekehrte Methode. Sie kam von innen, musste dir nicht beigebracht werden, war lediglich eine sich von selbst einstellende Schlussfolgerung: Wenn das Glück dadurch verhindert wurde, dass man es sich ausmalte, konnte dann nicht, indem man das innere Auge vor ein mögliches Unglück führte, sich zwang, das Ungeheure in aller Detailliertheit und Düsternis anzusehen, es durch diesen Trick in Bann geschlagen werden? Konnte nicht die Wahrscheinlichkeit, dass just dieses Unglück einträte, entscheidend abgesenkt werden mithilfe dieser Art von Vorschau? Schließlich funktionierten, wie du später lerntest, auch Impfungen so ähnlich: Eine dem Körper vorsorglich zugeführte abgeschwächte Form der Katastrophe wird genau diese in Zukunft abschmettern. Den kurzen Schmerz des Einstiches, die einen Abend währende Mattigkeit danach nahmst du gerne in Kauf. Und konntest nicht verstehen, dass dieser Nutzen, den du so der ursprünglich eingeimpften Denk- und Handlungsanweisung abluchstest, geradezu gefürchtet und verpönt war. Bloß nicht den Teufel an die Wand malen, hieß das. So viel Schwarzmalerei aber lag dir nicht. Dass das Glück im Grunde nur zu verscheuchen war, das mochte sein, aber dass man obendrein das Unglück mit der gleichen Gedankenoperation auf sich ziehen würde, sprengte für dein Empfinden jedes Maß und erschien dir wie eine empörend ungerechte Strafe, und die Frage war ja, wofür eigentlich. Es konnte nicht sein. Das Unglück kam auch so, von allein. Und es war doch besser und letzten Endes sogar vernünftiger, sich schon mal ein Bild von ein paar seiner möglichen Erscheinungsformen zu machen, auf dass es einen nicht völlig wehr- und ahnungslos erwischte. Meintest du.

Ein Problem indes zeigte sich nach und nach, zuerst als das unbestimmte Unbehagen, etwas sei nicht berücksichtigt worden in dieser Theorie, vergleichbar dem zu jedem Reiseaufbruch gehörenden Gefühl, etwas vergessen zu haben, und sicherlich hast du irgendwas bei Renata liegenlassen, zum ersten Mal wäre es dir nicht nur egal, sondern ganz recht. Später gab es konkrete Situationen, die immerhin halfen, das Problem herauszuschälen, auch wenn damit keinem geholfen war: Das erwünschte Glück ist überschaubar und endlich, das unerwünschte Unglück hingegen unermesslich; man weiß ungefähr und manchmal genau, was man ersehnt, aber nicht, was man alles auf keinen Fall verwirklicht haben möchte. Du stutzt, jetzt wo du erneut vor diesem immer noch für gültig erachteten Abbild deiner Version von Fatalismus stehst, denn dir fällt auf, es verkehrt plötzlich wie ein Vexierbild den bekannten Fall, dass man oft nicht recht weiß, was man will, sehr wohl aber, was nicht, in sein genaues Gegenteil. Und in diesem Zustand, der alles auf einmal ist, das heißt, alles nicht, kein Boden, kein Schlaf, keine Zeit, keine Aussicht, fängst du langsam an, dir schwer auf die Nerven zu gehen. Vielleicht ist ja wieder alles verkehrt. Aber das lässt sich auch immer sagen, wenn man nicht weiterweiß. Nichts, alles, immer, wieder, ja, ja.

Doch du kannst nicht anders, auch dir selbst gegenüber musst du das letzte Wort behalten, wohl wissend, es wird niemals das letzte sein, sondern das erste eines neuen Gedankenknäuels. Jedenfalls scheint dir, dies sei längst noch nicht alles, was sich dazu in dir aufgespult hat, du hast lediglich an einer unordentlichen Schlaufe gezupft und einen Faden hervorgezogen, dessen Hervorgezogenwerden den Rest zu immer garstigeren Knoten festzurrt. In ferner Vorzeit saßest du da mit angehobenen Ellbogen, gestreckten Händen, die den um sie gelegten Wollstrang auf Spannung hielten, und Oma Meta wickelte Runde um Runde ab und säuberlich auf ein wachsendes Knäuel, dessen Mitte ein zusammengerolltes Stück Pappe bildete, das später wieder zum Vorschein kam beim Wachsen des Pullovers, in dem du dann dasaßest irgendwann auf demselben Platz. Auf demselben Platz hängst du in der Luft bis Dubai, die Hände im Schoß, mit dem zunehmend höhendünnen und, nun sag’s schon, fadenscheinigen Gedanken, dass Glück und Unglück letztlich derselben Kategorie angehören, nämlich der der unerhörten Begebenheit, nicht gerade eine Novelle. Dünn wie ein Stück Pappe, das nicht wärmte unterm Hintern, zum Beispiel an einem 29. Februar, diesem unerhörten Datum. Die stets irritierende Monatsübersicht im Kalender, der Blick auf den Februar als den zu kurz gekommenen Monat. Bloß hilft die Tatsache, dass er manchmal diesen zusätzlichen Tag zugestanden bekommt, gerade nicht über jenen Anomalieeindruck hinweg, sondern verstärkt ihn nur noch, denn der Monat bleibt zu kurz wie ein eingelaufener Ärmel, trotz und gerade wegen des angestrickten Tages, an dem doch am meisten verwirrt, dass es ihn ab und zu gibt, sein Vorkommen wirkt befremdlicher als seine normale Abwesenheit, mit der man sich abfinden kann, und an deiner kindlichen Frage, wo er denn abbliebe in den nicht Schaltjahr genannten Jahren, ist die Beunruhigung bis heute nicht ganz verblasst. Der Februar hat zwei letzte Tage, einen Normalausgang und einen Ausnahmeausgang, ganz wie in strengster Traumlogik, und man kann ihn sich nicht aussuchen.

Ob die Engländerin neben dir, die vielleicht eine Waliserin war, jemals darüber nachgedacht hat, ob jemals jemand darüber nachgedacht hat, du wiegst dich ein in eine weitere deiner notorischen Kinderfragen, die selbst schon Teil deiner Eigentümlichkeit für dich war, ohne dass du darüber nachdachtest, ob du die Einzige seiest, die sie stellte. Am I the first one to think of it? Es wurde dir spät bewusst, es ist kaum zu glauben. Dass du niemals die Einzige bist. Zu Anfang glaubtest du auch, mit dem Glauben der nie herausgeforderten Überzeugung, du seiest die Einzige mit deinem Namen, aber auch das war ein Irrtum.

Eine Landung? Die Ankündigung von etwas Unangekündigtem. Gerade gerät dir alles zum Gleichnis, nun mach mal halblang, aber du gibst dich dieser Automatik doch hin, weil es im Moment weit und breit nichts anderes zum Hingeben gibt. Also: Klar war wieder nur, dass etwas käme, aber nicht was. Und das heißt 1 technical stop auf dem Ticket. Und das ist nun also Singapur, und wenn nicht, ist es auch egal.

POMMERLAND

 

 

 

 

Als du anfingst, den zu deinem Glück wie deiner Besorgnis zahlreich vorhandenen Sofakissen im Hause Wolkenzin nicht nur deine Puppensachen, sondern auch Charlies wie deine Pullover und Jacken über die Zipfel zu ziehen, ging das Kopfschütteln deiner Mutter abrupt in Meckern über und du zucktest zusammen, obwohl du schon nach diesen wenigen Jahren eures Beisammenseins an ihre häufigen Launenumschwünge so gewöhnt warst, dass du ihnen inzwischen keine größere Bedeutung mehr zumaßest und wohl auch aus relativem Vergleichsmangel sie einfach als hinzunehmende Eigenarten des erwachsenen Menschen an sich akzeptiertest. Deinen Vater begriffst du womöglich schon zu der Zeit als Ausnahme, was mit seinem Ausnahme-Schlaf-Wach-Rhythmus zu tun haben mochte, und weil auch die Kindergärtnerinnen mehr zur Sorte deiner Mutter schlugen. Außer Fräulein Wernicke. Andere Väter, Männer kanntest du noch kaum, sie schienen auch zwei unterschiedliche Kategorien zu bilden in deinem Kopf, es gab die nur selten und kurz sichtbaren Vatis der anderen Kinder, und es gab die Männer im Park neben ihren Flaschen. Es gab nur einen Papa, und der war deiner, eurer. Deine Mutter versuchte sporadisch, euch das Mama-Sagen abzugewöhnen zugunsten von Mutti, zumindest bei dir aber wollte das gar nicht fruchten. Du bist doch kein Baby mehr. Charlie war noch ein bisschen näher am Babysein, ließ sich jedoch zu deinem Missfallen bereits auf Mutti umerziehen, andererseits wunderte es dich nicht. Er hatte anfangs noch größeren Schiss vor anderen Kindern als du, bei dir überwog mehr die Abneigung, Charlie aber ging es instinktiv um ihre Gunst, also um die Vermeidung von Alleinstellungsmerkmalen. Das gab sich, bei dir nicht. Von Anfang an konntest du in ihm keinen Verbündeten sehen, wie leicht man das anders verstehen kann. Du weißt, du meinst: nicht von Anfang an. Am Anfang war es schwierig mit ihm. Und dann wurde es.

»Joana!« Damit aber wurde es nichts. Du reagiertest natürlich, das heißt reflexhaft, auf deinen Namen, zumal in diesem Ton. Doch es ähnelte dem Gefühl, mit dem du dich im Kindergarten wie alle anderen zum Mittagsschlaf auf die Liege aus Presspappe legtest und ordnungsgemäß die Augen zumachtest, um nicht ermahnt zu werden, obwohl du genau wusstest, dass du mitten am Tag niemals schlafen würdest. Du konntest noch nicht mal begreifen, wie die anderen es fertigbrachten, aber dir ist, als hättest du dich bei dieser Frage gar nicht aufgehalten, sondern von vornherein konstatiert, dass dies eben etwas für die anderen war und auf dich nicht richtig zutraf, nur hätte dir das keiner durchgehen lassen, nicht mal geglaubt. Du musst sehr früh begonnen haben, die Welt realistisch, in der dunkel abgetönten Variante, einzuschätzen, anhand von Wahrscheinlichkeiten. Du spürst es heute als einen nicht zu überwindenden Automatismus: Wie geradezu allergisch du immer noch reagierst auf Vorschläge, Annahmen, Bewertungen, die dir einer halbwegs wahrscheinlichen Grundlage zu entbehren scheinen. Es macht dich fassungslos, wenn anderen für solche Abwägungen, Gewichtungen, Ordnungen jeder Sinn abzugehen scheint. Es machte dich wahnsinnig bei Charlie, immer wieder, und du musstest dich zügeln, ihn nicht jedes Mal anzufahren deshalb. Du bewundertest es auf der anderen Seite: Seine vollkommen unhierarchische Grundhaltung, seine allem Anschein nach ebenso unbewusste, jedenfalls gar nicht ideologisch an den Tag gelegte Unvoreingenommenheit, Unbedarftheit gar gegenüber dem Spektrum der Möglichkeiten. Wieso, kann doch sein. Charlie war, was Entscheidungen anging, die eine Einschätzung der Lage erforderten, hoffnungslos unpraktisch. Und langwierig. Vermutlich nervte dich das am meisten, du wolltest nicht jedes Mal neu nachdenken müssen über Sachverhalte, die doch offensichtlich, logisch, klar waren, denn die Welt funktionierte nun mal leider so und nicht anders. Charlie war ein super Korrektiv, sozusagen. Du merkst, wie du herumläufst mit zusammengebissenen Zähnen, du wachst morgens so auf.

Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, das sangst du mit im Kindergarten, ohne jemals dabei deine eigene Mutter vor Augen zu haben, sondern ein mehr oder weniger idealisches, gesichtsloses Wesen, die Mutti, wie sie sein sollte, du sie dir aber keinesfalls wünschtest. Dich selbst erkanntest du auch nicht in dem beschürzten, die Stube ausfegenden Mädchen, ganz zweifellos handelte es sich um ein Mädchen, obwohl doch die Jungs mitsingen mussten, erschreckenderweise also waren die Grenzen mit vier oder fünf Jahren bereits unverrückbar gezogen. Deine Nichtidentifikation indes lag wohl darin begründet, dass bei euch die Stube wie alle anderen mit Auslegware bis zu den Scheuerleisten versehenen Zimmer mit dem Staubsauger gereinigt wurde, was auch im Kindergarten der Fall war und dabei jedes Mal Anlass allgemeiner und gemeiner Erheiterung, weil Holger Kruse eine erbärmliche Furcht vor dem Ding zeigte und man ihn leicht zum Heulen bringen konnte, wenn man versuchte, ihn aus der Ecke hinter den Spielsachenschränken hervorzuzerren, hinein ins Getöse. Du wolltest nicht, dass er heulen muss, konntest dich aber ebensowenig halten vor Lachen bei dem regelmäßig hinausposaunten Holger hat Angst vorm Staubsauger! Und dachtest nicht daran, dass kaum ein Jahr zuvor das gewaltsame Glucksen der Klospülung in dem thüringischen Urlaubsplatzhaus dich mit solchem Schrecken erfüllt hatte, dass du in sicherer Entfernung auf der Treppe verharrt und von dort herab deinen Eltern täglich befohlen hattest: Nicht spülen!

Zu Hause befand sich das Klo eine halbe Hausflurtreppe tiefer, und das Rauschen seiner Spülung, für die man nicht an einer Strippe ziehen, sondern nur einen Metallhebel herunterdrücken musste, war von gänzlich sanfterer Art. Dort brauchtest du nur, bevor du deinen Fuß in das kaum einen Quadratmeter messende Kämmerchen setztest, mit einem Blick nach oben überprüfen, ob alle Oma Langbeins noch an ihrem Platz in angemessener Entfernung hingen. Mit ihnen hattest du dich arrangiert in einer Art Nichtangriffspakt. Ein ganz anderes Thema waren die fetten braunen und schwarzen, schaurig unberechenbaren Spinnen, und einmal ertapptest du gar eine mit gesprenkelten Beinen dreist in der Badewanne hockend, was dir eine erste Ahnung von der unkontrollierbaren Entsetzlichkeit der Welt gab. Auch Charlie waren sie nicht geheuer, aber er traute sich, mit einem Ball nach ihnen zu werfen, wovon du ihn kreischend abzuhalten versuchtest, denn es gab keinen Fall, in dem er jemals getroffen hätte, vielleicht war es auch eine Frage mangelnder Wucht, was deine Vermutung zum Nichtotkriegen dieser Ausgeburten nur bestätigte. Derartig aufgestachelt huschten sie nur schneller, als man gucken konnte, hinter den Schrank, unters Bett, oder sie ließen sich wie zum Beweis ihrer Todesverachtung einfach von der Decke fallen, weshalb du einmal wochenlang weiträumig einen bestimmten Sessel umschifftest, kaum in die Wohnstube mochtest. Beizukommen war ihnen nur durch sofortige durchdringende Alarmierung eures Vaters, bloß war gerade das oft unmöglich, weil verboten. Wenn er schlief. Und er schlief zu den unmöglichsten, nämlich den Zeiten, in denen ihr ihn am dringendsten gebraucht hättet. Im Übrigen glaubst du ja noch heute an die Quartalsspinne, es frappiert dich, wie unwahrscheinlich wahrscheinlich es ist, dass du früher oder später wieder dieser initialen Panik ausgesetzt sein wirst, kein Leben ohne Spinne. Kein Leben, ohne irgendwann wieder in einer Schweißschicht auf einem Zahnarztstuhl zu kleben. Gewisse Dinge sind einfach so absehbar. Zugegeben, übler können die nicht absehbaren ausfallen, sie sind ja auch nicht das Gegenteil. Das Gegenteil wäre das Ein-für-allemal, und das scheint sich zunehmend rarer zu machen, dir ist danach zu sagen, das Leben sei seine Grenzwertbestimmung.

Aufs Klo musste man auch immer wieder, sommers wie winters, und wenn man nicht rechtzeitig einschlafen konnte, dann musste die Bettwärme noch einmal mit der Hausflurkälte wechseln, und Unlust und Lust vermischten sich in deinem Schlafanzugzittern. Absichtlich zogst du dir nichts über, schlüpftest nur mit nackten Füßen ins Kunstfell der Hausschuhe, ein delikates Gefühl. Auf der Treppe, im trostlosen 25-Watt-Licht oder manchmal auch belassener Dunkelheit, fühltest du dich wie verstoßen, warst du das arme Mädchen, die Magd aus den Märchen, besaßest du nichts als das dünne Kleid auf deinem Leib und musstest so durch Nacht und Winter. Oder, umgekehrt, ließ man dich einfach nicht fort, warst du ans Haus und die Herrschaft gekettet, ausgesetzt den Launen einer bösen Königin, verdammt dazu, von morgens bis abends die Stube auszufegen und nicht nur das, warst du die Demut selbst, doch im Geiste frei und versehen mit einem guten Herzen, das dir die widrigsten Umstände nicht zu verderben vermochten. So musstest du hausen in einer winzigen Kammer im letzten Winkel des Hauses, wo deine einzige leibliche Annehmlichkeit in der Wärme eines schweren Federbetts bestand, und diese Wärme, die man umso mehr genießen konnte, je durchdringender man sich auskühlte, an die deine Haut eine noch frische Erinnerung besaß und die noch unter dem Deckbett gespeichert war, bildete deine köstlichste Aussicht auf diesen Toilettenausflügen, wenn Charlie sich längst in andere Heldenrollen träumte.

Deine, so meinst du es zu überblicken, speisten sich zumeist aus Selbst- und anderem Mitleid und riefen wiederum solches hervor, mit Vorliebe imaginiertest du dich in Bredouillen und Bedrängnisse hinein oder warst bestrebt, anderen aus ebensolchen herauszuhelfen, sie zu beschützen. Wobei es sich bei den anderen, wie dir, nicht gerade zu deiner Verwunderung, auffällt, nie oder fast nie um andere Menschen handelte, Spielkameraden, jedenfalls keine tatsächlich anwesenden. Zwar konntest du auch mit ihnen, neben den üblichen Puppenwagen-, Gummihüpfer- und Klettergerüst-Nachmittagen, epische und ausgefeilte Abenteuer- und Rettungsgeschichten durchspielen, doch empfandest du, soweit du dich erinnern kannst, nie Mitleid mit den Verschleppten, Eingekerkerten und Versklavten unter deinen Freunden, und auch nicht mit dir selbst, wenn du diese Rolle übernehmen solltest, was selten vorkam und dir nicht lag, du warst darin auch vor dir selbst nicht halb so überzeugend wie in den Viertelstunden allein auf dem Dachboden, wenn dich dort der Zauberer mit dem Auge am Hinterkopf gefangen hielt. Eine Schreckensphantasie, die du zwar bis in die Härchen eurer Gänsehaut mit Charlie teiltest, aber nicht mit ihm ausagieren konntest; in der Rolle des Zauberers, die er nur allzu gern übernehmen wollte, fandest du ihn lächerlich und wichtigtuerisch, denn er war schließlich dein kleiner Bruder, und mit ihm als Leidensgenossen kamst du überhaupt nicht in Stimmung, blieb alles nur ausgedacht.

Herzzerreißend aber, quälend und absorbierend wirkte auf dich das Schicksal der Gegenstände und Tiere, der zwei- bis sechsbeinigen jedenfalls. Eine Zwischenstellung nahmen anscheinend deine Plüschtiere ein, auch die Puppen, für die du dich jedoch nur sporadisch interessiertest, lieber schobst du Mausi, von der dein Vater immer behauptete, sie wäre ein Fuchs, wo doch jeder schon an den runden Ohren deutlich erkennen konnte, dass sie eine rote Maus war, Hasi oder Bello in der mit hellblauen Polyesterkissen und Verdeck versehenen Sportkarre umher, die du zu Weihnachten mit einer Negerpuppe darin bekommen hattest. Die Negerpuppe mochtest du sehr, sie verdankte ihre Anwesenheit auf deiner Seite des Kinderzimmers einer Spontanregung von Oma Meta, die das kaum zwanzig Zentimeter messende kurzhaarige Geschöpf im Schaufenster des Spielzeugladens erspäht und es nicht über sich gebracht hatte, es dort zwischen den sich dagegen riesenhaft ausnehmenden Babypuppen mit den Schlafaugen und den blondmähnigen braven Schürzenträgerinnen auf seinem einsamen Posten sitzen zu lassen. Womöglich also hast du das geerbt. Wie du später hörtest, existierte bereits ein Präzedenzfall in Sachen Negerpuppenrettung, einst war auch deiner Mutter von Oma Meta, deren Enkeltochter sie ebenfalls, kaum begreiflicherweise, schon gewesen war – in eurem Verhältnis verzichtete man lediglich auf die Vorsilbe Ur- –, eine solche Puppe aus deiner zukünftigen Heimatstadt mitgebracht worden, wo sie sie in schmachvollsten Umständen, nämlich in einer gewöhnlichen grauen Mülltonne entdeckt und darauf zu sich selbst die Worte gesprochen hatte: »Nee, kiek eis, dän schön’n Neger, dän könn’s doch nich wegschmietn!« Und bestrickt worden war dies Findelkind von ihr aus den Resten der Wolle, die die fürs Dorf nicht gemachte empfindliche Haut deiner Mutter kratzte. Du aber findest dich bestätigt bis heute in der kindlichen Ahnung, deine Uroma sei deine nächste Verwandte. Die sowohl Mülltonnen wie auch deren Vorstufe, die Schaufenster, für Verhältnisse hielt, aus denen es zu retten galt.

Und diese Erinnerung einer Erinnerung ist etwas, das du auf der ganzen Welt keinem erzählen könntest, jedenfalls nicht so.

Ebenso Schinschinatus. Dieser frühe Zuwachs deines Bestiariums sollte nicht nur am Schrank hängen müssen, sondern jener Spazierfahrten die Wollweberstraße rauf und runter teilhaftig werden, auch wenn es eine Verpackungsherausforderung darstellte, den in rot-schwarzen Blockstreifen gebänderten Körper in dem kleinen Wagen unterzubringen. Schinschinatus war als noch namenlose Plüschschlange, in der Länge etwa das Doppelte deiner zweijährigen Körpergröße messend, eines Abends von deinem jüngsten Onkel mit in die Wohnung gebracht worden, die in jener sich nur durch fotounterstützte Erzählungen in deinem Gedächtnis befindlichen Zeit noch aus nicht mehr als einem Raum, Küche und teilendem wie geteiltem Flur bestand. Den, um in den hinteren zweizimmrigen Teil, nämlich ihre Wohnung, zu gelangen, auch die alte Käthe Riechow benutzte, die euch so gern beim Gebadetwerden zusah, sich das Zusehen regelrecht erbettelte bei deiner Mutter und mit euch zusammen in hohen Tönen aufjuchzte, wenn das Wasser spritzte. Weil sie selber keine Kinder hatte, erklärte deine Mutter später, und ein Fräulein geblieben war. Das wollte dir nicht ganz in den Kopf und kam dir wie eine unpassende Behauptung vor, denn du kanntest nur das schöne Fräulein Wernicke im Kindergarten, das, wie du dir dachtest, selbstverständlich deshalb nicht wie die älteren Tanten mit Frau angeredet wurde, weil es so viel jünger, lieber und überhaupt ganz anders war und deine Gruppe auf einem Spaziergang mitnahm in ihre Dachwohnung, wo alle eure für sie gemalten Bilder an der Wand hingen. Vom Fräulein Riechow hingegen ist als deine eigene Erinnerung nur ein Besuch im Altersheim greifbar, das wie vieles andere auch einen sich dem Verständnis verweigernden offiziellen und als bloße Lautfolge im passiven Wortschatz abgespeicherten Namen trug, Feierabendheim, und in das die Mitmieterin der Wohnung, die so schrittweise von ihrer zu eurer geworden war, schließlich hatte umziehen müssen. Du weißt noch, dass sie deiner Mutter am Ende eures Besuchs in dem hohen und schmalen und nach Altersheim riechenden Zimmer, aus dem es dich dringend fortzog, etwas Eingewickeltes mitgab, es wird aber wohl nicht das am Henkel verformte, im Krieg aus dem Feuer gerettete Glas gewesen sein, das dich deine ganze Kindheit hindurch elektrisierte, deinen befühlenden Finger anzog, oder die drei Sammeltassen, aus zweien von ihnen trinkst du noch heute Tee, eine ging später kaputt, sie waren klein, mittel und groß, für dich Vater, Mutter, Kind.

Zu deinen deutlicheren frühen Erinnerungen gehört allerdings die Zeit, in der ihr dies nicht wart, in der ihr Mutter, Kind und Charlie wart – denn dass dein Bruder auch das Kind deiner Mutter war, wusstest du zwar, aber es wollte dir schwer in den Kopf, dass er es in gleicher Weise wie du Erstgeborene war – und in Vaterabwesenheit so nah und friedlich miteinander lebtet wie später nie mehr. Du erkennst deine Mutter kaum als eure wieder, wenn du sie mit dem umgedrehten Fernrohr des Rückblicks dort im Mittelzimmer der nunmehr vergrößerten Wohnung, das später zur Küche mit eigenhändig eingebautem Bad-immer-noch-ohne-Klo umgestaltet wurde, zunächst aber als Kinder- und Allzweckzimmer diente, über den fürs Bügeln benutzten Tisch gebeugt sitzen und Seite um Seite des grün gemusterten Briefpapiers füllen siehst, während du fast geräuschlos und selbstgenügsam unter der gelben Stehlampe vor dich hinspieltest und klein Charlie im Gitterbettchen schlief, ein Herbstabendidyll in der Ofenwärme eines realsozialistisch sich selbst überlassenen Altbaus Anfang des vorletzten Jahrzehnts im vorigen Jahrhundert. Dein Vater diente seit Wochen als Reservist der Nationalen Volksarmee, die ihm wenige Jahre nach seinem Grundwehrdienst die Erinnerung an diese achtzehn Monate etwas aufzufrischen gedachte. Damals hatten beinahe tägliche Briefe in krakeliger Schrift seine Verlobte erreicht, die sie postwendend nach Schichtende beantwortet hatte. Vielleicht frischte auch in ihr die neuerliche Entfernung des Mannes von ihrer Seite etwas auf, denn wieder schrieb sie, statt das erste oder zweite Programm einzuschalten, nicht nur sonntagnachmittags Briefe und blieb in Gedanken, wenn sie euch im Park beim Aufsammeln der bunten Blätter half, die zu Girlanden aufgefädelt an den Tapeten des, wie dir schien, einzig von euch dreien wirklich bewohnten Zimmers hin und wieder luftzugbewegt leise vor sich hinraschelten.

Du hast kein Bild vom Ende dieser Zeit, der Rückkehr deines Vaters, mit der offenbar das vorherige halbwegs eingespielte Leben wiederaufgenommen wurde, in dem an Freitag- oder Sonnabendabenden der ein oder andere deiner Onkel, Brüder deiner Mutter, vorbeischneite, Brett und Messer am Abendbrotstisch bekam und hernach Bier und Gläser voll durchsichtigen oder braunen Schnapses, die ob ihrer Kleinheit ständig nachgefüllt werden mussten. Bei einer dieser Gelegenheiten also wollte dein Onkel, der knapp die Volljährigkeit erklommen haben konnte, wohl der Tatsache wiederholter Gastfreundschaft wie auch der des Vorhandenseins von Kindern Rechnung tragen und brachte ihnen als Gabe die Schlange dar. Charlie angeblich fing beim Anblick des rotschwarzen Dings mit Kugelkopf und Kulleraugen an zu heulen und verkroch sich hinterm Sessel, womit ihn euer Vater noch Jahre später aufzog. Du kannst es nicht bestätigen, weißt nichts über deine eigene, vermutlich weniger hysterische Reaktion, hast nur sogleich das hochformatige Schwarz-Weiß-Foto vor Augen, dessen rechte Hälfte hinter einem durchsichtigen, mit Reihen winziger Quadrate gemusterten Vorhang zu liegen scheint, einem Mysterium deiner Kindheit, das du nicht mit der Information in Einklang bringen konntest: Da war der Film zu Ende. Es zeigt deinen leicht unterernährt anmutenden Onkel Ingo mit mittelgescheitelten, abgestuften und sich merkwürdig über die Ohren wölbenden Haaren, durch die er sich nicht von anderen Jungmännern auf Fotos jener Zeit unterscheidet, wie er mit zu übermütigem Lachen aufgerissenem Munde in eurem graugrauen, aber gelbbraunen Sessel lümmelt, die Plüschschlange um den Hals. Du kannst dir nicht vorstellen, wer an jenem Abend vor zweieinhalb Jahrzehnten durch den Sucher der Kamera geguckt und auf den Auslöser gedrückt haben sollte und so eine der vermutlich letzten Regungen kindlicher Ausgelassenheit bei deinem Onkel, aus dem, wie du weißt, späterhin ein echter Mann und echter Deutscher wurde, festhielt. Dein Vater, der doch höchstens mal nach Aufforderung ein Foto von euch auf einem Sonntagsausflug schoss? Deine Mutter, die doch wie alle Mütter und anständigen Frauen Besäufnisse vor den Kindern missbilligte und sie ansonsten als Unbeteiligte vorübergehen ließ? Der Film aber war noch nicht zu Ende oder die Flasche noch nicht alle, dort steht sie verschwommen schwarz auf weiß auf dem Tisch und half, die Szenen des Westerns im Schwarz-Weiß-Fernseher zunehmend vergnüglicher zu gestalten. Jedenfalls war stets in den Berichten deiner Mutter von einem irgendwann auch in der Küche vernehmbaren Wiehern Onkel Ingos die Rede, das seinen Höhepunkt fand mit Erscheinen einer Schinschinatus geheißenen Figur auf der Bildfläche. Ein Saloonwirt, laut dem Gedächtnis deiner Mutter, falls du dich recht erinnerst, ein patron, wie der noch ganz unvorhersehbare Französischunterricht dir beibrachte, der dem englischen patron in Gestalt deines jugendlichen Onkels, dem Gönner und Stammgast, umgehend als Namenspatron taugte für das kopfüber ihm am Hals baumelnde flauschige Reptil, noch bevor du aus deinem geringen Namensvorrat wählen konntest.

Eine Puppe von fast deiner Größe hattest du zur Überraschung deiner Eltern Beate genannt, bis sie herausfanden, dass es ein Mädchen gleichen Namens in deiner Krippengruppe gab, dem du offenbar geneigt warst und mit dem du deine erste kulinarische Leidenschaft, für Fleischsalat nämlich, entdecktest. Einmal, als deine Mutter dich nachmittags abholen kam und an die Gruppe gerade statt Kuchen in Häppchen geschnittene belegte Brote verfüttert wurden, warst du nicht zum Aufbruch zu bewegen, ohne wenigstens noch ein weiteres Fleischsalatstüllchen an Beates Seite schmausen zu dürfen, du liefst ganz entgegen deiner üblichen Scheu zur Erzieherin und erbatest noch eine Ration und erklärtest dabei vernehmlich und bestimmt: »Beate auch!«Du weißt nicht mehr, wie sie aussah, weißt nicht, wie lange eure zarte Gemeinschaft währte noch wie sie endete, wahrscheinlich bald nach diesem Höhepunkt, als ihr nach Ende der Krippenzeit verschiedenen Kindergärten zugeteilt wurdet, aber eine erste Freundin muss sie gewesen sein, und gemeinsam müsst ihr gedurstet haben, wenn die Erzieherinnen euch wieder zu wenig zu trinken gaben, um euch nicht so häufig aufs Töpfchen setzen zu müssen. Zu Hause angekommen, stürztest du gierig den für dich vorbereiteten kalten Tee hinunter. Beate zotteltest du im Würgegriff unter deinen fleischigen Arm geklemmt durch die Zimmer, bis zu jenem Tag, an dem etwas dumpf neben dir aufkam und du ihren Kopf über den Boden kullern sahst. Dein Entsetzensgeschrei ließ deine Eltern panisch herbeistürzen, deinen Bruder in Unkenntnis der Lage in seinem Laufgitter lautstark miteinstimmen, ließ deine Mutter dich eilends vom Ort der Enthauptung wegtragen und Minuten später deinen Vater behaupten, es sei doch alles in Ordnung, wobei er dir die wieder vervollständigte Beate unter die nassen Augen hielt, womöglich in Erwartung eines dankbaren Kleinkindlächelns. Hauptsache, alles sah wie vorher aus. Als hättest du dir alles vielleicht nur eingebildet. Doch du wandtest dich ab. Das war nicht mehr Beate, und sie würde es nie mehr sein. Etwas war geschehen, das sich nicht rückgängig machen ließ.

Zu Schinschinatus – ein Name, den du akzeptiertest wie irgendeinen – blieb das Verhältnis ungebrochen wie auch ungeklärt in der Frage, die dich anscheinend nie beschäftigt hat, ob es sich bei diesem Haus-, Spiel- und Bettgenossen – tatsächlich wurden ja diejenigen Plüschtiere, die Charlie und du jeweils abends zum Mit-ins-Bett-Nehmen erkort, selbstverständlich Beischläfer genannt, und nicht dieser, sondern der Gebrauch des Wortes in nur noch einem spezifischen Sinne später erscheint dir naiv – ob es sich bei Schinschinatus also um einen Er oder eine Sie handelte. Bei allen anderen hatte es sich wohl von allein ergeben durch die in deiner Muttersprache angeblich unberechenbare, quasi bedeutungslose Verteilung der grammatischen Geschlechter, der Hund, der Hase, die Maus, die Katze, wobei gerade wegen möglicher doppelter Zuordnungen der Leopard schon changierte, und auch die Dinge waren der, die, das, und Letzteres bildete eine eigene, kann sein, etwas näher am Männlichen befindliche Gattung, zum Beispiel das rosa Schwein, das du aber erst zur Einschulung bekamst. Schinschinatus, die Schlange, jedoch stellte eine unbedachte Ausnahme dar. Einen Schlangurri vielleicht, wie von deinem Vater so titulierte überschlank in die Höhe geschossene Geschlechtsgenossen mit mangelnder Körperspannung und unkoordinierten Bewegungen, die auch dich an vergeilte Pflanzen denken lassen. In den Grenzjahren zwischen Kindheit und Jugend schien sich eine äquivalente Entwicklung bei dir abzuzeichnen mit plötzlichem starken Längen-, nicht jedoch Dickenwachstum, im Gegenteil, und du selbst fühltest die ungewohnte Ungelenkheit und wusstest nicht wohin mit deinen Gliedmaßen. Es wuchs sich aus, du wuchst wie alle anderen aus all deinen Entwicklungsphasen heraus, es erschien dir normal, das heißt, du bemerktest es kaum, nur, als du eines Sommernachmittags mit zehn oder elf dich fragtest, ob du nun zu alt seist, um mit Puppen zu spielen, du besprachst es mit deiner ein Jahr jüngeren Freundin, du fühltest Neid in dir aufsteigen und eine noch unvertraute Trauer, und dann war es so und du an anderem interessiert im nächsten Sommer, wobei du dich kaum entsinnen kannst, woran, in jenem komischen zerflockten Alter. Schinschinatus muss noch an deinem Schrank gehangen haben, doch bis wann? Wo ist er abgeblieben? Deine Mutter, die in Erziehungsanfällen aus verschiedenen Gründen stets drohte, all deine Plüschtiere an arme Kinder zu verschenken, sie hat es nie wahr gemacht. Du weißt, dass sie alle noch da waren, in der Truhe neben der Tür zum Dachboden, als sie weg war.

Zwischen Schinschinatus und dir – es fiel dir aber nie auf – bestand mehr als bloß vorübergehend eine Ähnlichkeit, und mehr als äußerlich, denn ein Name ist nichts Äußerliches. An deinem einzigen je in der Stadt Mailand verbrachten Tag erst, näher am heutigen als an dem von Schinschinatus’ Einzug in die Wollweberstraße 54, doch einem anderen Leben zugehörig, erreichten sich in dir endlich die Parallelen eurer Namensgebung, wie du da standest auf der Piazza Cincinnato und diese zumindest, was einen Filmsaloonwirt anging, etwas in dir erhellte. Vielleicht ein Spaghettiwestern, dachtest du amüsiert, und da fiel dir der andere ein. Denn auch du verdankst, es sei unumwunden vermerkt, einem Film dieses Genres, ob nun gedreht in den Abruzzen, in Apulien oder Arizona, deinen eigenen Namen. Nicht gerade etwas wie Schinschinatus, effanineffable. In den großen wie kleinen Sprachen dieser Welt vertreten mit unzähligen Varianten, in Benennungen von Stadt, Land, Fluss ungefähr das Gegenteil des Namensvorbildes einer Stadt wie Cincinnati, ein Allerweltsname. There are fancier names if you think they sound sweeter, / Some for the gentlemen, some for the dames. Was euch aber just in dieser Verschiedenheit verband, war die nicht wenigen nicht evidente Zuordnung von Namen und Namensträger_in. Eine Schlange unklaren Genus mit Namen Schinschinatus. A girl named Johnny. Dabei hast du ja nie herauskriegen können, ob Patti das wirklich singt, nur ist es egal, denn du hießest schon so, bevor du wieder und wieder versuchtest, mit dem Ohr verifizierend in die Plattenrille zu kriechen. Kaum glaubtest du es bewiesen, bezweifeltest du es wieder, Musikhören im Stile Sisyphos’, und was du hier an Eindeutigkeit wolltest, gegen das übtest du doch mit ebensolcher Arbeit in größerem Stil stille Gegenwehr, bis auf diesen Tag. Schischyphusch, es ist zum Lachen und zum Heulen. The Naming of Cats is a difficult matter, / It isn’t just one of your holiday games. Doch genau das war es.

Aber als du den kleinen nachgiebigen, fast bemitleidenswert verformbaren wie auch den prallen und kaum von dir zu bewegenden Sofakissen, deren Steifheit dich auf ganz ähnliche Weise rührte, die herbeigeschleppten Jacken, Pullover und sogar Hosen überzogst, hattest du noch keine Ferien, sondern deine Mutter Haushaltstag, an dem du einmal im Monat nicht in den Kindergarten brauchtest und Mutti nicht früh zur Arbeit ging. Sie ging sowieso nicht, sondern schwang sich, nachdem sie euch im Kindergarten abgeliefert hatte, mit dem linken Fuß auf der linken Pedale anrollend in einer einzigen fließenden, kühn-eleganten Bewegung aufs Fahrrad, du lerntest es nie, so aufzusteigen, zu deiner Schande. Meistens schafftest du es, vom Vorraum rechtzeitig zum Fenster im großen Gruppenraum zu rennen, um diesen Abgang deiner Mutter verfolgen oder wenigstens noch ihren Rock auf dem roten Diamant-Rad um die Ecke flattern zu sehen. Dabei galtest du eigentlich als Papakind. Nicht nur, dass man euren Physiognomien eine stärkere Ähnlichkeit zusprach und sich das Rot des väterlichen Bartes ins bräunliche Haar seiner Kinder mischte, auch empfingst du ihn gerade im ersten Kindergartenjahr abends, wenn er dich abholte, mit einer Begeisterung, stürztest ihm derart entgegen, dass es für die noch anwesenden Erzieherinnen, die um diese Zeit gegenüber den Kindern nicht selten schon in der Überzahl waren, nichts als ein Ausdruck abgöttischer Liebe sein konnte. In der Tat hasstest du die dauergewellten alten Tanten dafür, wenn sie sich über dich mokierend damit drohten, deinen Papa mit nach Hause zu nehmen, er gefiele ihnen so gut. Sie ergötzten sich an deinem erbosten Gesicht, auf dem sie so sehr die Eifersucht sich winden sehen wollten, dass sie darunter nicht glatt und fest anliegend die entschiedene Abneigung erkennen konnten, den Ausdruck gänzlicher Fremdheit. Ein dich von oben bis unten durchziehendes Gefühl, das sich steigerte gegen den späten Nachmittag, wenn das Verhältnis von Kindern zu Erzieherinnen immer ungünstiger wurde, du manchmal die einzige noch Verbliebene aus der Gruppe warst und mit der ungeteilten seufzenden Aufmerksamkeit jener Tanten konfrontiert, die dich, bis du endlich abgeholt wurdest, beschäftigen mussten. Dabei mussten sie gar nicht, du konntest dich alleine beschäftigen, nur machte es keinen Spaß unter ihren behindernden Blicken. Dein Vater war die Rettung aus diesen zäh verspielten Stunden, und was sein Erscheinen an offener Freude bei dir auslöste, war zum größeren Teil die Erleichterung über das Wieder-Sichtbarwerden der anderen, eigentlichen Welt, in der du sein konntest, wie du warst, und das verdrängte sogar den Groll darüber, dass er hätte früher kommen können, wie du sehr wohl wusstest. So viel Schlafen brauchte doch kein Mensch. Und dann noch der langweilige lange Weg zu Charlies Krippe, auf dem du lauf- und maulfaul neben ihm hertrotteltest. Nicht, dass er viel geredet hätte, dein Vater. Sofort nach der Abholfreude also setzte etwas ein, das dem Gegenteil dieser Freude nahe kam, nämlich das plötzliche Unverständnis für sie, Anlass und Ausmaß verdünnten sich auf einmal wie in der kühlen Luft der Zigarettenrauch deines Vaters und ließen nichts zurück als eine Art Schamgefühl und den Ärger über dich selbst. Als hättest du dich in deiner Freude verraten, und zwar nicht nur deine Bedürfnisse, sondern dich selbst, weil der Mensch, dem du sie entgegenbrachtest, doch nicht der richtige war, jedenfalls nicht ganz.

Und dieses rasche Vor-Zurück mit den übertriebenen Ausschlägen in entgegengesetzte Richtungen ist dir noch immer wohlbekannt, du wirst nicht klug, du könntest Wetten darauf abschließen und solltest nicht mehr überrascht sein, wenigstens. Wenn wiederum jemand im rechten Moment erscheint, dich erlöst, sich deiner annimmt und deine Dankbarkeit dafür ins Überschwängliche, Unverantwortliche, Missverständliche gerät, die Dankbarkeit gegenüber dem Schicksal in Gestalt dieser Person. Es ist keine Lüge, es ist die ganz natürliche Folge des Wartens. Und du bist nicht dafür, Vergleiche anzustellen und abzumessen, wer schlechter wegkam, aber gewartet hast du viel. Und das mit einer ungeduldigen Natur. Du kannst dich nicht beschweren, vergessen hat das Schicksal dich nie, du wurdest immer abgeholt. Aber es dauerte so lange, schrammte so knapp am Vergessenwerden vorbei, dass daraus keinerlei Sicherheit zu gewinnen war, keine Zuversicht. Vielmehr kamst du dir meist wie die gerade so noch einmal Begnadigte vor, wie die, für die sich zufällig doch noch etwas fand. Es war nicht immer das Falsche. Aber auch das Richtige, gerade das, gewann dadurch so unverhältnismäßig an Gewicht und zehrender Nachwirkung, erlangte eine Bedeutung, die es an sich doch nicht besitzen konnte. Und so etwas zelebriert dann als periodische Erinnerung noch immer den einstigen Einschlag im Gefühlshaushalt und tut, als gäbe es keinen Unterschied zu dem, bei dem sich die Frage nach einem An-Sich nie stellte, das kommt dir schändlich vor. Du strengtest dich an, versuchtest, das Schicksal etwas besser in die Gänge zu bringen, zu überreden, durch Tricks und Betragen in deine Richtung zu biegen. Es klappte nie. Don’t speak until you’re spoken to. Alle Erinnerungen um die Beine schmierende Katzen, die herrschsüchtig das Weitergehen hindern, aber dir unter den Händen wegspringen.

Irgendwann hattet ihr einen Nymphensittich. Aber irgendwie war er nicht ganz das, was du dir unter einem Haustier vorstelltest. Man konnte ihn nicht streicheln, das war dir klar noch vor dem ersten Versuch, der lässt sich nich ankommn, Annäherungsversuche kamen nicht gut an bei ihm, Ottokar. Deinen Vater kümmerte das nicht, er ließ sich von Ottokar in den Finger hacken und lachte, je empörter der Vogel in seinen Händen die Kakaduhaube aufstellte und kreischend wütete. Du sahst es mit an, weil du die Unempfindlichkeit deines Vaters nicht enträtseln konntest. Lag sein Empfinden unter der Kruste jahrealter Teigschichten? Würde es, wenn du erst erwachsen warst, auch für dich Schutzschichten geben, die dich davor bewahrten, mit Ottokar in seiner gepeinigten Papageienhaut zu stecken, im Griff einer hornhäutigen Hand, die nicht begriff, was sie festhielt, und daneben gleichzeitig an den erschreckenden Schmerz in deiner eigenen Daumenhaut zu denken, sollte sich dieser kräftige Schnabel hineinhauen? Dir war zum Heulen, wenn dein Vater den sich nicht beruhigenden Ottokar schließlich freiließ, und du ahntest, es geschah weniger aus Einsicht denn aus Überdruss. Und weil ja die Kartoffeln, mit deren Schalen Ottokar umherschleudernd gespielt hatte, fürs Sonntagmittag aufgesetzt werden mussten. Weil die Tochter ja nicht über Nacht im Kindergarten bleiben konnte, deshalb holte er sie ab.

Einmal flog Ottokar direkt aus deines Vaters Hand auf deine Schulter, im Vogelherzen noch die Panik, mit der er blindlings diesen ungewohnten Platz ansteuerte, ahnungslos, was die Angestammtheit seiner Artgenossen auf Piratenschultern betraf, im Anflug streifte sein Flügel deine Wange. Stumm und ernst vor Überraschung wagtest du, vorsichtig ein paar Schritte mit dem neuartigen, zugleich deutlich fühlbaren, dennoch unerwartet geringen Gewicht auf deiner Schulter zu gehen, als wolltest du ihm, von seiner endlich gefundenen Zuflucht aus, die ihm zur Genüge bekannte, doch nicht vertraute Welt eurer Wohnung noch einmal aus neuer Perspektive zeigen, behutsam im Rückwärtsgang an ihm vorbeiziehend, denn er war so gelandet, dass das plötzliche zwittrige, zittrige Wesen, das ihr deinem Gefühl nach bildetet, janusköpfig in zwei Richtungen blickte. Du konntest dich nur halb schielend der Ruhe von Ottokars Schwanzfedern versichern und spürtest, sie war trügerisch. »Na, Seeräuber-Jenny, fehlt nur noch die Augenklappe!», rief dein Vater aus, lockte damit Charlie herbei, der wie auf ein Stichwort aus dem Kinderzimmer angerannt kam und noch mitkriegte, wie Ottokar auf dein Nicki kackte, bevor er, dir die Krallen in die Schulter bohrend, grob aufflatterte, und vorbei war die Vorstellung. Und sie wissen immer noch nicht, wer ich bin.

Es wiederholte sich nie und Ottokar blieb auf Distanz, vielleicht schämte auch er sich seiner Verirrung. Du wusstest wohl, dass du nicht seine Rettung warst, und schämtest dich gleich mit. Trotzdem mochtest du ihn, du mochtest sie alle, die massige schwarze, doch früh verstorbene Senta deiner ebenfalls vorzeitig verschwindenden Großeltern, deren schmales Gehöft sie bewachte und auf deren Rücken man dich setzte, bevor du laufen konntest. Die Katzen jenes löchrigen Dorfes, deren aberwitzige Musterungen – du erinnerst dich an eine weiße mit roten Ohren und einem wie angeheftet wirkenden graugetigerten Schwanz – dich zu Spekulationen über ihre Verwandtschaftsgrade veranlassten. Du mochtest sogar die Hühner und konntest ihnen lange zusehen, ohne noch darauf zu warten, dass sie deinen Blick erwiderten. Du mochtest insbesondere die selten zu erspähenden Frösche am verkeimten Tümpel im Park, in den euer Hinterhof nur durch einen Zaun getrennt überging. Und die bis in eure Küche i-ahenden Esel, die Ziegen und Schafe, Kaninchen und Hängebauchschweine, die dieser Park zu bieten hatte, der kein Tierpark war, Tierparks gab es nur in anderen Städten, und in den es dich immer wieder zog, um die Tiere an ihren Gehegen besuchen zu können, für die man dir Aufmerksamkeit und Zuneigung nicht erst hatte nahelegen müssen, guck mal da, mach mal ei, ei! Es war einfach da und wird vom Wort tierlieb nicht erfasst, du nimmst an, dass auch kinderlieb kaum das beschreibt, was Menschen, die es beschreibt, empfinden, doch fehlt dir der Vergleich. Auch du bist lieb zu Kindern, fühlst dich seltsam geehrt, richten sie ihre Worte an dich, und hilflos gerührt, fassen sie gar Vertrauen zu dir, nehmen dich an die Hand. Du greifst instinktiv ein bei absehbaren Gefahren, versuchst dich als Trösterin, und die zahlreichen Gründe zum Weinen, der initiale Entsetzensschrei der Neugeborenen resonieren in dir. Doch zu sagen, es wäre das Gleiche, geschähe aus der gleichen ungreifbaren, unmöglich bis an seinen Ursprung rückverfolgbaren unwillkürlichen Hinneigung, wäre eine Lüge. Und du schafftest es ja nicht mal, die anderen, denen gegenüber du lange glaubtest, dieses Defizit nicht sichtbar werden lassen zu dürfen, so zu imitieren, dass sie es nicht doch witterten. Es hatte den Vorteil, dass du meist nicht diejenige warst, der man automatisch das eigene Baby überreichte, und den Nachteil, dass es aus kaum bewusster diebischer Freude daran, wie du dich anstellen würdest, mitunter doch geschah, letztlich aus Lust an der Zurechtweisung. Es war schließlich normal, Kleinkinder niedlich zu finden, sie auf den Arm nehmen zu wollen und anteilnehmende Konversationen über Wohl und Wehe des Hosenscheißeralltags zu führen. Der Mutterschaft die gebührende Reverenz zu erweisen. Aber du konntest nicht, weiß der Fuchs, warum. Das Einzige, was dich daran beschäftigte, war, warum du die Einzige weit und breit zu sein schienst. Das kam dir unnormal vor. Es verstärkte dein Misstrauen gegen die Art, der du angehörtest, und das speiste sich wiederum ein in dein Gefühl gegenüber den Mechanismen und Ergebnissen ihrer Fortpflanzung. Kinder waren auch Menschen. Wie einen leichten und entgegen aller selbstverordneten Unempfindlichkeit nicht ignorierbaren Zahnschmerz spürtest du stets den guten Willen in deinem seltenen Umgang mit Kindern, das kurze Dich-Zusammenreißen, das nötig war, um dich ihnen zuzuwenden (und nicht so zu tun, als bemerktest du sie nicht), und merkwürdigerweise am stärksten wahrnehmbar, je jünger sie waren. Mag sein, es lag daran – abgesehen davon, dass du wie die meisten Lebewesen dem schlichten Schiss vor Ungewohntem unterliegst –, dass ihre Mütter meist direkt danebenstanden. Und man nur alles falsch machen konnte. Das gibt schon ein gutes Beispiel dafür ab, was dir an menschlichem Verhalten, unweigerlich eingeschlossen deines eigenen, widerwärtig ist: dass die Entbehrungen, die ein bestimmter Weg mit sich bringt, offenbar immer dadurch wieder reingewirtschaftet werden sollen, dass man die, die diesen Weg nicht eingeschlagen haben, nicht für voll nimmt. Und handelt es sich gar noch um einen empfohlenen und ausgeschilderten Hauptweg, so glaubt man auch das Recht dazu zu besitzen, denn stehen nicht seit jeher die übrigen Wege im Verdacht, Schleichwege zu sein?

Drücken wolltest du dich gewiss als Kind vor deinen gesellschaftlichen Verpflichtungen im Wartezimmer der Kinderabteilung der Poliklinik und sahst keine Veranlassung, dich zu wohlgefälligem, also unauffälligem Verhalten zu überreden oder von deiner Mutter überreden zu lassen, die dich von ihrem Schoß hinunter zu den anderen kranken, aber munter spielenden Kindern schieben wollte, was dir im Rückblick nur noch ungeheuerlicher vorkommt. Als dürften gegenüber der Unerlässlichkeit gesunden Sozialverhaltens die Gefahren einer weiteren Ansteckung nicht ins Gewicht fallen. Den Götzen menschlicher Überzeugung musste geopfert werden und schon allein die Befolgung des Rituals würde die Folgsamen immunisieren. Und genau genommen ging es ja um nichts anderes als eine Ansteckung. Doch als deiner stummen Weigerung nicht beizukommen war, holte deine Mutter endlich das Buch aus der Tasche und begann, dir in vor Missbilligung verhaltenem Ton die bebilderten Zeilen vorzulesen, die du auswendig kanntest, unerbittlich erhobst du Einspruch, wollte sie ein Wort vergessen oder ganze Sätze unterschlagen. Eure nicht ganz einhellige Beschäftigung aber lockte wie eine gegrillte Wurst die Wespen, von denen man doch stets dachte, sie seien nur aus auf Süßes, deine lästigen Altersgenossen an, die sich mit begierigen offenen Mündern um deinen Thron scharten und auch was abhaben wollten von der Geschichte. Aber das ging doch nicht, es war deine Geschichte und es war deine Mutter und es war Verrat, dass sie die Schmarotzer einfach gewähren ließ, wo sie sie mit einer Bewegung ihres vertrauten Handgelenks hätte verscheuchen sollen. Doch jetzt starrtest du mit steigendem Tränenpegel auf diese Knöchel und die glatte, feste, doch entspannte Haut ihrer Hand und es war keine andere als die einer fremden Frau. Am schlimmsten aber befiel dich die Trauer darüber, dass die ganze Freude weg war, die Vorfreude auf diesen Tag allein mit deiner Mutter, mit der du, hattest du erst mal das Ausziehen für die Waage, das kalte Metall auf deiner Brust mit dem mürrischen Gesicht der Ärztin am anderen Ende des Schlauchs und die sich in deinen Bauch drückenden Finger willig über dich ergehen lassen, zu ungewöhnlicher Vormittagszeit durch die Stadt spazieren konntest, mit dem hehren Gefühl einer Ausnahme, und zu Hause würde es in Kürze nach Stampfkartoffeln, zerlassener Butter und Bratei riechen, der Kranken bekömmliche Nahrung.