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Jeffrey Archer

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Beschreibung

Florentyna Kane, die Tochter des legendären Hotelmagnaten Abel Rosnovski, hat es in einer beispiellosen Karriere bis zum Weißen Haus geschafft. Sie ist die erste amerikanische Präsidentin und fest entschlossen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Doch das Schicksal hält schwere Prüfungen bereit. Durch puren Zufall erfährt das FBI von einem perfiden Mordanschlag auf Florentyna Kane. Fünf Personen wissen alle Details – eine Stunde später sind vier von ihnen tot. Nur der Agent Mark Andrews bleibt übrig. Er hat sieben Tage Zeit, das Attentat zu verhindern. Andrews kann sich niemandem anvertrauen ... und die Frau, die er liebt, ist die Tochter des hauptverdächtigen Senators.

»Als ich diesen Roman vor langer Zeit schrieb, verlegte ich die Handlung sechs oder sieben Jahre in die Zukunft. Später wurde mir klar. dass ich meine Geschichte umschreiben musste.

In dem Roman ›Abels Tochter‹, den ich in der Zwischenzeit als Fortsetzung zu ›Kain und Abel‹ geschrieben hatte, wird die Hauptfigur Florentyna Kane der erste weibliche Präsident der Vereinigten Staaten. Es erschien mir daher nur logisch, die Neufassung ›Kains Erbe‹ um meine erfundene Präsidentin Florentyna Kane kreisen zu lassen und eine Verbindung zu ›Kain und Abel‹ und ›Abels Tochter‹ zu schaffen – und meine Familiensaga damit abzuschließen.

Die wesentlichen Handlungselemente der ersten Fassung habe ich in dieser überarbeiteten Version beibehalten, jedoch einige Änderungen – bedeutende wie auch geringfügige – durchgeführt.« Jeffrey Archer

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DAS BUCH

Durch puren Zufall erfährt das FBI am 3. März um 19 Uhr abends von einem perfiden Mordanschlag auf Florentyna Kane, die amerikanische Präsidentin. Um 20.30 Uhr wissen fünf Personen alle Details – eine Stunde später sind vier von ihnen tot. Nur der Agent Mark Andrews bleibt übrig. Er hat genau sieben Tage Zeit, das Attentat zu verhindern. Andrews kann sich niemandem anvertrauen, denn der unbekannte Täter scheint aus den eigenen Reihen zu kommen. Und die Frau, die er liebt, ist die Tochter des hauptverdächtigen Senators.

DER AUTOR

Jeffrey Archer, geboren 1940 in London, verbrachte seine Kindheit in Weston-super-Mare und studierte in Oxford. Archer schlug eine bewegte Politiker-Karriere ein, die bis 2003 andauerte. Weltberühmt wurde er als Schriftsteller, sein Durchbruch war die Familiensaga »Kain und Abel«. Archer zählt heute zu den erfolgreichsten Autoren Englands. Sein historisches Familienepos »Die Clifton-Saga« stürmt auch die deutschen Bestsellerlisten und begeistert eine stetig wachsende Leserschar. Archer ist verheiratet, hat zwei Söhne und lebt in London und Cambridge.

JEFFREY ARCHER

KAINS ERBE

ROMAN

Aus dem Englischen von

Ilse Winger und Margarete Venjakob

Bearbeitet von Barbara Häusler

WILHELM HEYNE ,VERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe SHALL WE TELL THE PRESIDENT? erschien erstmals 1977 bei Jonathan Cape Ltd.

Der Roman erschien in Deutschland bereits unter dem Titel Das Attentat bei Lübbe.

Die Verwendung des Liedtextes im Kapitel 18 erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Chappell & Co., London

Die Personen und Ereignisse dieses Buches sind – mit Ausnahme historischer Persönlichkeiten und Handlungen – frei erfunden. Jede Ähnlichkeit ist zufällig.

Vollständige deutsche Erstausgabe 06/2018

Copyright © 1977, 1986 by Jeffrey Archer

Copyright © 2018 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Barbara Häusler

Covergestaltung: bürosüd

unter Verwendung von © Trevillion images/Lee Avison

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20778-6 V003

www.heyne.de

Für Adrian und Anne

Vorbemerkung

Als ich diesen Roman vor langer Zeit schrieb, verlegte ich die Handlung sechs oder sieben Jahre in die Zukunft. Später wurde mir klar, dass ich meine Geschichte umschreiben musste.

In dem Roman »Abels Tochter«, den ich in der Zwischenzeit als Fortsetzung zu »Kain und Abel« geschrieben hatte, wird die Hauptfigur Florentyna Kane nämlich der erste weibliche Präsident der Vereinigten Staaten. Es erschien mir daher nur logisch, die Neufassung »Kains Erbe« um meine erfundene Präsidentin Florentyna Kane kreisen zu lassen und eine Verbindung zu »Kain und Abel« und »Abels Tochter« zu schaffen – und meine Familiensaga damit abzuschließen.

Die wesentlichen Handlungselemente der ersten Fassung habe ich in dieser überarbeiteten Version beibehalten, jedoch einige Änderungen – bedeutende wie auch geringfügige – durchgeführt.

Jeffrey Archer

1

Dienstag, 20. Januar, 12 Uhr 26

»Ich, Florentyna Kane, schwöre feierlich …«

»Ich, Florentyna Kane, schwöre feierlich …«

»… dass ich das Amt eines Präsidenten der Vereinigten Staaten getreulich ausüben werde …«

»… dass ich das Amt eines Präsidenten der Vereinigten Staaten getreulich ausüben werde …«

»… und mit allen meinen Kräften die Verfassung der Vereinigten Staaten erhalten, schützen und verteidigen werde …«

»… und mit allen meinen Kräften die Verfassung der Vereinigten Staaten erhalten, schützen und verteidigen werde. So wahr mir Gott helfe.«

Während ihre Hand noch immer auf der Douay-Bibel lag, lächelte sie – der 43. Präsident – dem First Gentleman zu. Es war das Ende eines Kampfes und der Beginn eines neuen. Florentyna Kane wusste, was Kampf bedeutete. Ihren ersten hatte sie ausgefochten, um in den Kongress gewählt zu werden, dann in den Senat; und schließlich, vier Jahre später, war sie der erste weibliche Vizepräsident der Vereinigten Staaten geworden. Nach einer verbissenen Vorwahlschlacht war es ihr mit knapper Not gelungen, Senator Ralph Brooks beim Nationalkonvent der Demokraten im Juni im fünften Wahlgang zu schlagen. Im November war sie aus der noch grimmigeren Schlacht gegen den republikanischen Kandidaten, einen ehemaligen Kongressabgeordneten aus New York, siegreich hervorgegangen. Florentyna Kane wurde mit 105.000 Stimmen oder einem Prozent Vorsprung Präsidentin – der knappsten Mehrheit in der amerikanischen Geschichte, knapper sogar als die John F. Kennedys, der 1960 mit 118.000 Stimmen Vorsprung über Richard Nixon gesiegt hatte.

Während der Beifall verklang, wartete die Präsidentin, bis die einundzwanzig Salutschüsse abgefeuert waren. Florentyna Kane räusperte sich und wandte sich fünfzigtausend aufmerksamen Bürgern vor dem Kapitol zu, und weiteren zweihundert Millionen, die irgendwo im Lande vor ihren Fernsehschirmen saßen. Decken und Wintermäntel, die bei diesem Anlass normalerweise notwendig waren, brauchte man diesmal nicht. Für Ende Januar war das Wetter außergewöhnlich mild, und die Rasenfläche gegenüber der Ostfront des Kapitols, auf der eine große Menschenmenge lagerte, war zwar feucht, aber nicht mehr schneebedeckt.

»Vizepräsident Bradley, Herr Vorsitzender des Obersten Gerichtshofs, Präsident Carter, Präsident Reagan, ehrwürdige Geistlichkeit, liebe Mitbürger.«

Der First Gentleman hörte zu und lächelte, als er Worte und Sätze wiedererkannte, die er selbst zur Rede der Präsidentin beigesteuert hatte.

Der Tag hatte am Morgen um halb sieben begonnen.

Nach dem glanzvollen Konzert, das ihnen zu Ehren am Vorabend der Inauguration veranstaltet worden war, hatten sie beide nicht sehr gut geschlafen. Florentyna hatte zum letzten Mal ihre Antrittsrede durchgelesen, entscheidende Worte mit Rotstift unterstrichen und noch geringfügige Änderungen vorgenommen.

Als Florentyna an diesem Morgen aufgestanden war, hatte sie rasch ein blaues Kleid aus ihrer Garderobe gewählt. Sie steckte die kleine, zarte Brosche an, die Richard, ihr erster Mann, ihr kurz vor seinem Tod geschenkt hatte.

Jedes Mal, wenn sie diese Brosche trug, dachte sie an ihn; wie er an jenem Tag das Flugzeug nicht mehr erreicht hatte wegen eines Streiks des technischen Personals, dann jedoch ein Auto mietete, um nur ja an Florentynas Seite sein zu können, wenn sie ihre Rede in Harvard hielt.

Richard sollte ihre Rede jedoch nie hören, die Newsweek als »Plattform für die Präsidentschaft« bezeichnete, denn als Florentyna das Krankenhaus erreichte, war er bereits tot.

Abrupt kehrte sie in die reale Welt zurück, deren mächtigste politische Führerin sie war. Und doch nicht mächtig genug, um Richard zurückzuholen. Florentyna betrachtete sich prüfend im Spiegel. Sie fühlte sich zuversichtlich. Schließlich war sie nun schon seit fast zwei Jahren Präsidentin, seit Präsident Parkins plötzlichem Tod.

Historiker wären überrascht, wenn sie herausfänden, dass sie vom Tod des Präsidenten erfahren hatte, als sie gerade versuchte, einen Single Putt gegen ihren ältesten Freund und künftigen Ehemann Edward Winchester ins Loch zu bringen.

Sie hatten ihr Spiel unterbrochen, als Hubschrauber über ihren Köpfen kreisten. Einer davon landete, ein Captain der Marines sprang heraus, rannte auf sie zu, salutierte und sagte: »Madam President, der Präsident ist tot.« Jetzt hatte das amerikanische Volk bestätigt, dass es gewillt war, weiterhin mit einer Frau im Weißen Haus zu leben. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte hatten die Vereinigten Staaten eine Frau in die begehrteste politische Position gewählt, die sie zu vergeben hatten. Florentyna warf einen Blick aus dem Schlafzimmerfenster, auf den breiten, ruhig dahinfließenden Potomac, der im Licht des frühen Morgens schimmerte.

Sie verließ das Schlafzimmer und ging geradewegs in das private Esszimmer, wo Edward, ihr Ehemann, mit ihren Kindern William und Annabel plauderte. Florentyna küsste alle drei, dann setzten sie sich zum Frühstück.

Sie lachten über die Vergangenheit und sprachen über die Zukunft, aber als die Uhr acht schlug, verabschiedete sich die Präsidentin, um sich ins Oval Office zu begeben. Ihre Assistentin und Pressechefin Janet Brown saß auf dem Korridor.

»Guten Morgen, Madam President.«

»Guten Morgen, Janet. Alles in Ordnung?«, fragte Florentyna lächelnd.

»Ich glaube schon, Madam.«

»Gut, warum planen Sie den Tag nicht wie gewohnt? Kümmern Sie sich nicht um mich. Ich werde Ihren Anordnungen folgen. Was soll ich zuerst machen?«

»842 Telegramme und 2412 Briefe sind eingetroffen. Die werden warten müssen, bis auf die Briefe an die Staatsoberhäupter. Die Antworten werden bis spätestens zwölf Uhr fertig sein.«

»Gut, schreiben Sie das heutige Datum, das wird ihnen gefallen. Ich werde jeden Brief persönlich unterzeichnen, sobald er fertig ist.«

»Gern, Madam, und hier ist Ihr Tagesprogramm. Der offizielle Teil beginnt um elf Uhr mit einem Imbiss im Weißen Haus mit den früheren Präsidenten Carter und Reagan. Dann fahren Sie zur Inauguration. Nach dem Lunch im Senat nehmen Sie vor dem Weißen Haus die Parade ab.«

Janet Brown schob ihr ein geheftetes Bündel Karteikarten zu, 7,5 mal 12,5 Zentimeter im Format, wie sie es täglich seit fünf Jahren tat, nachdem sie zu Florentynas Stab gestoßen war – damals, als diese zum ersten Mal in den Kongress gewählt worden war. Auf den Karten war im Stundentakt das Tagesprogramm der Präsidentin zusammengefasst. Florentyna überflog es und dankte Janet Brown. Edward Winchester erschien in der Tür. Wie immer lächelte er bewundernd, als sie sich ihm zuwandte. Sie hatte ihren impulsiven Entschluss, ihn zu heiraten – damals auf dem Golfplatz, beim achtzehnten Loch, an jenem denkwürdigen Tag, als sie von Präsident Parkins Tod erfuhr –, kein einziges Mal bereut und war überzeugt, dass Richard diese Entscheidung gebilligt hätte.

»Ich werde bis elf Uhr über meinen Akten sitzen«, teilte sie ihm mit. Er nickte und ging hinaus.

Vor dem Haus hatten sich bereits eine Menge Gratulanten angesammelt.

»Ich wünschte, es würde regnen«, sagte H. Stuart Knight, der Chef des Secret Service, zu seinem Referenten. Auch für ihn war es einer der wichtigsten Tage im Leben. »Ich weiß, dass die meisten dieser Leute harmlos sind, aber Menschenansammlungen machen mir Angst.«

Vor dem Haus standen etwa hundertfünfzig Menschen, fünfzig davon waren Knights Leute. Die Vorhut, die immer fünf Minuten vor dem Präsidenten losfuhr, prüfte bereits akribisch die Route zum Weißen Haus. Männer des Secret Service beobachteten kleine Menschenansammlungen entlang der Strecke. Einige der Leute schwenkten Fähnchen. Sie waren hier, um der Inauguration beizuwohnen und ihren Enkelkindern eines Tages erzählen zu können, dass sie dabei gewesen waren, als Florentyna Kane Präsidentin der Vereinigten Staaten wurde.

Um zehn Uhr neunundfünfzig öffnete der Butler das Tor, und die Menge begann zu jubeln.

Die Präsidentin und ihr Mann winkten den lächelnden Menschen zu, und nur aus langjähriger, beruflicher Erfahrung wussten sie, dass fünfzig Augenpaare nicht auf sie gerichtet waren.

Um elf Uhr hielten zwei schwarze Limousinen lautlos vor dem Nordeingang des Weißen Hauses. Die Ehrengarde der Marineinfanteristen salutierte vor den beiden Expräsidenten und deren Frauen, als diese von Präsidentin Kane vor der Säulenhalle begrüßt wurden – eine Ehre, die gewöhnlich nur Staatschefs auf Staatsbesuch zuteilwurde. Die Präsidentin führte sie persönlich in die Bibliothek, wo sie zusammen mit Edward, William und Annabel den Kaffee nehmen sollten.

Der ältere der Expräsidenten brummte, seine Gebrechlichkeit sei darauf zurückzuführen, dass er in den letzten acht Jahren auf die Kochkünste seiner Frau angewiesen gewesen sei. »Sie hat jahrzehntelang keine Bratpfanne angerührt, aber sie macht es von Tag zu Tag besser. Sicherheitshalber hab ich ihr das New-York-Times-Kochbuch gekauft; das ist so ungefähr die einzige Publikation dieser Zeitung, die mich nicht verrissen hat.« Florentyna lachte nervös. Sie wollte mit den offiziellen Feierlichkeiten fortfahren, andererseits war sie sich bewusst, dass es den Expräsidenten Freude bereitete, wieder im Weißen Haus zu sein. Daher tat sie so, als höre sie aufmerksam zu. Sie hatte die Maske aufgesetzt, die ihr nach fast zwanzig Jahren in der Politik zur zweiten Natur geworden war.

»Madam President …« Florentyna musste rasch schalten, damit niemand ihre instinktive Reaktion auf diese Anrede bemerkte. »Es ist eine Minute nach zwölf.« Sie sah zu ihrer Pressesekretärin auf, erhob sich und führte die Expräsidenten und deren Frauen zu den Stufen des Weißen Hauses. Ein letztes Mal stimmte die Musikkapelle der Marines »Hail to the Chief« an. Um ein Uhr würde sie es erneut zum ersten Mal für die neue Präsidentin spielen.

Die beiden früheren Präsidenten wurden zum ersten Wagen der Autokolonne geleitet – eine schwarze Limousine mit kugelsicherem Verdeck. Der Sprecher des Repräsentantenhauses, Jim Wright, und der Vorsitzende der Mehrheitspartei im Senat, Robert Byrd, der den Kongress vertrat, saßen bereits im zweiten Auto. Direkt dahinter kamen zwei Wagen mit Sicherheitsbeamten. Florentyna und Edward folgten im fünften Auto, im nächsten dann Vizepräsident Bradley aus New Jersey und seine Frau.

H. Stuart Knight führte eine weitere Routinekontrolle durch. Aus seinen fünfzig Leuten waren jetzt hundert geworden. Bis Mittag würden es einschließlich der Stadtpolizei und des FBI-Kontingents fünfhundert sein. Nicht zu vergessen die Jungs vom CIA, dachte Knight reumütig. Doch die sagten ihm bestimmt nicht, ob sie da sein würden oder nicht, und selbst er konnte sie in einer Menschenmenge nicht immer erkennen. Er hörte den Beifall der Zuschauer, der einen Höhepunkt erreichte, als die Präsidentin in Richtung Kapitol losfuhr.

Edward plauderte liebenswürdig, doch Florentynas Gedanken waren anderswo. Sie winkte mechanisch, ging im Geist aber noch einmal ihre Rede durch. Der Konvoi rollte am renovierten Willard Hotel und sieben in Bau befindlichen Bürogebäuden vorbei, an übereinandergeschachtelten Wohneinheiten, die den Felsbehausungen von Indianern glichen, an neuen Geschäften und Restaurants und breiten Gehsteigen und am J. Edgar Hoover Building, dem Hauptquartier des FBI, das trotz der Bemühungen einiger Senatoren immer noch den Namen seines ersten Direktors trug. Wie sich diese Straße doch in den letzten fünfzehn Jahren verändert hatte!

Die Autos näherten sich dem Kapitol, und Edward unterbrach die Träumereien der Präsidentin. »Gott sei mit dir, Liebes.« Sie lächelte und fasste nach seiner Hand. Die sechs Wagen hielten an.

Präsidentin Kane betrat das Erdgeschoss des Kapitols. Edward blieb einen Augenblick zurück, um dem Chauffeur zu danken. Die anderen Wageninsassen wurden beim Aussteigen sofort von Sicherheitsbeamten umringt. Sie winkten der Menge zu, dann gingen sie einzeln zu ihren Plätzen auf der Einführungsplattform. Inzwischen führte der Zeremonienmeister Präsidentin Kane schweigend durch den Tunnel, wo alle zehn Schritte Marineinfanteristen salutierten, zu den Empfangsräumen. Dort wurde sie von Vizepräsident Bradley begrüßt. Sie standen da, redeten Belanglosigkeiten, und keiner hörte auf die Erwiderungen des anderen.

Die beiden Expräsidenten kamen lächelnd aus dem Tunnel. Zum ersten Mal sah der ältere von ihnen so alt aus, wie er tatsächlich war, sein Haar schien über Nacht ergraut zu sein. Wieder formelles Händeschütteln zwischen ihnen und Florentyna, eine Formalität, die sie heute noch siebenmal wiederholen würden.

Der Zeremonienmeister führte sie durch einen kleinen Empfangsraum auf die Plattform. Wie für jede Inauguration eines Präsidenten hatte man sie auch diesmal auf der Osttreppe des Kapitols errichtet. Während die Präsidentin und die Expräsidenten winkten, erhob sich die Menschenmenge und jubelte; schließlich nahmen alle Platz und warteten schweigend auf den Beginn der Zeremonie.

»Meine Mitbürger, ich trete mein Amt in einem Augenblick an, in dem die weltweiten Probleme der Vereinigten Staaten groß und bedrohlich sind. In Südafrika ist zwischen Schwarzen und Weißen ein unbarmherziger Bürgerkrieg entbrannt. Im Nahen Osten ist man dabei, die verheerenden Folgen des letztjährigen Krieges zu beseitigen; beide Seiten beschäftigen sich jedoch mehr mit der Wiederaufrüstung als mit ihren Schulen und Farmen. An den Grenzen zwischen China und Indien sowie zwischen Russland und Pakistan droht ein Krieg – ein Krieg also zwischen vier der mächtigsten und bevölkerungsreichsten Nationen der Erde. Südamerika schwankt zwischen extremer Rechter und extremer Linker, aber weder das eine noch das andere Extrem scheint imstande zu sein, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Zwei der ursprünglichen Unterzeichnerstaaten der NATO, Frankreich und Italien, stehen kurz davor, aus der Gemeinschaft auszutreten.

1949 verkündete Präsident Harry Truman, dass die Vereinigten Staaten bereit seien, mit aller Macht und mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln die Freiheit überall dort zu verteidigen, wo sie in Gefahr scheint. Heute könnte man behaupten, dass diesem Großmut kein Erfolg beschieden war, dass Amerika zu schwach war und es heute noch ist, um die ganze Last eines Weltpolizisten zu tragen. Angesichts der sich ständig wiederholenden internationalen Krisen könnte sich jeder amerikanische Bürger mit Recht fragen, warum er sich für Ereignisse interessieren soll, die sich so fern von seiner Heimat abspielen; warum er für die Verteidigung der Freiheit außerhalb seines Landes verantwortlich gemacht wird.

Ich muss diese Zweifel nicht mit eigenen Worten beantworten. ›Kein Mensch ist eine Insel‹, schrieb John Donne vor mehr als dreieinhalb Jahrhunderten. ›Jeder Mensch ist ein Stück des Kontinents. ‹ Die Vereinigten Staaten erstrecken sich vom Atlantik bis zum Pazifik und von der Arktis bis zum Äquator. ›Ich bin ein Teil der Menschheit; frag daher niemals, für wen die Glocken läuten; sie läuten immer für dich.‹«

Edward gefiel dieser Teil der Rede; er drückte seine eigenen Gefühle aus. Aber er war nicht sicher gewesen, ob das Publikum mit dem gleichen Enthusiasmus reagieren würde, mit dem es Florentynas rhetorische Höhenflüge in der Vergangenheit begrüßt hatte. Der donnernde Applaus, der ihm in den Ohren dröhnte, beruhigte ihn. Der Zauber wirkte noch immer.

»Wir werden in unserem Land einen Gesundheitsdienst einrichten, um den uns die ganze freie Welt beneiden wird. Er wird allen Bürgern die gleichen Möglichkeiten zu bester medizinischer Betreuung bieten. Kein Amerikaner darf sterben, weil er es sich nicht leisten kann zu leben.«

Viele Demokraten hatten wegen Florentyna Kanes Einstellung zu einer allgemeinen Krankenversicherung nicht für sie gestimmt. Ein alter Landarzt etwa hatte zu ihr gesagt: »Die Amerikaner müssen lernen, auf eigenen Beinen zu stehen.« – »Wie sollen sie das denn machen, wenn sie bereits auf dem Rücken liegen?«, erwiderte Florentyna. – »Gott bewahre uns vor einer Frau als Präsident«, meinte der Arzt und wählte die Republikaner.

»Die Hauptgrundlage dieser Regierung werden jedoch Recht und Ordnung sein, und zu diesem Zwecke beabsichtige ich, dem Kongress einen Gesetzesentwurf bezüglich des Verbots des freien Verkaufs von Feuerwaffen vorzulegen.«

Der Applaus der Menge klang nicht gerade spontan.

Florentyna hob den Kopf. »Und so sage ich euch, meine Mitbürger, lasst die letzten Jahre dieses Jahrhunderts eine Zeit sein, in der die Vereinigten Staaten die Ersten auf dieser Welt sind – sowohl, was Gerechtigkeit betrifft, als auch Stärke, die Sorge für andere als auch den Unternehmungsgeist. Eine Zeit, in der unser Land den Krieg erklärt – den Krieg gegen Krankheit, den Krieg gegen Diskriminierung und Benachteiligung, den Krieg gegen die Armut.«

Die Präsidentin setzte sich, und das gesamte Publikum erhob sich. Zehnmal war die sechzehnminütige Rede von Applaus unterbrochen worden. Doch als sich die Präsidentin jetzt vom Mikrofon abwandte in der Gewissheit, dass die Menge auf ihrer Seite war, blickte sie nicht auf die jubelnden Menschen. Zwischen den Würdenträgern auf der Plattform suchte ihr Blick einen ganz bestimmten Menschen. Sie ging auf ihren Mann zu, küsste ihn auf die Wange und nahm dann seinen Arm, bevor der tüchtige Zeremonienmeister sie beide entschlossen von der Plattform geleitete.

H. Stuart King hasste alles, was nicht programmgemäß ablief, und heute lief nichts nach Plan. Alle würden mindestens dreißig Minuten zu spät zum Lunch kommen.

Sechsundsiebzig Gäste standen auf, als die Präsidentin den Saal betrat. Es waren die Männer und Frauen, die jetzt die Demokratische Partei beherrschten. Das Establishment des Nordens, das beschlossen hatte, die Lady zu unterstützen, war anwesend, ausgenommen jener, die für Senator Ralph Brooks gestimmt hatten.

Einige der Gäste waren bereits Mitglieder von Florentynas Kabinett, und jeder der Anwesenden hatte irgendwie dazu beigetragen, dass sie ins Weiße Haus zurückkehren konnte.

Die Präsidentin hatte weder Gelegenheit noch Lust, in Ruhe zu essen, denn jeder der Anwesenden wollte sofort mit ihr sprechen. Für das Menü hatte man ihre Lieblingsspeisen ausgewählt: zuerst Hummersuppe, dann Roastbeef und zum Abschluss die pièce de résistance des Küchenchefs: eine glasierte Schokoladentorte in Form des Weißen Hauses. Edward bemerkte, dass seine Frau das ihr servierte Tortenstück, das akkurat dem berühmten Oval Office nachgebildet war, nicht anrührte. »Deswegen hat sie nie Gewichtsproblem«, meinte Marian Edelmann, die zur allgemeinen Überraschung Justizministerin geworden war und Edward gerade einen Vortrag über die Bedeutung der Kinderrechte gehalten hatte. Edward hatte versucht zuzuhören.

Als die letzte Hand geschüttelt und der letzte Flügel des Weißen Hauses in Tortenform vertilgt worden war, hatten die Präsidentin und ihre Gäste, wie erwartet, fünfundvierzig Minuten Verspätung. Als sie schließlich auf der Tribüne vor dem Weißen Haus zur großen Parade eintrafen, freute sich in der Menge von 200.000 Zuschauern ohne Zweifel am meisten die Ehrengarde, die mehr als eine Stunde strammgestanden hatte. Die Präsidentin nahm ihren Platz ein, und die Parade begann. Die Ehrenformation marschierte an der Tribüne vorüber, die Kapelle des Marine Corps spielte »God bless America«. Plattformwagen aus jedem Bundesstaat – einige davon, wie der aus Illinois, brachten Florentynas polnische Herkunft in Erinnerung – verliehen der feierlichen Parade etwas Farbe und Heiterkeit.

Als die dreistündige Parade endlich vorüber und der letzte Uniformierte am Ende der Avenue verschwunden war, beugte sich Janet Brown zur Präsidentin und fragte sie, was sie bis zum ersten Inaugurationsball zu tun gedenke.

»Sämtliche Kabinettsernennungen und die Briefe an die Staatschefs unterschreiben und den Schreibtisch für morgen in Ordnung bringen«, war die prompte Antwort.

Die Präsidentin begab sich direkt ins Weiße Haus. Als sie durch die Säulenhalle an der Südseite schritt, spielte die Kapelle des Marine Corps »Hail to the Chief«. Bevor sie das Oval Office betrat, zog sie den Mantel aus. Mit gelassener Selbstverständlichkeit setzte sie sich an den großen, mit Leder bespannten Schreibtisch aus Eichenholz. Einen Moment lang blickte sie sich um. Man hatte alles dorthin gestellt, wo sie es haben wollte; hinter ihr hing ein Bild von Richard und William beim Football. Vor ihr lag ein Briefbeschwerer mit dem Zitat von George Bernard Shaw, das Annabel so oft zitierte: »Manche Menschen sehen die Dinge, wie Sie sind, und fragen, warum; ich träume von Dingen, die es nie gab, und frage, warum nicht.« Zur Linken stand die Flagge des Präsidenten, zur Rechten jene der Vereinigten Staaten. Die Mitte des Schreibtischs nahm ein Modell des Baron-Hotels in Warschau ein, das William aus Pappmaché angefertigt hatte, als er vierzehn gewesen war. Im Kamin brannte ein Kohlenfeuer, und ein Porträt von Abraham Lincoln blickte auf die neue Präsidentin herab. Vor den großen Fenstern breitete sich die grüne Rasenfläche ohne Unterbrechung bis hin zum Washington Monument aus. Die Präsidentin lächelte. Sie war wieder zu Hause.

Florentyna Kane griff nach einem Stoß offizieller Dokumente und warf einen Blick auf die Namen jener, die ihrem Kabinett angehören sollten; mehr als dreißig Ernennungen mussten vorgenommen werden. Die Präsidentin unterzeichnete jede mit einem schwungvollen Schnörkel. Die letzte Urkunde war das Ernennungsdekret für Janet Brown, ihre künftige Stabschefin. Florentyna gab Anweisung, die Papiere sofort an den Kongress weiterzuleiten. Janet Brown nahm die Schriftstücke, die in den nächsten vier Jahren die amerikanische Geschichte entscheidend beeinflussen würden, und sagte: »Danke, Madam President.« Dann fragte sie: »Was möchten Sie als Nächstes in Angriff nehmen?«

»Fang immer mit dem größten Problem an, hat Lincoln geraten. Gehen wir also die Gesetzesvorlage über die Kontrolle der Handfeuerwaffen durch.«

Janet Brown erschauderte. Sie wusste nur allzu gut, dass die Kämpfe im Repräsentantenhaus in den nächsten zwei Jahren höchstwahrscheinlich ebenso grimmig und zäh werden würden wie der Bürgerkrieg, mit dem Lincoln konfrontiert gewesen war. So viele Menschen betrachteten den Besitz von Waffen immer noch als ihr unveräußerliches Geburtsrecht. Sie konnte nur beten, dass das Ganze nicht genauso enden würde – mit der Spaltung des Repräsentantenhauses.

2

Donnerstag, 3. März (zwei Jahre später), 17 Uhr 45

Nick Stames wollte nach Hause. Seit sieben Uhr früh hatte er gearbeitet, und jetzt war es bereits Viertel vor sechs. Ob er zu Mittag gegessen hatte, wusste er nicht mehr. Seine Frau Norma hatte schon wieder geschimpft, dass er nie pünktlich zum Abendessen nach Hause käme, und wenn er kam, dann meistens so spät, dass das Essen nicht mehr genießbar war. Wann hatte er denn zum letzten Mal tatsächlich eine komplette Mahlzeit gegessen? Wenn er um sechs Uhr dreißig ins Büro fuhr, lag Norma noch im Bett. Jetzt, wo die Kinder tagsüber in der Schule waren, bestand ihre einzige echte Arbeit darin, ihm was zum Abendessen zu kochen. Nie konnte er es ihr recht machen, wäre er ein Versager, würde sie sich darüber auch beklagen, aber, zum Teufel, er war erfolgreich. Der jüngste Spezialagent, der im FBI ein Field Office leitete. Einen solchen Job bekommt man nicht mit einundvierzig Jahren, wenn man jeden Tag zum Dinner zu Hause ist. Jedenfalls liebte Nick seine Arbeit. Sie war seine Geliebte, wenigstens dafür sollte seine Frau ihm dankbar sein.

Nick Stames war inzwischen seit neun Jahren Leiter des Field Office in Washington. Obwohl ihm das kleinste Gebiet von Washington, D.C. unterstellt war – nur hundertachtundfünfzig Quadratkilometer –, verfügte das drittgrößte Field Office Amerikas über zweiundzwanzig Polizeieinheiten, zwölf Kriminalabteilungen und zehn Abteilungen für den Staatssicherheitsdienst. Ja, so war es; Nick Stames beschützte die Hauptstadt der Welt. Natürlich musste er sich da manchmal verspäten. Aber heute Abend wollte er einmal versuchen, pünktlich zu sein. Wenn er Zeit dazu hatte, vergötterte er seine Frau. Über das Haustelefon rief er seinen Stellvertreter Grant Nanna an.

»Grant.«

»Boss.«

»Ich fahre nach Hause.«

»Wusste gar nicht, dass Sie ein Zuhause haben.«

»Fangen Sie nicht auch noch damit an!«

Nick Stames legte den Hörer auf und fuhr sich mit der Hand durch das lange dunkle Haar. In einem Film hätte er vermutlich den Verbrecher gespielt und nicht den FBI-Agenten, denn an ihm war alles dunkel – dunkle Augen, dunkle Haut, dunkles Haar, sogar der Anzug und die Schuhe waren dunkel – diese letzten beiden Merkmale teilte er allerdings mit jedem Spezialagenten. Am Revers trug er eine Nadel mit den Flaggen der Vereinigten Staaten und Griechenlands.

Vor ein paar Jahren hatte man ihm eine Beförderung und die Chance angeboten, als einer der dreizehn Berater des Direktors ins Hauptquartier des Bureaus zu übersiedeln. Berater zu werden gefiel ihm nicht, also blieb er, wo er war. Dieser Schritt hätte ihn aus einem Elendsquartier in einen Palast gebracht. Denn das Washington Field Office befindet sich im vierten, fünften und achten Stock des alten Postamtes auf der Pennsylvania Avenue, und die Zimmer haben etwas von Eisenbahnabteilen. Befände sich der Standort in einem Armenviertel, hätte man sie als Elendsquartiere eingestuft.

Als die Sonne langsam hinter den hohen Gebäuden verschwand, wurde es in Nicks ohnehin düsterem Büro noch dunkler. Er ging zum Lichtschalter. »Energie sparen« stand auf einem Schild unter dem Schalter. Genau wie das ständige Kommen und Gehen von dunkel und unauffällig gekleideten Männern und Frauen vor dem alten Postamt darauf hinwies, wo das FBI Field Office seinen Sitz hatte, verwies das kleine Schild darauf, dass zwei Stockwerke des alten Gebäudes von den hohen Herren der Federal Energy Administration bewohnt wurden.

Nick starrte aus dem Fenster über die Straße auf das neue, 1976 fertig gestellte Hauptquartier des FBI; ein großes, hässliches Monster mit Fahrstühlen, die größer waren als sein Büro. Ihn störte das nicht. Er hatte Gehaltsstufe 18 erreicht, und nur der Direktor verdiente mehr als er. Jedenfalls würde er nicht hinter dem Schreibtisch sitzen, bis man ihn mit goldenen Handschellen in den Ruhestand schickte. Er wollte in ständigem Kontakt mit den Agenten auf der Straße sein und den Pulsschlag des Bureaus spüren. Er würde im Field Office bleiben und im Stehen und nicht im Sitzen sterben. Noch einmal griff er zum Telefon. »Julie, ich mache mich auf den Weg nach Hause.«

»Ja, Sir«, erwiderte sie und klang ungläubig.

Als er durch den Vorraum ging, grinste er sie an. »Moussaka, Pilaw und die Ehefrau; verraten Sie es nicht der Mafia.« Nick hatte gerade einen Schritt aus der Tür gemacht, als sein Privattelefon klingelte. Noch einen Schritt und er hätte es zum offenstehenden Aufzug geschafft. Aber einem klingelnden Telefon konnte Nick nie widerstehen. Julie stand auf, um den Anruf entgegenzunehmen, und Nick bewunderte wie immer ihre hübschen Beine.

»Nein, nein, Julie. Ich mach das schon.« Er ging in sein Büro zurück und nahm den Hörer ab.

»Hier Stames.«

»Guten Abend, Sir. Hier Lieutenant Blake von der Metropolitan Police.«

»Hallo, Dave, gratuliere zur Beförderung. Ich habe Sie nicht mehr gesehen seit …« Er hielt inne. »Das muss fünf Jahre her sein, damals waren Sie noch Sergeant. Wie geht’s?«

»Danke, Sir, ausgezeichnet.«

»Nun, Lieutenant, haben Sie ein Kapitalverbrechen für uns? Vielleicht einen Vierzehnjährigen, der ein Paket Kaugummi gestohlen hat? Und jetzt brauchen Sie meine besten Leute, um herauszufinden, wo der Verdächtige das Diebesgut versteckt hat?«

Blake lachte. »Nicht ganz so schlimm, Mr. Stames. Ich hab einen Kerl im Woodrow-Wilson-Hospital, der den FBI-Chef sprechen will. Behauptet, er hätte ihm etwas äußerst Wichtiges mitzuteilen.«

»Dieses Gefühl kenne ich – würde ihn selber gerne sprechen. Wissen Sie, ob er einer unserer üblichen Informanten ist?«

»Nein, Sir.«

»Wie heißt er?«

»Angelo Casefikis.« Blake buchstabierte den Namen.

»Gibt es eine Personenbeschreibung?«

»Nein, ich hab nur mit ihm telefoniert. Er sagt, es würde Amerika schlimm ergehen, wenn das FBI ihn nicht anhört.«

»So, so. Warten Sie einen Moment, ich werde den Namen überprüfen. Vielleicht ist er ja ein Bekloppter.«

Nick Stames drückte einen Knopf, um mit dem diensthabenden Beamten verbunden zu werden.

»Wer hat heute Dienst?«

»Paul Fredericks, Boss.«

»Paul, hol mal die Spinnerschachtel.«

Die Spinnerschachtel, wie sie im Bureau liebevoll genannt wurde, war eine Sammlung von weißen Karteikarten mit den Namen all dieser Menschen, die gern mitten in der Nacht anrufen und behaupten, in ihrem Hof wären Marsmenschen gelandet oder sie hätten eine Verschwörung des CIA zur Eroberung der Welt aufgedeckt.

Spezialagent Fredericks meldete sich wieder, mit der Spinnerschachtel vor sich. »Geht los, Boss. Wie heißt er?«

»Angelo Casefikis.«

»Ein verrückter Grieche«, meinte Fredericks. »Bei diesen Ausländern weiß man ja nie, woran man ist.«

»Griechen sind nicht verrückt«, erwiderte Stames scharf.

Vor seiner Namenskürzung hatte er Nick Stamatakis geheißen. Er konnte es seinem Vater – Gott sei seiner Seele gnädig – niemals verzeihen, einen so herrlichen hellenischen Nachnamen anglisiert zu haben.

»Sorry, Sir. Kein solcher Name in der Spinnerschachtel und auch nicht in der Informanten-Akte. Hat der Knabe den Namen eines ihm bekannten Agenten erwähnt?«

»Nein, er wollte einfach den FBI-Chef.«

»Das wollen wir doch alle.«

»Keine blöden Witze, Paul, oder Sie übernehmen den Beschwerde-Dienst länger als die übliche Woche.«

Jeder Agent des Field Office musste eine Woche im Jahr mit der Spinnerschachtel verbringen. Das hieß, die ganze Nacht ans Telefon gehen, schlaue Marsmenschen abwehren, heimtückische Komplotte des CIA verhindern und, vor allem, niemals das Bureau damit belästigen. Jedem Agenten graute davor. Schnell legte Paul Fredericks auf. Zwei Wochen diesen Dienst und man konnte beruhigt den eigenen Namen auf einer der kleinen weißen Karten eintragen.

»Was ist Ihre Meinung, Lieutenant?«, wollte Stames von Blake wissen, während er resigniert eine Zigarette aus der linken Schreibtischlade nahm. »Wie klang der Mann?«

»Aufgeregt und unzusammenhängend. Ich habe einen meiner jungen Leute hingeschickt. Er konnte nur aus ihm herausbringen, dass Amerika auf das hören sollte, was er zu sagen hat. Er schien wirklich in panischer Angst zu sein. Hat eine Schusswunde am Bein, und es kann Komplikationen geben. Die Wunde ist infiziert, anscheinend hat er ein paar Tage gewartet, bevor er ins Krankenhaus ging.«

»Wie ist er zu der Schusswunde gekommen?«

»Weiß ich noch nicht. Wir versuchen immer noch, Zeugen zu finden, aber bis jetzt haben wir keine, und Casefikis weigert sich, uns den Zeitpunkt zu nennen.«

»Er will das FBI, was? Nur das Allerbeste, wie?«, meinte Stames und bereute die Bemerkung auf der Stelle, aber es war zu spät. Er machte keinen Versuch, sie zurückzunehmen. »Danke, Lieutenant«, sagte er. »Ich werde sofort jemanden darauf ansetzen und Sie morgen informieren.«

Stames legte den Hörer auf. Schon sechs – warum war er bloß zurückgegangen? Verdammtes Telefon. Grant Nanna hätte die Angelegenheit genauso gut erledigen können, außerdem hätte er keine unbedachte Bemerkung über »das Allerbeste« gemacht. Es gab auch ohne sein Zutun schon genug Reibereien zwischen dem FBI und der Metropolitan Police. Nick rief den Leiter der Kriminalabteilung an.

»Grant.«

»Ich dachte, Sie wären längst heimgegangen.«

»Kommen Sie bitte auf einen Sprung in mein Büro.«

»Natürlich, ich bin gleich da.«

Ein paar Sekunden später erschien Grant Nanna, eine seiner Lieblingszigarren in der Hand. Er hatte sein Jackett angezogen, was er nur tat, wenn er Nick in seinem Büro aufsuchte.

Nannas hatte so etwas wie eine Bilderbuchkarriere hingelegt. In El Campo, Texas, geboren, hatte er in Baylor seinen Bachelor gemacht und anschließend an der Southern Methodist University Jura studiert. Als junger Assistent des Field Office von Pittsburgh lernte er seine künftige Frau Betty, eine Stenotypistin des FBI, kennen.

Ihre vier Söhne besuchten alle das Polytechnische Institut von Virginia, zwei wurden Ingenieure, einer Arzt, einer Zahnarzt. Nanna war seit mehr als dreißig Jahren Agent.

Zwölf Jahre länger als Nick, der als junger Mann unter ihm gearbeitet hatte. Aber Nanna war nicht neidisch; schließlich war er Leiter der Kriminalabteilung, liebte seine Arbeit und schätzte Stames – oder Nick, wie er ihn privat nannte – außerordentlich.

»Was gibt’s, Boss?«

Als Nanna eintrat, schaute Stames auf. Er stellte fest, dass sein ein Meter siebzig großer, fünfundfünfzigjähriger, robuster und Zigarren kauender Stellvertreter keinesfalls den als »wünschenswert« festgelegten Gewichtsanforderungen des Bureaus entsprach. Von einem Mann dieser Größe verlangte man, dass er sein Gewicht zwischen sechsundsiebzig und achtzig Kilo hielt. Nanna hatte die viermal im Jahr stattfindenden Gewichtskontrollen aller FBI-Agenten immer gefürchtet. Vor allem während der Hoover-Ära, als »wünschenswert« ein Synonym für rank und schlank war, musste er wegen seiner heillosen Überschreitung der Gewichtsvorschriften des Bureaus mehrfach viele Kilo abspecken.

Ach, zum Teufel, dachte Stames. Grants Wissen und Erfahrung wogen mehr als ein halbes Dutzend junger athletischer Agenten auf, wie man sie in den Räumen des Washington Field Office jederzeit finden konnte. Wie schon so oft, sagte er sich auch heute, dass er sich mit Nannas Gewichtsproblemen ein andermal beschäftigen würde.

Nick wiederholte die Geschichte von dem seltsamen Griechen im Woodrow-Wilson-Hospital, wie sie ihm von Lieutenant Blake erzählt worden war. »Ich möchte, dass Sie zwei Leute hinschicken. Wer hat heute Nacht Dienst?«

»Aspirin. Aber wenn Sie glauben, es handelt sich um einen Informanten, kann ich ihn natürlich nicht hinschicken.«

»Aspirin« war der Spitzname des ältesten Agenten im Washington Field Office. Nach seinen Anfängen unter Hoover führte er alles peinlich genau nach Vorschrift aus, was seinen Mitarbeitern häufig Kopfschmerzen bereitete. Ende des Jahres sollte er in Pension gehen, und die Verzweiflung über ihn machte bereits einer gewissen Nostalgie Platz.

»Nein, schicken Sie nicht Aspirin, schicken Sie zwei Junge.«

»Wie wäre es mit Calvert und Andrews?«

»Einverstanden«, erwiderte Stames. »Veranlassen Sie es sofort; vielleicht komme ich doch noch rechtzeitig zum Dinner nach Hause.«

Grant Nanna verließ das Büro, und Nick sagte seiner Sekretärin zum zweiten Mal flirtend Lebewohl. Sie war der einzige hübsche Anblick im gesamten Washington Field Office. Julie schaute auf und lächelte gleichgültig. »Ich arbeite ganz gern für einen FBI-Agenten, aber niemals würde ich einen heiraten«, sagte sie nicht zum ersten Mal zu ihrem kleinen Spiegel in der Schreibtischschublade.

In seinem Büro ließ sich Grant Nanna mit einem Beamten der Kriminalabteilung verbinden.

»Schicken Sie mir Calvert und Andrews.«

»Ja, Sir.«

Leise, aber nachdrücklich klopfte es an der Tür. Die beiden Spezialagenten traten ein. Barry Calvert war ein wirklich großer Mann, eins achtundachtzig ohne Schuhe, allerdings hatte ihn kaum jemand je ohne Schuhe gesehen. Mit seinen zweiunddreißig Jahren hielt man ihn für einen der ehrgeizigsten jungen Leute der Abteilung. Er trug ein dunkelgrünes Jackett, eine dunkle undefinierbare Hose und derbe schwarze Lederschuhe. Das braune Haar war kurz geschnitten und auf der rechten Seite säuberlich gescheitelt. Einzig die Piloten-Sonnenbrille sollte seine Nonkonformität unter Beweis stellen. Meistens war er noch lange nach dem offiziellen Büroschluss im Dienst, nicht nur, weil er ehrgeizig war, sondern auch, weil er seinen Job liebte. Soweit seine Kollegen wussten, liebte er sonst niemanden oder höchstens vorübergehend.

Calvert stammte aus dem Mittelwesten und war mit einem Soziologie-Diplom der Indiana University ins FBI eingetreten. Anschließend hatte er den fünfzehnwöchigen Kursus auf der FBI-Akademie in Quantico absolviert und war in jeder Hinsicht der Archetyp eines FBI-Mannes.

Mark Andrews hingegen gehörte zu den ungewöhnlicheren jungen FBI-Leuten. Nach einem Geschichtsstudium und der Absolvierung der Rechtsakademie in Yale wollte er noch einige Abenteuer erleben, bevor er in eine Anwaltsfirma eintrat. Verbrecher und Polizei aus der Nähe kennenzulernen konnte nur nützlich sein, fand er. Natürlich gab er diesen Grund nicht in seinem Bewerbungsschreiben an – das FBI als akademisches Experiment zu betrachten entsprach nun wirklich nicht dessen Prinzipien. Hoover war so weit gegangen, Agenten, die den Dienst einmal quittiert hatten, unter keinen Umständen wieder aufzunehmen.

Mark Andrews – gelocktes helles Haar bis zum Hemdkragen und ein frisches hübsches Gesicht mit hellblauen Augen – war einsfünfundsiebzig groß und wirkte klein neben Calvert. Mit achtundzwanzig Jahren gehörte er zu den jüngsten Agenten der Abteilung. Er war immer nach der letzten Mode, allerdings nicht immer nach den Vorschriften des FBI gekleidet. Nick Stames hatte ihn einmal in einem roten Sportjackett und brauner Hose erwischt und nach Hause geschickt, damit er sich anständig anziehe. Nur niemals das Bureau in Verlegenheit bringen. Marks Charme half ihm, eine Reihe unangenehmer Situationen in der Kriminalabteilung zu meistern, und er besaß eine Zielstrebigkeit, die seine Ausbildung an einer amerikanischen Eliteuniversität und das entsprechende Auftreten mehr als wettmachten. Er war selbstsicher, drängte sich jedoch niemals vor und war nicht auf Beförderung aus. Was er eigentlich vorhatte, vertraute er niemandem an.

Grant Nanna berichtete den beiden von Casefikis.

»Ein Schwarzer?« fragte Calvert.

»Nein, Grieche.«

Calvert verbarg seine Überraschung nicht. Achtzig Prozent der Einwohner von Washington und achtundneunzig Prozent der wegen eines Verbrechens Inhaftierten waren Schwarze. Einer der Gründe, warum den mit Washingtoner Verhältnissen Vertrauten der infame Einbruch im Watergate-Gebäude von Anfang an verdächtig erschienen war, war die Tatsache, dass keine Schwarzen daran beteiligt gewesen waren. Natürlich gab das niemand zu.

»Okay. Barry, können Sie die Sache erledigen?«

»Klar, wollen Sie morgen früh einen Bericht?«

»Nein, der Boss will direkt kontaktiert werden, falls es sich um etwas Besonderes handelt. Andernfalls geben Sie Ihren Bericht heute Abend ab.« Nannas Telefon klingelte.

»Mr. Stames über Funk aus seinem Auto. Für Sie, Sir«, sagte Polly von der Telefonvermittlung.

»Er gibt nie Ruhe, was?,« meinte Grant zu den beiden jungen Agenten, während er die Telefonmuschel mit der Hand zuhielt.

»Hallo, Boss.«

»Grant, hab ich Ihnen gesagt, dass der Grieche eine infizierte Schusswunde am Bein hat?«

»Ja, Boss.«

»Gut, bitte tun Sie mir einen Gefallen. Rufen Sie Vater Gregory von meiner Pfarrei Saint Constantine und Saint Helen an, und bitten Sie ihn, den Griechen im Krankenhaus zu besuchen.«

»Selbstverständlich.«

»Und gehen Sie nach Hause, Grant. Aspirin kann das Büro für den Rest des Abends übernehmen.«

»Ich wollte eben gehen, Boss.«

Die Verbindung brach ab.

»Okay, ihr zwei, macht euch auf den Weg.« Die beiden Spezialagenten gingen den schmutzigen, grauen Korridor entlang zum Fahrstuhl, der aussah, als müsse man ihn mit der Hand ankurbeln. Als sie endlich auf der Pennsylvania Avenue waren, stiegen sie in einen Dienstwagen.

Mark lenkte den dunkelblauen Ford Sedan am Nationalarchiv und der Mellon Gallery vorbei die Pennsylvania Avenue hinunter. Er fuhr um die üppig grünen, schattigen Rasenflächen des Kapitols herum und bog in Richtung Südost in die Independence Avenue ein. Als die beiden Agenten nahe der Kongressbibliothek auf grünes Licht warteten, ärgerte sich Barry über den irrsinnigen Verkehr in der Stoßzeit und sah auf die Uhr.

»Warum hat man nicht Aspirin hingeschickt?«

»Wer würde Aspirin in ein Krankenhaus schicken?«

Mark lächelte. Als sich die beiden Männer auf der FBI-Akademie in Quantico kennengelernt hatten, freundeten sie sich sehr rasch an. Am ersten Tag des Trainingskursus erhielt jeder Teilnehmer ein Telegramm, das seine Zulassung bestätigte. Hierauf wurden die neuen Agenten angewiesen, die Telegramme ihres rechten und linken Nachbarn auf ihre Echtheit zu prüfen. Damit sollte auf die Notwendigkeit äußerster Vorsicht hingewiesen werden. Mark hatte einen Blick auf Barrys Telegramm geworfen und es ihm grinsend zurückgegeben. »Ich glaube, Sie sind in Ordnung«, sagte er, »sofern die Vorschriften King Kong als FBI-Agenten zulassen.«

»Hören Sie zu«, hatte Calvert erwidert, während er Marks Telegramm sorgfältig prüfte, »eines Tages werden Sie King Kong vielleicht sehr gut brauchen können, Mr. Andrews.«

Die Ampel schaltete auf Grün, doch ein Wagen vor Mark und Barry wollte nach links in die First Street einbiegen. Einen Moment lang waren die beiden ungeduldigen Beamten im Verkehrsgewühl eingekeilt.

»Was glaubst du, wird uns dieser Kerl erzählen?«

»Ich hoffe, er weiß etwas über den Bankraub in der City«, erwiderte Barry. »Man hat mich mit dem Fall beauftragt, aber jetzt, nach drei Wochen, habe ich noch immer keinen Hinweis. Stames wird langsam ungeduldig.«

»Nein, mit dem Bankraub hat das wohl nichts zu tun. Da war keine Schießerei. Vermutlich ist er ein weiterer Kandidat für die Spinnerschachtel. Vielleicht hat ihn seine Frau angeschossen, weil er nicht rechtzeitig zu den gefüllten Weinblättern daheim war.«

»Weißt du, der Boss würde nur einem Griechen einen Priester schicken, wir zwei zum Beispiel könnten von ihm aus ruhig in der Hölle braten.«

Beide lachten. Sie wussten genau, dass Nick Stames, sollte einer von ihnen in Schwierigkeiten geraten, das Washington Monument Stein für Stein abtragen würde, wenn er der Meinung wäre, es könnte helfen. Während das Auto die Independence Avenue entlang südostwärts fuhr, wurde der Verkehr allmählich schwächer. Ein paar Minuten später kamen sie an der Neunzehnten Straße und am D.C. Armory vorbei und erreichten das Woodrow-Wilson-Hospital. Auf dem Besucherparkplatz prüfte Calvert zweimal jedes Wagenschloss. Nichts ist peinlicher für einen Agenten, als von der städtischen Polizei seinen gestohlenen Wagen zurückzuerhalten. Das war der direkte Weg zu einem Monat mit der Spinnerschachtel.

Der Krankenhauseingang war alt und schäbig, die Korridore waren grau und kahl. Das Mädchen, das in der Portierloge den Nachtdienst versah, teilte den beiden Beamten mit, Casefikis liege in Zimmer 4308 im vierten Stock. Die Agenten wunderten sich über das Fehlen jeglicher Sicherheitsvorkehrungen. Niemand verlangte einen Ausweis von ihnen, und sie konnten im Gebäude umhergehen, als wären sie in der Klinik angestellt. Niemand würdigte sie eines Blickes. Vielleicht waren sie als FBI-Männer zu sehr auf Sicherheit bedacht.

Langsam und widerwillig brachte sie der Fahrstuhl in den vierten Stock. Ein Mann auf Krücken und eine Frau fuhren mit ihnen; die beiden plauderten miteinander, als hätten sie sehr viel Zeit. Wie langsam die Fahrt war, bemerkten sie gar nicht. Oben angekommen, fragte Calvert eine Krankenschwester nach dem diensthabenden Arzt.

»Ich glaube, Dr. Dexter ist bereits gegangen, aber ich werde nachsehen«, erklärte die Schwester und machte sich auf die Suche. Schließlich bekam man nicht jeden Tag Besuch vom FBI, und der Kleinere mit den hellen Augen sah so gut aus. Schwester und Ärztin kamen gemeinsam zurück. Dr. Dexter überraschte sowohl Calvert wie Andrews. Sie stellten sich vor. Es müssen die Beine sein, dachte Mark. Solche Beine hatte er das letzte Mal bei Anne Bancroft in dem Film »Die Reifeprüfung« gesehen. Damals hatte er zum ersten Mal bewusst die Beine einer Frau bewundert und seitdem nicht aufgehört, darauf zu achten.

Elizabeth Dexter, MD, stand weiß gedruckt auf dem roten Plastikschildchen, das ihren gestärkten weißen Kittel zierte. Darunter konnte Mark eine rote Seidenbluse und einen schicken Rock aus schwarzem Crêpe erkennen, der knapp die Knie bedeckte. Dr. Dexter war mittelgroß und so schlank, dass sie zerbrechlich wirkte. Soweit Mark es beurteilen konnte, trug sie kein Make-up; die zarte Haut und die dunklen Augen bedurften auch keiner Korrektur. Vielleicht würde sich dieser Ausflug doch lohnen. Barry dagegen zeigte nicht das geringste Interesse an der hübschen Ärztin und verlangte Casefikis’ Krankengeschichte. Fieberhaft suchte Mark nach einer Einleitung.

»Sind Sie mit Senator Dexter verwandt?«, fragte er, das Wort Senator ein wenig betonend.

»Ja, er ist mein Vater«, sagte sie gleichgültig. Offenbar war sie die Frage gewohnt, und sowohl die Frage als auch der Fragesteller – der dieser Frage offensichtlich Bedeutung beimaß – schienen sie zu langweilen.

»Während meines letzten Semesters in Yale habe ich seine Vorlesung gehört«, sagte Mark. Ihm war klar, dass er zu dick auftrug, aber Calvert würde jeden Moment mit dieser blöden Krankengeschichte fertig sein.

»Ach, Sie waren auch in Yale? Wann haben Sie Ihren Abschluss gemacht?«

»Vor drei Jahren, in Jura«, erwiderte Mark.

»Dann hätten wir uns schon früher begegnen können. Ich bin letztes Jahr mit Medizin fertig geworden.«

»Hätte ich Sie schon früher kennengelernt, hätte ich Sie doch nicht vergessen, Dr. Dexter.«

»Wenn ihr zwei Absolventen unserer Nobeluniversität damit fertig seid, euch eure Lebensgeschichte zu erzählen«, unterbrach Barry Calvert, »würde ein einfacher Mann aus dem Mittelwesten gern seinen Auftrag erledigen.«

Ja, dachte Mark, Barry verdient es, eines Tages Direktor zu werden.

»Was können Sie uns über den Mann erzählen, Dr. Dexter?«, fragte Calvert.

»Leider sehr wenig«, erwiderte die Ärztin und nahm die Krankengeschichte wieder an sich. »Er kam mit einer Schusswunde zu uns, aus freien Stücken. Die Wunde war infiziert und schien etwa eine Woche alt. Ich wollte, der Mann wäre früher gekommen. Heute Morgen entfernte ich die Kugel. Wie Sie wissen, Mr. Calvert, ist es unsere Pflicht, sofort die Polizei zu benachrichtigen, sobald ein Patient mit einer Schusswunde zu uns kommt, deshalb haben wir eure Jungs von der städtischen Polizei angerufen.«

»Nicht unsere Jungs«, verbesserte Mark.

»Entschuldigen Sie«, erwiderte Dr. Dexter steif, »für einen Arzt ist ein Polizist ein Polizist.«

»Und für einen Polizisten ist ein Arzt ein Arzt, obwohl auch Sie Spezialisten haben – Gynäkologen, Neurologen, Orthopäden – nicht wahr? Sie wollen doch nicht behaupten, dass ich aussehe wie einer von diesen Plattfüßen von der Metropolitan Police?«

Dr. Dexter war nicht zu einer schmeichelhaften Antwort zu bewegen. »Als die Polizei kam, teilte sie uns mit, dass in ein paar Stunden jemand vom FBI erscheinen würde.« Sie öffnete die Mappe. »Wir wissen nur, dass der Mann Grieche ist und Angelo Casefikis heißt. Er war niemals vorher in diesem Krankenhaus und taucht nicht in unserer Kartei auf. Sein Alter gab er mit achtunddreißig an. Das ist leider alles, was ich Ihnen sagen kann.«

»Gut. Wir sind gewöhnt, nicht mehr zu erfahren. Danke, Dr. Dexter«, sagte Calvert. »Könnten wir den Mann jetzt sehen?«

»Natürlich, kommen Sie mit.« Elizabeth Dexter wandte sich um und führte sie durch den Korridor.

Die beiden Männer folgten ihr, wobei Barry nach der Tür Nummer 4308 Ausschau hielt. Mark schaute auf ihre Beine. Als sie ankamen, sahen sie durch ein kleines Fenster zwei Männer im Zimmer, Angelo Casefikis sowie einen vergnügt aussehenden Schwarzen, der auf einen Fernsehapparat starrte, dessen Ton abgeschaltet war. Calvert wandte sich an Dr. Dexter.

»Können wir allein mit ihm sprechen, Dr. Dexter?«

»Warum?«, fragte sie.

»Wir wissen nicht, was er uns sagen will. Vielleicht möchte er ja keine Zuhörer.«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, lachte Dr. Dexter, »mein liebster Briefträger, Benjamin Reynolds im nächsten Bett, ist stocktaub, und bevor wir ihn nächste Woche operieren, kann er nicht einmal die Posaunen des Jüngsten Gerichts hören, geschweige denn einem Staatsgeheimnis lauschen.«

Zum ersten Mal lächelte Calvert. »Er würde einen tollen Zeugen abgeben.«

Die Ärztin führte Calvert und Andrew ins Zimmer, drehte sich um und verließ die beiden. Werde dich bald wiedersehen, hübsches Mädchen, versprach sich Mark. Calvert schaute Reynolds misstrauisch an, aber der Postbote lachte nur freundlich, winkte und verfolgte weiter sein stummes Fernsehprogramm. Barry Calvert verstellte ihm trotzdem die Sicht auf Casefikis, für den Fall, dass er von den Lippen lesen konnte. Barry dachte an alles.

»Mr. Casefikis.«

»Ja.«

Casefikis war ein grau und krank aussehender Mann von mittlerer Statur, mit einer kräftigen Nase, buschigen Augenbrauen und einem ängstlichen Gesichtsausdruck.

Auf der weißen Bettdecke wirkten seine Hände besonders groß, und die Venen traten deutlich hervor. Mit seinem mehrere Tage alten Bart wirkte das Gesicht noch dunkler. Das schwarze Haar war dicht und ungekämmt, sein Blick irrte nervös zwischen den beiden Beamten hin und her.

»Ich bin Spezialagent Calvert, und das ist Spezialagent Andrews. Wir sind Beamte des FBI und haben gehört, dass Sie uns sehen wollten.«

Beide Männer zogen mit der linken Hand die Ausweise aus der rechten inneren Jackentasche und zeigten sie Casefikis. Selbst eine so unbedeutende Handlung wird den FBI-Agenten genau vorgeschrieben: die »gute Hand« muss frei bleiben, um nötigenfalls sofort schießen zu können.

Stirnrunzelnd betrachtete Casefikis die Ausweise, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und wusste offensichtlich nicht, worauf er achten sollte. Die Unterschrift des Agenten muss, um die Echtheit zu gewährleisten, teilweise vom Stempel des Justizministeriums bedeckt sein. Casefikis schaute auf Marks Kartennummer 3302 und auf die Plakettennummer 1721. Er schwieg, als frage er sich, wo er beginnen oder ob er überhaupt reden sollte. Er starrte Mark an, offenbar der Verständnisvollere der beiden, und begann mit seiner Geschichte.

»Ich noch niemals Schwierigkeiten gehabt mit der Polizei«, sagte er. »Mit keiner Art Polizei.«

Keiner der Agenten lächelte oder erwiderte etwas.

»Aber jetzt in großer Not, und bei Gott, brauche Hilfe.«

Calvert unterbrach ihn. »Warum brauchen Sie unsere Hilfe?«

»Ich illegaler Einwanderer und Frau auch. Wir sind Griechen, kamen mit Schiff nach Baltimore und arbeiten hier zwei Jahre. Können nicht zurück.« Die Worte kamen stoßweise. »Wenn wir nicht abgeschoben werden, ich kann Information geben.«

»Wir können nicht …«, begann Mark.

Barry berührte Marks Arm. »Wenn es wichtig ist und Sie uns helfen, ein Verbrechen aufzuklären, werden wir mit der Einwanderungsbehörde reden. Mehr können wir nicht versprechen.«

Mark grübelte: Bei sechs Millionen illegaler Einwanderer würde dieses eine Paar auch nicht ins Gewicht fallen.

Casefikis sah verzweifelt aus. »Ich brauche einen Job, ich brauche Geld. Sie verstehen?«

Beide Männer verstanden. Jede Woche standen sie ein Dutzend Mal dem gleichen Problem gegenüber.

»Als ich den Job als Kellner im Restaurant bekam, war meine Frau sehr froh. In zweiter Woche ich bekam besondere Arbeit, in ein Hotelzimmer für ein großen Mann Lunch servieren. Einzige Haken, dass Mann Kellner wollte, der nicht Englisch spricht. Mein Englisch sehr schlecht, so Boss mir sagt, ich darf gehen, soll Mund halten, nur Griechisch sprechen. Für zwanzig Dollar ich ja sagen. Wir fahren hinten in Lieferwagen zu Hotel. Ich glaube in Georgetown. Wenn wir ankommen, ich in die Küche geschickt, zum Personal unten. Ich mich umziehen und Speisen bringen in privates Esszimmer. Dort fünf, sechs Männer, und ich höre großen Mann sagen, ich nicht Englisch sprechen. Also sie sprechen. Ich nicht zuhören. Letzte Tasse Kaffee, als sie anfangen reden über Präsidentin Kane. Ich mag Kane, ich zuhören. Ich höre sagen: ›Wir müssen sie aus Weg räumen.‹ Ein anderer Mann sagen: ›10. März wäre immer noch beste Tag, so wie wir es geplant haben.‹ Und dann ich hören: ›Ich pflichte dem Senator bei, wir müssen das Weibsstück loswerden.‹ Jemand mich anstarren, ich aus dem Zimmer gehen.

Wenn ich unten bin und abwasche, ein Mann kommt herein und ruft: ›He, fang das auf.‹ Ich mich umdrehen, Hände in die Höhe geben. Plötzlich er springt auf mich zu. Ich laufe zu Tür und Straße hinunter. Er schießt auf mich, ich Schmerz im Bein, aber kann weglaufen, weil er älter ist und größer und langsamer als ich. Ich höre ihn rufen, aber ich weiß, er mich nicht einholen können. Ich Angst. Ich ganz schnell nach Hause laufen, und Frau und ich ziehen am Abend aus und verstecken uns bei Freund aus Griechenland außerhalb der Stadt. Denke, alles ist okay, aber mein Bein schlechter nach ein paar Tage, so Ariana schickt mich ins Krankenhaus, und ich soll Sie rufen, weil mein Freund sagt, sie kommen in meine Wohnung, suchen mich, weil wenn sie mich finden, sie mich töten.«

Er brach ab und holte tief Luft. Das unrasierte Gesicht war schweißnass, und er sah die beiden Männer flehend an.

»Wie lautet Ihr voller Name?«, fragte Calvert, und seine Stimme klang ungefähr so aufgeregt, als schreibe er einen Parksünder auf.

»Angelo Mexis Casefikis.«

Calvert ließ sich den Namen buchstabieren.

»Wo wohnen Sie?«

»Jetzt in Blue Ridge Manor Apartments, 11501 Elkin Street, Wheaton. Haus von meinem Freund, guter Mann, bitte nicht Schwierigkeiten machen.«

»Wann hat sich dieser Vorfall ereignet?«

»Letzten Donnerstag«, sagte Casefikis auf Anhieb.

Calvert prüfte das Datum. »Am 24. Februar?«

Der Grieche zuckte die Achseln. »Letzten Donnerstag«, wiederholte er.

»Wo ist das Restaurant, in dem Sie gearbeitet haben?«

»Bei mir nächste Straße hinunter. Heißt Golden Duck.«

Calvert schrieb mit. »Und wo war das Hotel, in das man Sie brachte?«

»Weiß nicht, in Georgetown. Vielleicht Sie hinbringen kann, wenn aus Krankenhaus raus.«

»Passen Sie jetzt bitte sehr genau auf, Mr. Casefikis. Hat noch jemand bei diesem Lunch bedient, der das Gespräch ebenfalls mitgehört haben könnte?«

»Nein, Sir. Ich einziger Kellner, der bedient im Zimmer.«

»Haben Sie jemandem erzählt, was Sie gehört haben? Ihrer Frau? Ihrem Freund, bei dem Sie wohnen?«

»Nein, Sir. Nur Ihnen. Nicht Frau sagen, was ich höre. Nicht sagen, niemand. Zu viel Angst.«

Calvert setzte die Befragung fort, verlangte eine Beschreibung der anderen Männer im Hotelzimmer und ließ den Griechen alles noch einmal wiederholen, um zu prüfen, ob er bei seiner Geschichte blieb. Er blieb dabei. Mark hörte schweigend zu.

»Okay, Mr. Casefikis, das ist alles, was wir heute Abend tun können. Morgen Früh kommen wir wieder, damit Sie Ihre Aussage unterschreiben können.«

»Aber sie werden mich umbringen.«

»Seien Sie unbesorgt, Mr. Casefikis. So bald wie möglich wird ein Polizist vor Ihrem Zimmer sitzen, und niemand wird Sie umbringen.«

Casefikis senkte den Blick, war jedoch nicht beruhigt.

»Morgen Früh sind wir wieder hier«, sagte Calvert und klappte das Notizbuch zu. »Ruhen Sie sich jetzt aus. Gute Nacht, Mr. Casefikis.«

Calvert warf einen Blick auf den vergnügten Benjamin, der immer noch in sein stummes Fernsehprogramm vertieft war. Wieder winkte er den Agenten zu, lächelte freundlich und zeigte dabei seine drei Zähne: zwei schwarze und einen goldenen. Calvert und Andrews verließen das Zimmer.

»Ich glaub ihm kein Wort«, erklärte Barry sofort. »Bei seinem Englisch kann er alles missverstanden haben. Wahrscheinlich war es ganz harmlos. Die Leute verwünschen die Präsidentin doch ständig. Sogar mein Vater, trotzdem hat er nicht vor, sie umzubringen.«

»Möglich, aber woher stammt die Schusswunde? Die ist eine Tatsache«, entgegnete Mark.

»Stimmt. Sie ist das Einzige, was mir Kopfzerbrechen macht«, gab Barry zu. »Vielleicht ist sie ja nur eine Tarnung für etwas ganz anderes. Um sicherzugehen, werde ich jedenfalls den Boss benachrichtigen.«

Calvert ging zur Telefonzelle neben dem Fahrstuhl und nahm zwei Vierteldollar aus der Tasche. Alle Agenten haben die Taschen voller Vierteldollars. Angehörige des Bureaus erfreuen sich keiner besonderen Telefonprivilegien.

»Nun, will er Fort Knox ausrauben?«

Elizabeth Dexters Stimme überraschte Mark, obwohl er ihre Rückkehr halb erwartet hatte. Die Ärztin wollte offensichtlich nach Hause gehen und hatte den weißen Kittel gegen eine rote Jacke getauscht.

»Das nicht gerade«, erwiderte Mark. »Wir werden morgen wiederkommen, um die Angelegenheit zu erledigen. Wahrscheinlich wird er das Protokoll seiner Aussage unterschreiben müssen, und wir werden seine Fingerabdrücke brauchen.«

»Gut«, sagte sie, »meine Kollegin Dr. Delgado wird Ihnen behilflich sein. Ich habe morgen dienstfrei.« Sie lächelte sanft. »Meine Kollegin wird Ihnen auch gefallen.«