Kalt - Eric Berg - E-Book

Kalt E-Book

Eric Berg

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Beschreibung

Finnland. Eine abgeschiedene Moorlandschaft. Eine Internatsklasse auf Exkursion. Nacheinander verschwinden beide Lehrer. Niemand weiß, was mit ihnen geschehen ist. Die Anführer der Klasse wollen die neu gewonnene Freiheit nutzen, um mal so richtig Party zu machen, andere möchten die Exkursion lieber sofort abblasen und nach Hause fahren, ein paar sind dafür selbst auf Spurensuche zu gehen, um herauszufinden, wo die Lehrer abgeblieben sind. Der finnische Betreuer Nooa, der von den Jungs bewundert und von den Mädchen umschwärmt wird, scheint immer genau zu wissen, was zu tun ist. Aber ist er wirklich der, für den er sich ausgibt? Als im schönsten Mai noch einmal Schnee fällt und der Winter mit Macht zurückkommt, verschärft sich die Situation. Ein Schüler wird tot aufgefunden. War es wirklich nur ein unglücklicher Unfall oder steckt mehr dahinter? Schließlich überschlagen sich die Ereignisse und niemand in der Gruppe kann mehr genau sagen, wer Opfer und wer Täter ist …

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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

bloomoon, München 2016

© 2016 bloomoon, ein Imprint der ars Edition GmbH, Friedrichstr. 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Eric Berg

Textlektorat: Svenja Hoffmann

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Bildmaterial von Thinkstock

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978-3-8458-1557-2

ISBN Printausgabe 978-3-8458-1231-1

www.bloomoon-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

LAURA

JANA

FRIA

PASCAL

TAMARA

NOOA

BURIME

NOOA

LASSE

JANA

ADEM

ROBBY

DÖRTE

FRANZI

Weitere Titel

Leseprobe zu "Schrei"

Ich hab gleich gesagt, dass das eine scheiß Idee ist. Hab dagegen gestimmt. Aber auf mich hat ja keiner gehört. Also mal ehrlich, wenn man eine Klassenfahrt macht, dann um Spaß zu haben, nicht um irgendwo am Ende der Welt im Schlamm zu wühlen. Jeder, der noch nicht steinalt ist, wird mir recht geben. Aber meine tollen Klassenkameraden wollten ja unbedingt die Welt retten, und was dabei herausgekommen ist, sieht man jetzt. Ich hatte sofort ein schlechtes Gefühl, als ich hörte, wohin wir fahren und warum. So eine abgelegene Gegend. Da fährt man nicht hin. Ist einfach so. Da kann alles Mögliche passieren. Aber an das, was dann wirklich passiert ist, hab selbst ich nicht gedacht. Obwohl, so genau weiß man eigentlich noch gar nicht, was …? Oder?

Also gut, das alles fing an, als … Tja, wann fing es an? Mal überlegen. Eigentlich – für mich an dem Tag, als ich Leistungskurs Biologie gewählt habe. Oh Mann, die schlechteste Idee meines Lebens! Aber ich brauchte irgendeine Naturwissenschaft fürs Abi, und in Mathe bin ich die absolute Versagerin. Ich finde ja, Mathe als Naturwissenschaft zu bezeichnen, gehört verboten. Etwas Unnatürlicheres als diese endlosen Zahlenreihen und Formeln kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Das ist so, als würde man auf die Packungen vom Scheiblettenkäse draufschreiben: »Direkt vom Bergbauern.« Blieben also Physik, Chemie und Biologie. Physik ist ja im Grunde nichts anderes als Mathe mit einem kräftigen Schuss Lebertran, sprich Albert Einstein. Schon wenn ich an die Relativitätstheorie denke, wird mir übel. Und Chemie … Können Sie sich mich in einem hässlichen weißen Kittel vorstellen? Außerdem krieg ich noch nicht einmal eine Pasta carbonara hin, wie sollte ich da Methylalkohol herstellen können. Bei Biologie dachte ich, das reiße ich schon irgendwie, auch wenn es da um so furchtbar spannende Sachen wie das Sexleben der Pinguine und den Stoffwechsel der Kakteen geht. Das kann man auswendig lernen. Hab ich dann auch getan.

Als uns dann Dr. Brechmittel eröffnete, dass er … Ist ja gut, also Dr. Brecht … Jedenfalls sollten wir im Rahmen unserer Abiturarbeit an einem internationalen Schülerprojekt teilnehmen, das einen großen praktischen Teil hatte, und es sollte im Rahmen einer Klassenfahrt erfolgen. Zur Auswahl standen die Themenkomplexe Küsten oder Moore. Im Falle von Küsten hätten wir eine Woche in einer deutschen Forschungsstation verbracht, die in der Ägäis den Einfluss des Klimawandels auf die küstennahen Gewässer untersuchte. Das hätte Tauchen bedeutet, lustige Fahrten im Schlauchboot, Baden, Spaß … Aber unser toller Leistungskurs stimmte in geheimer Abstimmung für Moore. Ich bin aus allen Wolken gefallen. Moore. Das hieß Dreck, Sumpf, Stechmücken, Kröten, Schlangen … Wegen Lernen fürs Abi war ich doch sowieso schon völlig isoliert. Drum hatte ich mich auf eine Klassenfahrt nach Barcelona, London oder Tel Aviv gefreut. Und plötzlich sollte ich irgendwohin fahren, wo es ungefähr so viele Menschen gibt wie Außerirdische. Da hätte ich lieber auf den Falklandinseln das Sexleben der Pinguine am lebenden Objekt studiert, das wäre lustiger gewesen.

»Patvinsuo«, sagte Dr. Brecht vor der Klasse.

Ich so: »Alles in Ordnung bei Ihnen, Dr. Brecht?«

Er: »Durchaus. Dorthin wird unsere Klassenfahrt gehen.«

Ich: »In den Kongo sollen wir fahren?«

Er: »Nein, Patvinsuo liegt in Europa. Ich gebe euch einen Tipp. Die nächste Stadt heißt Joensuu.«

Und ich so: »Das Geräusch mache ich immer, wenn ich kotze.«

Es stellte sich heraus, dass Patvinsuo ein Nationalpark in Finnland ist, wo man seitens der Europäischen Union die Wiederherstellung der bedrohten Moore fördert. Angeblich sind die nämlich für die Reduzierung der CO 2-Belastung der Luft wichtig. Und schon sind wir mitten im Chemieunterricht. Ich hasse das. Was gehen mich die finnischen Moore an? Ich kenne keinen einzigen Finnen, wieso sollten mich dann ihre Sumpflöcher interessieren? Und schlimmer noch, ich sollte dort arbeiten. Meine Eltern haben mich bestimmt nicht auf eine Privatschule geschickt, damit ich körperliche Arbeit verrichte. Da geht man hin, um genau das später zu vermeiden.

Was denn? Ist doch so.

Also weiter. Dieser Arbeitseinsatz für die finnische Luft, der sich propagandistisch Klassenfahrt nannte, wurde auf Mai gelegt, weil da – ich zitiere Dr. Brecht: »Die größte Kälte schon gewichen und die Mückenplage noch nicht ganz so groß ist.« Na toll! Die Mücken würden mich nicht ganz aussaugen, sondern mir das nötigste Blut zur Erhaltung meiner Körperfunktionen lassen. Und ich würde nicht erfrieren, sondern einfach nur ein bisschen so vor mich hin bibbern, weil man das im Mai ja supergerne so macht. Die konnten mich alle mal!

Ich also voll die Unlust. Hab natürlich mit meinen Eltern gesprochen, damit sie mich von der Sklavenarbeit im Sumpf befreien. War damals ja noch siebzehn. Die meinten, Finnland sei doch mal was erfrischend anderes. Ich hab ihnen geantwortet, dass es auch mal was erfrischend anderes wäre, wenn ich das nächste Mal, wenn sie weg sind, eine Riesenparty in ihrem Haus schmeißen würde. Daraufhin haben sie gegenüber der Schulleitung die Hochzeit einer nahen Verwandten auf Hawaii erfunden, bei der ich Blumen streuen müsste, und Simsalabim war das Thema für mich erledigt. Natürlich hab ich dann darauf bestanden, tatsächlich mit ihnen im Mai nach Hawaii zu fliegen …

Ich war kaum dort angekommen, da hab ich das erste Foto an Isabel verschickt, die am selben Tag in Helsinki landete: eine blaue Lagune, ein paar Palmen, ein Cocktail mit Schirmchen … Ich wollte sie halt ein bisschen neidisch machen, weil sie nicht so nachgiebige Eltern wie ich hat und in die Sümpfe fahren musste, obwohl sie das genauso wenig wollte wie ich. Sie hat mir dann gleich ein Foto zurückgeschickt. Darauf ein Typ, vielleicht vier, fünf Jahre älter als wir … Oh Mann, nicht zum Aushalten, der sah ja sooo heiß aus. Der totale Oberhammer. Ich hab Schnappatmung gekriegt. Isabel schrieb einen einzigen Satz dazu: DAS ist unser finnischer Betreuer. Ich dachte noch: Na, hoffentlich löscht sie die Nachricht sofort, weil Tarek doch manchmal in ihrem Handy schnüffelte, was sie so schreibt. Aber ich muss zugeben, Isabel hatte mich neidisch gemacht. Plötzlich fragte ich mich, ob ein paar Mückenstiche und etwas schweißtreibende Arbeit nicht ein akzeptabler Preis gewesen wären für so einen Eyecatcher. Er hätte mir sicher beibringen können, wie man sich die Kälte vom Leib hält …

Im Nachhinein bin ich natürlich froh, dass ich auf Hawaii war und nicht in Finnland. Wer weiß, ob ich sonst heute hier sitzen würde.

Für Franzi war diese Reise nach Finnland ein Abenteuer. Küsten und Berge kannte sie zur Genüge. Die Winterurlaube verbrachte sie, seit sie ein Kleinkind war, mit ihren Eltern und Geschwistern in den Alpen, den Pyrenäen, in Colorado und Kanada, die Sommerurlaube an allen möglichen Stränden der Welt. Sie hatte es nie jemandem gesagt, aber es langweilte sie ein bisschen, und sie freute sich schon darauf, irgendwann einmal mit dem Zug durch Indien oder mit dem Boot auf dem Amazonas zu fahren. Deswegen hatte sie in der geheimen Abstimmung für Moore gestimmt. Endlich mal etwas Neues erleben, nicht immer nur das Internat und die saubere, durchgestylte, überraschungsarme Welt ihrer Eltern. Geradezu ungeduldig hatte sie der Klassenfahrt, dem Biologieprojekt in Finnland, entgegengefiebert. Als der Flieger gen Helsinki abhob, war sie so aufgeregt gewesen wie lange nicht mehr.

Allerdings bekam davon keiner etwas mit. Nach außen blieb Franzi cool. Sie trug ihr Herz nicht gerade auf der Zunge, und ganz gleich ob es um wichtige oder unwichtige Dinge ging, hielt sie sich mit ihrer Meinung und mit Gefühlsregungen zurück. Die Klassenkameraden hatten sich schon längst darauf eingestellt und bezogen sie bei Diskussionen und Entscheidungen normalerweise nicht mehr mit ein, weil sie glaubten, dass es Franzi sowieso egal wäre. Aber wenn jemand sie um Rat oder Hilfe fragte, dann verweigerte Franzi sich nicht. So machte sie mit Laura zusammen die Hausaufgaben in den Fremdsprachen, aber nur, weil Laura damit alleine nicht zurechtkam und sich verzweifelt an sie gewandt hatte. Außerdem gab sie die Tennispartnerin für Isabel, weil Isabel sonst niemanden fand, der geeignet gewesen wäre. Ansonsten hielt Franzi sich jedoch im Hintergrund. Auf Menschen zuzugehen, sie um etwas zu bitten oder auch nur ihrerseits ein Gespräch mit ihnen anzufangen, fiel ihr schwer. Sie hatte immer das Gefühl, andere zu stören, zu belästigen, zu langweilen, kurz, das fünfte Rad am Wagen zu sein.

Genau das war ja das Tolle an dem Moorprojekt. Da ging es darum, etwas anzupacken, etwas zu tun, und dabei fühlte sie sich wohl. Vor allem, weil es für eine gute Sache war, auf die man anschließend stolz sein konnte. Da ging es auch nicht darum zu zeigen, wie toll man aussah oder welche Tricks man draufhatte. Franzi hatte sich zuvor im Internet informiert, was alles bei der Renaturierung eines Moors zu tun war: Strauchwerk ausbuddeln und entfernen, Gräben anlegen, Dämme aufschütten, Bachläufe umleiten, Zöglinge von Wasserpflanzen einsetzen … Keine Tätigkeiten, bei denen man besonders glänzen konnte. Vielleicht würde sie sich gerade deshalb in der finnischen Einöde den Mitschülern gegenüber endlich einmal gleichwertig fühlen.

Eines wunderte Franzi bei aller Freude dann aber doch, nämlich dass die Klasse mehrheitlich für die Moore gestimmt hatte. Schon seltsam, wenn man bedachte, wer die Stimmberechtigten waren. Während des Fluges ging sie im Geiste noch einmal die Klassenkameraden durch.

Isabel und Laura kamen jedenfalls nicht infrage. Isabel wollte nach dem Abi Sport studieren und interessierte sich viel mehr fürs Tauchen als fürs Arbeiten im Morast. Und Laura wollte Modedesignerin werden, betrachtete Schlamm und Schilf allenfalls als Farben, nie und nimmer als angemessene Aufenthaltsorte. Das war wohl auch der Grund für ihren vermeintlichen Einsatz als Blumenkind auf einer Hochzeit am Ende der Welt. Tarek, Isabels Freund, hätte wohl gerne vorgeführt, dass er stark genug war, um Bäume auszureißen, aber letztendlich ging es ihm doch immer nur darum, Spaß zu haben, und den hätte man in den finnischen Wäldern und Sümpfen eher weniger. Dasselbe galt für Robby, Tareks besten Freund, der immer alles gut oder schlecht fand, was auch Tarek gut oder schlecht fand. Manche nannten ihn hinter vorgehaltener Hand »The Shadow«.

Franzi fühlte plötzlich, dass jemand sie beobachtete. Und tatsächlich – als sie sich auf ihrem Fensterplatz diagonal umwandte, begegnete sie Marcs Blick. Er stand im Gang und strahlte sie an wie ein Weihnachtsgeschenk, beugte sich vor und machte einen Witz über Flugangst, über den sie nicht lachen konnte.

»Ist dir schlecht?«, fragte er.

»Nein, wieso?«

»Weil du so ernst guckst.«

»Wenn jedem mit einem ernsten Gesicht schlecht wäre …«, begann sie, wurde aber von Marc unterbrochen.

»… würde mein Vater nicht in Immobilien, sondern in Kotztüten investieren.« Marc lachte sich über seinen Witz kaputt und versuchte, Franzi damit anzustecken, aber sie konnte sich nicht helfen, irgendwie fand sie ihn nicht komisch. Das ging ihr immer so mit Marc. Dabei blödelte er in einer Tour, vor allem, wenn sie in der Nähe war.

Im Grunde war Marc wie Tarek, nur nicht so muskulös und gut aussehend, und ein Herumblödler vor dem Herrn. Er wollte immer im Mittelpunkt stehen und Spaß haben. Kite-Surfen war sein Hobby, er hatte seinen Mitschülern schon tausend Fotos und Videos davon gezeigt, wie er in der Luft herumwirbelte. Marc hatte ganz bestimmt nicht für die Klassenfahrt ins Moor gestimmt.

Franzi blickte ihre Sitzreihe entlang. Es war kein Zufall, dass sie, Dörte, Lasse und Jana beieinandersaßen und die anderen ein paar Reihen dahinter. In der fünfzehnköpfigen Klasse und im kleineren Leistungskurs Biologie galten sie als die Außenseiter, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Franzi eigentlich noch am wenigsten, weil sie den anderen sympathisch war und sich nicht ganz von ihnen absonderte. Mit Dörte war das völlig anders. Sie sprach wirklich sehr wenig, und wenn, dann nur mit den Lehrern sowie mit Franzi. Sie besaß noch nicht einmal ein Handy.

Waren sie Freundinnen? Ja, vielleicht waren sie das, aber so genau wusste Franzi das auch nicht. Oft machten sie zusammen Hausaufgaben, wobei Dörte immer in null Komma nichts mit allem fertig war. Sie war im Grunde keine Streberin, denn die Sachen flogen ihr einfach so zu, und dafür konnte sie ja schließlich nichts. Mathematische Gleichungen, die französische Grammatik, die textimmanente Analyse eines Dramas von Beckett – was auch immer, es fiel ihr leicht. Sie hatte eine Art fotografisches Gedächtnis. Allerdings hatte sie auch Asthma, was ihre ohnehin vorhandene Tendenz zur Isolation noch verstärkte. Von Dörte selbst wusste Franzi, dass sie ihren Stimmzettel ungültig gemacht hatte und plante, Lauras Beispiel zu folgen und die Klassenfahrt nicht mitzumachen. Weil sie achtzehn Jahre alt war, konnte sie das leicht durchziehen. Aber im letzten Moment hatte sie sich umentschieden, aus welchen Gründen auch immer.

Lasse wurde von den Jungs nicht respektiert, weil er in Sport eine Niete war, und wen die Jungs gering schätzten, der galt auch bei den Mädchen nicht viel. Franzi konnte ihn eigentlich gut leiden, rein instinktiv, aber obwohl sie ihn nun seit drei Jahren kannte, wusste sie fast nichts über ihn. Welche Interessen hatte er? Er war nicht bei Facebook und sprach auch sonst weder über sich noch über seine Familie. So eng mit den männlichen Schulkameraden zusammen und ohne Möglichkeit, sich von ihnen zurückzuziehen, würde es in der bevorstehenden Woche nicht leicht für ihn werden. Würde sich so jemand wirklich freiwillig in eine gottverlassene Gegend begeben, mehr noch, absichtlich dafür stimmen, dorthin zu kommen?

Und zu guter Letzt Jana – sie war ein Sonderfall. Keiner mochte sie. Sie wusste alles besser, war furchtbar neugierig und wollte überall mitreden, ein wahrer Senfautomat. Franzi war durchaus nicht immer einer Meinung mit ihren Mitschülern, sie war fair und versuchte, an jedem etwas zu finden, das sie mochte. Aber was Jana anging, hatte sie aufgegeben. Allerdings war Jana neben Franzi auch die Einzige, die ganz sicher für Moore gestimmt hatte, weil ihre Eltern, die beide Biologen waren, ihr dazu geraten hatten. Und Jana machte immer alles, wozu die Eltern ihr rieten.

Für was waren diese ganzen Grübeleien nun eigentlich gut? War es nicht egal, wer wofür gestimmt hatte? Vor allem, weil das Ergebnis ganz in Franzis Sinn war.

Aber irgendetwas störte Franzi daran. Sie konnte es sich selbst nicht erklären, es war nur so ein komisches Gefühl, im Grunde nicht wichtig. Aber trotzdem – selbst wenn Lasse ebenfalls für Moore gestimmt hätte, dann hätte es bei neun Stimmen drei zu fünf zugunsten der Küsten ausgehen müssen, denn Dörte hatte ihren Stimmzettel ungültig gemacht. Sie wunderte sich einfach. Tarek, Isabel, Laura und Robby quatschten viel miteinander, sie hätten also mitkriegen müssen, dass da irgendwas nicht ganz passte. Warum gab es dann keinen Protest? Warum hatte hinterher niemand verlangt, die Stimmzettel sehen zu dürfen?

Oder irrte Franzi sich? Schätzte sie ihre Mitschüler falsch ein? Hatten die echt alle für Moore gestimmt? Aber wieso? Das ergab irgendwie keinen Sinn. Es passte einfach nicht zu ihnen. Es sei denn …

Es sei denn, es gab etwas, das Franzi nicht wusste.

»Franziska! Franziska!«

Außer ihrer Großmutter war Franzis Englischlehrerin Mrs Greenwood die Einzige, die sie bei ihrem vollständigen Vornamen rief. Das war umso merkwürdiger, als Mrs Greenwood aus einem Land kam, in dem fast jeder Vorname auf seine drei Anfangsbuchstaben zusammenschmolz. Sie war Kanadierin, irgendwo zwischen vierzig und fünfzig, erinnerte in ihrer ganzen Art aber eher an eine steife, spätviktorianische Gouvernante. Schon dieser altmodische Haarknoten, eine Art Kuppelkirche auf dem Kopf … Und ihr Sinn für tadelloses Benehmen, das sie an der Privatschule im Nebenfach unterrichtete. Wenn es überhaupt etwas Humorvolles an ihr gab, dann war das ihre Verwendung der deutschen Sprache, in deren Wirrungen sie sich andauernd verhedderte.

»Franziska, ich habe eine Aufgabe für dich«, sagte sie, als sie am Flughafen von Helsinki auf ihre Koffer warteten. »Du bist die Alte.«

Franziska sah sie mit großen Augen an. Wenn hier jemand die Alte war, dann ja wohl Mrs Greenwood.

»Sind Sie sich da absolut sicher?«, fragte sie.

»Naturlich. Du bist die Alte – I’m sorry, ich wollte sagen, du bist die Alteste von den Schülern.«

»Ich dachte, Tarek.«

»Er ist drei Wochen junger als du. Außerdem bist du die Vernunftigste. Daher wirst du so etwas sein wie die Anfuhrerin, solange wir in Finnland sind. The leader, you know.«

»Ich? Nö, das will ich aber nicht.«

»Du willst nicht die Alteste und Vernunftigste sein?«

»Das auch nicht. Aber vor allem will ich nicht die Anführerin sein.«

»Es geht nur darum, dass jemand etwas im Auge hat, wenn Dr. Brecht und ich nichts im Auge haben. Du sollst sein die Erste unter Gleichen. Ein bisschen aufpassen, you know. Den anderen die Hand nehmen.«

»Die anderen an die Hand nehmen«, korrigierte Franzi ihre Lehrerin. Bockig zu werden, lag ihr eigentlich überhaupt nicht, meistens schluckte sie Ärger einfach runter. Die meisten Dinge erledigten sich ihrer Erfahrung nach sowieso von selbst. Aber sie hatte sich auf diese Klassenfahrt gefreut, und Verantwortung zu tragen, gehörte ganz bestimmt nicht zu den Dingen, die Freude machten. Dafür gab es Lehrer. Was sollte das überhaupt? Anführerin. Das war ganz bestimmt nicht Dr. Brechts Idee gewesen. Immer dachte die Greenwood sich solche Sachen aus. Becoming an adult, nannte sie das. Pech, dass man ausgerechnet sie als zweite Aufsichtsperson auf diese Klassenfahrt geschickt hatte. Ursprünglich sollte Frau Konrad, Wirtschaftslehre und Ökologie, diesen Part übernehmen, aber dann hatte man sie zwei Wochen vor der Abreise »von allen Aufgaben entbunden«, wie es offiziell hieß. Inoffiziell war durchgesickert, dass man eine angebrochene Flasche Wodka in ihrer Handtasche gefunden hatte. Aber Franzis Widerstand dauerte nur ein paar Sekunden. Sie konnte niemandem lange böse sein, gab letztendlich immer nach. Vielleicht war Mrs Greenwoods hohe Meinung von ihr auf gewisse Weise auch ein Lob. So jedenfalls versuchte Franzi sich das schönzureden.

Lange gelang ihr das nicht. Schon als der Koffer kam, wurde ihr übel, wenn sie daran dachte, wie Tarek, Marc, Isabel und die anderen reagieren würden, wenn sie hörten, dass Franzi in Abwesenheit der Lehrer das Kommando führen sollte. Die stille, liebe, unauffällige Franzi. Hoffentlich würde Mrs Greenwood sich nicht einfallen lassen, ihre Entscheidung zu begründen. Die Vernünftigste – oh mein Gott! Die Mitschüler würden sich kaputtlachen, ihre Witze reißen … Ein Albtraum. Der absolute Horror.

Sie würde einfach nichts tun. Keine Augen offen halten, sondern sie zumachen. Niemanden anführen. Sich so verhalten wie immer. Dann würden die Witze schnell aufhören. Nach ein, zwei Tagen wäre es ausgestanden. Was konnte schlimmstenfalls schon passieren? Dass Mrs Greenwood von ihr enttäuscht wäre? Dass man sie als Anführerin absetzte? Yippie!

Und dann passierte es wirklich. Als alle ihre Koffer hatten, scharten Dr. Brecht und die Greenwood die Schüler um sich herum, gaben ein paar Hinweise und sprachen Mahnungen aus und zum Schluss bestimmten sie Franzi ganz offiziell als ihre Vertretungsaufsicht.

Damit war sie nicht nur Anführerin, sondern auch Aufseherin. Gab es etwas Schlimmeres, als das zu sein? Franzi wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Die Reaktionen waren natürlich genauso furchtbar, wie sie erwartet hatte, und reichten von Gelächter (Isabel, Robby, Marc) über neidische Blicke (Jana) bis zu cooler Ignoranz (Tarek, der demonstrativ an seinem Handy rumspielte). Nur Dörte und Lasse nahmen es mit einem wohlwollenden Schulterzucken zur Kenntnis, das verriet, dass von ihnen keine Schwierigkeiten zu erwarten waren.

Die Truppe aus acht Schülern und zwei Lehrern bewegte sich zum Ausgang, wo jemand mit einem großen Schild auf sie wartete. Er war ein paar Jahre älter als Franzi und ihre Mitschüler, aber noch keine fünfundzwanzig.

»Hallo, ich heiße Nooa«, sagte er in fließendem Deutsch und gab nacheinander jedem Einzelnen die Hand, wobei er einem für eine Sekunde tief in die Augen schaute. Danach erzählte er, dass er für die Dauer ihres Aufenthalts ihr Betreuer war, wo sie gleich hinfahren würden und wie das weitere Programm ablaufen sollte, aber Franzi bekam die Hälfte nicht mit und hatte die andere Hälfte nach fünf Minuten vergessen.

»Wie heißt er?«, fragte sie Dörte in dem Kleinbus, den der junge Finne steuerte.

»Nooa«, antwortete diese verwundert. »Das hat er zweimal gesagt, er hat es sogar buchstabiert. Hast du das nicht gehört?«

»Nein.«

Nooa hatte dunkle, fast schwarze Haare, schulterlang und ziemlich verwuschelt, und Franzi blickte während der Fahrt unentwegt auf seinen Hinterkopf. Nooas Locken tanzten im Fahrtwind. Mit welcher Ruhe er den Kleinbus durch Helsinkis Stadtverkehr steuerte, wie lässig er den Arm auf dem Fenster platzierte. Nebenher beantwortete er ein paar Fragen der Lehrer und lieferte Infos über die finnische Hauptstadt. Obwohl sein Deutsch nahezu makellos war und Franzi direkt hinter ihm saß, fiel es ihr ungeheuer schwer, sich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Die ganze Zeit über hatte sie nur den einen Gedanken – ihm noch einmal in die Augen zu sehen.

»Der Direktor meiner Behörde wird das nachher bestimmt noch ausführlich tun, aber ich will Ihnen – und euch Jungs und Mädels ganz besonders – danken, dass ihr uns helft, unsere Moore wiederherzustellen. Das ist echt toll. Wir haben uns riesig gefreut, als wir die Nachricht bekamen.«

»Aber ich bitte Sie, die Freude ist ganz auf unserer Seite«, erwiderte Dr. Brecht gestelzt, wischte sich mit dem Stofftaschentuch die Stirn trocken und öffnete trotz der kühlen Luft das Beifahrerfenster, sodass ein ständiger kalter Luftzug durch das Auto brauste. Er war ein kleiner, schmächtiger, glatzköpfiger Mann in den Fünfzigern, mit dem man sich über wenig anderes als Biologie unterhalten konnte. Er war durch und durch harmlos. Das war auch der Grund, weshalb man ihm eine resolute Lehrerin als zweite Aufsicht an die Seite gestellt hatte. Mit Mrs Greenwood war weit weniger gut Kirschen essen, und es war klar, dass sie bei dieser Klassenfahrt die Hosen anhaben und ihr männlicher Kollege sich auf den fachlichen Bereich beschränken würde.

»Leider haben sich nicht viele Schulklassen auf unsere Europa-Ausschreibung hin beworben«, sagte Nooa. »Moore sind halt keine Publikumsmagneten. Die meisten Jugendlichen wollen lieber ans Meer oder in die Berge.«

Isabel, Tarek und Robby tauschten einen Blick, was Franzi überhaupt nur deswegen auffiel, weil sie sich für ein paar Sekunden von Nooas Hinterkopf losreißen konnte.

»Dein Deutsch ist super«, sagte Franzi plötzlich, woraufhin sie von Dörte verwundert gemustert wurde, so als prüfe sie, ob ein außerirdisches Wesen sich Franzis Körper bemächtigt hätte.

Ja, es stimmte, Komplimente verteilte sie sonst nie, weil sie einfach zu zurückhaltend war. Das Lob war ihr einfach so herausgerutscht, sie verstand es selbst nicht. »In Finnland ist Deutsch die bevorzugte zweite Fremdsprache«, erklärte Nooa. »Viele Finnen sprechen etwas Deutsch. Und vor zwei Jahren habe ich ein Semester in Hamburg studiert.«

»Biologie?«, fragte Dr. Brecht, bereit für den freudigen Sprung ins Fachsimpeln.

Nooa zögerte einen Moment. »Medizin«, antwortete er schließlich zu Dr. Brechts Enttäuschung.

Während der Stunde mit dem Direktor der finnischen Nationalparkbehörde holten fast alle Schüler ihre Handys hervor und schickten Bilder von den ersten Eindrücken an Freunde und Eltern. Der Vortrag über die Moore zog sich in die Länge und außer den Lehrern sowie Dörte und der ehrgeizigen Jana hörte keiner zu. Franzi sah eigentlich immer nur Nooa an, außer er sah zu ihr herüber, dann schaute sie schnell in eine andere Richtung oder senkte den Kopf.

Was soll das denn, fragte sie sich unentwegt. Erstens war Nooa bestimmt fünf Jahre älter als sie, das war nicht wenig.

Zweitens wäre sie in einer Woche sowieso schon wieder weg.