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BIS ANS ENDE DER WELT
Donovan Kelly hat bereits viel Leid in seinem Leben gesehen, doch das Schicksal der hübschen Eve und ihrer jüngeren Geschwister geht dem hartgesottenen KGI-Agenten unerwartet nahe: Die drei sind auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Stiefvater, der ihnen die Hölle auf Erden bereitet hat. Sie trauen daher nichts und niemandem! Und Eves raue Schale, unter der sich so viel Schmerz und Verletzlichkeit verbirgt, lässt Donovan nicht kalt. Er setzt alles daran, die Geschwister in Sicherheit zu bringen, ihnen Hoffnung zu schenken und Eves Herz für sich zu gewinnen. Doch da zieht ein gefährlicher Sturm auf, der alles zunichtemachen könnte ...
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Seitenzahl: 629
MAYA BANKS
KGI – Jenseits des Sturms
Roman
Ins Deutsche übertragen von Richard Betzenbichler
Eve und ihre beiden jüngeren Geschwister sind auf der Flucht vor ihrem grausamen Stiefvater. Weder er noch die Polizei dürfen sie je finden, denn Eve würde so zweifellos von ihren Geschwistern getrennt – und das muss die junge Frau um jeden Preis verhindern. Am idyllischen Kentucky Lake scheinen die drei endlich zur Ruhe zu kommen. Aber als Eves kleine Schwester Cammie krank wird und ihr minderjähriger Bruder Travis Arbeit finden muss, um sich und seine Schwestern zu ernähren, wird Donovan Kelly, der Sohn eines Ladenbesitzers, auf sie aufmerksam. Donovan, als Teil des KGI-Teams, hat schon viel Leid gesehen – und das Schicksal der Geschwister geht ihm seltsam nahe. Eves spröde Verletzlichkeit weckt etwas in ihm, das er vergessen glaubte. So will er helfen, Cammie gesund zu machen. Doch Eve ist misstrauisch: Sie hat gelernt, dass die Welt schlecht und grausam ist. Man kann niemandem trauen! Aus Angst, ihre Tarnung zu verlieren, verlässt sie sofort die Stadt. Doch ein schrecklicher Sturm vereitelt ihren Plan und treibt sie nur noch weiter in die beschützenden Arme von Donovan Kelly.
Für alle, die geduldig auf Donovans Geschichte gewartet haben. Ich hoffe, sie ist genau so, wie ihr sie euch gewünscht habt!
Rusty seufzte. Erneut fragte sie sich, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, den Jungen als Teilzeitkraft einzustellen. Eigentlich brauchten sie keine Hilfe im Laden. Frank war weiterhin jeden Tag dort – trotz der Vorhaltungen seiner Familie, er solle es nach seinem Herzinfarkt langsam angehen lassen. Sie selbst half auch mit, wenn sie in den Ferien daheim war, außerdem gab es genügend Kellys, die jederzeit gern alles stehen und liegen ließen, um ihnen zu Hilfe zu eilen.
Dennoch … Sie hatte einfach nicht Nein zu dem Jungen sagen können. Vielleicht war der Grund dafür die stille Verzweiflung in seinen Augen gewesen. Sie hatte einen Blick – und ein Gefühl bemerkt –, die ihr beide nur zu gut bekannt waren.
»Aber die Gnade Gottes – und der Kellys – leitet mich«, murmelte sie lächelnd.
Zweifellos würde sie noch immer bei ihrem Nichtsnutz von einem Stiefvater in einem heruntergekommenen Wohnwagen wohnen und von der Hand in den Mund leben, hätte Marlene Kelly sie nicht bei sich aufgenommen. Wobei, nein, bei ihrem Stiefvater würde sie nicht mehr wohnen. Irgendwann wäre sie weggelaufen und würde sich jetzt vermutlich auf der Straße herumtreiben und sich prostituieren, um zu überleben.
Eine lange verdrängte Erinnerung bahnte sich ihren Weg an die Oberfläche, und Rusty lief ein Schauder über den Rücken. Es war eine schmerzvolle, demütigende Erinnerung. Marlene Kelly war eine Heilige. Ein Engel. Jeden Tag dankte Rusty Gott für Marlene und Frank.
Ihnen hatte sie zu verdanken, dass sie auf die Universität gehen konnte. In einem Jahr würde sie das College beenden. Mit einem richtigen Abschluss! Sie hatte ein Leben. Aussichten. Alles, was sie sich nie hatte vorstellen können.
Aber das Beste war, dass sie eine Familie hatte. Eine grundsolide, riesige, anhängliche, sie rückhaltlos unterstützende Familie. Sie war eine Kelly. Marlene und Frank hatten sogar einen Rechtsanwalt eingeschaltet, damit sie offiziell ihren Namen ändern konnte. Jetzt hatte sie auch wieder eine Geburtsurkunde, einen Sozialversicherungsausweis und Sonstiges. Rusty Kelly.
Okay, ihr Vorname klang blöd und kitschig mit dem Nachnamen Kelly. Aber vorher hatte sie den völlig normalen und langweiligen Namen Barnes getragen. Marlene hatte sie adoptieren wollen, obwohl sie schon volljährig gewesen war, damit sie sich hundertprozentig zum Kelly-Clan zugehörig fühlen konnte.
Dabei wäre das gar nicht nötig gewesen. Zu wissen, dass sie von allen Kellys akzeptiert und geliebt wurde – inklusive ihrer großspurigen und überfürsorglichen Brüder –, war für Rusty genug. Dass sie zur Universität gehen und sich dort als Rusty Kelly vorstellen konnte, war noch immer ein Gefühl, das sie überwältigte und ihr zuweilen die Tränen in die Augen steigen ließ. Dabei hatte sie sich doch geschworen, nie wieder zu weinen! Jenes Leben hatte sie hinter sich gelassen – all den Schmerz und die Peinlichkeiten, die die ersten fünfzehn Jahre ihres Lebens überschattet hatten.
All das war wie fortgeblasen gewesen, als Marlene sie liebevoll auch offiziell in den Kelly-Clan aufgenommen hatte.
Seufzend betrachtete Rusty Travis Hansen – falls das sein richtiger Name war –, der in einem der Gänge stand. Zum wiederholten Mal fragte sie sich, auf was sie sich da eingelassen hatte.
Er war genauso alt wie sie selbst damals, als sie bei den Kellys eingebrochen war, wo sie nur nach etwas zu essen gesucht hatte. In seinen Augen erkannte sie dieselben dunklen Gefühle. Traurigkeit. Am schlimmsten von allem aber … Angst.
Als würde er ihren kritischen Blick spüren, hob Travis, der gerade Waren in die Regale räumte, den Kopf. Sofort wirkte er verunsichert. Der arme Junge war völlig unfähig, seinen Gesichtsausdruck zu kontrollieren. Rusty schloss daraus, dass er noch wenig Erfahrung hatte. Was immer ihn in Franks Laden getrieben haben mochte, konnte noch nicht lange zurückliegen.
»Stimmt was nicht?«, fragte er vorsichtig.
Er mochte fünfzehn sein – das hatte er ihr gegenüber behauptet –, aber er wirkte um Einiges älter. Er war deutlich größer als die meisten Fünfzehnjährigen, hatte mehr Muskeln und war recht kräftig, nicht so schlaksig wie so viele Jungs dieses Alters. Vermutlich hatte er schnell erwachsen werden müssen, weshalb er jetzt reifer wirkte als seine fünfzehn Jahre.
Rusty konnte das sehr gut nachvollziehen, schließlich war sie schon mit zehn gezwungen gewesen, erwachsen zu werden. War sie eigentlich jemals wirklich ein Kind gewesen?
»Gar nichts«, erwiderte sie fröhlich. Sie konnte nur hoffen, dass ihre Unsicherheit nicht so auffällig war wie die des Jungen. »Ich habe nur gerade gedacht, wenn du mit dem Regal fertig bist, könnten wir Mittag essen gehen. Ein paar Häuser weiter ist ein Sandwichladen. Hast du Hunger?«
Das Aufblitzen seiner Augen verriet ihr, dass er tatsächlich hungrig war. Sie fragte sich, wann er wohl zuletzt etwas Anständiges gegessen hatte. Aber sie wollte nicht fragen, denn vermutlich würde er dann einfach fortlaufen.
»Ich … ähm … ich habe meine Geldbörse zu Hause liegen lassen«, stammelte er. »Aber ich kann Ihnen das Geld morgen zurückgeben. Jedenfalls, wenn ich morgen kommen soll.«
Rusty verzog das Gesicht. Sonntags blieb Franks Haushaltswarenladen zu. Das war der Kirchen- und Familientag. Aber Travis brauchte nicht zu wissen, dass Frank bei der Vorstellung, einer seiner Angestellten würde am Sonntag arbeiten, der Schlag treffen würde. Rusty hatte bereits beschlossen, dem Jungen wenn nötig etwas von ihrem eigenen Geld zuzustecken.
»Sonntags füllen wir immer auf«, erwiderte sie und hoffte, Gott würde ihr diese himmelschreiende Lüge verzeihen. »Der Laden ist geschlossen, aber ich könnte dich morgen durchaus ein paar Stunden brauchen, falls du Zeit hast.«
Seine Schultern sackten vor Erleichterung ein wenig hinunter. »Klar, kein Problem. Ich kann um acht kommen und so lange bleiben, wie Sie mich brauchen.«
Rusty nutzte die Gelegenheit, seine Reaktion genau zu beobachten. »Hat deine Mom auch sicher nichts dagegen? Ich meine, die meisten Leute hier in der Gegend gehen in die Kirche und verbringen den Tag mit ihrer Familie. Ich würde nicht gern einen guten Mitarbeiter verlieren, nur weil deine Mutter sauer ist, dass du arbeitest.«
Sein Gesicht verwandelte sich in eine undurchdringliche Maske, aber als er antwortete, flackerte kurz etwas in seinen Augen auf.
»Ich habe keine Mutter. Meine ältere Schwester kümmert sich um unsere jüngere Schwester und um mich. Ich helfe gern aus. Eve … also, sie arbeitet hart. Sie hat sicher nichts dagegen, wenn ich ein paar Stunden arbeite. Wir können das Geld brauchen.«
Rusty speicherte dieses Informationsfitzelchen ab, bohrte aber nicht weiter. Travis fühlte sich außerordentlich unwohl, und sie wollte nicht riskieren, dass er sich verdrückte. Dabei hätte sie nicht einmal sagen können, wieso das eine Rolle spielte. Verdammt, wahrscheinlich wäre es sogar besser, wenn der Junge nicht zu lange bei ihnen herumhing. Wenn Frank herausfand, was sie getan hatte, würde er sich vermutlich fragen, ob sie den Verstand verloren hatte.
»Okay, worauf hättest du Lust? Die machen ein großartiges Clubsandwich. Aber sie haben auch ziemlich üble Würg- und Kotzburger. Bei deiner Größe braucht ein Junge vermutlich das Protein.«
Travis grinste. Es war nur ein kurzes Aufblitzen, aber es ließ die Schatten in seinen Augen für einen Moment in den Hintergrund treten. Doch dann war es so rasch wieder verschwunden, wie es gekommen war, und erneut starrte Rusty ein für seine Jahre viel zu alter Junge an.
»Würg und Kotz?«
Sie lachte. »Ja. Gut ist er trotzdem. Meine Brüder finden ihn so genau richtig, mit viel Bacon und Käse. Außerdem ist er handgemacht. Nicht der Fertigfraß, den man in den Fast-Food-Restaurants bekommt. Hier in der Gegend ist selbstgemachtes Essen eine Frage der Ehre. Also, wie wäre es mit einem guten Würg-und-Kotz-Schinkencheeseburger? Du bist eingeladen. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, wo du mir so viel Arbeit abnimmst.«
»Das klingt super. Danke, Rusty. Für alles, meine ich. Das bedeutete eine Menge für meine Schwestern und mich.«
Rusty war versucht, ihn in die Arme zu nehmen und ihm zu sagen, alles würde wieder gut werden. Aber sie widerstand der Versuchung, denn sie wusste, in seinem Alter hätte sie solch eine Geste völlig verstört. Sie hatte lange gebraucht, bis sie begriffen hatte, dass ihr nicht jeder auf dieser Welt wehtun wollte. Und dass Liebe nicht an Bedingungen geknüpft war, sondern freiwillig geschenkt wurde. Ohne Gegenleistungen. Ohne Nebenwirkungen.
Aber ihr tat das Herz weh, wenn sie ihn sah. Sie wusste, was es hieß, Angst zu haben. Hungrig zu sein. Viel zu viel Verantwortung für sein Alter tragen zu müssen. Gott sei Dank gab es Marlene und Frank Kelly und all die anderen.
»Hey, kein Problem, Kleiner. Wie ich schon sagte, wenn du nicht die ganzen Regale einräumen würdest, müsste ich das machen. Frank arbeitet sowieso viel zu viel. Er hatte vor einigen Jahren einen Herzinfarkt. Seine Frau versucht ihn zu bremsen und ihm zu sagen, er soll es langsamer angehen lassen. Aber er ist stur wie ein Maulesel, und deshalb passen wir immer auf, dass er es nicht übertreibt. Du tust mir einen großen Gefallen.«
Travis grinste, dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu, nahm Werkzeuge aus dem Karton am Boden und ordnete sie sorgfältig an den jeweils richtigen Stellen ein.
Seufzend wandte sich Rusty ab und warf einen Blick auf ihre Uhr. Frank würde erst um zwei Uhr kommen. Es hatte lange gedauert, bis er endlich davon überzeugt gewesen war, dass sie allein im Laden klarkam und es reichte, wenn er von zwei bis zum Ladenschluss um sechs arbeitete. Bis dahin würde sie den Jungen abgefüttert, ausbezahlt und weggeschickt haben, und Frank würde nichts davon mitbekommen. Hoffentlich.
Als sie wieder vorne im Laden war, trat sie hinter den Verkaufstresen, um ihre Handtasche zu holen. Wenn sie das Essen vorbestellte, würde sie nur ein paar Minuten weg sein. Sie ließ den Jungen zwar nur ungern allein, aber die Kasse war gesichert, und beim Rausgehen würde sie das »Geschlossen«-Schild in die Tür hängen. Sie wäre im Nullkommanichts zurück.
Nachdem sie ihre Bestellung durchgegeben hatte, schlang sie sich die Tasche über die Schulter, ging zur Tür und rief Travis zu, dass sie in fünf Minuten zurück war. Auf dem Weg nach draußen wäre sie beinahe mit einem Mann zusammengestoßen. Sie schaffte es gerade noch, einen Fluch zu unterdrücken. Marlene versuchte seit ewigen Zeiten, eine Lady aus ihr zu machen.
Aber als sie sah, wer sie beinahe über den Haufen gerannt hätte, bereute sie sofort, die Flüche zurückgehalten zu haben.
Vor ihr stand Sean Cameron und starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an.
»Was willst du, Sean?«, fragte sie genervt. Der Bulle war ihr noch nie geheuer gewesen.
»Wer ist der neue Angestellte?«, gab Sean inquisitorisch zurück. »Frank hat nichts davon erzählt, dass er jemand Neuen eingestellt hat.«
Rusty seufzte. Dass Sean ihr Stress machte, war nichts Neues. Das Leben in einer Kleinstadt hatte durchaus seine Nachteile. Der Junge war erst seit zwei Stunden da, und schon kam Superbulle zum Kontrollieren.
»Ich wusste gar nicht, dass du neuerdings auch noch Franks neuer Personalmanager bist«, antwortete sie trocken.
Die Falten auf seiner Stirn wurden noch tiefer. Nicht, dass das für sie etwas Neues gewesen wäre. Sean lehnte alles ab, was sie tat. Es war, als warte er immer nur darauf, dass sie Mist baute, damit er sie aus der Stadt und aus dem Leben der Kellys jagen konnte.
»Erspar mir den Schwachsinn, Rusty.«
Sie sah ihn böse an, und dann riss ihr auf einmal der Geduldsfaden. »Echt, Sean? Du findest das Schwachsinn? Wie wäre es mal mit ein paar originelleren Beleidigungen? Wie lange kennen wir uns jetzt? Fünf Jahre? Und trotzdem konntest du dir noch nichts Neues ausdenken? ›Erspar mir den Schwachsinn, Rusty‹, – das ist alles, was dir einfällt?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest, ich muss das Mittagessen abholen, und dann habe ich Arbeit zu erledigen. Du hast doch sicher Wichtigeres zu tun, als mir jede Sekunde des Tages über die Schulter zu schauen.«
Sean starrte böse zurück. »Wer ist der Kleine, Rusty?«
»Wenn du mich verhören willst, dann musst du mitkommen und für den ›Kleinen‹, wie du ihn nennst, das Mittagessen abholen.« Auch sie nannte ihn bei sich ›Kleiner‹, aber nicht so verächtlich wie Sean.
Und dann fiel ihr noch ein anderer Grund ein, aus dem sie die Tür versperrte, bevor sie sich an Sean vorbeischob. Er sollte in ihrer Abwesenheit nicht in den Laden hineinkommen. Mit erhobenem Zeigefinger drehte sie sich zu ihm um.
»Und du lässt den Kleinen in Ruhe, verstanden? Der geht dich nichts an. Du redest nicht mit ihm, und verhören tust du ihn erst recht nicht. Ich werde mit deinem Mist fertig, damit schlage ich mich jetzt seit Jahren rum. Aber ihn lässt du gefälligst in Ruhe, oder ich werde dir das Leben zur Hölle machen – jeden einzelnen Tag – das kannst du mir glauben.«
In Seans Augen blitzte etwas auf, und einen Moment lang bildete sie sich ein, es wäre so etwas wie Bedauern gewesen.
»Was ist mit ihm?«, fragte Sean leise.
Rusty setzte sich in Richtung Sandwichladen in Bewegung, sicher, dass Sean ihr folgen würde. Er war zu stur, um locker zu lassen. Solange er nicht wusste, um wen es sich bei dem Jungen handelte, würde er keine Ruhe geben.
»Der Kleine braucht dringend einen Job und Geld«, sagte sie, während sie den Bürgersteig entlanggingen.
»Lass mich raten. Frank hat keine Ahnung, dass du ihn eingestellt hast«, erwiderte Sean.
Als Rusty den Kopf schüttelte, stieß Sean einen Fluch aus.
Rusty blieb an der Tür des Sandwichladens stehen und sah Sean durchdringend an. In seiner Gegenwart fühlte sie sich immer klein, aber seine heftige Missbilligung hätte selbst den größten Menschen niedergedrückt.
»Nein, er weiß es nicht«, gab sie zu. »Noch nicht. Ich habe nicht vor, es ihm zu verschweigen. Entgegen deiner Vermutungen liebe ich Frank und Marlene sehr. Ich würde niemals etwas machen, das ihnen wehtut. Er ist heute erst aufgetaucht. Er ist hungrig und pleite, und er muss für seine Schwestern sorgen. Und du brauchst keine Angst zu haben, Sean. Ich bezahle ihn aus meiner eigenen Tasche. Nicht dass er viel bekommt. Aber ich denke, etwas ist besser als nichts, und es ist ein sicherer Job. Zumindest kann ich dort auf ihn aufpassen.«
Seans Blick wurde ein wenig freundlicher, und einen Moment lang erwiderte er nichts.
»Schau, Sean«, fuhr Rusty fort. Ihr missfiel, wie flehend sie klang – als würde sie seinen Segen brauchen, verdammt noch mal. Sie holte tief Luft, dann fügte sie hinzu: »Er ist wie ich damals in dem Alter. Er ist, wo ich noch immer sein könnte, hätte es nicht Frank und Marlene und den Rest der Kellys gegeben. Er braucht Hilfe, und ich kann sie ihm geben. So wie das die Kellys bei mir gemacht haben. Also halt dich da raus, okay? Ich weiß, dass du mir eigentlich nicht traust. Aber könntest du deine Abneigung gegen mich ausnahmsweise einmal lange genug außer Acht lassen, dass ich hier eine Chance habe? Ich bin nicht blöd. Ich kann diesem Jungen helfen, und ich werde das auch tun, mit deinem Segen oder ohne.«
Diesmal war sie sich ziemlich sicher, dass es Bedauern war, das sich in Seans Blick zeigte.
»Es stimmt nicht, dass ich eine Abneigung gegen dich habe«, erwiderte er leise.
Sie schnaubte.
»Sei einfach vorsichtig«, fuhr er warnend fort. »Das sage ich nicht, um dich zu ärgern. Aber verdammt, Rusty, pass auf dich auf. Was weißt du schon über ihn? Mir gefällt nicht, dass du allein mit ihm im Laden bist. Wenn er nun versucht, dich auszurauben? Oder dir wehzutun?«
Sie lachte. »Der Tag, an dem ich mich nicht mehr gegen einen Fünfzehnjährigen verteidigen kann, wird dann wohl der Tag meiner Beerdigung werden. Ich bin stark, Sean. Das musste ich sein, so wie ich aufgewachsen bin. Die letzten Jahre mit den Kellys haben mich vielleicht ein bisschen weicher gemacht, aber auf dem College bin ich auf mich gestellt, und glaub mir, das ist dort kein Spaziergang. Ich nehme Unterricht in Selbstverteidigung. Ich kann schon auf mich aufpassen.«
Sean kniff die Augen zusammen. »Was zum Teufel soll das heißen? Was ist im College passiert? Hat sich jemand mit dir angelegt?«
Sie verdrehte die Augen. »Da gibt es nichts, was ich nicht im Griff hätte.«
Er fuhr sich mit der Hand durch das kurze Haar und seufzte genervt auf. »Verdammt, Rusty. Würde es dich umbringen, einmal um Hilfe zu bitten? Nur ein einziges Mal?«
Verblüfft starrte sie ihn an. »Und was würde passieren, sollte ich dich jemals um Hilfe bitten?«
»Du würdest sie bekommen«, erwiderte er ruhig. »Du glaubst, ich kann dich nicht ausstehen, aber das stimmt nicht, Rusty, und wenn du in meiner Gegenwart nicht immer die Stacheln aufstellen würdest, würdest du merken, dass ich mich nur um deine Sicherheit sorge.«
Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf erwidern sollte.
»Ich gehe«, sagte Sean. »Aber ich werde den Kleinen im Auge behalten. Sollte es irgendwelche Probleme geben, ruf mich an. Falls du auch nur befürchtest, es könnte Probleme geben, ruf mich an. Und wenn du irgendwas brauchst, lass es mich wissen. Wenn der Kleine in irgendwelchen Schwierigkeiten steckt, sag Bescheid. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, ihm zu helfen.«
Sie war so überrascht, dass sie nur wortlos nicken konnte.
Als Sean davonging, starrte sie ihm ungläubig hinterher.
Er verhielt sich, als ob er wirklich … Anteil nehmen würde.
Als Travis in den maroden Ein-Schlafzimmer-Wohnwagen trat, den sie angemietet hatten, sah Eve hoch. Sie saß auf der zerschlissenen, abgenutzten Couch, zusammen mit Cammie, die mit dem Kopf im Schoß ihrer Schwester schlief.
»Geht es ihr besser?«, fragte Travis besorgt und kam zur Couch hinüber.
Eve strich Cammie über die Stirn, wie sie das in den vergangenen Stunden so manches Mal getan hatte.
»Das Fieber ist ein bisschen gesunken«, erwiderte sie leise. »Ich mache mir solche Sorgen. Wir können nicht mit ihr ins Krankenhaus, nicht mal zu einem Arzt. Es ist zu riskant. Aber ich bekomme ihr Fieber einfach nicht in den Griff, egal was ich tue.«
Travis’ Gesicht verdüsterte sich, und jetzt sah er genauso besorgt und müde aus, wie Eve sich fühlte. Dann griff er in die Hosentasche und zog drei Zwanzig-Dollar-Scheine heraus.
»Ich weiß, viel ist es nicht«, sagte er. »Aber morgen früh gehe ich wieder für ein paar Stunden hin. Die Frau, die mich eingestellt hat, ist echt nett. Sie hat mir mittags sogar was zu essen spendiert.«
Als Eve das Geld nahm, wären ihr beinahe die Tränen gekommen. Sie schluckte, denn Travis sollte nicht sehen, welche Ängste sie ausstand. Dabei wusste er es auch so.
»Es geht mir so gegen den Strich, dass du arbeiten musst«, sagte sie grimmig. »Sobald es Cammie besser geht, suche ich mir einen Job. Ehrenwort.«
Travis’ Nasenflügel zuckten. »Nein. Cammie braucht dich. Wenn ich in dem Haushaltswarenladen nicht genügend Stunden zusammenbringe, finde ich was anderes. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen, Eve. Ich sorge für uns, das schwöre ich dir.«
Eve klopfte neben sich auf die Couch, und als sich ihr jüngerer Bruder neben sie setzte, legte sie ihm den Arm um die Schultern.
»Ich liebe dich. Wir schaffen das schon, Trav. Ich verspreche es dir. Wir werden einen Weg finden, wie wir zusammenbleiben können.«
Er umarmte sie ebenfalls und bot ihr so denselben Trost, den sie ihm gab.
»Wir kriegen das hin, Evie. Wir müssen nie wieder zu diesem Schwein zurück. Ich beschütze euch beide, dich und Cammie. Ich lasse nicht zu, dass er dir noch mal wehtut.«
Eve legte die Hand an seine Wange und spürte den ersten zarten Flaum, der dort wuchs. Er war so jung! Viel zu jung, um so viel Verantwortung aufgebürdet zu bekommen. Eigentlich hätte sie sich um Travis und Cammie kümmern müssen. Sie hätte die beiden damals nicht bei ihrem Vater lassen dürfen. Diese Entscheidung würde sie für den Rest ihres Lebens bereuen, auch wenn ihr keine andere Wahl geblieben war. Gott sei Dank hatte sie es wenigstens jetzt geschafft, die zwei dort rauszuholen. Bevor Walt Breckenridge auch noch den Rest seiner kranken Fantasien ausleben konnte.
Es war schlimm genug, dachte Eve, dass er sich nach dem Tod ihrer Mutter an sie herangemacht hatte. Aber als er seine Aufmerksamkeit auf Cammie gerichtet hatte … die niedliche, goldige vierjährige Cammie! Eve schauderte. Wenn sie sich vorstellte, wie ihr Vater die Kleine zu belästigen versuchte, wurde ihr jedes Mal kotzübel.
Sie wünschte sich, sie hätte ihn getötet, hätte irgendeine Möglichkeit gefunden, es zu tun. Gern hätte sie den Rest ihres Lebens im Knast verbracht, wenn das bedeutet hätte, dass Cammie und Travis in Sicherheit waren. Sie konnten froh sein, dass sie mit dem Leben davongekommen waren. Aber Eve machte sich keine Illusionen. So leicht würde Walt nicht aufgeben.
Inzwischen stand sie bereits auf den Fahndungslisten. Walt hatte sie wegen Entführung angezeigt, hatte sie als psychisch labile Frau dargestellt, die dauerhaft beaufsichtigt und psychiatrisch betreut gehörte. Niemand würde ihr glauben. Denn Walt war reich. Er verfügte über eine Menge Macht und Einfluss. Seine Verbindungen reichten weit genug, um mit Mord davonzukommen. Das war ihm auch zuvor schon gelungen.
Zwischen Dover und der Westküste, von der sie geflohen waren, schien ein ganzes Leben zu liegen. Dover war ein ruhiges Städtchen in Tennessee, nahe dem Kentucky Lake. Nach Monaten auf der Flucht waren sie hier gelandet, obwohl sie eigentlich nicht vorgehabt hatten, lange zu bleiben. Aber dann war Cammie krank geworden. Außerdem brauchten sie Geld und einen Plan, wohin sie gehen und was sie tun sollten. Wie sie überleben konnten.
Sie musste die ganze Zeit auf der Hut sein. Egal, wie sicher sie hier zu sein schienen, wie abgelegen und unauffällig ihre Unterkunft war – sie konnte sich nicht darauf verlassen, dass sie hier nicht gefunden wurden. Was bedeutete, dass sie weiterziehen mussten.
So zu leben, war kein Zustand. Das war nicht, was sie für ihre Geschwister wollte. Sie sollten es besser haben. Cammie sollte all das tun können, was Vierjährige normalerweise taten. Und Travis … der gehörte in die Schule. Er war gut, schrieb beste Noten. War ein begabter Athlet. Er würde problemlos ein Stipendium bekommen, sowohl aufgrund seiner Noten als auch wegen seiner sportlichen Leistungen. Aber das war jetzt unmöglich. Sie konnte ihn nicht aufs College gehen lassen, und sie selbst hatte weder die Mittel noch das Wissen, um ihn zu unterrichten.
Eines Tages. Das schwor sie sich jeden Tag aufs Neue. Eines Tages würden sie ein normales Leben führen, Travis würde die Ausbildung bekommen, die er verdiente, und Cammie würde als glückliches, sorgloses Kind aufwachsen, ohne fürchten zu müssen, vom eigenen Vater missbraucht zu werden.
»Evie, alles in Ordnung?«
Travis’ besorgte Frage riss sie aus ihren Grübeleien. Als sie den Kopf hob, stellte sie fest, dass er sie durchdringend ansah. Offensichtlich hatte er etwas zu ihr gesagt, das sie nicht mitbekommen hatte, weil sie so tief in Gedanken gewesen war. Sie zwang sich zu lächeln und nickte.
»Alles bestens, Trav. Und das Geld wird helfen. Ich muss noch ein paar Medikamente für Cammie kaufen, und wir brauchen was zu essen. Sobald es ihr besser geht, kann ich dich mit ihr allein lassen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Dann gehe ich wieder arbeiten. Ich will nicht, dass du das machst. Du solltest so wenig wie möglich auffallen.«
»Du bist doch diejenige, nach der gefahndet wird«, widersprach Travis. »Du bist die, die sich lieber nicht blicken lassen sollte. Mich würden sie nicht verhaften. Sie würden nur versuchen, mich wieder bei dem Arschloch abzuliefern. Wenn sie dich kriegen, gehst du in den Knast. Das werde ich nicht zulassen.«
Wieder lächelte sie und strich Cammie über die heiße, trockene Wange. Cammie rutschte unruhig hin und her, dann öffnete sie die vom Fieber trüben Augen.
»Trav?«, fragte sie schläfrig.
Travis sah sie volle Wärme an. »Ich bin hier, Süße. Wie geht es dir?«
»Besser. Du sollst aber nicht mehr weggehen. Ich mag nicht, wenn du nicht hier bist.«
Eve und Travis warfen sich einen besorgten Blick zu. Cammie hatte entsetzliche Angst, man könne sie von ihren Geschwistern trennen. Es brach Eve schier das Herz, dass das Kind so vieles in dieser Welt fürchten musste. Dass jemand, der sich gut um sie hätte kümmern sollen, sie auf übelste Weise verraten hatte.
»Ich musste arbeiten«, erwiderte Travis liebevoll. »Wir brauchen Geld, damit wir Medikamente für dich kaufen können. Und Essen! Was hältst du von einer warmen Mahlzeit? Vielleicht ein bisschen Suppe?«
Cammie zog die Nase kraus. »Suppe habe ich satt.«
Eves Herz zog sich zusammen. Etwas anderes als Suppe konnten sie sich nicht leisten. Sie lebten von billigem Essen. Instant-Nudeln. Suppe aus der Dose. Wurstbrote.
»Weißt du was?«, sagte Travis und beugte sich über Eve hinweg, damit Cammie ihn besser sehen konnte. »Morgen arbeite ich wieder, und ein paar Häuser weiter gibt es diesen echt großartigen Sandwichladen. Wenn du das Gefühl hast, du kannst feste Nahrung bei dir behalten, dann bringe ich dir morgen einen Hamburger mit. Die sind wirklich gut. Ich habe heute einen gegessen.«
Cammie strahlte. »Au ja! Danke, Trav.«
»Mache ich doch gern. Und jetzt ruhst du dich aus und wirst gesund, okay?«
Cammie nickte, schloss die Augen und kuschelte sich noch näher an Eve.
»Soll ich Medikamente für sie holen?«, fragte Travis leise.
»Ja. Wir brauchen Paracetamol und Ibuprofen. Das habe ich ihr abwechselnd gegeben. Und sie braucht etwas gegen den Husten. Vielleicht einen Saft. Kauf kein Originalprodukt. Nimm das Billigste. Das Essen reicht uns bis morgen. Wenn du von der Arbeit kommst, gehe ich einkaufen, und du bleibst bei Cammie. Hol jetzt erst mal nur die Medikamente aus der Apotheke und komm anschließend gleich zurück.«
Travis nickte und drückte ihr die Hand. »Das wird schon werden, Evie.«
Sie erwiderte den Druck und hoffte aus ganzem Herzen, dass sie nicht log, als sie sagte: »Davon bin ich überzeugt.«
Donovan Kelly warf im Vorbeifahren einen Blick auf den Haushaltswarenladen seines Vaters. Diese Angewohnheit teilte er mit seinen Brüdern, die im Vorbeifahren auch immer kontrollierten, dass dort alles war, wie es sein sollte.
Als er Rustys Jeep vor der Tür stehen sah, stieg er auf die Bremse. Rasch wendete er, fuhr zurück und stellte den Wagen neben ihrem ab. Das »Geschlossen«-Schild hing in der Tür, aber drinnen brannte Licht.
Sonntags war Frank nie im Laden – und auch niemand, der für ihn arbeitete. Wieso zum Teufel sollte Rusty hier sein? Sie war heute Morgen nicht in die Kirche gekommen. Nicht, dass er oft dort war. Aber da KGI gerade keinen Auftrag hatte und zu Hause alles ruhig war, hatte er sich von seiner Mutter mitschleppen lassen.
Dass es so ruhig war, kam nur selten vor. Normalerweise war immer etwas los. Aber seit sie vor zwei Wochen die letzte Mission mit dem neuen Team abgeschlossen hatten – bestehend aus Nathan, Joe, Swanny, Skylar und Edge –, hatte sich nichts Neues ergeben.
Das neue Team machte sich gut. Besser, als Donovan angesichts der kurzen Zusammenarbeit gehofft hatte. Jetzt, wo die beiden anderen Teamleiter verheiratet und nachhaltig domestiziert waren und zudem Vaterfreuden genossen, hatte das neue Team einiges an Aufträgen übernommen, während die beiden anderen ein wenig kürzer getreten waren.
Donovan stieg aus, doch noch bevor er an der Tür war, kam Rusty bereits herausgeeilt. Ihr Gesichtsausdruck ließ ihn die Stirn runzeln. Sie sah irgendwie … schuldbewusst aus. Am Anfang hatte er – genau wie seine Brüder – Vorbehalte gegen Rusty gehabt, aber seitdem hatte sie sich durchaus bewährt. Sie hatte sich zu einer verantwortungsvollen jungen Dame entwickelt, die sich im College wacker schlug und seine Eltern heiß und innig liebte. Tatsache war, dass sie voll und ganz zur Familie gehörte.
»Was ist los?«, fragte Donovan und warf einen Blick durch die nur angelehnte Tür. »Dad macht sonntags nie auf. Gibt es ein Problem? Brauchst du Hilfe bei irgendwas?«
Rusty zog eine Schnute, holte tief Luft und warf dann einen Blick zurück in den Haushaltswarenladen.
»Hör mal, können wir einen Moment hier draußen reden? Am besten ein Stück weiter die Straße runter?«
Als er den drängenden Ton in ihrer Stimme hörte, vertieften sich die Falten auf seiner Stirn. »Klar doch.«
»Ich sage Travis kurz Bescheid, dass ich gleich wieder da bin, okay?«
Donovans Augenbrauen wanderten noch höher. »Travis? Wer zum Teufel ist Travis? Dein Freund? Und wenn ja, was treibt ihr dann am Sonntag in Dads Laden?«
Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Eine Sekunde noch, dann erkläre ich es dir.«
Bevor er widersprechen konnte, war sie schon im Laden verschwunden. Kurz darauf kam sie wieder heraus und sperrte die Tür ab.
Sie bedeutete ihm mit einem Handzeichen, ihr zu dem Sandwichladen zwei Häuser weiter zu folgen. Während er das tat, fragte er sich, was sie jetzt wohl vorhatte. Seit der Highschool hatte es wegen Rusty keinen Ärger mehr gegeben. In einem Jahr würde sie mit dem College fertig sein, und er konnte sich nicht vorstellen, dass sie das jetzt alles aufs Spiel setzen würde.
Sie blieb stehen, drehte sich um und betrachtete die Umgebung, als habe sie Angst, jemand könne hören, was sie ihm erzählen wollte.
Sie vergrub die Hände in den Taschen und seufzte erneut. »Ich wollte Nathan anrufen, aber jetzt bist du schon mal hier, also vielleicht …«
Sie zögerte und schwieg. Dass sie Nathan anrief, wenn es ein Problem gab, war einleuchtend. Ihm stand Rusty von allen Kelly-Brüdern am nächsten, denn er hatte sie von Anfang an akzeptiert. Aber, dachte Donovan, inzwischen hatten seine Brüder und er ihr deutlich gezeigt, dass sie zur Familie gehörte und dass man sich bei den Kellys um Familienmitglieder kümmerte. Sie hätte jeden von ihnen anrufen können. Nicht nur Nathan.
»Rusty, wenn du Hilfe brauchst, kannst du jeden von uns anrufen. Das weißt du doch, oder?«
Sie nickte. »Ja. Ich wusste nur nicht recht, wie ich mit dieser Situation umgehen soll, und Nathan kriegt bei mir nicht so schnell die Krise.«
»Scheiße. Was hast du jetzt wieder angestellt?«
»Ich habe überhaupt nichts angestellt«, erwiderte sie empört. »Jedenfalls – nicht direkt.«
»Und was genau heißt ›nicht direkt‹?«, fragte Donovan trocken.
Wieder warf sie einen Blick über die Schulter und zuckte dann resigniert mit den Schultern. »Ich habe quasi jemanden als Teilzeitkraft im Laden eingestellt.«
»Quasi? Entweder hast du oder du hast nicht. Und wieso weiß ich davon nichts? Ich habe vorhin mit Dad gesprochen, und ich bin mir sicher, dass er es erwähnt hätte. Also lautet meine nächste Frage: Weiß Dad von diesem neuen Angestellten?«
»Nein«, murmelte sie. »Ich bin noch nicht dazu gekommen, es ihm zu sagen. Aber ich hatte nicht vor, es ihm zu verschweigen! Ich habe den Jungen erst gestern eingestellt. Wenn Frank ihn nicht will, zahle ich ihn aus meiner eigenen Tasche.«
Donovan sah Rusty durchdringend an. »Du hast ›Junge‹ gesagt. Und du klingst, als läge er dir sehr am Herzen. Wie wäre es, wenn du mir die ganze Geschichte erzählst?«
»Ich wollte Nathan anrufen. Das habe ich ja schon gesagt. Ich will dem Jungen nach Hause folgen, sobald er frei hat.«
Donovan sah sie verblüfft an. »Was willst du tun?«
»Er steckt irgendwie in Schwierigkeiten, Donovan, das merke ich. Du verstehst das nicht. Es ist, als würde ich mich selbst in diesem Alter sehen. Er hat schreckliche Angst, und er ist hungrig und braucht das Geld. Er behauptet, er hätte keine Eltern. Nur zwei Schwestern, um die er sich kümmert. Das ist verdammt viel Verantwortung für einen Fünfzehnjährigen. Ich mache mir Sorgen um ihn. Ich wollte seine Familie überprüfen, mich vergewissern, dass er nicht in Gefahr ist. Daher wollte ich Nathan bitten mitzukommen. Aber jetzt bist du hier«, fügte sie wenig begeistert hinzu.
»Und du willst, dass ich dich dorthin begleite, wo der Junge wohnt? Und dann? Sagen wir dann einfach: ›Ach, hallo. Wir wollten uns nur vergewissern, dass du nicht im Keller angekettet wirst?‹«
Sie schüttelte den Kopf, aber ihre Schultern hatten sich wieder entspannt, und um ihre Lippen spielte ein leichtes Lächeln.
»So weit war ich mit meinem Plan noch nicht. Meine Hoffnung war, dass Nathan vielleicht eine gute Idee hat. Ich kann es nicht erklären, Donovan. Mir tut dieser Junge schrecklich leid, dabei kenne ich ihn erst seit gestern. Du würdest ihn auch mögen. Er ist ein ruhiger Typ, sehr respektvoll und offensichtlich liegt ihm viel an seinen Schwestern. Ich will nur rausfinden, ob ich irgendwie helfen kann.«
Ihr ernster Gesichtsausdruck und ihr leidenschaftliches Plädoyer hatten Donovan sofort weichgekocht. Dummerweise hatte er ein riesiges Herz für Frauen und Kinder. Vor allem für Kinder. Die Vorstellung ging ihm an die Nieren, dass ein Fünfzehnjähriger von der Hand in den Mund leben und in einem Haushaltswarenladen arbeiten musste, um seine beiden Schwestern durchzubringen. Wo zum Teufel steckten seine Eltern?
»Ich komme mit«, sagte er schließlich. »Aber, Rusty, du machst es so, wie ich das will, und du wirst auf alles hören, was ich dir sage. Verstanden? Das bedeutet, du bleibst die ganze Zeit hinter mir, und wenn ich dir sage ›lauf‹ oder ›wirf dich zu Boden‹, dann tust du das gefälligst. Wir haben keine Ahnung, in was für eine Situation wir dort geraten. Also erwarte ich, dass du auf der Hut bist.
Sie nickte heftig. »Noch was, Donovan. Da ist was, was ich gern tun würde, aber ich weiß nicht wie, ohne aufdringlich zu sein.«
»Du? Aufdringlich?«, witzelte er.
Sie verdrehte die Augen, lachte aber. »Okay, ja, ich kann aufdringlich sein. Aber das hier ist für eine gute Sache! Der Junge hat Hunger. Und wenn er Hunger hat, haben seine Schwestern vermutlich auch Hunger. Ich habe ihm gestern Mittag einen Hamburger gekauft, und er hatte ihn mit drei Bissen runtergeschluckt. Also habe ich ihm heute wieder einen geholt, aber er hat ihn nicht gegessen. Er wollte aber nicht, dass ich das weiß. Er hat ihn versteckt, und ich nehme an, er nimmt ihn für seine Schwestern mit nach Hause. Und das bringt mich um, Donovan. Ich war auch mal so hungrig. Deswegen bin ich damals bei deinen Eltern eingebrochen. Ich hatte Hunger und hätte für etwas zu essen sogar riskiert, in den Knast zu kommen. Dem Jungen soll das nicht auch so gehen. Ich will ihnen Essen bringen. Ich muss etwas tun. Ich kann nicht einfach zuschauen und nichts tun.«
Donovan legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie an sich. »Du bist ein gutes Kind, Rusty.«
Sie stieß ihm in die Rippen. »Ich bin kein Kind mehr!«
Er lachte. »Nein, bist du nicht. Du bist jetzt eine junge Dame. Manchmal vergesse ich das. Kaum zu glauben, dass schon so viele Jahre vergangen sind, seit dich der Kelly-Clan adoptiert hat.«
»Das waren die besten Jahre«, erwiderte sie leise.
»Okay, dann würde ich Folgendes vorschlagen: Wir folgen dem Jungen nach Hause und schauen, wie er lebt. Dann können wir überlegen, wie wir ihnen das zukommen lassen, was sie brauchen. Ich kann ihn und seine Schwestern ein bisschen überprüfen.«
»Danke, Donovan. Das bedeutet mir eine Menge.«
»Kein Problem. Aber tu mir einen Gefallen, ja? In Zukunft rufst du mich oder sonst jemanden an, bevor du solche Entscheidungen triffst. Das mag diesmal gut ausgegangen sein, und der Junge mag keine Gefahr darstellen, aber es gibt keine Garantie, dass es beim nächsten Mal genauso sein wird. Ich will nicht, dass dir was passiert, Rusty. Du kannst mich und jeden anderen in dieser Familie jederzeit anrufen.«
Sie lächelte. »So viele ältere Brüder zu haben, ist irgendwie cool, weißt du das?«
Er verdrehte die Augen. »Ich finde eher, ältere Brüder nerven gewaltig.«
»Das kommt daher, dass Sam und Garrett wirklich total nerven«, erwiderte sie lachend.
»Wie wahr. Okay, wann schickst du den Jungen denn weg? Da ich kein Auto sehe, wohnt er vermutlich nah genug, um zu Fuß zu gehen.«
»Keine Ahnung. Er hat keine offizielle Bewerbung eingereicht, deshalb kenne ich seine Adresse nicht. Und nein, ein Auto hat er nicht, und niemand bringt ihn oder holt ihn ab. Ich weiß nicht, wie weit weg er wohnt, aber er geht definitiv zu Fuß.«
»Zu Fuß dürfte es schwierig sein, ihm unauffällig zu folgen«, sagte Donovan nachdenklich.
Rusty zog eine Schnute. »Ja, er ist auf der Hut. Daher weiß ich ja, dass er schreckliche Angst hat und irgendwie in Schwierigkeiten steckt. Ich meine, die meisten Kinder laufen doch völlig selbstvergessen durch die Gegend. Vor allem in einer Kleinstadt wie dieser. Die rennen rum, als müssten sie sich über nichts Gedanken machen. Aber dieser Junge? Der scheint an jeder Ecke mit jemandem zu rechnen, der sich auf ihn stürzt. Er ist sehr vorsichtig. Sieht sich dauernd um.«
»Du hast ihn ja sehr genau beobachtet.«
Sie nickte. »Ja. Ich habe versucht herauszufinden, wie ich an ihn herankommen könnte. Ich würde ihn ja direkt fragen, aber das würde ihn nur verschrecken. Das kenne ich von mir selbst. Wenn mich damals jemand so direkt konfrontiert hätte, wäre ich auf der Stelle weg gewesen. Ich habe niemandem getraut, und er tut das vermutlich auch nicht.«
»Ich weiß, du hattest kein leichtes Leben«, erwiderte Donovan leise. »Es ist echt toll, dass du diesem Jungen helfen willst.«
Sie wurde rot, aber ihre Augen funkelten vor Freude über sein Lob.
»Ich muss zurück, damit er nicht unruhig wird. Könntest du in der Nähe bleiben? Ich wollte ihn noch eine halbe Stunde arbeiten lassen. Ich werde ihn bar bezahlen und ihm absichtlich einen Zwanziger zu wenig geben. Er wird nichts sagen. Das weiß ich. Er wird nehmen, was ich ihm gebe, und dankbar sein. Aber dann haben wir einen Vorwand, wieso wir ihm gefolgt sind. Ich kann ihm sagen, ich hätte ihm zu wenig bezahlt, und dann können wir überprüfen, wie er lebt.«
Donovan lächelte sie schief an. »Du hast ein kluges Köpfchen, Kleine. Du könntest garantiert KGI übernehmen und eines Tages sogar die Welt regieren.«
Sie grinste frech. »Einen Computerjob bei euch Jungs würde ich nicht ablehnen. Dann könnte ich mit Hoss spielen.«
Donovan sah sie böse an. »Hoss gehört mir. Außer mir fasst den keiner an. Außerdem lasse ich dich nicht in die Nähe unserer Computer. Du hättest dich in dreißig Sekunden irgendwo eingehackt.«
»Ich kann nichts dafür, wenn meine Computerkenntnisse besser sind als deine.«
»Herr im Himmel«, murmelte er. »Du hast vielleicht ein Ego! Ich bin der Computerfreak in der Familie Kelly, besten Dank. Der echt coole, intelligente Freak, dem die Frauen einfach nicht widerstehen können.«
Rusty lachte laut auf.
Donovan grinste, dann schubste er sie Richtung Laden. »Kümmere dich um den Jungen. Ich parke einen Block weiter und warte, bis er herauskommt. Wenn du es unauffällig bis zu meinem Pick-up schaffst, können wir ihm folgen und sehen, was passiert.«
»Danke, Donovan! Du bist der Beste!«
»Ich erwarte, dass du dir das merkst«, erwiderte er trocken.
Winkend eilte sie davon, und Donovan ging zurück zu seinem Wagen, um ihn ein Stück wegzufahren. Er konnte nicht glauben, dass er sich gerade zu so etwas Verrücktem hatte breitschlagen lassen, aber er wusste auch, er konnte nicht einfach wegschauen und so tun, als wüsste er von nichts. Wenn dieser Junge in Schwierigkeiten steckte und Hilfe brauchte, konnte er das nicht ignorieren. Ihm missfiel die Vorstellung, dass so viel Verantwortung auf einem so jungen Mann lag und er – schlimmer noch – Hunger leiden musste.
Seine kleineren Spenden gingen alle an Organisationen, die benachteiligten, obdachlosen und hungrigen Kindern halfen, und der Löwenanteil seiner Spenden ging an Frauenhäuser. Er hatte eine Stiftung mitgegründet, die Frauen Unterstützung und finanzielle Hilfe zukommen ließ, damit sie sich aus Gewaltbeziehungen lösen konnten. Davon wusste nicht einmal seine Familie etwas. Nicht, dass sie etwas dagegen gehabt hätte – die Kellys spendeten alle sehr viel. Außerdem nahmen sie häufig Aufträge an, bei denen es um die Rettung von Kinder und Frauen ging, ohne dass sie dafür einen Cent verlangten.
Er hatte lediglich keinen großen Wirbel um seine Stiftung machen wollen, deshalb hatte er sie gemeinsam mit zwei Freundinnen aufgebaut, die sich um das Tagesgeschäft kümmerten und ihn informierten, wenn eine Frau mehr als nur finanzielle Unterstützung brauchte. In solchen Fällen übernahm KGI den Auftrag, ob es nun um die Rettung eines entführten Kindes oder darum ging, eine Frau aus einer unguten Situation zu retten. Die Stiftung gab solchen Frauen das Startkapital für ein neues Leben und die Möglichkeit, an einem Ort von vorne anzufangen, den sie für sicher hielten.
Seine Brüder wussten, dass er solche Anfragen nicht ablehnen konnte, und unterstützten ihn gern. Zwar zogen sie ihn dauernd auf, weil er so ein weiches Herz hatte, aber letztlich waren sie genauso entschlossen wie er, die den Opfern angetanen Dinge wiedergutzumachen.
Verdammt, die Frauen der Kellys, die sich alle sehr gut selbst wehren konnten, hatten ebenfalls Schlimmes durchmachen müssen. Seine Brüder hatten echt ein Riesenglück, genau wie die beiden Teamleiter, Rio und Steele. Sie alle hatten ihre Frauen in Situationen kennengelernt, die alles andere als ideal gewesen waren, aber sie hatten sich Hals über Kopf verliebt. Donovan beneidete sie um die Beziehung, die sie mit ihrer jeweiligen Frau hatten. So etwas wollte er auch. Eines Tages. Er hatte es nicht eilig. Wenn es so weit war, würde es passieren. Aber er träumte von einer eigenen Familie. Einer Frau. Kindern. Davon, eine größere Rolle in einer Familie zu spielen die nur die seine war.
Im Moment war seine Rolle die des Lieblingsonkels von Charlotte, der Tochter seines ältesten Bruders, und von den Zwillingen seines jüngeren Bruders Ethan. Und jetzt hatte Rio eine dreizehnjährige Tochter, und Steele war frisch gebackener Vater. Die Welt um ihn herum veränderte sich, nur bei ihm schien alles beim Alten zu bleiben. Dieselbe Routine. Derselbe Job. Jeden Tag.
Über sein Liebesleben konnte er sich nicht beklagen. Er hatte Sex. Aber belanglose Bettgymnastik war nun mal nicht sein Ding. Er respektierte Frauen viel zu sehr, um sich auf bedeutungslose One-Night-Stands einzulassen. Das Ergebnis war, dass er weitaus weniger Sex gehabt hatte, als er hätte haben können. Aber das war für ihn okay. Wenn er eines Tages die Richtige traf, wollte er ihr sagen können, dass er sich nicht durch sämtliche Betten geschlafen hatte. Sie sollte wissen, dass sie etwas Besonderes war. Und für ihn sollte es ebenfalls etwas Besonderes sein.
Vielleicht war er da ein bisschen altmodisch oder sogar prüde. Aber das war ihm scheißegal. Seine Eltern hatten ihn Respekt gelehrt, nicht nur vor anderen, sondern vor allem vor sich selbst. Wenn er sich nicht selbst respektieren konnte, wie sollte er dann von anderen Respekt erwarten?
Fünfzehn Minuten nachdem er seinen Wagen umgeparkt hatte, sah er den Jungen, den Rusty eingestellt hatte, aus dem Haushaltswarenladen kommen. Rusty hatte recht. Der Junge behielt seine Umgebung im Auge. Er war sogar so extrem vorsichtig, dass er eher die Aufmerksamkeit auf sich zog. Er ging langsam, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und warf regelmäßig einen Blick über eine seiner Schultern.
Er war ziemlich groß und muskulös, dabei aber schlank. So schlank, dass er fast schon unterernährt wirkte. Sein Gesicht war schmal und hatte etwas Düsteres. Am Ende der Häuserzeile überquerte er die Straße und ging dann schneller.
Verdammt. Wenn Rusty nicht bald auftauchte, würden sie ihn verlieren.
Gerade als er beschlossen hatte, dem Jungen allein zu folgen, kam Rusty herbeigeeilt und stieg ein. Donovan parkte aus.
»Du hast recht, er ist wachsam«, murmelte er, als er dem Jungen in gebührendem Abstand folgte. »Aber er macht es zu auffällig. Wenn ihn die Bullen sehen, werden sie denken, er hat was zu verbergen.«
Rusty nickte und runzelte die Stirn. »Ich weiß. Aber ich kann ihm ja schlecht sagen, er soll sich unauffälliger verhalten, oder?«
»Ja, da hast du recht.«
Ein paar Minuten fuhren sie langsam weiter. »Verdammt«, sagte Donovan. »Wie lange läuft dieser Junge bloß bis zur Arbeit?«
Rusty sah so unglücklich aus, wie Donovan sich fühlte.
»Ich weiß nicht, aber wie weit war das bis jetzt? Eine Meile?«
»Fast zwei«, erwiderte Donovan grimmig.
»Er biegt da vorne auf die unbefestigte Straße ein«, sagte Rusty und beugte sich vor. »Ich hoffe, er hat uns nicht entdeckt und verdrückt sich.«
»Wir fahren vorbei, als wäre das unsere Richtung, und dann wenden wir«, erwiderte Donovan.
Er beschleunigte und fuhr an der Straße vorbei, in die der Junge abgebogen war. Nachdem er noch ein Stück weitergefahren war, wendete er und fuhr zu der Straße zurück.
»Verflixt«, fluchte Rusty. »Ich sehe ihn nicht mehr.«
Donovan gab Gas, dass hinter ihnen Staub aufwirbelte.
»Schau! Da vorne ist er!« Rusty deutete nach rechts.
Donovan fuhr an dem heruntergekommenen Wohnwagen vorbei und wendete dann erneut. Als sie in die Auffahrt bogen – soweit man die Wagenspuren vor dem Wohnwagen als Auffahrt bezeichnen konnte –, verspannte sich Rustys Körper, und ihr Gesicht nahm beim Anblick des Zuhauses dieses Jungen einen traurigen Ausdruck an.
Donovan griff nach ihrer Hand und drückte sie.
»Wie ich, als ich so alt war wie er«, flüsterte Rusty. »Himmel, die Vorstellung, dass er hier mit zwei Schwestern lebt, macht mich ganz krank. Der Wohnwagen ist ja kaum groß genug für eine Person, geschweige denn für drei.«
Donovan schnitt eine Grimasse und nickte zustimmend.
Der Rasen vor dem Wohnwagen war hoch gewachsen und hätte dringend gemäht werden müssen. Aber das war noch das Kleinste der Probleme. Die eine Hälfte des Wohnwagendachs war mit einer blauen Plane abgedeckt. An anderen Stellen waren Löcher zu sehen, außerdem fehlten die Verkleidung und eine Stufe der Treppe zur Tür. Eins der Fenster war herausgebrochen.
Der Wohnwagen sah nicht so aus, als könne man darin leben. Eigentlich hätte er längst verschrottet gehört.
Donovan stellte den Motor ab und richtete den Blick auf Rusty.
»Vergiss nicht, was ich gesagt habe. Du bleibst zurück, bis ich mich vergewissert habe, dass keine Gefahr besteht. Ich klopfe und warte, was passiert. Wenn ich dir sage, es ist okay – und nur dann –, kannst du ihm die Geschichte mit der zu geringen Geldsumme auftischen. Ich will erst mal nach drinnen und mir ein Bild von der Situation machen.«
Rusty nickte. »Gehen wir, bevor sie schon allein deswegen ausflippen, weil wir so lange hier draußen parken. So wie der Junge sich aufgeführt hat, stehen sie vermutlich Todesängste aus.«
Donovan öffnete die Tür und stieg aus. Er trug keine Waffe, was für ihn eher ungewöhnlich war. Aber er hatte nicht damit gerechnet, an diesem Tag eine zu brauchen. Jetzt bereute er, dass er nicht ständig eine im Wagen mit sich führte.
Er gab Rusty ein Zeichen, hinter ihm zu bleiben, während sie vorsichtig die wackelige Treppe hinaufgingen.
Es gab keine Fliegengittertür, und als Donovan klopfte, bebte die Tür, als könne sie bereits durch solch eine leichte Erschütterung zersplittern. Verdammt, hier einzubrechen wäre ein Kinderspiel.
Er musste ein paar Sekunden warten, bis die Tür zumindest einen winzigen Spalt breit geöffnet wurde, doch dann sah er sich einem faszinierenden goldfarbenen Augenpaar gegenüber.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Frau.
Donovan hatte es momentan die Sprache verschlagen. Rusty hatte von den Schwestern des Jungen gesprochen. Aber dies hier war eine erwachsene Frau. Nicht sonderlich alt. Er schätzte sie auf Anfang zwanzig.
Aber was ihm viel mehr zu schaffen machte, war die Angst, die sich in diesen schönen, an Bernstein erinnernden Augen widerspiegelte.
»Mein Name ist Donovan Kelly, Ma’am«, stieß er hervor, um ihr die Angst zu nehmen. Am liebsten wäre er in den Wohnwagen gestürmt, hätte das Kommando übernommen und Auskunft darüber verlangt, was zum Teufel sie derart in Panik versetzte.
Es kostete ihn große Mühe, sich zurückzuhalten. In seinem Kopf schrillten die Alarmglocken in höchsten Tönen.
Steckte die Frau in einer Missbrauchsbeziehung? Aber nein, Rusty hatte gesagt, der Junge lebe allein mit seinen Schwestern. Missbrauchte diese Frau den Jungen? Donovans Magen zog sich immer mehr zusammen. Nein, das konnte nicht sein. Sie hatte keine Angst, wegen einer Straftat aufzufliegen, sondern befürchtete etwas sehr viel Schlimmeres – das konnte er nach all den Jahren gut einschätzen, in denen er Frauen aus den entsetzlichsten Situationen gerettet hatte.
»Was wollen Sie?«, fragte sie mit leiser Stimme, die zitterte, als würde die junge Frau sich am liebsten umdrehen und davonlaufen. Sie klammerte sich so fest an den morschen Türrahmen, dass ihre Fingerspitzen und ihre Knöchel ganz weiß waren.
Er schluckte, denn was zur Hölle sollte er darauf antworten? Dass er wissen wollte, was zum Teufel sie derart in Angst und Schrecken versetzt hatte? Wovor sie sich versteckte? Dass er ihr unbedingt helfen wollte?
Rusty nutzte seine Unentschlossenheit, um sich einfach vor ihn zu schieben – was er ihr ausdrücklich verboten hatte.
»Es tut mir sehr leid, dass wir Sie so überfallen«, sagte sie mit leiser, freundlicher Stimme. »Aber ich habe Travis zu wenig Geld gegeben, als ich ihm heute seinen Lohn ausgezahlt habe. Nachdem ich das gemerkt hatte, habe ich mich ganz schrecklich gefühlt. Er arbeitet so hart, und er ist eine riesige Hilfe. Ich wollte ihm einfach das Geld vorbeibringen.«
Eine Spur von Erleichterung zeigte sich auf dem Gesicht der jungen Frau, wich jedoch gleich wieder einem Ausdruck von Wachsamkeit. Offensichtlich wusste sie nur zu gut, dass die Dinge oft nicht waren, was sie zu sein schienen. Solche Weisheiten lernte man nur auf die harte Tour, und Donovan war überzeugt: Diese Frau hatte früh und nachhaltig gelernt, dass die Welt kein guter Ort war.
Auf einmal tauchte Travis in der Tür auf, wobei er die Frau quasi hinter sich schob. Er warf Donovan einen misstrauischen Blick zu, sah dann aber gleich zu Rusty, als wolle er alles rasch hinter sich bringen, damit seine Schwester und er die Tür wieder hinter sich zumachen konnten.
Aber so leicht ließ sich Rusty nicht abwimmeln, das musste Donovan ihr lassen. Wenn sie etwas unbedingt wollte, konnte sie unglaublich hartnäckig sein.
»Können wir reinkommen?«, fragte sie. »Es dauert auch höchstens eine Minute. Abgesehen von dem Geld ist mir noch aufgefallen, dass wir noch gar nicht besprochen haben, wie du nach diesem Wochenende weiterarbeitest. Wenn du Interesse hast, könntest du jeden Tag ein paar Stunden kommen. Können wir das kurz besprechen, dann seid ihr uns auch im Nullkommanichts wieder los.«
Dabei lächelte sie so unschuldig, dass sogar Donovan fast darauf reingefallen wäre.
Travis starrte sie mit vor Panik weit aufgerissenen Augen an, warf einen Blick über die Schulter und wieder zurück zu Rusty, um dann erneut Donovan misstrauisch zu mustern.
Obwohl der Junge sichtlich hin und her gerissen war, tat Rusty so, als wäre es selbstverständlich, dass er ihrer Bitte nachkam. Bevor Donovan sie sich schnappen konnte, stand sie schon im Wohnwagen. Verdammt, sie hatten keine Ahnung, was sie drinnen erwartete oder warum diese Bewohner solch unglaubliche Angst hatten. Er wollte nicht, dass Rusty – oder er selbst – mitten in eine gefährliche Situation hineinplatzte.
Travis trat zurück und warf einen entschuldigenden Blick nach drinnen. Zu seiner Schwester? Zu jemand anderem?
Aber Donovan ließ Travis keine Zeit, eventuell seine Meinung zu ändern. Er folgte Rusty auf dem Fuß, um sie notfalls zu Boden und sich über sie werfen zu können.
Als Erstes fiel ihm ein noch sehr kleines Kind ins Auge – ein Mädchen –, das sich in die Ecke einer abgewetzten Couch mit löchrigem Bezug kauerte. Auf dem Schoß hatte die Kleine einen Karton von dem Sandwichladen in der Nähe des Haushaltswarenladens.
Ihr Mund war mit Ketchup und Mayonnaise verschmiert, und in den Händen hielt sie den Burger, den Travis mit nach Hause gebracht haben musste. Den Burger, den Rusty ihm gekauft und den er nicht gegessen hatte, ohne Rusty das zu sagen. Jetzt war klar, warum. Er hatte ihn seiner Schwester mitgebracht – die fast noch ein Baby war –, denn vermutlich litt sie Hunger.
Beim Anblick des Wohnzimmers – wenn man es denn als solches bezeichnen konnte – packte Donovan die Wut. Sie lebten in fürchterlichem Elend. Nicht dass es vermüllt oder unaufgeräumt gewesen wäre wie bei Chaoten, die Abfälle oder Essen einfach auf den Boden warfen. Im Gegenteil, alles war sauber und ordentlich. Aber der Wohnwagen war in einem beklagenswerten Zustand.
Soweit Donovan das sehen konnte, standen an mindestens vier Stellen Schüsseln auf dem Boden, vermutlich wegen Löchern im Dach. Vor zwei Nächten hatte es geregnet. Bei dem Gedanken, wie sie hier lebten, überlief ihn ein Schauder. Sie hatten so gut wie keinen Schutz vor den Elementen.
Als Nächstes fiel ihm auf, wie warm es im Inneren war. Heiß, stickig. Keine Klimaanlage. Die Fenster, zumindest die, die noch nicht herausgebrochen waren, standen einen Spalt breit auf, um Luft hereinzulassen.
Es war nur seiner lange geübten Selbstbeherrschung zu verdanken, dass er sich sein Entsetzen nicht anmerken ließ.
»Gibt es ein Problem?«, fragte die ältere Schwester mit leiser Stimme, aus der ihre Angst und ihr Zögern deutlich herauszuhören waren.
Sobald sich Rusty mit Donovan im Schlepptau einen Weg in den Wohnwagen gebahnt hatte, war Travis’ ältere Schwester zur Couch geeilt und hatte sich vor das Kind – das nicht älter als drei oder vier sein konnte – gestellt.
Obwohl sie versuchte, einen ruhigen und souveränen Eindruck zu machen, war sie offensichtlich darauf vorbereitet, notfalls zu kämpfen oder zu fliehen. Als ob sie eine Menge Erfahrung hätte – mit beidem.
»Nicht das geringste Problem«, erwiderte Rusty unbekümmert. »Wie ich schon zu Travis gesagt habe, wollte ich ihm das Geld bringen, das ich ihm aus Versehen zu wenig gegeben habe. Außerdem wollte ich mit ihm ausmachen, wann er nächste Woche zur Arbeit kommt. Natürlich nur, wenn er will.«
Travis und seine Schwester warfen sich rasch einen besorgten Blick zu.
Donovan räusperte sich, entschlossen, ebenfalls etwas zum Gespräch beizutragen.
»Vielleicht solltest du dich erst mal vorstellen – und mich auch –, damit sie weiß, für wen ihr Bruder arbeitet«, schlug er vor.
Rusty machte eine beschwichtigende Handbewegung. »Oh, natürlich. Wie unhöflich von mir!« Sie ging zu Travis’ Schwester und reichte ihr die Hand. »Ich bin Rusty Kelly.«
Widerstrebend ergriff die Frau Rustys Hand, erwiderte aber nichts. Donovan kniff die Augen zusammen.
Rusty richtete den Blick auf ihn. »Das ist mein älterer Bruder, Donovan Kelly. Jedenfalls einer von mehreren«, fügte sie grinsend hinzu. »Von uns Kellys gibt es jede Menge! Ich habe sechs ältere Brüder, können Sie sich das vorstellen? Ganz abgesehen von all den nicht offiziellen Familienmitgliedern, die Mama Kelly im Laufe der Jahre adoptiert hat.«
Donovan wunderte der verblüffte Gesichtsausdruck der Frau nicht im Geringsten. Bei Rustys Überschwang hätte er beinahe selbst den Kopf geschüttelt. Sie übertrieb es ein bisschen mit ihrem »Wir-verstehen-uns-doch-alle-bestens«-Getue. Niemand im Zimmer wurde dadurch ruhiger. Ganz im Gegenteil, ihre Gastgeber schienen sich nur noch unwohler zu fühlen.
Das Kind klammerte sich an die Hand seiner älteren Schwester und verkroch sich noch ein wenig mehr hinter ihr. Mit weit aufgerissenen Augen fuhr sich die Kleine mit der anderen Hand über den Mund.
»Wer sind die, Evie?«, flüsterte sie. »Was wollen die?«
Evie. Allmählich kamen sie der Sache näher.
Donovan trat vor, obwohl das Risiko bestand, dass sich »Evie« das Mädchen über die Schulter warf und davonstürmte. Er streckte ihr die Hand entgegen, benahm sich aber nicht so aufdringlich wie Rusty. Er hielt ihr einfach nur die Hand hin und wartete, dass sie sie nahm.
»Schön, Sie kennenzulernen, Evie«, sagte er freundlich.
Nach längerem Zögern glitten ihre schlanken Finger über seine Handfläche, und die Berührung setzte sich wie elektrische Schwingungen durch seinen Arm bis in seine Schulter fort. Es war wie ein Schock – ein Schock, auf den er nicht vorbereitet war. Ihr schien es ähnlich zu gehen, so rasch wie sie ihm die Hand wieder entzog. Verblüfft sah sie ihn aus ihren Bernsteinaugen an.
Die Frau war eine Schönheit. Aber verängstigt. Gequält. Etwas Dunkles umgab sie wie ein Rahmen das Bild. Aber sie war umwerfend. Allerdings war sie zu dünn. Es war nicht zu übersehen, dass sie ums Überleben kämpfte, und doch ließ ihre Zerbrechlichkeit sie noch schöner wirken. Ihre Augen schlugen ihn völlig in Bann. Er hätte stundenlang dort stehen und die verschiedenen Farbschattierungen zwischen gold und haselnuss betrachten können.
»Ich heiße Eve«, erwiderte sie mit rauer Stimme. »Cammie und Travis nennen mich Evie. Das ist der Kosename, den sie mir gegeben haben.«
Donovan kniete sich auf den fadenscheinigen Teppich vor der Couch und lächelte das Kind liebevoll an. »Du musst Cammie sein. Ein hübscher Name für eine hübsche junge Dame.«
Das Mädchen verkroch sich verwirrt noch weiter hinter seiner Schwester. Eve griff über die Schulter nach der Hand des Mädchens, die es an ihren Hals gelegt hatte.
»Schon gut, Cammie«, flüsterte sie. »Er tut dir nichts.«
Noch während sie das sagte, drehte sie sich wieder zu Donovan um und starrte ihn fragend an, fast als bitte sie ihn, sie nicht zur Lügnerin zu machen. Himmel, ihm wurde richtig schlecht bei dem Gedanken, das diese beiden – und auch ihr Bruder – von anderen nur Schlechtes erwarteten. Vor allem von Männern.
Als Rusty sich ihr genähert hatte, war Cammie nervös geworden, das schon. Aber als er auf sie zugetreten war, war das Kind vor Panik fast auf den Rücken seiner Schwester gekrabbelt.
Am liebsten hätte er ihnen befohlen, sofort damit herauszurücken, wer ihnen wehgetan und vor wem zum Teufel sie davonliefen. Dann hätte er den Drecksack gern mit eigenen Händen auseinandergenommen und anschließend dafür gesorgt, dass dieser kleinen Familie nie wieder ein Leid zugefügt wurde.
Wie verrückt war das denn?
Er kannte sie kaum fünf Minuten, und schon wollte er sich in ihr Leben einmischen und ihnen Versprechungen machen – was ihm gar nicht zustand. Außerdem konnte er nicht einmal garantieren, dass er diese Versprechen halten konnte, schließlich hatte er nicht die geringste Ahnung, wer der Gegner war.
»Nein, Schatz«, sagte er liebevoll, wobei es ihn große Anstrengung kostete, seine hochkochende Wut nicht zu zeigen. »Ich tue dir nichts. Niemals. Großes Ehrenwort. Ich würde euch gern helfen. Deinem Bruder und deiner Schwester. Ich wäre gern euer Freund.«
Sowohl Cammie als auch Eve rissen die Augen weit auf. Cammie sah ihn verunsichert an, während Eve erstarrte. Sie saß da wie gelähmt. Als hätte sie sich in einen Eisblock verwandelt. Er spürte, wie sie ihn anstarrte, mit den Augen Löcher in ihn hineinbohrte, als wolle sie herausfinden, wer er war und was er vorhatte. Ob er eine Bedrohung war. Ob er die Wahrheit sagte.
Verdammt, noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Er war ein Mann der Tat. Er redete nicht um den heißen Brei herum, und er spielte keine Spielchen. Wenn jemand Hilfe brauchte, zögerte er keine Sekunde. Aber hier, das wusste er, konnte er so nicht vorgehen. Dies war eine schwierige Situation, und er musste sich vorsichtig vortasten, als überquere er ein Minenfeld. Jeden Moment konnte eine dieser Minen hochgehen.
»Wir haben keine Freunde«, murmelte Cammie. »Evie sagt, das ist nicht sicher.«
»Cammie, pst«, sagte Eve und wandte sich zu dem Kind um, um es zum Schweigen zu bringen. Dann drehte sie sich wieder zu Donovan um und lächelte ihn gezwungen an. »Cammie hat eine sehr lebhafte Fantasie. Wie die meisten Vierjährigen.«
Cammie war fast so alt wie seine Nichte, Charlotte. Charlotte, die in einer riesigen, liebevollen Familie heranwuchs. Charlotte, die sich nie Sorgen machen musste, woher die nächste Mahlzeit kam. Oder ob sie überhaupt kam. Charlotte, deren Onkel und Tanten sie vergötterten. Deren Großeltern sie bis zum Geht-nicht-mehr verwöhnten. Dazu kam eine ganze Mannschaft militärischer Kämpfer, die zu ihrem Schutz notfalls auch einen Krieg anfangen würde.
Dieses Kind lebte das völlige Gegenteil vom Leben seiner Nichte, und es brach ihm schier das Herz.