KGI - Unheilvoller Morgen - Maya Banks - E-Book

KGI - Unheilvoller Morgen E-Book

Maya Banks

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Beschreibung

Die Schöne und das Biest

Eden ist ein gefeiertes Supermodel. Doch ihre Bekanntheit wird ihr zum Verhängnis, als ein alter Feind ihres Vaters sie ins Visier nimmt. Zu dem KGI-Team, das ihre Familie zu Edens Schutz anheuert, gehört auch Swanson, der seit einem traumatischen Kriegseinsatz Narben an Körper und Seele trägt. Obwohl er weiß, dass er und Eden in verschiedenen Welten leben, kann er sich der Gefühle für die stille Schönheit nicht erwehren ...

"Falls Sie diese Serie noch nicht gelesen haben, sollten Sie JETZT damit anfangen!" Jaci Burton, Bestseller-Autorin

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Seitenzahl: 471

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmung12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637EpilogDie AutorinMaya Banks bei LYXImpressum

MAYA BANKS

KGI

Unheilvoller Morgen

Roman

Ins Deutsche übertragen von Richard Betzenbichler

Zu diesem Buch

Eden ist eine der schönsten Frauen der Welt. Ihr Gesicht hat bereits zahllose Titelseiten geziert, und mit ihrem makellosen Körper hat sie Kleider im Wert von vielen Millionen Dollar verkauft. Aber ihr Ruhm und ihre Attraktivität laden Eden eine Bürde auf, die sie schwerlich tragen kann, denn: Etwas Böses ist ihr auf den Fersen, darauf aus, sie für immer zu zerstören. Edens einzige Hoffnung ruht jetzt auf Swanson, genannt »Swanny«, ein KGI-Agent, der sich selbstlos in jede neue Mission stürzt. Vor allem, seit er aus einem Kriegseinsatz in Afghanistan zurückgekehrt ist – mit Narben an Leib und Seele. Und somit gehört er eigentlich nicht zu dem Typ Mann, der sich mit Eden in einem Raum befinden sollte. Doch etwas an der stillen Schönheit bringt Swannys Blut zum Kochen. Eden rührt etwas in dem Soldaten, dessen er sich kaum erwehren kann und ihn von dem schier Unmöglichen träumen lässt. Aber die Schöne liebt nur im Märchen das Biest – und beim KGI gibt es keine Märchen. Oder?

In liebevoller Erinnerung an Pat Pattarozzi.

Sie war eine echte »Mama Kelly« und wird vielen fehlen.

Ich hoffe, du erfreust dich an deinen Engelsflügeln,

wenn du vom Himmel aus deine Familie behütest.

1

Big Eddie Sinclair saß hinter dem Antikholzschreibtisch in seinem leeren Haus − einem Haus, das einst voller Liebe und Fröhlichkeit gewesen war. Seine rauen, schwieligen Hände zitterten.

Schweiß rann ihm in kleinen Bächen von der Stirn über die Schläfen und suchte sich einen Weg über gefurchte, wettergegerbte Haut. Seine Hände zitterten so sehr, dass ihm die Unterlagen entglitten, sich über den Schreibtisch verteilten und teilweise auf den Boden fielen.

Er sah hoch und heftete den Blick, ohne sich dessen bewusst zu sein, auf das Sims oberhalb des Kamins. Seine Frau hatte darauf bestanden, dass in seinem Arbeitszimmer ein Kamin eingebaut wurde, damit er niemals frieren musste. Hätten die anderen erfahren, dass Big Eddie Sinclairs Frau sich Sorgen machte, ihm könne kalt werden, dann wäre er zum Gespött der ganzen Kaserne geworden. Seine hartgesottenen Kumpel hätten ihm das immer wieder unter die Nase gerieben.

Big Eddie war ein großer Mann. Ein Mörder. Ausgebildet von den Besten. Und diese Ausbildung hatte er an die Besten weitergegeben. Aber in diesem Moment fühlte er sich so hilflos wie ein Neugeborenes. Angst, eine Empfindung, die ihm bis zur Geburt seines ersten Kinds völlig fremd gewesen war, hatte ihn fest im Griff und lähmte ihn. Er rieb sich die Brust, als könne er sich so Erleichterung verschaffen, und schloss die Augen, um die Bilder loszuwerden, die die Drohung in ihm heraufbeschworen hatte.

Sein ganzes Leben lang hatte er in dem Bewusstsein gelebt, unbesiegbar zu sein. Nicht dass er selbstgefällig gewesen wäre − Männer, die seine Art von Job ausübten, glaubten nicht, dass sie gut waren. Sie wussten es.

Aber keine seiner Fähigkeiten hatte seine geliebte Frau retten können.

Er kniff die Augen fest zusammen, um die Tränen zurückzudrängen. Auch nach all den Jahren konnte ihn die Erinnerung an seine Frau noch immer in die Knie zwingen. Nach wie vor bedauerte er jeden Tag ihren Tod. Sie hatte ihn mit drei kleinen Kindern zurückgelassen, die er zu lieben und ganz allein aufzuziehen hatte. Und bei Gott, das hatte er getan. Vor allem hatte er dafür gesorgt, dass sie stets in Sicherheit waren.

Aber jetzt war Eden, seine einzige Tochter, zum Angriffsziel geworden. Alles wegen ihm, wegen des Lebens, das er geführt, und der Entscheidungen, die er getroffen hatte. Wegen der Fehler, die er in der Vergangenheit gemacht hatte. All das verfolgte ihn, verfolgte ihn jede verdammte Nacht.

Eden war das Ebenbild ihrer Mutter, nicht nur äußerlich, sondern in jeder Hinsicht. Sie war liebenswürdig. Großzügig. Sie hatte ein Herz aus Gold. War süß und unschuldig. Immer auf der Suche nach dem Guten im Menschen. Nie sah sie das Böse.

Die Drohung bestand nicht aus sehr vielen Worten. Aber er verstand sie auch so. Sein Blick wanderte zu dem Hochglanzfoto seiner Tochter. Es war in einem der seltenen Momente aufgenommen worden, wo Eden nicht auf der Hut gewesen war, schließlich hatte er ihr beigebracht, immer auf der Hut zu sein. Sie mochte das Gesicht eines Engels haben und berufsmäßig vor Kameras posieren, aber ihr Verstand funktionierte wie der eines Soldaten. Dafür hatte er gesorgt.

Ich werde dir nehmen, was du mir genommen hast. Ich werde erst aufhören, wenn alles, was du siehst, spürst und weißt, nur noch Schmerz ist. Ich werde dir alles nehmen, was du liebst, und dann wirst du sterben. Sie ist hübsch, nicht wahr?

Die Notiz war so einfach, und doch hatte sie sein Leben völlig entgleisen lassen. Schwarz und hässlich lag sie vor ihm.

Die Fotos von Eden verschwammen vor seinen Augen. Sie waren aufgenommen worden, als sie dachte, es sei keine Kamera auf sie gerichtet. Sie trug weder glamouröse Kleidung noch Make-up. Wäre er nicht so aufgewühlt gewesen, wäre ihm beim Anblick der wirklichen Eden jetzt das Herz aufgegangen. Mit Trainingshose, Pferdeschwanz und einem Gesicht frei von kosmetischen Produkten wirkte sie viel entspannter. Und sie war so schön, dass es ihm wehtat, sie anzuschauen, so sehr erinnerte sie ihn an ihre Mutter.

Er griff nach dem Telefon und wählte, ohne nachzudenken, ihre Nummer. Als es klingelte, hätte er beinahe wieder aufgelegt, aber Eden hätte ja doch zurückgerufen. Was sollte er ihr bloß sagen?

Er hatte ihr Wachleute besorgt, die besten, die man für Geld bekommen konnte, aber er wusste, dort draußen gab es noch bessere. Im Grunde musste er nicht mit Eden reden, sondern mit anderen. Mit Leuten, die ihre Sicherheit garantierten, die ihrem Leben mehr Gewicht einräumten als dem eigenen. Solch eine bedingungslose Loyalität war nicht leicht zu finden. Nicht viele Männer waren bereit, ihr Leben notfalls für jemand anderen zu opfern.

Zivilisten würden diese Art von Selbstlosigkeit niemals verstehen. Sie lebten in ihrer kleinen Welt und machten sich nie Gedanken über die Tausenden von jungen Amerikanern und Amerikanerinnen, die ihr Leben ließen, damit der Rest des Lands in ignoranter Glückseligkeit leben konnte.

Er brauchte keinen privaten Sicherheitsdienst. Was er brauchte, war Militär.

Gerade als er auflegen wollte, ertönte Edens Stimme.

»Hallo, Dad.«

Ihr fröhlicher Tonfall traf ihn mitten ins Herz, das sich jedes Mal zusammenzog, wenn sie in der Nähe war.

»Hallo, Schatz«, erwiderte er brummig. »Wie geht es dir?«

»Bestens. Was ist los?«

»Nichts«, beruhigte er sie hastig. »Ich … ich wollte nur deine Stimme hören.«

»Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut, Dad?«

Er hörte die Besorgnis in ihrer Stimme und wusste, dass er sich zusammenreißen musste. Dass Eden sich Sorgen um ihn machte und dadurch abgelenkt war, war das Letzte, was er wollte. Wenn sie sich auf etwas anderes konzentrierte − auf ihn −, würde sie nicht so aufmerksam sein, wie sie sollte. Sie würde einen Fehler machen. Sie würde jemandem die Möglichkeit geben, an sie heranzukommen.

»Mir geht es bestens, meine Kleine«, antwortete er mit fester Stimme. »Ich wollte nur mal hören, wie es meinem Mädchen geht.«

»Gut. Wir sind gerade mit den Nachmittags-Aufnahmen fertig geworden. Ich bin sehr froh, nie wieder einen jaulenden Mini-Hund sehen zu müssen, der eigentlich nur ein Mode-Accessoire ist«, fügte sie verdrießlich hinzu.

Trotz des Ernsts der Lage musste Big Eddie lächeln. Sein Mädchen war nicht gemacht für nervige kleine Kläffer. Größere, kräftigere Hunde passten besser zu ihr. Ihr »Baby« war eine Dogge, die an die zweihundert Pfund wog.

»King wird sauer sein, wenn er diese anderen Hunde an mir riecht«, sagte sie angeekelt. »Den werde ich erst mal eine Woche lang mit Leckerlis bestechen müssen.«

»Ruhst du dich auch genug aus?«, fragte ihr Vater. »Lass dich nicht von deinem Agenten zu Tode schinden, Eden.«

Sie lachte. »Wenn, dann bin ich diejenige, die ihn schindet. Das weißt du doch, Dad. Er sagt mir dauernd, ich soll langsamer machen. Na ja. Vielleicht tue ich das auch eines Tages. Aber solange ich noch gefragt bin, muss ich das ausnutzen. In ein oder zwei Jahren wird mich keiner mehr wollen. Da wächst immer eine Jüngere und Hübschere nach, und du weißt, dass ich für ein Model allmählich alt werde.«

Er verdrehte die Augen und gab einen Knurrlaut von sich. Für ihn ergab das nicht den geringsten Sinn. Eden war gerade mal vierundzwanzig, aber sie tat, als wäre sie ein abgehalfterter Gaul, dem man bald das Gnadenbrot geben würde. Ständig erinnerte sie ihn daran, dass sie alt war für ein Model.

»Oh, Dad, ich muss auflegen. Ryker ruft gerade an. Wir haben uns den ganzen Tag verpasst, und ich will ihm unbedingt zum Geburtstag gratulieren.«

Bei der Erwähnung seines mittleren Kinds, Edens älterem Bruder, wurde Big Eddie eng in der Brust. Die beiden hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Schon immer. Big Eddie hatte den Geburtstag seines Sohns nicht vergessen. Aber er hatte den Anruf bei ihm hinausgezögert. Denn das, was er ihm zu erzählen hatte, war nicht, was man an seinem Geburtstag gern hörte.

»Dann bis später«, sagte er kurz angebunden. »Ich liebe dich.«

»Ich dich auch«, erwiderte Eden, und dann war die Leitung tot.

Big Eddie hielt noch immer das Telefon in der Hand. Nach kurzem Zögern tippte er eine schier endlose Menge an Zahlen ein. Er hatte sich geschworen, Guy nie wieder in etwas mit hineinzuziehen. Nicht nachdem Guy den Tod seiner Frau für ihn gerächt hatte. Nein, verdammt, sie war nicht einfach gestorben. Sie war ermordet worden.

Big Eddie schloss frustriert die Augen, als es ihm auch diesmal nicht gelang, die eine Person zu erreichen, der er das Leben seiner Tochter anvertrauen würde. Einen Mann, der niemals zulassen würde, dass ihr irgendjemand wehtat.

»Hancock«, sagte Big Eddie atemlos und räusperte sich, um eine weitere Nachricht zu hinterlassen. »Ich bin’s, Big Eddie Sinclair. Ich brauche deine Hilfe. Es geht um Eden. Ich fürchte …« Er machte eine Pause, weil er nicht zulassen wollte, dass seine Schwäche hörbar wurde, auch wenn es sich um eine sichere Leitung handelte. »Ich brauche deine Hilfe. Ruf mich an, sobald du dies gehört hast.«

Er beendete den Anruf und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Ihm grauste vor dem, was er als Nächstes tun musste. Müdigkeit und Selbstekel drohten ihn zu überwältigen. Seine Söhne würden es nicht verstehen. Wie sollten sie auch? Big Eddie hatte ihnen nie gesagt, dass der Tod ihrer Mutter kein Unfall gewesen war und dass ihr Mörder gnadenlos verfolgt und aus dem Weg geräumt worden war. Obwohl er nicht dabei gewesen war, wusste er, ohne Frage, dass der Tod des Mannes langsam und schmerzhaft gewesen war. Die Mission war auch für Hancock eine sehr persönliche Angelegenheit gewesen, denn für ihn war Big Eddies Frau eine Art Ersatzmutter gewesen.

Jetzt musste Big Eddie seine Söhne anrufen. Um Eden zu beschützen, brauchte er ihre Hilfe.

Er tippte Raids Nummer ein und wartete. Wenn sein Sohn nicht wegen eines Auftrags unterwegs war, würde er drangehen. Zwei Sekunden später bestätigte sich seine Annahme, als Raid abhob.

»Hallo, Dad. Solltest du heute nicht eher den Wurm anrufen? Er hat Geburtstag, nicht ich.«

»Bleib dran, ich schalte ihn dazu«, erwiderte Big Eddie grimmig.

Raid schwieg. Es war das Ergebnis seines Trainings, dass er diszipliniert genug war, um nicht sofort zu fragen, was los war. Kurz darauf meldete sich Ryker mit einem knappen Hallo.

»Hallo, Raid ist ebenfalls am Telefon«, sagte Big Eddie zur Begrüßung.

»Oh klasse, ein Doppelpack«, erwiderte Ryker und lachte. »Gerade habe ich mit Eden telefoniert. Damit wäre die Familie komplett.«

»Was ist los, Dad?«, fragte Raid, ohne auf Rykers fröhliche Bemerkung einzugehen.

»Ihr müsst beide herkommen«, entgegnete Big Eddie. »Ich kann das nicht am Telefon besprechen. Ich erkläre euch alles, wenn ihr hier seid. Und beeilt euch.«

2

»Lächeln! Komm, Eden, gib mir Sinnlichkeit. Genau so. Einmal noch. Perfekt!«

Eden bog den Nacken zurück, warf ihr Haar über die Schulter und schenkte der Kamera ihren glühendsten Blick.

»Okay, das war’s. Justin, wo sind die verdammten Köter?«, brüllte der Fotograf.

Auf das Stichwort hin wurden zwei Chihuahuas hereingetragen, während ein anderer Assistent die Kulisse veränderte. Als Justin Eden einen der Hunde in den Arm drückte, knurrte der winzige Kerl und begann wütend zu kläffen.

»Ja doch, das Gefühl beruht ganz auf Gegenseitigkeit«, knurrte Eden zurück. »Blödes Fellknäuel.«

»Äh, Eden, die haben nicht viel Fell«, sagte Justin mit seiner blechernen Stimme.

Sie verdrehte die Augen. Der Mann nahm immer alles total wörtlich. »Das war nur so ein Ausdruck«, erwiderte sie überflüssigerweise.

»Na ja, wie auch immer – sei nett zu ihnen. Wir müssen diese Aufnahmen fertig bekommen, und es geht nicht, dass du dich mit einem Hund streitest. Es wird erwartet, dass du lachst. Kokett. Und niedlich.«

Eden musste das Knurren unterdrücken, das in ihrer Kehle aufstieg. King, ihre Dogge, würde ihr diesen Fehltritt nicht verzeihen. Sobald er andere Hunde an ihr roch, war er beleidigt. Zumindest bis sie ihm als Friedensangebot genügend Leckerlis gegeben hatte.

Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, schmuste mit dem Hund, soweit das mit der sich windenden Masse Unglück möglich war, und richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Kamera.

Der Fotograf schoss rasch hintereinander mehrere Aufnahmen aus verschiedenen Winkeln. Er bellte Eden Befehle zu, als wäre sie der Hund. Sie ging auf die Knie und tat so, als würde sie mit den beiden Hunden spielen. Ihre Mundwinkel schmerzten von der Anstrengung, das strahlende Lächeln beizubehalten.

Übermorgen hatte sie ein wirklich großes Shooting, und wenn sie das hier heute nicht gebacken bekamen, würde ihr der freie Tag fehlen, den sie vor Beginn der Werbeaufnahmen für Aria Kosmetik dringend benötigte.

Mit diesem lukrativen Vertrag hatte sie einen großen Coup gelandet. Er würde ihr genügend Geld einbringen, dass sie sich zur Ruhe setzen konnte, falls sie das wollte – allerdings hatte sie vor, erst mal weiterzuarbeiten. Sie würde höchstens noch ein paar Jahre gefragt sein. In der Modelbranche wuchsen immer Mädchen nach, die jünger und schöner waren und sich unbedingt nach oben arbeiten wollten. Auch wenn Eden heute bestens im Geschäft war, gab es keine Garantie, dass sie nicht schon morgen der Star von gestern war.

Aber zumindest würde sie es etwas langsamer angehen lassen. Für die Zeit nach dem Aria-Auftrag hatte sie bereits Urlaub eingeplant. Sie genoss schon jetzt die Vorstellung, zu Hause bei ihrem Vater und ihren Brüdern zu sein. Vielleicht würde sie mit ihnen irgendwohin fahren, wo es schön war. In die Berge. Sie alle liebten die Berge. Aber eigentlich war es egal. Sie wollte einfach mal wieder mit ihrer Familie zusammen sein. Es war Monate her, dass sie sie länger als ein paar Stunden gesehen hatte. Auch wenn es ihren Terminkalender noch voller gemacht und sie dringend benötigte Ruhepausen verloren hatte, war sie manchmal, wenn sie zwischen zwei Aufträgen einen freien Tag hatte, nach Hause geflogen.

»Bist du bei der Sache, Eden?«, fuhr der Fotograf sie an. »Glaub mir, Süße, wir alle würden gerade lieber etwas anderes machen, aber lass dich nicht stören. Nimm dir ruhig den ganzen Nachmittag Zeit.«

Eden warf ihm einen vernichtenden Blick zu, bevor sie sich wieder auf die anstehende Aufgabe konzentrierte. Sie war todmüde, und sie wollte die Aufnahmen nur noch hinter sich bringen und am liebsten vierundzwanzig Stunden schlafen, bevor sie für das Aria-Shooting nach Paris flog. Sie musste absolut umwerfend aussehen. Frisch. Ausgeruht. Lebendig.

Eine weitere halbe Stunde zwang sie sich, zu lächeln und die Tatsache zu ignorieren, dass die kleinen Kläffer sie hassten. Geduldig versuchte sie, die Hunde für die Kamera zur Mitarbeit zu bewegen. Einmal schob sie die Hand unter den Bauch eines der Chihuahuas, um ihn spielerisch hochzuheben, sodass sie auf Augenhöhe waren. Aber dem Hund gefiel das nicht, und er versenkte seine scharfen Zähne in Edens Hand.

»Aua! Verdammt!«

Sie ließ ihn fallen, packte die Hand mit der anderen, und starrte den Hund an, der außerordentlich zufrieden mit sich zu sein schien.

»Okay, das war’s«, sagte der Fotograf gereizt. »Holt jemanden, der sich ihre Hand anschaut, verdammt. Ist deine Tetanus-Impfung noch gültig, Eden?«

Sie biss die Zähne zusammen und starrte den selbstgefälligen Hund an, der sie – das hätte sie schwören können – auslachte.

»Alles in Ordnung. Es ist keine offene Wunde.« Gott sei Dank. Bei den bevorstehenden Werbeaufnahmen würden ihre Hände in Nahaufnahme gezeigt werden, genau wie der Rest ihres Körpers. Irgendwelche Makel oder Schnitte konnte sie nicht brauchen.

Dennoch kam einer der Assistenten mit einem Erste-Hilfe-Kasten herbeigeeilt und machte jede Menge Aufhebens um sie, bis er sich ganz sicher war, dass die Stelle nur rot war und vermutlich in ein paar Stunden wieder ihre normale Farbe haben würde.

Sie lauschte seinem Redeschwall, was sie alles zu beachten hätte, damit ihre Haut für das bevorstehende Shooting perfekt sein würde, dann blendete sie ihn aus und warf einen Blick auf David und Micah, die in den Seitenkulissen warteten.

Die beiden deuteten ihren Blick – korrekt – als Notruf und kamen eilig herbei. Dann nahmen sie sie in die Mitte und gingen mit ihr zum Ausgang.

»Ein Glück, das wäre geschafft«, murmelte Eden.

»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte Micah in seinem breiten Südstaatendialekt. »Die kleinen haarlosen Ratten standen dir nicht schlecht.«

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Die beiden Männer, die ihr Vater trotz ihres Widerspruchs engagiert hatte, damit sie sich um ihre Sicherheit kümmerten und sie auf allen Reisen begleiteten, führten sie zwischen sich aus dem Studio. Sie waren fast schon bei dem wartenden Wagen angekommen, als die Welt um sie herum zu explodieren schien.

Schrille Schreie ertönten, und Eden wurde zu Boden gerissen und unter einem Einhundert-Kilo-Mann begraben. Es folgten heisere Rufe, weitere Schreie und das Geräusch von Menschen, die über den Gehsteig drängelten. Glas splitterte, als die Fenster des Gebäudes zerplatzten.

Ein Wagen kam herbeigerast, bildete eine Barriere zwischen Eden und dem, was da … schoss? Vage registrierte sie, dass es klang, als würden Kugeln in Beton und Glas einschlagen.

Dann spürte sie, wie sie hochgezogen und auf die Rückbank des Wagens geschubst wurde. »Fahr, fahr, fahr«, hörte sie Micah heiser brüllen.

Der Wagen raste schlingernd und mit quietschenden Reifen vom Tatort fort.

»Was zum Teufel geht da vor?«, fragte Eden atemlos. Ihr Körper fühlte sich an, als bekäme sie überall blaue Flecken, und sie fragte sich, ob sie zerkratzt und blutig zum Aria-Shooting würde gehen müssen. Dort würde man über irgendwelche Verzögerungen nicht glücklich sein. Es gab einen sehr straffen Zeitplan. Für die Aufnahmen, für die man eigentlich zwei Wochen gebraucht hätte, waren nur wenige Tage angesetzt.

»Scharfschütze«, erwiderte David grimmig.

»Aber wieso?«, fragte Eden verblüfft. »Das ist doch verrückt! Du meinst, irgendjemand hat einfach wahllos aus dem Hinterhalt auf Leute auf dem Gehweg geschossen?«

»Wenn es denn wahllos war«, knurrte Micah.

Sie starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an. »Du meinst das war gezielt? Das kann doch nicht sein?!«

Sie hörte selbst, dass ihr letzter Satz eher wie eine Frage klang.

»Ich tätige ein paar Anrufe, sobald wir im Hotel sind«, sagte David. »Die Bullen werden auf jeden Fall mit dir reden wollen. Sie werden Wirbel machen, weil du dich vom Tatort entfernt hast, aber sie können dir schlecht vorwerfen, dass du dich in Sicherheit gebracht hast. Befragen werden sie dich so oder so, schließlich waren wir alle Augenzeugen eines Verbrechens.«

»Aber ich habe überhaupt nichts gesehen«, widersprach Eden. »Herrje, ich muss meinen Dad anrufen. Wenn das in den Nachrichten kommt, flippt er aus.«

»Es spielt keine Rolle, ob du was gesehen hast. Die Polizei wird dich trotzdem befragen wollen«, sagte Micah.

Nachdem sie vor dem Hotel vorgefahren waren, zerrte Micah sie regelrecht aus dem Wagen und positionierte sie zwischen David und sich. Obwohl es ein warmer Tag war, hängte er ihr seinen schweren Mantel um, damit sie vor Blicken geschützt war – wobei sie dadurch erst recht auffällig wirkte. Sollte hier irgendwo ein Paparazzi herumlungern, dann wäre dieser Anblick vermutlich ein gefundenes Fressen.

Am Tresen sprach Micah gedämpft mit der Empfangsdame und bekam von ihr mehrere Schlüsselkarten ausgehändigt. Eden schaute ihn verwirrt an, als er sie in den Aufzug schob und den Knopf für ein Stockwerk drückte, in dem sich ihr Zimmer definitiv nicht befand.

»Verdammt, wir wissen nicht, was hier abgeht, und ich bringe dich erst wieder in dein Zimmer, wenn es durchsucht worden ist«, erklärte Micah. »Fürs Erste bleibst du in einem anderen Zimmer, in einem anderen Stockwerk.«

Er führte sie in eine geräumige Suite, die genauso aussah wie die, in der sie die letzten Nächte verbracht hatte. Eden ließ sich in einen Sessel sinken. Als sie an sich hinabblickte, merkte sie, dass ihre Hände immer noch heftig zitterten.

Auf einmal fiel ihr wieder ein, dass sie ihren Vater anrufen musste, und sie griff nach dem Telefon. David, der auf der anderen Seite des Zimmers stand, telefonierte bereits und erklärte gerade der Polizei die Situation. Eden wartete, bis er seinen Anruf beendet hatte, um ihren Vater so gut wie möglich beruhigen zu können.

Schließlich legte David auf und drehte sich mit angespannter Miene zu ihr um. »Sie schicken gleich zwei Detectives. Sie haben darauf bestanden, dass du bis dahin nirgendwohin gehst. Und, Eden, es kann sein, dass sie dich noch länger hierbehalten wollen, während die Untersuchung läuft. Die Medien werden sich wie die Geier darauf stürzen.«

Sie gab einen angeekelten Laut von sich und starrte auf das Telefon hinunter. Seufzend tippte sie die Nummer ihres Dads ein. Sie wusste, er würde einen Herzinfarkt bekommen, wenn sie ihm erzählte, dass man auf sie geschossen hatte, egal ob zufällig oder vorsätzlich. Big Eddie Sinclair würde beides nicht akzeptieren können.

3

Big Eddie starrte seine beiden Söhne an. Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Er schwitzte. Sogar seine Hände waren feucht. Seine legendäre Ruhe in kritischen Situationen war ihm vollständig abhandengekommen.

Ryker und Raid sahen ihn fragend an. Raid war direkt von der Arbeit gekommen, er trug noch seinen Schultergurt mit der Waffe im Holster. Rykers Haar war noch feucht vom Duschen, und offensichtlich hatte er das Erstbeste angezogen, das ihm in die Hände gefallen war, um Big Eddies Wunsch möglichst rasch nachzukommen.

»Was ist los, Dad?«, fragte Raid leise.

Big Eddie fuhr sich mit der Handfläche über das Gesicht. »Das ist eine lange Geschichte. Eine, die ich euch von Anfang bis Ende erzählen muss, damit ihr versteht, mit was wir es hier zu tun haben.«

Ryker runzelte die Stirn und warf seinem Bruder einen Blick zu. So aufgewühlt hatten sie ihren Vater noch nie erlebt. Big Eddie war stets gelassen und zuversichtlich gewesen.

»Setzt euch«, befahl Big Eddie und deutete auf die Couch.

Seine beiden Söhne taten wie geheißen und sahen ihn dann erwartungsvoll an, aber er setzte sich nicht. Er war zu unruhig, zu sehr schlug ihm auf den Magen, was er den Jungs zu erzählen hatte. Wie sollte er seinen Kindern jemals wieder in die Augen schauen, wenn sie erst einmal die Wahrheit kannten?

»Du machst mir Angst, Dad«, sagte Ryker grimmig.

Big Eddie schloss die Augen und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.

»Der Tod eurer Mutter war kein Unfall«, sagte er.

Seine beiden Söhne starrten ihn schockiert an.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Raid mit einer Stimme, die genauso grimmig war wie zuvor die seines Bruders. »Was zum Teufel willst du damit sagen, Dad? Hast du das gerade erst herausgefunden? Und wie? Wenn ihr Tod kein Unfall war …«

»Wer hat sie umgebracht?« Rykers Stimme klang rau.

Der Kloß in Big Eddies Kehle wuchs. »Das ist eine lange Geschichte, eine, die vor eurer Geburt beginnt.«

»Wir hören«, erwiderte Raid gespannt. Seine Gesichtszüge waren eine Maske aus Schmerz und Verwirrung. Und Sorge.

Big Eddie ließ sich endlich in einen der Armsessel fallen, die der Couch gegenüberstanden, und starrte seine Söhne düster an.

»Ihr beide wisst ja, dass ich beim Militär war.«

Sie nickten. Ungeduld blitzte in Rykers Augen auf. Er wollte, dass sein Vater zur Sache kam.

»Ich habe in einer Spezialeinheit gedient, einer, die offiziell nicht existierte. Unsere Missionen waren keine gewöhnlichen Einsätze. Wir durften offiziell nicht mit den USA in Verbindung gebracht werden. Für eine dieser Missionen haben wir drei Jahre gebraucht. Drei lange Jahre, in denen wir beobachtet und auf die passende Gelegenheit gewartet haben. Raul Sanchez war unser Ziel. Der Auftrag war, ihn unschädlich zu machen und sein Unternehmen zu zerschlagen. Drei Jahre und zwei Monate nach Beginn unserer Operation tat sich eine Möglichkeit auf. Wir bekamen die Information, dass er an einem bestimmten Ort sein würde, wegen einer Familienfeier. Der Geburtstag seiner Tochter. Dieser Mann war glitschig wie ein Aal. Mehrere Länder hatten Militäreinheiten auf ihn angesetzt. Es war reiner Zufall, dass wir ihn als Erste erwischten.«

Big Eddie rieb sich über das Gesicht und fuhr dann fort. »Wir umstellten das Gelände, auf dem er sich aufhalten würde. Alles lief nach Plan. Aber dann geschah das Undenkbare. Wir dachten, seine Frau und seine Tochter wären bereits mit dem Wagen losgefahren. Wir warteten, bis sie weit genug vom Gelände entfernt waren, und dann gingen wir rein.«

Er schwieg. Bedauern und Schuld überfielen ihn, als wäre es erst gestern geschehen. Jahrelang hatte er mit seinem Fehler gelebt. Einem Fehler, für den seine Frau gebüßt hatte. Und nun würde auch Eden dafür büßen müssen, wenn seine Söhne und er es nicht verhinderten.

»Es kam zu einem Schusswechsel, weil wir beim Erstürmen des Geländes bemerkt wurden. Einer der Wächter hatte zufällig seinen Patrouillenrhythmus geändert, einen meiner Männer entdeckt, und dann war die Hölle los. Ich führte die Gruppe an, die die Aufgabe hatte, Sanchez aus dem Verkehr zu ziehen. Wir stürmten in das Büro, in dem er sich verschanzt hatte. Er hatte zwei Männer bei sich, und sie zogen ihre Waffen. Uns blieb nichts anderes übrig, als das Feuer zu erwidern, und …«

Er schluckte. Tränen sammelten sich heiß hinter seinen Augenlidern.

»Was ist passiert?«, fragte Raid leise.

»Sanchez’ Frau und Tochter gerieten in die Schusslinie. Meine Güte, sie war bloß ein kleines Mädchen. Hielt die Puppe in der Hand, die sie zum Geburtstag bekommen hatte. Überall war Blut. Himmel, ich sehe sie immer noch im Traum, in meinen Albträumen.«

»Herrje, Dad, es tut mir leid. Das ist eine schwere Last, die du da all die Jahre mit dir rumgeschleppt hast«, sagte Ryker.

»Sanchez und sein Sohn konnten in dem Chaos entkommen, weil ich so entsetzt war, dass die Frau und die Tochter in die Schusslinie geraten waren. Meine Priorität war, Hilfe für sie zu holen, und so konnten Sanchez und sein Sohn flüchten.«

Er zuckte mit den Schultern. »Wir räumten auf, so gut wir konnten. Sicherten die Informationen, die wir brauchten, um sein Unternehmen zu zerschlagen und nahmen eine Menge Schlüsselakteure seiner Geschäfte in Gewahrsam. Er hatte die Finger in vielen verschiedenen Operationen drin. Drogen. Waffenhandel. Himmel, er betrieb sogar einen lukrativen Menschenhandel. Verkaufte junge Mädchen in sexuelle Sklaverei.«

Raid schnalzte angeekelt mit der Zunge.

»Ich dachte …« Big Eddie holte tief Luft. »Die Jahre vergingen, und ich dachte, ich hätte es hinter mir gelassen. Nach diesem Debakel hatte ich meinen Hut genommen. Ich konnte es einfach nicht mehr länger tun. Ihr Kinder wurdet geboren, und eure Mutter und ich waren glücklich. Und dann …«

Er konnte nicht mehr weiterreden. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und Tränen nahmen ihm die Sicht.

»Sanchez wartete, ließ sich Zeit, plante seine Rache. Er war für den Tod eurer Mutter verantwortlich, und er ließ mich umgehend wissen, dass er nach dem Prinzip Auge um Auge handelte. Eine Ehefrau für eine Ehefrau.«

»Was zum Teufel …?«, rief Ryker. »Und das hast du uns nie erzählt? Du hast ihn einfach damit davonkommen lassen? Mit dem Mord an unserer Mutter?«

»Nein«, erwiderte Big Eddie leise. »Nein, das habe ich nicht. Ich habe Guy angerufen.«

»Hancock?«, fragte Raid verblüfft.

Big Eddie seufzte. »Es gibt da manches, was ihr nicht wisst über Guy. Er ging zum Militär und trat in mehr als einer Hinsicht in meine Fußstapfen. Er gehörte einer Einheit an, die so geheim war, dass sie laut der militärischen Aufzeichnungen gar nicht mehr existiert. Die Männer sind angeblich allesamt im Gefecht getötet worden. Dass sie irgendwelche Kontakte mit der Außenwelt hatten, war nicht vorgesehen. Sie lebten nur und ausschließlich für ihre Missionen. Aber er hielt mich auf dem Laufenden. Er hätte das nicht tun dürfen, deshalb habe ich Eden und euch auch nie davon erzählt. Ihr wusstet nur, dass er beim Militär und dort in keiner der üblichen Einheiten war. Deshalb bekommen wir ihn auch nie zu Gesicht. Gelegentlich meldet er sich bei mir. Er erzählt mir nicht viel, nur dass es ihm so weit gut geht. Er hat sich im Laufe der Jahre viele Feinde gemacht, und jetzt hat die Regierung sich von ihm losgesagt und vermutlich seine Ermordung angeordnet, sollte er jemals wieder auftauchen.«

»Dann hast du ihn also nach Moms Tod kontaktiert. Wieso?«, wollte Ryker wissen.

»Weil ich mich rächen wollte«, antwortete Big Eddie leise. »Ich wollte dem Dreckskerl heimzahlen, was er mir genommen hatte. Was er uns allen genommen hatte.«

»Verdammt!«, entfuhr es Raid. »Und hast du dich gerächt? Hast du ihn gefunden?«

Big Eddie schwieg einen Moment, bevor er nickte. »Guy hat ihn aufgestöbert. Er wollte nicht, dass ich mit hineingezogen werde. Ich habe ihm alles an Informationen gegeben, was ich hatte. Ich musste eine Menge Leute, die mir noch was schuldeten, um Unterstützung bitten, damit ich die Informationen bekam, die ich brauchte.«

»Dann hat er ihn also getötet«, stellte Ryker sachlich fest.

Wieder nickte Big Eddie.

»Meine Güte, Dad. Und du bist nie auf die Idee gekommen, wir hätten es verdient, das alles schon früher zu erfahren?«, fragte Raid. »Und warum erzählst du es uns jetzt? Was ist los?«

Eddie wurde blass. Auf einmal fühlte er sich um Jahre gealtert. Das Gewicht eines Lebens voller Bedauern drückte wie eine Tonne Ziegelsteine auf seine Schultern und sein Herz.

Er ging zum Kaminsims hinüber und nahm die Fotos und die Nachricht herunter, die er bekommen hatte. Mit zitternden Händen schob er sie seinen Söhnen zu. Sie sollten sie sich anschauen und selbst ihre Schlüsse daraus ziehen.

»Ach du Scheiße!«, rief Ryker entsetzt. »Eden wird bedroht?«

»Sein Sohn«, brachte Big Eddie mühsam heraus. »Es muss der Sohn sein. Wir konnten ihn nicht finden. Nur Raul. Aber sein Sohn würde auf Rache sinnen, denn er hat nicht nur seine Mutter und seine Schwester verloren, Guy hat auch noch seinen Vater umgebracht. Jetzt will er sich rächen. Er will mich da treffen, wo es am meisten schmerzt. Eden.«

»Verdammte Scheiße!«, fluchte Raid. »Was zum Teufel sollen wir jetzt tun? Wo steckt Eden? Was machen wir? Wir müssen sofort etwas unternehmen. Was ist, wenn er sie bereits gefunden hat? Wenn er sie sich schnappt, während wir hier reden?«

»Deswegen habe ich euch beide hergebeten. Ich habe vorhin noch mit ihr gesprochen. Bei ihr schien alles in Ordnung zu sein. Ich will ihr keine Angst machen. Ich will auch nicht, dass sie all dies erfährt. Es würde sie nur beunruhigen. Aber wir müssen für ihren Schutz sorgen. Die Sicherheitsmaßnahmen verstärken. Die jetzigen reichen nicht aus. Diese Leute sind skrupellos. Sie können auf Ressourcen zurückgreifen, die wir uns nicht mal vorstellen können. Eden ist in Gefahr. Wir müssen uns überlegen, wie wir es anstellen können, dass ihre Sicherheit rund um die Uhr gewährleistet ist.«

Ryker schwieg einen Moment, während er nachdachte. Dann sagte er: »Ich kenne Leute, die uns helfen könnten. Mit zwei von ihnen war ich zusammen in einer Einheit. Nathan und Joe Kelly. Ihr Militärdienst endete zur selben Zeit wie meiner. Diese letzte Mission, die völlig in die Hose ging. Einige von uns haben es nicht zurückgeschafft. Joe war verletzt, und Nathan und ein weiterer Kamerad wurden monatelang in den Bergen Afghanistans festgehalten. Aber ihre Brüder leiten eine spezielle Kampftruppe. Einiges im privaten Sektor, aber sie bekommen auch oft Aufträge von der Regierung. Aufträge, die niemand sonst übernehmen kann oder will. Geiselbefreiung, Rettungsaktionen, Personenschutz. Alles, was gewünscht wird. Und sie sind verdammt gut. Nathan und Joe arbeiten jetzt für sie, genau wie Swanny, der andere Typ, mit dem ich beim Militär war. Wir könnten sie beauftragen. Sie schulden mir noch einen Gefallen.«

»Wie gut?«, hakte Raid nach. »Gut ist nicht gut genug. Nicht wenn es um Edens Sicherheit geht. Wir brauchen die Allerbesten.«

»Ich rufe sie an«, erwiderte Ryker. »Wir vereinbaren ein sofortiges Treffen. Eventuell müssten wir hinfliegen, damit die Sache schneller ins Rollen kommt.«

»Tu das«, sagte Big Eddie. »Ich werde Eden nicht verlieren. Oder euch. Diese Schweine haben dieser Familie genug weggenommen.«

Das Klingeln des Telefons unterbrach die angespannte Diskussion. Big Eddie warf einen Blick auf das Display und sah, dass es Eden war.

»Hallo, meine Kleine«, begrüßte er sie und gab seinen Söhnen mit einem Blick zu verstehen, dass sie schweigen sollten.

»Daddy?«

Als er das Zittern in ihrer Stimme hörte, gefror ihm das Blut in den Adern.

»Eden? Was ist los? Alles in Ordnung bei dir? Was ist passiert?«

Raid und Ryker waren sofort ganz Ohr und stellten sich neben ihren Vater, um besser hören zu können, was vor sich ging.

»Es gab eine Schießerei«, erwiderte sie mit mühsam beherrschter Stimme. »Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass mir nichts passiert ist. Damit du das nicht aus den Nachrichten erfährst und dir Sorgen machst.«

»Was soll das heißen, es gab eine Schießerei?«, brüllte Big Eddie.

»Ich weiß noch nichts Genaues, Dad. Die Polizei ist unterwegs, um mich zu befragen. David und Micah haben mich ins Auto verfrachtet und ins Hotel gebracht. Wir sind jetzt in einer anderen Suite. David und Micah hatten Angst, der Schütze hätte es vielleicht auf mich abgesehen.«

Verdammt, Big Eddie wusste, dass es so war.

Nur hatte er nicht damit gerechnet, dass es so schnell passieren würde. Verflucht, er hatte die Drohung doch erst heute erhalten! Ihm gefror das Blut in den Adern. Das Timing war einwandfrei. Hatte der Mörder das so geplant? Dass Eddie die Drohung kurz vor Edens Tod erhielt?

Hilflose Wut schnürte ihm die Kehle zu, bis er kaum mehr Luft bekam. Raid entwand ihm das Telefon und ignorierte Eddies sofortigen Protest.

»Eden, hier ist Raid«, meldete er sich ruhig. »Sag mir, wo du bist, und wir kommen mit dem nächsten Flieger.«

Es folgte eine Pause, dann sagte Raid: »Okay, Liebes. Bleib, wo David und Micah dich untergebracht haben. Wir kommen so schnell wie möglich.«

Er beendete das Gespräch und reichte seinem Vater das Telefon zurück. Seine Augen waren vor Wut fast schwarz.

»Dann hat es also begonnen.«

Big Eddie konnte nur nicken, während sich Angst und Wut in seinem Kopf eine Schlacht miteinander lieferten.

»Dann nichts wie los«, sagte Raid gepresst. »Ich rufe Nathan und Joe von unterwegs aus an und frage, ob wir uns dort mit ihnen treffen können.«

4

Daryl »Swanny« Swanson hob den Kopf, als das Telefon in der Hütte klingelte, die er sich mit Joe Kelly teilte.

»Hey, kannst du mal drangehen?«, rief Joe aus dem Badezimmer.

Swanny schwang sich von der Couch hoch, wo er gerade ein Basketballspiel angeschaut hatte, und ging zu dem schnurlosen Festnetztelefon. Vermutlich war es irgend so ein blöder Werbefritze, niemand sonst rief über das Festnetz an. Alle nutzten Handys.

»Hallo?«

»Könnte ich mit Nathan oder Joe Kelly sprechen? Es ist dringend.«

Swanny kam die Stimme des Manns vage bekannt vor, er konnte sie aber nicht einordnen. Aber wer auch immer der Anrufer war – offensichtlich kannte er die beiden Brüder nicht sonderlich gut, sonst hätte er gewusst, dass Nathan ein eigenes Haus hatte, in dem er mit seiner Frau Shea lebte.

»Und würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«, fragte Swanny, der schon auf dem Weg zum Badezimmer war.

»Hier spricht Ryker Sinclair. Ich habe mit den Kellys zusammen gedient. Bitte, ich muss unbedingt sofort mit einem der beiden reden.«

»Sin?«, rief Swanny verdutzt. »Hey, Kumpel, ich bin’s, Swanny. Verdammt, wie geht es dir?«

Am anderen Ende herrschte kurz Schweigen, dann erwiderte Ryker: »Swanny? Ich habe schon gehört, dass du für die Kellys arbeitest, aber ich dachte nicht, dass du ans Telefon gehen würdest. Mann, bin ich froh, deine Stimme zu hören! Wie geht es dir? Wie geht es Nathan? Seit unserer Entlassung habe ich nichts mehr von euch gehört.«

»Uns geht es gut. Nathan ist inzwischen verheiratet. Aber hey, was ist los? Du hast gesagt, es wäre dringend. Kann ich dir irgendwie helfen?«

Ryker atmete lautstark aus. »Ja, ich brauche eure Hilfe. Ich brauche KGIs Hilfe.«

»Bleib dran, ich hole Joe und schalte dich auf laut.«

Swanny klopfte an die Badezimmertür. »Hey, Joe, komm raus. Sin ist am Apparat. Ryker Sinclair. Er muss mit dir reden, und zwar sofort.«

Die Tür schwang auf, und Joe trat mit gerunzelter Stirn heraus. »Sin?«

»Ja. Komm in die Küche, damit ich das Telefon auf laut schalten kann. Er sagt, es wäre dringend, und er braucht KGIs Hilfe.«

»Verdammt«, murmelte Joe.

Sie gingen in die Küche, und Swanny drückte die Lautsprechertaste, bevor er das Telefon wieder auf dem Ladegerät ablegte. »Hallo, Mann, wir sind beide hier«, sagte Joe. »Was ist los? Wie geht es dir?«

»Nicht gut«, erwiderte Ryker grimmig. »Ich habe ein Problem. Ich brauche eure Hilfe. KGIs Hilfe.«

»Du weißt, wir tun, was immer wir können. Schieß los.«

»Ich habe keine Zeit, am Telefon alles zu erklären, und ich kenne selbst nicht alle Details. Wir sind auf dem Weg zu Eden. Sie steckt in Schwierigkeiten. Es ist eine verdammt lange Geschichte, und ich weiß, mit dem bisschen könnt ihr nicht viel anfangen, aber für dies hier brauche ich euch. Könnt ihr kommen?«

Swannys Augenbrauen schossen nach oben. Eden? Das war Rykers Schwester. Rykers äußerst heiße Schwester. Als sie sich gemeinsam in den afghanischen Bergen den Arsch abgefroren hatten, hatte Ryker den Kameraden ihre Briefe – und Fotos – gezeigt. Eden hatte ihm mehr als einen feuchten Traum beschert. Sie war umwerfend. Und nicht, weil sie dafür eine Menge Geld ausgab. Sie war eine natürliche Schönheit von Kopf bis Fuß, und sie hatte einfach etwas Strahlendes. Ihr Lächeln war eine Million Dollar wert, und ihre Briefe waren immer voller Humor gewesen. Was sie schrieb, hatte viele beschissene Tage erträglicher gemacht. Er erinnerte sich noch daran, wie er in einem Unterschlupf gelegen hatte, mit nichts als Edens Bild – und seiner eigenen Fantasie –, um sich warm zu halten.

Swanny runzelte die Stirn. Sie war Model, wenn er sich richtig erinnerte, und sie steckte in Schwierigkeiten? Sein Beschützerinstinkt war geweckt. Was für Probleme das wohl sein mochten, dass ihr Bruder KGI zu Hilfe rief? Es klang auf jeden Fall ziemlich ernst.

»Sag mir, wohin wir kommen sollen«, erwiderte Joe ohne zu zögern.

Sin hatte Joe das Leben gerettet, indem er ihn zu Boden gestoßen hatte, als ihr Team unter Beschuss geriet. Sin hatte die Kugel abbekommen, die Joe sonst getötet hätte. Swanny wusste, wenn Sin Hilfe brauchte, würde Joe sie ihm nicht verweigern. Egal wie viel von ihm verlangt wurde.

»Wir fliegen gerade nach Boston«, antwortete Sin Ryker grimmig. »Irgendein Arschloch hat es auf sie abgesehen, und sie wird von der Polizei befragt. Dad, Raid und ich fliegen hin, um rauszufinden, was zum Teufel dort los ist.«

Er schwieg einen Moment, dann seufzte er.

»Und es gibt noch mehr. Eine Menge mehr. Aber darüber kann ich am Telefon nicht sprechen. Deshalb brauche ich euch dort, so schnell ihr kommen könnt. Sobald ihr da seid, erkläre ich euch alles.«

Joe und Swanny tauschten rasch einen Blick aus.

»Ich rufe mein Team zusammen, und wir fliegen los, sobald alle am Flugzeug sind. Verlier nicht die Nerven, okay? Ich gebe dir meine Handynummer, damit du mich erreichen kannst.«

»Danke, Mann. Das bedeutet mir sehr viel. Und Dad auch. Ich schicke dir eine SMS mit dem Hotelnamen.«

Joe gab ihm seine und auch Swannys Handynummer, und dann schrieben sie sich auch rasch Rykers auf.

»Okay, ich brauche ein paar Stunden, dann sind wir unterwegs. Ich muss erst noch mit meinen älteren Brüdern reden, aber wir kommen. Darauf kannst du dich verlassen.«

Sie beendeten das Gespräch, und Joe sah Swanny stirnrunzelnd an. »Verdammt, ich frage mich, um was es da gerade ging.«

Swanny zuckte mit den Schultern. »Mich interessiert viel mehr, was er gemeint hat, als er sagte, jemand hätte es auf sie abgesehen. Meinte er, jemand will sie anmachen, oder ist jemand auf sie losgegangen?«

»Ist sie nicht irgend so ein angesagtes Model?«, fragte Joe.

Swanny verdrehte die Augen. »Mann, natürlich ist sie das. Sie ist heiß. Wahnsinnig heiß.«

Joe sah ihn verblüfft an. »Wow, sie muss dich ja wirklich beeindruckt haben. Du redest sonst nie über Frauen, egal ob heiß oder nicht.«

Swanny fuhr sich mit der Hand über die unebene Narbe, die von oben bis unten über sein gesamtes Gesicht lief. »Da gibt es nicht viel zu reden«, murmelte er. »Sie stehen nicht gerade Schlange bei mir.«

Joe verzog das Gesicht. »Tut mir leid, Mann. War ein blöder Spruch von mir.«

Swanny zuckte mit den Schultern. »Soll ich Skylar und Edge anrufen? Dann kannst du deine Brüder in Angriff nehmen. Die werden wollen, dass wir uns im Hauptquartier treffen. Garantiert lassen sie uns nicht einfach losziehen, wenn wir sagen, da war ein Anruf, und jetzt brauchen wir einen Jet, und ach, übrigens, das Team nehmen wir auch mit, aber wir wissen noch nicht, wieso.«

»Klugscheißer«, murmelte Joe. »Aber ja, du hast recht. Sag Sky und Edge Bescheid. Ich rufe Nathan und Sam an, und wir treffen uns dann auf dem Anwesen.«

Swanny zog sein Handy aus der Tasche und drehte sich weg, um seine Anrufe zu tätigen. Wenn er Glück hatte, waren Edge und Skylar zu Hause. Da sie zusammen in einem Haus in der Nähe des Geländes wohnten, brauchte er eventuell nur einen Anruf zu machen.

»Edge«, sagte Swanny zur Begrüßung. »Hey, Mann, ist Sky bei dir?«

»Ja, ist sie«, erwiderte Edge. »Was liegt an?«

»Wir wurden angefordert. Aufbruch schnellstmöglich. Keine Ahnung, für wie lange, also packt entsprechend. Wir treffen uns so bald wie möglich in der Einsatzzentrale.«

»Bis dann«, sagte Edge und legte auf.

Swanny grinste. Gesprächig wie immer. Edge sagte nie viel, aber wenn er es tat, pflegten die Leute ihm zuzuhören. Allerdings war er auch sehr groß und kräftig, und die meisten Leute waren in seiner Gegenwart auf der Hut. Swanny fragte sich manchmal, wie Skylar und er jemals zu dem Entschluss hatten kommen können, zusammen zu wohnen.

Skylar war übersprudelnd, kontaktfreudig und gesprächig. Edge war ruhig und begann nie von sich aus ein Gespräch. Swanny hätte es durchaus eingeleuchtet, wenn Skylar den Riesen schon nach einer Woche in den Wahnsinn getrieben hätte. Aber inzwischen lebten sie seit Monaten im selben Haus, und es schien gut zu funktionieren.

Joe telefonierte noch immer mit einem seiner Brüder, also ging Swanny ins Schlafzimmer, um seine Sachen zu packen. Er überprüfte seine Waffen, obwohl er seine Ausrüstung immer in makellosem Zustand hielt, damit alles jederzeit einsatzbereit war. Dass ein Auftrag hereinkam, der einen sofortigen Aufbruch erforderlich machte, war nichts Ungewöhnliches.

Das hier war einfach ein normaler Arbeitstag.

Nur dass es bei diesem Auftrag um eine sehr hübsche Frau ging. Und es machte ihn wütend, dass jemand es auf sie abgesehen hatte, egal auf welche Weise. In den Briefen an ihren Bruder hatte sie geklungen wie eine Frau mit einem großen Herzen, die trotz der glamourösen Modelkarriere sehr bodenständig geblieben war.

Ein Bild stand ihm plötzlich vor Augen. Die Titelseite einer Zeitschrift, die Ryker auf ihrer letzten Mission stolz herumgereicht hatte – jener Mission, die Swannys Karriere beim Militär endgültig beendet hatte. Auf der Zeitschrift war Edens Gesicht in Großaufnahme zu sehen gewesen. Sie war zur schönsten Frau der Welt gekürt worden, und ihm leuchtete das völlig ein. Sie war so schön, dass ihm die Eier wehtaten.

Langes blondes Haar, und nicht gefärbt. Ungewöhnlich aquamarinfarbene Augen, deren Strahlen durch die leicht gebräunte Haut noch unterstrichen wurde. Und ihr Lächeln! Mann! Kein falsches Lächeln, sondern ein echtes, eins, das von Herzen zu kommen schien. Ihr Lachen hatte sich in ihren Augen gespiegelt. Sie hatte keinen dieser ernsten, lasziven Blicke aufgesetzt, die bei Models so beliebt waren. Stattdessen hatte sich in Edens Ozean-Augen eine Spur von Übermut gezeigt. Das war eine Frau, die wusste, was sie wollte – so viel war klar.

Und diese Lippen! Voll, üppig. Genau die richtige Größe und ein perfekter Bogen. Kein Lippenstift, nur eine Spur Lipgloss. Während das Bild vor seinem geistigen Auge immer klarer wurde, fiel ihm auch wieder ein, dass sie kein Make-up getragen hatte, oder zumindest ein sehr dezentes. Eden hatte das natürliche Aussehen eines typisch amerikanischen Mädchens. Das Mädchen von nebenan, nur zehnmal heißer.

Swanny riss sich aus seinen abwegigen Gedanken und packte Kleidung in seinen Matchbeutel, dann zählte er rasch seine Messer durch und die Blendgranaten, die er immer bei sich trug, und vergewisserte sich, dass er genügend Munition für seine beiden Pistolen hatte.

Er führte sich auf wie ein bescheuerter Teenager, der in die Cheerleaderin verliebt war. Ja, er hatte sich allerhand Fantasien hingegeben, in jenen langen Nächten in der Kälte, in denen er sich nur mit seinen Träumen hatte ablenken können. Eden würde einen Mann wie ihn keines zweiten Blicks würdigen. Oder vielleicht doch, aber dann nur, weil sie sich noch einmal die Narbe ansehen wollte, die sein Gesicht verunstaltete. Dieser Gedanke versetzte seiner Fantasie erfolgreich einen Dämpfer, und er widmete sich wieder seinen momentanen Aufgaben.

Er schnürte das Knöchelholster fest, schob die kleinere Sig hinein, schnallte sich den Schultergurt um und verstaute die größere Glock. Dann schnappte er sich den Matchbeutel sowie den Munitionskarton und schlang sich die Riemen seiner beiden Hochleistungsgewehre über die Schultern. Das eine war ein halbautomatisches, das andere sein 308er mit der übergroßen Reichweite. Alles, was er sonst noch brauchte, würde sich im Waffenschrank des Flugzeugs befinden.

Er war sich nicht sicher, in was für Schwierigkeiten Eden Sinclair steckte, aber Ryker hatte besorgt geklungen, und die Sinclair-Familie machte sich nicht so leicht Sorgen. Der Vater war ein knallharter Typ. Raid, der Älteste, war ein gestandener Bulle, und Ryker arbeitete in einem kleinen, privaten Sicherheitsunternehmen, das vor allem Personenschutz-Aufträge übernahm. Deshalb war es seltsam, dass Ryker sich wegen der Schwierigkeiten, in denen seine Schwester steckte, an KGI wandte. Swanny hätte erwartet, dass die Familie, wenn Eden irgendwelche Probleme hatte, zusammenrücken und diese selbst lösen würde. Wenn es um ihre Familie ging, waren die Sinclairs sehr verschwiegen. Was Swanny nur in seinem Verdacht bestärkte, dass die Situation ernst war. Dass Ryker am Telefon so vage geblieben war, ließ sämtliche Alarmglocken bei ihm klingeln. Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Aber bevor sie nicht dort waren und aus erster Hand erfuhren, was los war, ließ sich nichts machen.

Er eilte zurück ins Wohnzimmer, wo Joe gerade seine Kleidung und sein persönliches Waffenarsenal verstaute, das Swannys nicht unähnlich war. Sie alle hatten ihre speziellen Vorlieben, was Waffen betraf, aber sie alle waren sich einig, dass es gut war, für jede Eventualität ausgerüstet zu sein.

Falls die Zombie-Apokalypse jemals stattfinden sollte, waren sie bestens vorbereitet. Das KGI-Gelände konnte einem kriegerischen Angriff standhalten. Die schiere Masse an legalem – und illegalem – Zeug hinter den Mauern des Geländes hätte jedem Durchschnittsbürger einen Schock versetzt. Swanny hatte seinen eigenen Vorrat an C-4-Sprengstoff und genügend Granaten, um eine kleine Armee in Schach zu halten.

Während seiner Gefangenschaft hatte er sich geschworen, dass er sich nie wieder so hilflos und verängstigt fühlen würde. Die Unausweichlichkeit seines Tods hatte er akzeptiert. Er hatte ihn sogar willkommen geheißen. In seinen dunkelsten Stunden hatte er dafür gebetet. Jetzt schämte er sich dafür, aber damals hatte der Tod die endgültige Freiheit bedeutet. Flucht aus der trostlosen Realität.

Gott sei Dank hatte es Shea gegeben – Nathans Frau –, die sich unerklärlicherweise über Tausende von Meilen hinweg an Nathan gewandt und in seinem Kopf mit ihm gesprochen hatte. Sie hatte ihm und Swanny geholfen, ihren Häschern und dem sicheren Tod zu entkommen. Und Grace, Sheas Schwester. Meine Güte, sie hatte ihn geheilt. Sie hatte wahrhaftig die Wunden geheilt, die Nathans und seine Flucht verzögert hätten. Er hatte Nathan angefleht, dass er ihn zurücklassen und sich selbst in Sicherheit bringen sollte. Stattdessen hatte Nathan ihn mit Hilfe von Shea und Grace geheilt. Und so hatten sie es lebend aus diesen Bergen herausgeschafft. Nicht unversehrt, aber immerhin lebend.

Geistesabwesend betastete er die Narbe in seinem Gesicht. Sie würde ihn immer an seine Zeit in der Gefangenschaft erinnern, an die Folter und den Hunger. Diese endlosen, qualvollen Tage hatten Nathan und ihn gezeichnet. Jeder von ihnen hatte Narben davongetragen – nur dass seine Narben auch äußerlich sichtbar waren. Ihm war das Gesicht aufgeschlitzt worden, und als man sie endlich gerettet und in ein Krankenhaus gebracht hatte, gab es nicht mehr viel, was ein Chirurg hätte tun können, und für eine Schönheitsoperation war Swanny nicht eitel genug.

Nein, für ihn war diese Narbe eine Erinnerung an das, was er überlebt hatte.

Sein Sexleben hatte durchaus darunter gelitten, aber Sex gehörte nicht zu seinen Prioritäten. Nicht seit er lebend nach Hause gekommen war. Er stürzte sich lieber in seine Arbeit. Ging in seiner neuen Familie auf. Er schüttelte den Kopf. Er hatte keine Familie gehabt. Die hatte er erst bekommen, als er Nathan kennengelernt hatte. Die Kellys und KGI hatten ihn aufgenommen. Marlene Kelly, die Matriarchin des Kelly-Clans, hatte ihn quasi adoptiert, und sie behandelte ihn, als wäre er eins ihrer vielen Kinder.

Frank und Marlene Kelly hatten sechs Söhne, aber Marlene hatte weitere Kinder adoptiert. Zum Beispiel Rusty. Das mürrische Teenager-Mädchen, das bei ihnen eingebrochen war, stand inzwischen kurz vor seinem Collegeabschluss. Sie war eine lebhafte, hübsche junge Dame geworden, der die Welt zu Füßen lag.

Auch Sean Cameron, stellvertretender Sheriff in Stuart County, war in den Kelly-Clan aufgenommen worden und wurde wie Marlenes und Franks andere Kinder behandelt. Das Ausmaß der kellyschen Großzügigkeit war unglaublich.

Die Familie war gewachsen, hatte sich vergrößert. Joe war der einzige unverheiratete der Brüder, und das rieb ihm Marlene in regelmäßigen Abständen unter die Nase. Dabei gab es genügend Enkelkinder, und weitere waren unterwegs.

Und dann gab es da noch ihn selbst, dachte Swanny. Er hatte ein einsames Leben geführt, in dem nur die Männer, mit denen er diente, seine Brüder gewesen waren. Und jetzt hatte er eine riesige Familie. Alle standen hinter ihm – die Kellys ebenso wie seine Teamkollegen. Sie waren bereit, für ihn bis zum Äußersten zu gehen. Diese bedingungslose Loyalität verblüffte ihn.

Nachdem Nathan und er aus dem Krankenhaus entlassen worden waren, hatte er sich in dem kleinen Haus verkrochen, das er von seinen Eltern geerbt hatte. Aber er war ruhelos gewesen und einsam. Seine Zeit in der Gefangenschaft, die ihm seine Sterblichkeit vor Augen geführt hatte, und dann seine wundersame Heilung hatten ihn nach Tennessee geführt, auf der Suche nach Antworten. Er hatte von Nathan wissen wollen, was vor ihrer Rettung aus jenen Bergen passiert war.

Und er war geblieben, zunächst weil er von Marlene Kelly sofort in die Sippe adoptiert worden war, und dann, weil man ihm eine Stelle bei KGI angeboten hatte. Er war dem neuen Team zugeteilt worden, das von Nathan und Joe geleitet wurde und zu dem kurz darauf Skylar und Edge gestoßen waren. Sie waren jetzt seine Familie. Und eine Familie zu haben, Menschen, die ihn akzeptierten … fühlte sich gut an.

In seiner Zeit beim Militär hatte sein Leben einen Sinn gehabt: schützen und dienen. Nach seiner Verwundung und seiner Entlassung hatte er nicht gewusst, wohin mit sich. Da draußen hatte es nichts für ihn gegeben. Mit einem normalen Bürojob oder dem Konkurrenzdruck unter Zivilisten wäre er niemals glücklich geworden. KGI hatte ihm wieder ein Ziel gegeben.

KGI half Menschen. Die Organisation beschützte die Unschuldigen und die Schwachen. Sie half, die Arschlöcher dieser Welt aus dem Verkehr zu ziehen, diejenigen, denen Unschuldige zum Opfer fielen. Wenn er jetzt morgens aufwachte, fühlte er sich lebendig. Als hätte er eine Zukunft. Das verdankte er KGI, und dafür würde er ewig dankbar sein.

Er hatte es sich abgeschminkt, jemals sesshaft zu werden und eine eigene Familie zu gründen – etwas, was für die meisten Menschen selbstverständlich war, selbst wenn sie es nicht eilig hatten. So etwas erlebte er ständig um sich herum. Jeder der Kelly-Brüder, mit Ausnahme von Joe, hatte seine Seelenverwandte gefunden. Sogar die Teamleiter, Rio und Steele, hatten sich mit einer Selbstverständlichkeit in ein häusliches Leben hineingefunden, das die Frauen und Männer, die ihnen unterstellt waren, nach wie vor amüsierte und verblüffte. Verdammt, sogar Cole und P. J., zwei aus Steeles Team, hatten sich zusammengetan und führten eine glückliche Ehe – wobei Swanny annahm, dass es sich hier um ein interessantes Arrangement handelte, denn P. J. konnte es auch mit den Besten aufnehmen. Mit Sicherheit führte sie Cole am Gängelband.

Aber für ihn kam das nicht in Frage, und das akzeptierte er auf die gleiche Weise, wie er alles andere akzeptiert hatte: mit Ruhe und Verständnis. Er hatte nicht nur äußerlich Narben. Er war auch innerlich unabänderlich vernarbt – verändert. Er wusste nicht, wie Nathan mit den Erinnerungen umging. Nathan erlebte mit Sicherheit auch so manche schlaflose Nacht, aber er hatte Shea, die ihm half, wenn die Vergangenheit mal wieder ihr hässliches Haupt erhob. Er selbst litt noch immer unter Albträumen, Flashbacks, in denen er wieder in Gefangenschaft war. Noch immer wachte er schweißgebadet auf und wähnte sich einen Moment lang wieder in der Hölle. Angekettet in einer Höhle, auf den Moment wartend, wenn sie ihn holten. Um ihn zu schlagen, zu verhören und aufzuschlitzen.

Aber es war ihnen nicht gelungen, ihn zu brechen. Darauf war er stolz. Nathan und er hatten allem widerstanden, was ihre Entführer ihnen angetan hatten, und hatten sich nicht brechen lassen. Denn am Ende war das alles, was ihnen geblieben war: ihr Stolz und ihre Entschlossenheit, diese Arschlöcher nicht gewinnen zu lassen.

Er hatte jetzt ein schönes Leben. Nein, er würde niemals Frau und Kinder haben, aber an den meisten Tagen war das für ihn ganz in Ordnung. Gelegentlich, wenn alle Kellys zusammenkamen und er von so viel Liebe umgeben war, den Ehefrauen der Kellys und den Kindern, überkam ihn eine tiefe Sehnsucht. Aber er wusste schon seit längerem, dass es nicht gut tat, über etwas zu lange nachzudenken, das niemals sein würde.

Die meisten Frauen konnten ihn nicht mal anschauen, aus Angst, Abscheu oder Mitleid zu zeigen. Mitleid war am schlimmsten. Angst und Abscheu waren ihm da allemal lieber. Wobei es ihn schmerzte, wenn sich eine Frau nur wegen seines Äußeren vor ihm fürchtete. Er hätte sich eher den rechten Arm abgehackt, als einer Frau wehzutun. Allein bei dem Gedanken wurde ihm übel. Er hatte in seinem Leben genügend Gewalt gesehen, um zu wissen, dass er so etwas nie tun würde. Außer wenn es um Arschlöcher ging, die verdienten, was ihnen geschah.

Er war ein Mörder, und es bereitete ihm keine Gewissensbisse, das Recht in die Hand zu nehmen, wenn es angebracht war. Solange er sich jeden Morgen mit gutem Gewissen im Spiegel betrachten konnte, konnte er weiterhin die Arbeit machen, die man von ihm als KGI-Mitglied erwartete.

»Bist du so weit?«, rief Joe und riss Swanny aus seiner Grübelei.

»Ja. Alles gepackt. Hast du Nathan und Sam erreicht?«

Joe nickte. »Nathan ist auf dem Weg, und Sam ruft Garrett, Ethan und Donovan an, damit wir uns dort treffen. Ich habe ihm gesagt, es bestünde kein Anlass, Steele und Rio dazuzuholen. Das ist unsere Mission. Sin ist unser Freund, und da lasse ich nicht zu, dass irgendjemand anderes die Leitung übernimmt.«

»Da stimme ich dir zu«, erwiderte Swanny. »Ich weiß nicht, in was für Schwierigkeiten Eden steckt, aber wenn Sin so nervös ist, wird es was Ernstes sein.«

Joe nickte. »Machen wir uns auf den Weg. Nathan kann uns hinfliegen, also besteht keine Notwendigkeit – und Zeit haben wir sowieso nicht – einen der anderen Piloten zu holen.«

Swanny grinste. »Schon irgendwie nett, dass wir jetzt eine Landebahn auf dem Gelände haben. Die Fahrt nach Henry County war immer verdammt lästig. Ganz abgesehen davon, dass wir viel schneller reagieren können, wenn wir einen Auftrag bekommen.«

Joe schlang sich eine der Taschen über die Schulter und bückte sich dann nach den beiden Gewehren, die er sich ebenfalls umhing. Sie trugen ihre Ausrüstung zu Joes Pick-up und verstauten sie sorgfältig hinten im Laderaum. Dann stiegen sie in die Fahrerkabine, um die paar Meilen am See entlang zum Anwesen zu fahren.

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