Kinderseelen  weinen nicht - Elisabeth Swoboda - E-Book

Kinderseelen weinen nicht E-Book

Elisabeth Swoboda

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Ah, Schwester Regine«, sagte Heidi Holsten verschlafen. »Weshalb bist du schon auf?« »Weil es bereits halb zehn ist, du kleine Schlafmütze«, erwiderte die junge blonde Frau lachend. »Was – halb zehn? So spät?« Mit einem Ruck setzte Heidi sich in ihrem Bett auf und rieb sich die Augen. »Sind die anderen schon in der Schule?« »Ja, natürlich. Hermann hat sie zur gewohnten Zeit mit dem Schulbus hingebracht.« »Warum hat mich denn niemand geweckt?«, fragte Heidi gähnend. »Ich hielt es für besser, dich ausschlafen zu lassen. Schließlich ist es gestern spät geworden. Die anderen mussten wegen der Schule rechtzeitig aus den Federn, aber du bist ja noch nicht schulpflichtig. Jetzt wird es aber doch auch für dich allmählich Zeit aufzustehen. Möchtest du zum Frühstück Milch oder Kakao?« »Am liebsten gar nichts. Ich bin noch von gestern Abend satt«

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Sophienlust – 444 –

Kinderseelen weinen nicht

Elisabeth Swoboda

»Ah, Schwester Regine«, sagte Heidi Holsten verschlafen. »Weshalb bist du schon auf?«

»Weil es bereits halb zehn ist, du kleine Schlafmütze«, erwiderte die junge blonde Frau lachend.

»Was – halb zehn? So spät?« Mit einem Ruck setzte Heidi sich in ihrem Bett auf und rieb sich die Augen. »Sind die anderen schon in der Schule?«

»Ja, natürlich. Hermann hat sie zur gewohnten Zeit mit dem Schulbus hingebracht.«

»Warum hat mich denn niemand geweckt?«, fragte Heidi gähnend.

»Ich hielt es für besser, dich ausschlafen zu lassen. Schließlich ist es gestern spät geworden. Die anderen mussten wegen der Schule rechtzeitig aus den Federn, aber du bist ja noch nicht schulpflichtig. Jetzt wird es aber doch auch für dich allmählich Zeit aufzustehen. Möchtest du zum Frühstück Milch oder Kakao?«

»Am liebsten gar nichts. Ich bin noch von gestern Abend satt«, gestand das Kind, während ihm Regine Nielsen bei der Morgentoilette behilflich war. Bald war Heidi gewaschen und angezogen, und ihre lockigen hellblonden Haare waren zu einem Pferdeschwänzchen gebändigt.

»Das war gestern Abend ein wunderschönes Fest«, plauderte das kleine Mädchen drauflos. »Alle waren so lustig. Komisch ist nur, dass ich mich überhaupt nicht erinnern kann, wie das Fest aufgehört hat.«

»Dir sind schon vorher die Augen zugefallen«, sagte die Kinderschwester. »Nick hat dich dann in dein Zimmer getragen, und ich habe dich zu Bett gebracht.«

»Ach so. Schade, ich wäre sehr gern bis zum Schluss dabei gewesen.«

»Du hast nichts versäumt. Unsere Gäste haben sich wenig später verabschiedet. Sie lassen dich alle schön grüßen.«

Heidi nickte gedankenvoll. Hinter ihrer kleinen, runden Stirn schien es zu arbeiten.

»Hast du irgendwelche Probleme, Heidi?«, erkundigte sich Regine, nachdem Heidi ihren Platz im Speisesaal eingenommen hatte und lustlos an einer Tasse mit Zitronentee nippte.

»Hm – also, erstens habe ich wirklich keinen Hunger«, erwiderte das Kind. Zurückdenkend an die Berge von Leckereien, die gestern Abend vertilgt worden waren, wunderte sich die Kinderschwester nicht über Heidis mangelnden Appetit. Sie sagte lediglich, dass sie niemanden zum Essen zwingen würde, und fügte dann hinzu: »Und was ist das zweite, das dich bedrückt?«

»Ich habe vergessen, sie alle zu fragen, ob es ihnen wirklich gut geht und ob ihre Eltern nett zu ihnen sind«, platzte Heidi heraus.

»Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, beruhigte Schwester Regine lächelnd das kleine Mädchen. »Allen unseren ehemaligen Schützlingen geht es ausgezeichnet.«

»Und was ist mit denen, die gestern nicht da waren?«, fragte das Kind weiter.

»Auch bei denen ist alles in Ordnung. Du weißt ja, dass wir oft Karten und Briefe bekommen, in denen sie uns von ihren neuesten Erlebnissen berichten.«

»Ja, das stimmt«, räumte Heidi ein, trank ihren Tee aus, lehnte sich entspannt zurück und plauderte nunmehr unbefangen über den gestrigen Abend, an dem sie viele ihrer früheren Freunde und Freundinnen wiedergetroffen hatte. Sie alle hatten eine Zeit lang in dem Kinderheim Sophienlust gelebt, waren dann aber entweder zu ihren Eltern oder sonstigen Verwandten zurückgekehrt oder hatten Adoptiveltern gefunden.

»Es war nett von Tante Isi und von Nick, dass sie die Kinder eingeladen haben«, führte Heidi aus. »Es war gestern sehr lustig bei uns, nicht wahr?«

»Das kann man wohl sagen«, stimmte die Kinderschwester dem Mädchen zu. Ein wenig brummte ihr heute noch der Kopf von dem Trubel, der gestern die Räumlichkeiten des zu einem Kinderheim umgebauten alten Herrenhauses erfüllt hatte. Über dreißig Kinder waren den Einladungen gefolgt, die Denise von Schoenecker und ihr minderjähriger Sohn Dominik – kurz Nick genannt – abgeschickt hatten.

Das Fest hatte mittags begonnen und hätte eigentlich am frühen Abend zu Ende sein sollen, aber es hatte sich länger als vorgesehen ausgedehnt. Zwar waren die Eltern zur vereinbarten Stunde eingetroffen, um ihre Kinder abzuholen, aber sie hatten mit Denise von Schoenecker, Regine Nielsen und Else Rennert, der Heimleiterin, einige Worte wechseln wollen. Den Kindern war das nur recht gewesen, auf diese Art hatte sich ihr Besuch in Sophienlust bis zum späten Abend erstreckt. Sie hatten großen Spaß daran gehabt, in ihren Erinnerungen zu schwelgen und die ihnen vertrauten Räume, wenn auch nur für ein paar Stunden, in Beschlag zu nehmen. Ihre fröhlichen Stimmen waren durch die große Halle, den Wintergarten, das Eisenbahnzimmer, die Kostümkammer, den Aufenthaltsraum und das Musikzimmer geschwirrt, nur das Erste-Hilfe-Zimmer hatte man zum Glück nicht in Anspruch nehmen müssen.

»Was machen wir heute, Schwester Regine?«, fragte Heidi, nachdem die junge Frau ihre Kaffeetasse geleert hatte. »Gehen wir zum Waldsee? Wir könnten den anderen eine Nachricht hinterlassen, dass sie nachkommen sollen.«

»Ich fürchte, für heute ist es mit dem Baden vorbei«, erwiderte die junge Frau. »Hast du nicht bemerkt, dass der Herbst schon da ist? Die Blätter an den Bäumen und Sträuchern färben sich gelb, am Morgen ist es meist kühl und neblig.«

»Aber die Sonne scheint doch!«, wandte Heidi ein, rutschte von ihrem Sessel und lief zu einem der großen Fenster. »Sobald die Sonne scheint, ist es schön warm«, behauptete sie.

»Da irrst du dich gründlich«, widersprach die Kinderschwester. »Im Herbst und im Winter sind die Sonnenstrahlen zu schwach, sie können die Luft oder gar das Wasser im See nicht ordentlich erwärmen. Erinnerst du dich nicht an den vorigen Winter? Wir waren mehrmals bei strahlendem Sonnenschein am zugefrorenen Waldsee und sind dort Schlittschuh gelaufen.«

»O ja, ich erinnere mich. Dann gehen wir heute eben nicht baden, sondern Schlittschuh laufen«, schlug die Kleine eifrig vor.

»Nein, Heidi, auch das ist nicht möglich«, machte Regine Nielsen ihren Schützling mit unterdrücktem Schmunzeln aufmerksam. »So kalt, dass der Waldsee zugefroren wäre, ist es noch nicht. Das dauert noch einige Monate, falls es überhaupt so weit kommt. Nicht in jedem Winter herrschen so niedrige Temperaturen, dass man auf dem Waldsee eislaufen kann.«

»Hoffentlich wird es im nächsten Winter richtig kalt. Und recht viel Schnee soll es geben«, erklärte Heidi.

»Hm. Na ja. – Im Augenblick ist es jedenfalls noch nicht so weit. Ich schlage vor, wir beide unternehmen einen Spaziergang zum Ortszentrum. Ich möchte einige Zeitschriften besorgen, außerdem brauche ich dringend grüne Nähseide, um den aufgerissenen Saum von meinem Lodenrock zu reparieren.«

»Im Nähzimmer gibt es massenhaft Nähseide«, meinte Heidi hilfreich.

»Ich habe bereits alle Spulen durchgesehen. Es ist keine einzige dabei, die in der Farbe zu meinem Rock passt. Da wir ohnehin für den heutigen Vormittag nichts vorhaben, können wir ruhig ins Dorf gehen. Oder ist dir der Weg dorthin zu weit?«

»O nein, ich gehe gern mit. – Kaufst du mir ein Klebebildchen? Oder vielleicht gleich mehrere? Ich möchte meinen Zahnputzbecher verzieren. Er ist so hässlich. Pünktchen hat ihren mit roten Herzen vollgeklebt. Vicky hat lustige Mäuschen und Angelika lauter gelbe Blümchen drauf. Nur mein Becher ist ganz weiß und nackt.«

»Du bekommst deine Klebebildchen«, versprach die Kinderschwester lächelnd. Ein Blick auf das außen am Fensterrahmen angebrachte Thermometer bewies ihr, dass es nicht warm genug war, um ohne Strickjacken ins Freie gehen zu können. Kurz darauf verließen die beiden Sophienlust.

Heidi holte tief Atem, als sie auf den Vorplatz trat. Der vordere Teil des weitläufigen Parks des Heimes lag in seiner ganzen Pracht vor ihr. Schwester Regine hatte recht gehabt, das Laub der alten, hohen Bäume begann sich bereits zu färben, aber sonst deutete nichts auf die fortgeschrittene Jahreszeit hin.

»Wie schön es in Sophienlust ist«, stellte das Kind andächtig fest. »Ich bin so froh, dass ich hier wohnen darf. Mir tun die Kinder, die adoptiert worden sind, fast ein bisschen leid. Sie durften uns zwar gestern besuchen, aber am Abend mussten sie wieder weg.«

»Dafür haben sie Eltern und manchmal auch Geschwister.«

»Ja, das schon.« Heidi runzelte ein wenig die Stirn. »Aber ich – ich kann mir nicht vorstellen, dass ich meine Eltern und Geschwister lieber hätte als dich, Schwester Regine. Ich habe dich am allerliebsten von allen Leuten auf der ganzen Welt.«

»Ich habe dich ebenfalls sehr, sehr lieb«, erklärte die junge Frau gerührt, bückte sich, zog das kleine Mädchen an sich und drückte ihm einen festen Kuss auf den Mund.

Hand in Hand gingen Schwester Regine und Heidi den schmalen, schnurgeraden Fußgängerkiesweg zur Auffahrt entlang. Plötzlich blieb das Mädchen stehen und deutete mit seiner rechten Hand aufgeregt auf den Spielplatz.

»Was hast du denn, Heidi?«, fragte die Kinderschwester verwundert. »Willst du in den Sandkasten oder zu den Schaukeln? Ich dachte, wir haben vereinbart, in den Ort zu gehen.«

»Dort – dort ist jemand«, flüsterte Heidi. »Ich habe es deutlich gesehen. Etwas Buntes hat sich bewegt. Vielleicht ist es ein Einbrecher oder ein böser Gangster, der jemanden aus Sophienlust entführen will.«

»Ach, Unsinn! Am helllichten Tag wird sich bestimmt kein Verbrecher bei uns einschleichen. Du hast dich getäuscht. Wahrscheinlich hast du einen Vogel gesehen oder ein Eichhörnchen, das nach Nüssen sucht.«

»Nein, nein. Jemand ist auf dem Spielplatz. Sollen wir Hermann zu Hilfe holen? Oder Tante Ma bitten, dass sie Wachtmeister Kirsch anruft?«

»Hermann ist mit Tante Ma nach Maibach gefahren«, erklärte Schwester Regine. Hermann hieß der Chauffeur von Sophienlust, und Tante Ma war der liebevolle Rufname, den die Kinder von Sophienlust der Heimleiterin verliehen hatten. »Aber ich glaube, wir brauchen ihre Hilfe nicht. Da ist niemand auf dem Spielplatz.«

»Doch! Ich habe etwas gesehen. Etwas Buntes. Das war bestimmt kein Vogel. Nicht einmal unser Papagei Habakuk ist so bunt. Das war ein Mensch«, beharrte die Kleine.

Für einige Sekunden ließ Schwester Regine sich von Heidis ängstlichem Gebaren anstecken. Es war tatsächlich schon vorgekommen, dass man ein Kind aus dem Kinderheim entführt hatte, deshalb war Heidis Angst nicht vollends von der Hand zu weisen. Von dort, wo sie jetzt standen, war die Sicht auf den Spielplatz durch mehrere Sträucher und einige Bäume größtenteils verdeckt, Schwester Regine konnte nichts Verdächtiges entdecken. Sie lauschte, aber abgesehen vom Zirpen der Grillen und entferntem Hundegebell war es still im Park.

»Das ist ja lächerlich«, sagte die Kinderschwester schließlich resolut. »Wir führen uns auf wie zwei Angsthasen, anstatt dass wir näher hingehen und uns davon überzeugen, dass wir keine ungebetenen Gäste haben.«

Heidi wollte Schwester Regine zurückhalten, aber die junge Frau umschritt energisch eine Gruppe von Fliederbüschen, schlüpfte zwischen einigen eng beisammenstehenden Haselnusssträuchern durch und stand dann am Rand des Spielplatzes. Heidi hatte ihre Angst tapfer niedergekämpft und war ihr gefolgt.

Schwester Regine wollte schon sagen, dass sie recht gehabt hätte und dass niemand da wäre, als sie einen offenen Schulranzen neben dem Sandkasten entdeckte. Hefte, lose Papierblätter, Buntstifte und eine angefangene Strickarbeit lagen überall herum. Die Kinderschwester erkannte sofort, dass diese Dinge keinem ihrer Schützlinge aus Sophienlust gehörten. Die Frau sah sich genauer um und bemerkte dann eine kleine Gestalt, die nur mangelhaft verborgen hinter einem etwas schütteren Rosenstrauch kauerte.

»Komm ruhig hervor. Wir haben dich längst entdeckt«, sagte die Kinderschwester laut.

Erst rührte sich die Gestalt nicht, aber als Schwester Regine ihre Aufforderung wiederholte, richtete sie sich auf und kam widerwillig näher.

»Dich kenne ich nicht«, rief Heidi verblüfft aus. »Du gehörst nicht zu uns. Du warst noch nie in Sophienlust. Was willst du hier?«

Der Eindringling antwortete nicht. Es handelte sich um ein circa achtjähriges Mädchen mit glatten braun glänzenden Haaren, braunen Augen und einem trotzigen Gesichtsausdruck. Bekleidet war das Kind ziemlich nachlässig mit roten Gummistiefeln, Jeans, die am rechten Knie einen ausgefransten Riss aufwiesen, und einem schmuddeligen, rot-blau gestreiften Pulli.

»Wie heißt du?«, fragte Heidi, die sich schneller als ihre erwachsene Begleiterin von ihrer Verwunderung erholt hatte.

»Ich heiße Patrizia Wunderer«, erwiderte das Kind.

»Was machst du hier?«, fragte Heidi weiter.

»Nichts.« Patrizia sah keck zu der Kinderschwester empor und fuhr fort: »Sie können mich wegschicken. Aber schimpfen oder mich schlagen, das dürfen Sie nicht. Sonst gehe ich zur Polizei und zeige Sie an. Wegen Kindesmisshandlung. Dann müssen Sie fort aus Ihrem schönen, großen Haus. Weil man Sie nämlich verhaften und einsperren wird.«

Regine Nielsen schnappte nach Luft, Heidi musterte das freche Mädchen mit großen Augen.

»Wie kommst du darauf, dass ich dich schlagen könnte?«, fragte die Kinderschwester, nachdem sie die Sprache wiedergefunden hatte. »Ich denke nicht im Traum daran, dich zu schlagen.«

»Dann ist es ja gut«, sagte Patrizia, wandte sich, ohne die Kinderschwester weiter zu beachten, an Heidi und fragte: »Spielst du mit mir Verstecken?«

»Nein«, entgegnete Heidi. »Ich habe keine Zeit. Ich muss einkaufen gehen.«

»Ist mir auch recht«, sagte Patrizia. »Dann werde ich eben schaukeln. Oder auf dem Reck turnen.«

»Das darfst du nicht!«, rief Heidi, bevor noch die Kinderschwester zu Wort kommen konnte.

»So? Willst du es mir verbieten? Du solltest dich schämen, weil du so böse bist und mir nicht erlaubst, deinen Spielplatz zu benutzen. Deine Mutter hat dich schlecht erzogen.« Patrizia warf Schwester Regine einen herausfordernden Blick zu.

»Du bist ganz schön frech …«, begann die Kinderschwester, wurde jedoch von Heidi am Weitersprechen gehindert.

»Ich bin nicht böse«, verwahrte sich Heidi entrüstet. »Und meine Mutti hat mich bestimmt nicht schlecht erzogen. Ich kann mich zwar nicht richtig an sie erinnern, weil sie schon lange tot ist, aber ich weiß genau, dass sie lieb und nett war. Sag ja nichts Schlechtes über meine Mutti! Ich erlaube dir, am Reck zu turnen, solange du willst. Aber wenn du herunterfällst und dir die Arme und die Beine brichst, dann bist du selber schuld. – Komm, Schwester Regine, gehen wir. Mit diesem frechen Mädchen will ich nichts zu tun haben.«

Obwohl auch die Kinderschwester über Patrizias schlechtes Benehmen erstaunt war, fiel es ihr schwer, wegen Heidis gerechter Empörung ernst zu bleiben. Außerdem war es für sie ausgeschlossen, Heidis Aufforderung zu befolgen und das Eindringen eines fremden Kindes in den Park von Sophienlust auf sich beruhen zu lassen. »Nein, Heidi, so einfach ist das nicht«, sagte sie, »du weißt genau, dass kein Kind unbeaufsichtigt die Turngeräte benutzen soll. Ein Unglück ist schnell geschehen.«

Heidi zuckte mit den Schultern und meinte störrisch: »Es geschieht Patrizia recht, wenn sie sich wehtut. Sie ist kein braves Mädchen. Schau, wie sie ihre Schulsachen schlampig auf die Erde geworfen hat. Keines von den Kindern aus Sophienlust ist so schlampig. Und – und sie ist überhaupt komisch. Ich würde mich nicht trauen, in einen fremden Garten zu gehen. Und dann – wieso ist Patrizia jetzt eigentlich nicht in der Schule?«

»Das ist eine berechtigte Frage«, meinte Schwester Regine, wandte sich direkt an Patrizia und beschuldigte sie unumwunden des Schwänzens.

»Ja, ich schwänze«, gab das Kind, aufsässig zurück. »Aber das geht Sie nichts an. Mir hängt die blöde Schule eben zum Hals heraus. Ich habe keine Lust, stundenlang still zu sitzen und der Lehrerin zu gehorchen. Das ist nichts für mich. Vati sagt, dass ich ganz recht habe. Er sagt, ich soll meine Freiheit genießen und tun, was mir Spaß macht.«

»Hm.« Regine Nielsen konnte auf eine breit gefächerte Erfahrung mit Kindern und Jugendlichen zurückblicken, aber ein Mädchen wie Patrizia Wunderer war ihr bisher noch nicht begegnet. Sie beschloss, dem Kind gegenüber einen anderen Ton anzuschlagen, und sagte streng: »Gewiss, dein Schuleschwänzen geht mich nichts an. Ich bin für deine Erziehung nicht zuständig. Aber hier im Park von Sophienlust hast du nichts verloren. Er ist Privatbesitz. Du bist hier eingedrungen, ohne dass …«

»Wir werden Herrn Kirsch anrufen«, sagte Heidi dazwischen. »Er soll kommen und Patrizia mitnehmen.«

»Das ist eine zu harte Maßnahme«, entgegnete die Kinderschwester. »Die Polizei wollen wir lieber aus dem Spiel lassen.«

»Warum? Patrizia hat dir doch auch vorhin mit der Polizei gedroht. Dabei ist sie im Unrecht. Sie ist bei uns eingebrochen. Sie ist eine böse Einbrecherin. Wer weiß, vielleicht hat sie auch etwas gestohlen«, sagte Heidi.

»Nein, ich habe nichts gestohlen, du hässlicher Giftzwerg!«, schrie das Mädchen. »Das habe ich nicht nötig. Meine Mutti hat eine Menge Geld geerbt. Vati sagt, dass wir nicht zu knausern brauchen. Er kauft mir alles, was ich mir wünsche. Demnächst bekomme ich ein eigenes Pony. Auf dem werde ich ausreiten. Du hast bestimmt kein eigenes Pony. Ätsch!«

»Wenn ich reiten will, besuche ich Tante Andrea in Bachenau und reite auf Fridolin!«

»Fridolin? Ein blöder Name für ein Pony«, erklärte Patrizia verächtlich.

»Fridolin ist kein Pony, er ist ein Esel«, erklärte Heidi wahrheitsgemäß.

»Ein Esel. Haha, du reitest auf einem Esel!« Patrizia wollte sich fast ausschütten vor Lachen, Heidi ließ sich dadurch jedoch nicht einschüchtern.

»Na und? Warum soll ich nicht auf einem Esel reiten? Ich habe Fridolin lieb. Er ist geduldig und überhaupt nicht störrisch. Und wenn ich erst einmal größer bin, borgt Nick mir sicher sein Reitpferd. Oder ich reite auf Fortuna, das ist ein richtiges Turnierpferd. So ein tolles Pferd bekommt man gar nicht zu kaufen«, trumpfte Heidi auf.

»Das glaube ich dir nicht, du kleine Angeberin.«

»Schluss jetzt«, schnitt die Kinderschwester Patrizia das Wort ab. »Wo wohnst du?«

»In Wildmoos. Auf einem Bauernhof. Warum wollen Sie das wissen?«

»Ich werde dich nach Hause begleiten«, erwiderte Schwester Regine.

»Aber ich will noch nicht nach Hause gehen!«, begehrte das Kind auf. »Zu Hause ist es mir zu langweilig. Mutti hat keine Zeit für mich, und Vati schläft jetzt wahrscheinlich noch. Ich bleibe lieber hier und turne am Reck.«

Schwester Regine seufzte. Es schien, als wären sie wieder am Ausgangspunkt der Diskussion angelangt. Sie fand Patrizias freche Art unmöglich, aber sie verspürte so etwas wie Mitleid mit dem Kind. Sie glaubte, dass Patrizias aufmüpfiges Gebaren eine tiefsitzende Unsicherheit kaschieren sollte. Sicher war es dem Mädchen klar, dass es widerrechtlich ein fremdes Grundstück betreten hatte, sonst hätte es sich nicht hinter dem Strauch versteckt.

Die Kinderschwester zwang sich also zur Geduld und sagte freundlich: »Du darfst nicht ohne Aufsicht auf dem Reck turnen, das haben wir dir bereits erklärt. Wenn du so gerne turnst, dann komm ein anderes Mal. Allerdings darfst du deshalb nicht die Schule schwänzen. Wenn du uns aber einmal am Nachmittag besuchst, wirst du hier viele Spielgefährten antreffen.«

Patrizia starrte verbissen auf ihre Füße und ließ sich nicht anmerken, dass ihre Neugier geweckt worden war.

Heidi aber rief: »Nein, Schwester Regine, du sollst Patrizia nicht einladen. Sie passt nicht zu uns!«

»Sei nicht so unfreundlich, Heidi«, wies die Frau das kleine Mädchen sanft zurecht.

»Ich bin nicht unfreundlich. Ich freue mich sonst immer, wenn fremde Kinder zu uns eingeladen werden oder wenn wir jemand Neuen bekommen. Aber Patrizia sagt so hässliche Sachen, mit ihr mag ich nicht spielen. Vicky, Angelika, Pünktchen und die anderen werden auch nicht mit ihr spielen wollen.«