Unzertrennlich wie Schwestern - Elisabeth Swoboda - E-Book

Unzertrennlich wie Schwestern E-Book

Elisabeth Swoboda

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Beschreibung

Die Idee der sympathischen, lebensklugen Denise von Schoenecker sucht ihresgleichen. Sophienlust wurde gegründet, das Kinderheim der glücklichen Waisenkinder. Denise formt mit glücklicher Hand aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Diese beliebte Romanserie der großartigen Schriftstellerin Patricia Vandenberg überzeugt durch ihr klares Konzept und seine beiden Identifikationsfiguren. »Was ist los, Peggy? Schmeckt dir der Braten nicht?«, fragte Denise von Schoenecker. Sie nahm an dem Mittag­essen ihrer Schützlinge in Sophienlust teil und saß neben der sechsjährigen dunkelhaarigen Peggy. Es war ihr nicht entgangen, dass die Kleine noch immer an ihrem ersten Bissen Fleisch kaute. »Hast du ein hartes Stück Fleisch erwischt? Komisch, meines ist ganz weich. Sollen wir tauschen?«, bot Denise dem Kind an. Peggy schluckte den Bissen hinunter. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, danke, Tante Isi.« »Du siehst so niedergeschlagen aus. Hast du Zahnweh, oder tut dein Hals weh?«, erkundigte sich Denise, nun schon etwas besorgt. »O nein, weh tut mir nichts«, entgegnete Peggy. Dabei fiel eine dicke Träne auf ihren Teller. »Peggy, weine doch nicht!«, bat Denise bestürzt. »Ich muss aber weinen, weil ich so schrecklich traurig bin«, schluchzte Peggy. Denise legte ihr Besteck beiseite und zog Peggy tröstend an sich. »Du hast wahrscheinlich Sehnsucht nach deinem Onkel Luchs«, meinte sie. »Er wird bald von seiner Reise zurückkehren und wieder bei dir sein.« »Es …, es ist nicht wegen Onkel Luchs.« Peggy schnupfte hörbar auf und ließ weiterhin den Kopf hängen. »Sie ist schon die ganze Zeit so«, sagte der neunjährige Henrik von Schoenecker zu seiner Mutter. »Seit wir heute aus der Schule kamen, bläst sie Trübsal.« »Ach so. Dann hat es vielleicht in der Schule Ärger gegeben. Willst du uns nicht erzählen, was dir heute in der Schule zugestoßen ist?«, fragte Denise freundlich. »Es ist mir ja nichts zugestoßen. Es geht mir gut. Ich kann ja bei euch in Sophienlust sein. Aber die arme Graziella

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Sophienlust – 182 –

Unzertrennlich wie Schwestern

Graziella und Bettina wollen sich nie aus den Augen verlieren!

Elisabeth Swoboda

»Was ist los, Peggy? Schmeckt dir der Braten nicht?«, fragte Denise von Schoenecker. Sie nahm an dem Mittag­essen ihrer Schützlinge in Sophienlust teil und saß neben der sechsjährigen dunkelhaarigen Peggy. Es war ihr nicht entgangen, dass die Kleine noch immer an ihrem ersten Bissen Fleisch kaute.

»Hast du ein hartes Stück Fleisch erwischt? Komisch, meines ist ganz weich. Sollen wir tauschen?«, bot Denise dem Kind an.

Peggy schluckte den Bissen hinunter. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein, danke, Tante Isi.«

»Du siehst so niedergeschlagen aus. Hast du Zahnweh, oder tut dein Hals weh?«, erkundigte sich Denise, nun schon etwas besorgt.

»O nein, weh tut mir nichts«, entgegnete Peggy. Dabei fiel eine dicke Träne auf ihren Teller.

»Peggy, weine doch nicht!«, bat Denise bestürzt.

»Ich muss aber weinen, weil ich so schrecklich traurig bin«, schluchzte Peggy.

Denise legte ihr Besteck beiseite und zog Peggy tröstend an sich. »Du hast wahrscheinlich Sehnsucht nach deinem Onkel Luchs«, meinte sie. »Er wird bald von seiner Reise zurückkehren und wieder bei dir sein.«

»Es …, es ist nicht wegen Onkel Luchs.« Peggy schnupfte hörbar auf und ließ weiterhin den Kopf hängen.

»Sie ist schon die ganze Zeit so«, sagte der neunjährige Henrik von Schoenecker zu seiner Mutter. »Seit wir heute aus der Schule kamen, bläst sie Trübsal.«

»Ach so. Dann hat es vielleicht in der Schule Ärger gegeben. Willst du uns nicht erzählen, was dir heute in der Schule zugestoßen ist?«, fragte Denise freundlich.

»Es ist mir ja nichts zugestoßen. Es geht mir gut. Ich kann ja bei euch in Sophienlust sein. Aber die arme Graziella hat niemanden.«

»Graziella? Wer ist das?«

»Sie ist so alt wie ich und geht in meine Klasse. Gestern ist ihre Mutti gestorben. Die Mutti war lange krank und lag im Krankenhaus. Aber bevor sie ins Krankenhaus gebracht wurde, hat sie Graziella fest versprochen, wieder gesund zu werden. Und jetzt ist sie gestorben und hat Graziella alleingelassen.«

»Das tut mir leid«, sagte Denise. »Wieso ist Graziella allein? Hat sie keinen Vater?«

»Ich glaube nicht.«

»Bei wem wohnt sie? Es muss sich doch jemand um sie kümmern?«

»Sie wohnt bei einer Nachbarin. In dem großen neuen Haus mit den Terrassen und den vielen Wohnungen, wo vorn die weiße Mauer und der Parkplatz ist. Zwei Kirschbäume stehen neben der Mauer und …«

»Ja, danke, deine Beschreibung genügt mir. Ich weiß, um was für ein Haus es sich handelt«, unterbrach Denise das Mädchen.

»Würdest du hingehen und Graziella der Nachbarin wegnehmen?«, platzte Peggy heraus.

»Aber Peggy! Warum sollte ich das tun?«

»Bitte, Tante Isi, bitte!«, bestürmte Peggy Denise von Schoenecker. »Graziella ist so unglücklich. Sie ist richtig verzweifelt, weil ihre Mutti tot ist.«

»Du verlangst etwas Unmögliches von mir. Ich kann Graziella ihre Mutter nicht zurückgeben«, entgegnete Denise ernst.

»Aber du kannst Graziella zu uns nach Sophienlust holen«, schaltete sich Nick, Denises älterer Sohn und Henriks Halbbruder ein. »Ich nehme an, dass es das ist, auf was Peggy hinauswill.«

»Ja, Nick, genau das ist es!«, rief Peggy. Ihr schwarzes Gesichtchen strahlte jetzt. »Graziella war zwar noch nie in einem Kinderheim, aber es wird ihr in Sophienlust besser gefallen als bei der Nachbarin.«

»Ist die Nachbarin sehr böse zu Graziella?«, fragte Henrik interessiert.

»Sehr böse gerade nicht«, gab Peggy zu. »Im Gegenteil, sie hat Graziella gern.«

»Na, dann ist doch alles in Ordnung! Warum möchtest du, dass ich mich einmische und Graziella weghole?«, fragte Denise.

»Weil Graziella nicht länger bei Frau Feichtner bleiben kann. Auf gar keinen Fall für immer. Das hat der Großvater gesagt.«

»Was für ein Großvater? Hast du nicht erzählt, dass Graziella außer ihrer Mutter niemanden hat?«

»Doch nicht Graziellas Großvater! Bettinas Großvater!«, erläuterte Peggy.

»Wer ist Bettina?«, fragte Denise.

»Bettina ist Graziellas Freundin. Sie ist ein Jahr jünger als wir und geht noch nicht in die Schule.«

»Aha. Und wie kommt Bettinas Großvater dazu zu sagen, dass Graziella nicht bei Frau Feichtner bleiben kann? Ich nehme an, Frau Feichtner ist die Nachbarin?«

»Ja. Bettinas Großvater hat sich wegen der dummen Zimmerantenne vom Fernseher fürchterlich aufgeregt.«

»Wie bitte?« Denise sah Peggy verwundert an, während Nick sich nur mit Mühe ein Lächeln verbiss. Regine Nielsen, die Kinderschwester, bewunderte dagegen die Geduld Denise von Schoen­eckers.

»Graziella und Bettina haben Kaufhaus gespielt und die Antenne als Kleiderständer für Puppenkleider benutzt«, erzählte Peggy. »Dabei ist ein Stück abgebrochen. Bettinas Großvater hat sich schrecklich geärgert. Er hat geschimpft und gesagt, dass ein Kind genug sei. Mit zwei unfolgsamen Rangen halte er es nicht aus. Bettinas Großmutter und Frau Feichtner haben ihn beruhigt, aber Graziella möchte trotzdem nicht länger bei ihnen bleiben. Sie hat gewartet, dass ihre Mutter wieder gesund wird, aber jetzt …«

»Ich kenne mich noch immer nicht recht aus«, meinte Denise. »Dieser Unfall mit der Antenne hat sich also bei Bettinas Großeltern zugetragen. Warum hat Frau Feichtner, die Graziella in ihrer Obhut zu haben scheint, Graziella überhaupt dorthin gelassen? Wenn sie wusste, dass Bettinas Großvater keine Kinder mag, hätte sie Bettina lieber in ihre eigene Wohnung einladen sollen.«

Peggy riss ihre großen Kulleraugen auf. »Aber nein, Tante Isi, Frau Feichtner hat keine eigene Wohnung. Sie wohnt mit Bettina bei ihren Eltern.«

»Mit Bettina?«, wiederholte Denise. »Heißt das, dass Bettina Frau Feichtners Tochter ist und Bettinas Großeltern die Eltern von Frau Feichtner sind?«

»Ja, natürlich! Davon rede ich doch die ganze Zeit. Lach nicht, Nick«, wies Peggy den großen Jungen zurecht. »Denke an die arme Graziella.«

»Wir denken alle an die arme Graziella«, erwiderte Nick, wieder ernst geworden. »Aber iss wenigstens deinen Nachtisch. Du beleidigst sonst unsere gute Magda.«

Peggy griff folgsam nach ihrem Löffel und dem Himbeerpudding. Bevor sie jedoch den ersten Bissen zum Mund führte, fragte sie: »Wirst du etwas wegen Graziella unternehmen, Tante Isi?«

»Ich werde noch heute Frau Feichtner aufsuchen und mit ihr reden«, versprach Denise von Schoenecker.

*

Um ihr Versprechen einzulösen, fuhr Denise mit dem Wagen am Nachmittag zu dem großen Neubau am Rande von Wildmoos. Peggy hatte ihr den Namen von Bettinas Großeltern mitgeteilt. Sie hießen Buchmüller, und Denise fand mühelos das entsprechende Namensschildchen. Sie drückte auf die Klingel. Eine etwas gehetzt klingende Frauenstimme meldete sich.

Denise erklärte, dass sie wegen Graziella mit Frau Feichtner sprechen möchte.

Die Stimme bat sie einzutreten. Ein leises Summen ertönte, und das Haus­tor ließ sich öffnen.

Denise fuhr mit dem Lift in den dritten Stock hinauf, wo sie von einer älteren Frau, die in der offenen Wohnungstür stand, erwartet wurde.

»Bitte, kommen Sie weiter und nehmen Sie Platz«, sagte Frau Buchmüller und führte Denise in ein kleines gemütliches Wohnzimmer. »Meine Tochter ist noch im Krankenhaus, aber sie muss jeden Augenblick zurückkommen. Eigentlich sollte sie schon zu Hause sein, aber bei einer Krankenschwester darf man es nicht so genau nehmen. Es kommt oft vor, dass meine Tochter aufgehalten wird.«

»Ihre Tochter ist Krankenschwester?«, erkundigte sich Denise.

»Ja. Nach dem Tod unseres Schwiegersohnes war sie gezwungen, ihren Beruf wieder aufzunehmen – aus finanziellen Gründen. Oh, ich sollte nicht sagen gezwungen! Sonja übt ihren Beruf gern aus. Sie geht beinahe darin auf, obwohl sie manchmal viel Trauriges erleben muss. So wie mit Graziellas Mutter. Sie wissen davon?«

»Nur das, was mir Peggy erzählt hat, und das war sehr wenig«, erwiderte Denise. »Peggy ist eine Schulfreundin von Graziella. Sie erzählte, dass Graziella nach dem Tod ihrer Mutter völlig allein dasteht. Deshalb hat sie mich gebeten, Graziella in Sophienlust aufzunehmen. Ich verwalte dieses Kinderheim für meinen Sohn Nick bis zu seiner Großjährigkeit und kann Ihnen versichern, dass Graziella bei uns gut aufgehoben wäre.«

Frau Buchmüller, die sich inzwischen auch gesetzt hatte, nickte. »Wir wohnen zwar erst seit zwei Jahren in Wildmoos, aber ich habe in dieser Zeit viel Gutes über Sie und das Kinderheim gehört«, sagte sie. »Ja, für Graziella wäre es wahrscheinlich das Beste. Nur fürchte ich, dass Sonja nicht einverstanden sein wird. Sie hat Graziella in ihr Herz geschlossen und ihrer Mutter auf dem Totenbett versprochen, immer für ihre Tochter zu sorgen.«

»Vielleicht sollten wir Graziella fragen, was sie am liebsten möchte«, schlug Denise vor. »Könnte ich das Kind einmal sehen und mit ihm sprechen?«

»Die Kinder machen mit meinem Mann gerade einen kleinen Spaziergang«, entgegnete Frau Buchmüller. »Es wird wohl noch eine Stunde dauern, bis sie zurückkommen.«

»Mit Ihrem Mann?«, fragte Denise erstaunt. »Ich hatte angenommen …« Sie unterbrach sich und biss sich auf die Lippen. Dann sagte sie: »Allem Anschein nach unterliege ich einem Irrtum. Ich habe mich von Peggys dramatischer Erzählung zu sehr beeindrucken lassen. Sie hat berichtet, dass Bettina und Graziella die Zimmerantenne abgebrochen haben und Bettinas Großvater darüber in Zorn geraten ist. Es hat geklungen, als ob Ihr Mann ein Kinderfeind wäre.«

Frau Buchmüllers Blick schweifte zum Fernsehapparat und zu der funkelnagelneuen Antenne. Sie seufzte. »Otto ist kein Kinderfeind«, sagte sie. »Er hängt an seiner Enkelin Bettina und hat auch Graziella gern. Aber er ist nicht mehr der Jüngste und liebt seine Ruhe und Bequemlichkeit. Solange wir nur für ein Kind sorgen mussten, hatte er beides. Es ist erstaunlich, wie ruhig man ein einzelnes Kind halten kann, und welchen Wirbel zwei Kinder veranstalten. Ich selbst beklage mich nicht. Mir macht das nichts aus. Sonja und ich freuen uns, dass Bettina nicht mehr allein ist, sondern eine Spielgefährtin hat. Doch leider verliert mein Mann viel zu schnell die Geduld. Er meint es aber nicht böse. Bettina weiß das. Sie ist längst an die manchmal griesgrämige Art ihres Großvaters gewöhnt. Aber Graziella kann sich damit nicht abfinden. Sie ist sehr sensibel. Und sie leidet ungemein unter dem Tod ihrer Mutter.«

Im Vorzimmer waren jetzt eilige Schritte zu hören. Die Wohnzimmertür wurde geöffnet. Eine junge Frau schickte sich an einzutreten, blieb aber bei Denises Anblick auf der Schwelle stehen. »Du hast Besuch, Mutti?«, fragte sie.

»Er gilt eher dir«, entgegnete Frau Buchmüller. »Meine Tochter, Frau Feichtner«, stellte sie die junge Frau Denise vor. Dann fuhr sie, zu Sonja gewandt, fort: »Das ist Frau von Schoenecker. Sie ist wegen Graziella gekommen. Sie ist bereit, Graziella in Sophienlust aufzunehmen.«

»O nein, das kommt nicht infrage«, entgegnete Sonja impulsiv. »Ich gebe Graziella nicht her. Ich habe der armen Edith versprochen, ihr Kind niemals im Stich zu lassen,und dieses Versprechen werde ich halten. Ich habe selbst eine kleine Tochter und weiß, wie Edith zumute war, als sie erkennen musste, dass es keine Rettung mehr gab.« Sie entledigte sich ihres dunkelblauen Mantels und zerrte an dem Schal, den sie um den Hals geschlungen hatte. Dann warf sie beide Kleidungsstücke auf die Sitzbank und setzte sich daneben.

»Bitte, sei vernünftig, Sonja«, sagte Frau Buchmüller. »Wenn du Graziella Frau von Schoenecker anvertraust, lässt du sie doch nicht im Stich. Es wird ihr gut gehen in Sophienlust.«

»Daran zweifle ich nicht«, sagte Sonja. »Trotzdem …«

»Möglicherweise wäre das Kind in Sophienlust glücklicher als bei uns«, unterbrach Frau Buchmüller ihre Tochter. »Du hast deinen Beruf und kannst dich nicht ständig um Graziella kümmern. Und ich …«

»Es ist wohl selbstsüchtig von mir, dass ich Graziella behalten will und dabei dir die Last aufbürde«, murmelte Sonja niedergeschlagen. »Daran habe ich nicht gedacht.«

»Graziella bedeutet keine Last für mich«, verwahrte sich Frau Buchmüller. »Aber mit der Aufnahme und Erziehung eines fremden Kindes ist eine gewisse Verantwortung verbunden. Ich verstehe dich ja, Sonja. Du willst der armen Graziella die verstorbene Mutter ersetzen. Aber es könnten Schwierigkeiten auf uns zukommen, denen wir nicht gewachsen sind.«

Sonja hatte den Kopf gesenkt und blickte auf ihre Hände. Denise beobachtete die junge Frau, die sichtlich mit sich kämpfte. Sonja Feichtner gefiel ihr. Ihr Äußeres war eher unauffällig, aber zweifellos hübsch. Das Anziehendste an ihr waren ihre großen braunen Augen, die einen sanften Ausdruck zeigten. Ihre Haare waren ebenfalls braun. Sie trug sie ziemlich kurz und lockig. Ihr Teint war hell und zart. Jetzt war Sonja ernst und etwas traurig, erst bei einer späteren Gelegenheit, als sie lächelte, nahm Denise ihre strahlend weißen Zähne und die Grübchen in den Wangen wahr.

»Sie würden Graziella ja nicht gänzlich aus den Augen verlieren, wenn das Kind bei uns in Sophienlust wäre«, meinte Denise.

»Ja«, sagte Sonja leise und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Gut, ich bin damit einverstanden, dass Graziella in das Kinderheim gebracht wird. Es bleibt mir ja nichts anderes übrig. Aber falls sich Graziella dagegen wehrt …«

»Das wird sie nicht tun. Sie ist sehr fügsam«, meinte Frau Buchmüller.

»Wie ist das übrigens mit Graziellas sonstigen Angehörigen? Existiert kein Vater?«, fragte Denise.

Sonja Feichtner zuckte zusammen. »Ich … Edith wollte nicht … Sie hatte Angst vor ihm«, stotterte sie.

»Graziella besitzt also einen Vater«, schloss Denise.

»Ja, aber ich habe keine Ahnung, wo er sich aufhält. Mit dem Kind habe ich noch nie über den Vater gesprochen. Auch Edith hat sich mir nie anvertraut. Sie hat sehr zurückgezogen gelebt. Sie hatte praktisch mit niemandem Kontakt. Mit mir sprach sie anfangs nur, weil die Kinder sich angefreundet hatten. Allmählich gewann ich den Eindruck, dass sie sich mit Absicht hier, wo niemand sie kannte, verkrochen hatte. Verschiedenen Äußerungen entnahm ich, dass sie in beständiger Furcht vor ihrem Mann lebte. Warum sie sich von ihm getrennt hat, hat sie mir nie erzählt. Aber sie zitterte davor, dass er sie hier aufspüren könnte.« Sonja runzelte die Stirn. »Erst als Graziella in der Schule angemeldet wurde, erfuhren wir den Nachnamen der Kleinen. Sie heißt nicht Brand, wie ihre Mutter hieß, sondern Marcone.«

»Vermutlich der Name des Vaters, während Edith Brand wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte«, meinte Frau Buchmüller.

»Man sollte nach ihm forschen«, sagte Denise langsam.

»Nach wem? Nach dem Vater? Nein, nein!«, rief Sonja. »Das wäre sicher nicht in Ediths Interesse.« Sie können sich nicht vorstellen, Frau von Schoenecker, wie die Arme gelitten hat. Bis zuletzt klammerte sie sich an das Leben, obwohl nicht einmal mehr ein Funke von Hoffnung bestand.«

»Woran starb sie?«, fragte Denise.

»Magenkrebs. Als die Diagnose klar war, gaben die Ärzte ihr keine Chance mehr. Sie wusste es, wollte es aber nicht wahrhaben. Wahrscheinlich tut das niemand. Aber …, aber Ediths Fall war besonders tragisch. Sie ernährte sich und ihr Kind mit schlecht bezahlter Heimarbeit. Sie war Schneiderin und arbeitete, bis sie zusammenbrach und ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Und selbst dann flehte sie mich an, ihr Kind niemals zu verlassen. Graziellas Vater erwähnte sie mit keinem Wort. Es war bestimmt nicht ihr Wunsch, dass Graziella ihrem Vater ausgeliefert wird. Und wenn ich an das trostlose Leben denke, das Edith führte, so muss ich annehmen, dass sie schwerwiegende Gründe dafür hatte.«

»Sie haben mir da eine traurige Geschichte erzählt«, sagte Denise bedrückt. »Es kann keine Rede davon sein, dass Graziella ihrem Vater ausgeliefert wird. Trotzdem ist es unsere Pflicht, ihn zumindest ausfindig zu machen. Besitzen Sie Graziellas Dokumente?«

Sonja sah Denise verblüfft an. »Ich? Nein …«

»Der Herr Bürgermeister hat sie an sich genommen«, warf Frau Buchmüller ein. »Gestern ging alles drunter und drüber. Obwohl wir mit dem Tod von Frau Brand rechnen mussten, kam er doch irgendwie plötzlich. Sonja war im Krankenhaus, und ich habe mit dem Bürgermeister nur kurz gesprochen. Er sagte etwas von Begräbnisvorbereitungen, aber dann kam Graziella dazwischen, und ich musste dem Kind die schreckliche Wahrheit beibringen.«

»Ich werde mich mit dem Gemeindeamt in Verbindung setzen«, meinte Denise. »Soll ich noch länger auf Graziella warten und sie gleich mitnehmen?«

»Oh, bitte nicht«, unterbrach Sonja. »Ich werde dem Kind alles erklären und es dann nach Sophienlust bringen.«

*

Der Bürgermeister von Wildmoos, Herr Lenhard, war der gleichen Meinung wie Denise von Schoenecker. Graziellas Vater musste ausfindig gemacht werden. Man konnte den Fall nicht einfach auf sich beruhen lassen. Aus den Papieren der Verstorbenen ging hervor, dass Graziella in Triest zur Welt gekommen war. Es konnte nicht schwierig sein, ihre Angehörigen zu eruieren. Herr Lenhard setzte sich mit den Behörden in Italien in Verbindung.

Graziella lebte bereits seit einigen Tagen in Sophienlust. Sonja war es nicht leichtgefallen, das Kind herzugeben. Sie hatte es hauptsächlich aus Liebe zu ihrer Mutter getan, für die es nicht leicht war, einen mitunter missgestimmten Ehemann und zwei lebhafte Kinder zu betreuen und die Interessen dieser drei in Einklang zu bringen.

Wie Frau Buchmüller vorausgesehen hatte, hatte sich Graziella widerspruchslos nach Sophienlust bringen lassen. Sie liebte zwar ihre kleine Freundin Bettina und deren Mutter, aber Sonjas Vater war ihr nicht geheuer. Er hatte zu oft mit ihr geschimpft. Daran war Graziella, die von ihrer Mutter stets sehr liebevoll und nachsichtig behandelt worden war, nicht gewöhnt. Außerdem war das Kind noch zu sehr betäubt vom Tod der Mutter, um die Vorgänge in seiner Umwelt richtig wahrzunehmen.

Die meist fröhliche und gut gelaunte Peggy half Graziella, sich in Sophienlust einzugewöhnen. Aber sie sorgte auch für Verwirrung. Einmal zeigte sie Graziella einen Brief, der sorgfältig in Druckbuchstaben abgefasst war, damit Peggy ihn ohne Hilfe lesen konnte.

»Dieser Brief ist von meinem Onkel Luchs«, verkündete Peggy. »Er schreibt, dass er von seiner Reise bald zurückkommen und mich dann sogleich abholen wird. Er schreibt, dass ich ihm abgehe und dass er sich sehr darauf freut, mich wiederzubekommen.«

Graziellas Gesichtchen verfinsterte sich. »Mich holt niemand mehr ab«, flüsterte sie. »Nicht für immer. Tante Sonja und Bettina holen mich höchstens noch für ein paar Stunden. Dann muss ich wieder zurück.«

»Bist du denn nicht gern bei uns?«, fragte Pünktchen, ein dreizehnjähriges Mädchen mit lustigen Sommersprossen.

»Schon«, erwiderte Graziella leise. »Aber …, aber ich bin so allein. Ich habe niemanden. Peggy hat ihren Onkel Luchs …«

»Du hast uns. Uns alle«, tröstete Pünktchen das jüngere Mädchen. »Ich weiß, wie schrecklich es ist, wenn man seine Eltern verliert. Aber eines Tages wirst du trotzdem wieder fröhlich sein.«