Viola kennt die Wahrheit - Elisabeth Swoboda - E-Book

Viola kennt die Wahrheit E-Book

Elisabeth Swoboda

5,0

Beschreibung

In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. »Tante Ma! Tante Ma! Schon wieder ist ein Vogel mit voller Wucht gegen die große Scheibe vom Wintergarten geflogen. Er ist tot, der arme Vogel!«, rief Henrik von Schoenecker Else Rennert, der Heimleiterin von Sophienlust, zu. »Du brauchst nicht so zu brüllen, ich bin nicht schwerhörig«, sagte Frau Rennert. Sie saß in ihrem Büro hinter dem Schreibtisch und hatte gerade die Papiere eines dem Kinderheim anvertrauten Kindes durchgesehen. Die Heimleiterin war eine ältere, mütterlich wirkende Frau. Ihr Sohn Wolfgang und ihre Schwiegertochter Carola hatten sie mit der Geburt eines Zwillingspärchens bereits zur Großmutter gemacht. »Tante Ma, tut dir der Vogel nicht leid? Es ist schon der dritte, seit das Hausmädchen neulich die Scheiben geputzt hat. Die Vögel sehen jetzt das Glas nicht mehr und glauben, dass der Wintergarten im Freien liegt.« »Tja, da ist guter Rat teuer. Ich habe keine Ahnung, wie man dieses Vogelsterben beenden könnte.« »Lena hätte eben die Scheiben nicht putzen dürfen«, erklärte der Bub temperamentvoll. »Lena hat nur getan, wozu ihr deine Mutter den Auftrag gab«, sagte Else Rennert. »Ich werde mit Mutti ein ernstes Wort reden müssen.

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Leseprobe: Der zweite Ring

Lars stürzte zur Fahrertür seines Wagens und riss sie auf. Bevor er sich ins Auto werfen konnte, hielt Arne ihn zurück.

»Ich fahre«, sagte der junge Bergquist so bestimmt, dass Lars gar nicht erst auf die Idee kam, ihm zu widersprechen. Außerdem wusste er selbst, dass er in seiner momentanen Gefühlslage alles andere als ein guter und vor allem sicherer Fahrer war. Wie sollte er auch? Seine Wenke war verschwunden! Entführt! Karl Aresson hatte sie ihm entrissen! Dieser verschrobene Einsiedler, bei dem Wenke nach ihrem Schiffbruch gestrandet war und vier endlos lange Tage aushalten musste. Er hatte sie wieder in seine Gewalt gebracht! Und irgendwo da draußen fuhr er jetzt mit ihr, auf der Flucht vor seinen Verfolgern…

»Du kennst den Weg zu dieser Landzunge?«, fragte Erik Hellström. Er wollte es sich nicht nehmen lassen, bei der Suche nach seiner Schwester mitzumachen, und hatte auf der Rückbank Platz genommen.

Lars nickte. »Ja, wir brauchen nur Richtung Norden zu fahren, immer der Küstenlinie entlang. In spätestens zwei Stunden müssten wir sie erreicht haben.«

Und dort, da war sich Lars ganz sicher, würde er Wenke aus Karls Händen befreien. Wie hatten sie sich nur so in ihm täuschen können? Obwohl – Lars hatte dieses ungute Gefühl, das bei dem Gedanken an Karl in ihm aufkam, nie verlassen. Deshalb hatte er sogar seinen Freund Magnus Freiberg gebeten, sich diesen Kauz noch einmal näher anzusehen. Doch Magnus hatte schnell Entwarnung gegeben. Als einen harmlosen Spinner hatte er Karl beschrieben, der zwar total vernarrt in Wenke sei, von dem aber keine Gefahr ausginge.

Lars schnaubte auf und schlug mit der Faust frustriert gegen die Beifahrertür. Die beunruhigten Blicke seiner Mitstreiter interessierten ihn nicht.

»Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich hätte sie nicht eine Sekunde aus den Augen lassen dürfen! Das ist alles meine Schuld!«

»Hör auf damit!«, blaffte ihn Erik an. »Du weißt, dass das Unsinn ist! Niemand konnte ahnen, dass das passieren würde. Sei lieber froh, dass Tante Greta das Nummernschild am Wagen ausmachen konnte und wir dadurch erfahren haben, dass es Karl war. Ansonsten wären wir und die Polizei noch völlig ahnungslos.«

Sophienlust (ab 351) – 408 –

Viola kennt die Wahrheit

… aber ihr Vater will davon nichts hören

Elisabeth Swoboda

»Tante Ma! Tante Ma! Schon wieder ist ein Vogel mit voller Wucht gegen die große Scheibe vom Wintergarten geflogen. Er ist tot, der arme Vogel!«, rief Henrik von Schoenecker Else Rennert, der Heimleiterin von Sophienlust, zu.

»Du brauchst nicht so zu brüllen, ich bin nicht schwerhörig«, sagte Frau Rennert. Sie saß in ihrem Büro hinter dem Schreibtisch und hatte gerade die Papiere eines dem Kinderheim anvertrauten Kindes durchgesehen. Die Heimleiterin war eine ältere, mütterlich wirkende Frau. Ihr Sohn Wolfgang und ihre Schwiegertochter Carola hatten sie mit der Geburt eines Zwillingspärchens bereits zur Großmutter gemacht.

»Tante Ma, tut dir der Vogel nicht leid? Es ist schon der dritte, seit das Hausmädchen neulich die Scheiben geputzt hat. Die Vögel sehen jetzt das Glas nicht mehr und glauben, dass der Wintergarten im Freien liegt.«

»Tja, da ist guter Rat teuer. Ich habe keine Ahnung, wie man dieses Vogelsterben beenden könnte.«

»Lena hätte eben die Scheiben nicht putzen dürfen«, erklärte der Bub temperamentvoll.

»Lena hat nur getan, wozu ihr deine Mutter den Auftrag gab«, sagte Else Rennert.

»Ich werde mit Mutti ein ernstes Wort reden müssen. Diese ständige Putzerei ist doch unnötig, ja sogar schädlich, wie die armen Vögel beweisen. Sauberkeit ist zwar schön und gut, aber man muss nicht übertreiben.«

Die Heimleiterin schmunzelte. Sie konnte sich noch gut an die Kämpfe erinnern, die es gegeben hatte, als Henrik noch jünger gewesen war, und die Säuberung seines Halses, sowie häufiges Händewaschen für überflüssig erachtet hatte. Else Rennert wusste deshalb so gut über Henriks Stärken und Schwächen Bescheid, weil er ihr beinahe so vertraut war wie ihr eigener Sohn. Eigentlich lebte der Junge auf dem benachbarten Gut Schoeneich, das sich schon seit Langem im Besitz der Familie von Schoenecker befand und zurzeit von Henriks Vater Alexander bewirtschaftet wurde.

Henrik hielt sich viel in dem Kinderheim auf. Man konnte fast sagen, dass er hier ebenso zu Hause war wie auf Gut Schoeneich. Sophienlust gehört nämlich seinem Halbbruder Dominik von Wellentin-Schoenecker, kurz Nick genannt. Denise, die Mutter der beiden Jungen, verwaltete Sophienlust für ihren noch minderjährigen Sohn aus erster Ehe. Henrik hing sehr an seinem älteren Halbbruder und trachtete in vielen Belangen, ihm nachzueifern.

»Ich weiß, was man machen könnte«, teilte der Junge Frau Rennert mit. »Ich werde die Scheiben mit Ölkreide beschmieren. Da gibt es welche, die haften auch auf Glas. Sicherlich werden die anderen Kinder mir dabei helfen.«

»Das glaube ich gerne«, meinte die Heimleiterin. »Aber ich verbiete euch diese gute Tat. Du wirst sehen, die Scheiben werden auch ohne euer Zutun wieder schmutzig. Nach dem nächsten Regen fliegt bestimmt kein Vogel mehr gegen das Glas.«

»Wer weiß, wann es wieder regnet.«

»Für morgen ist eine Wetterverschlechterung angesagt. Gewitter mit Sturmböen. Der Sturm wird genügend Staub aufwirbeln, sodass man von Lenas Tätigkeit bald nichts mehr merken wird.«

»Und dann ordnet Mutti an, dass die Scheiben wieder geputzt werden. Ihr Frauen habt doch alle den Putzfimmel«, wandte Henrik ein.

»Und ihr Jungen würdet euch am liebsten wie kleine Ferkelchen im Dreck wälzen«, gab die Heimleiterin zurück.

Henrik grinste. »So schlimm ist es auch wieder nicht. Obwohl …, als Mutti, Vati und ich im letzten Sommer am Meer waren, na ja, es war schon ein Heidenspaß, wie ich erst ins Wasser gelaufen bin und mich dann durch den Sand gerollt habe. Trotzdem bin ich kein kleines Ferkel.«

»Nein, keineswegs!«, rief Else Rennert lachend aus. Wieder ernst, fügte sie hinzu: »Am besten, ihr legt den Vogel in eine leere Schachtel und begrabt ihn im Park. Was ist es überhaupt für einer?«

»Eine Kohlmeise. Wo sollen wir eine leere Schachtel hernehmen?«

»Ich habe oben in meinem Zimmer einen kleinen Karton, da waren Bonbons drin. Komm, wir holen ihn.«

Gemeinsam durchquerten sie die große Halle und stiegen über eine breite geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock. Hier gab es neben den Schlafräumen der Kinder zwei gemütlich eingerichtete Zimmer, die Frau Rennert bewohnte.

Die Heimleiterin händigte dem Jungen einen würfelförmigen, mit kleinen Blümchen bedruckten Karton aus. Henrik schüttelte ihn und stellte fest: »Da ist noch etwas drin.«

»Wirklich? Schau nach.«

Der Bub öffnete die Schachtel, schluckte und rief: »Zwei Stück Schokoladenkonfekt! Was machen wir damit?«

»Na, was wohl?«

»Aufessen?«

»Genau. Du kannst beide Stückchen haben.«

»Danke, Tante Ma«, murmelte Henrik kauend.

Wenig später standen Henrik und ungefähr ein Dutzend weiterer Kinder im Halbkreis um die tote Kohlmeise. Irgendwie scheuten alle davor zurück, sie anzufassen.

»Puh, mir graust«, äußerte das älteste der Kinder, ein hoch aufgeschossenes Mädchen.

»Tu nicht so zimperlich, Irmela«, rügte Henrik.

»Du traust dich ja selbst nicht, den Vogel in die Schachtel zu tun«, konterte das Mädchen.

»Doch, ich trau mich. Hat jemand von euch ein Papiertaschentuch? Tante Ma hat gesagt, dass ich ihn nicht mit der bloßen Hand angreifen soll.«

Ein blondes Mädchen mit vielen lustigen Sommersprossen auf seinem zierlichen Stupsnäschen reichte Henrik das gewünschte Taschentuch. »Hier hast du ein Papiertaschentuch. Noch ganz sauber.«

»Danke, Pünktchen.«

Unter Zuhilfenahme des Taschentuchs beförderte Henrik die Kohlmeise in den Karton. »Wo sollen wir den Vogel begraben?«, fragte er dann unschlüssig.

»Neben den beiden anderen. Unter der großen Eiche«, erwiderte Pünktchen.

»Dort sind so viele Wurzeln«, erinnerte Fabian Schöller, ein etwas schmächtiger Junge, der seit dem Tod seiner Eltern in Sophienlust lebte. Er war eher zurückhaltend und für seine elf Jahre erstaunlich vernünftig. Wenn er hin und wieder einen Einwand äußerte, so hatte dieser seinen Grund.

»Ach, die Wurzeln stören doch nicht«, meinte Henrik.

»Doch, sie stören schon«, ergriff Pünktchen für Fabian Partei. »Man kann dort schlecht ein Loch graben. Für eine Beerdigung ist der Platz unter der Eiche wirklich nicht so gut.«

Ein dunkelhaariges, etwa fünfjähriges Mädchen horchte auf. »Beerdigung?«, wiederholte es leise fragend.

»Ja, Schätzchen. Wir müssen den toten Vogel begraben. Der Blümchenkarton ist sein Sarg. Damit er nicht in der nackten Erde liegen muss«, erklärte Irmela.

Die großen dunklen Augen des Kindes füllten sich mit Tränen. »Ein …, ein Sarg«, stammelte es. »Er kommt in ein tiefes Loch, und dann wird Erde draufgeschüttet. Wie …, wie bei Mutti.« Das Kind schluchzte auf.

»Nicht doch, Viola.« Pünktchen wechselte einen unsicheren Blick mit Irmela. Ebenso wie die übrigen Bewohner von Sophienlust wussten sie, dass Violas Mutter vor Kurzem einem Autounfall zum Opfer gefallen war. Ihr Vater hatte die Kleine dann in Sophienlust untergebracht, weil er als Vermessungstechniker berufsbedingt häufig unterwegs sein musste und sich deshalb nicht genügend um Viola kümmern konnte.

»Weine nicht, Herzchen«, versuchte nun Irmela das kleine Mädchen zu trösten. »Deine Mutti ist im Himmel, dort geht es ihr sicher gut.«

»Ich weiß, dass …, dass Mutti im Himmel ist«, schluchzte Viola. »Trotzdem bin ich traurig. Weil Vati mir gesagt hat, dass ich Mutti nie, nie wiedersehen werde.«

»Ja, das ist auch sehr traurig«, pflichtete Irmela der Kleinen bekümmert bei.

»Aber dafür darfst du in Sophienlust sein«, piepste Heidi Holsten. Sie war ungefähr im gleichen Alter wie Viola. Mit ihren langen blonden Ponyfransen und den beiden Rattenschwänzchen und den vertrauensvoll in die Welt blickenden blauen Augen war Heidi ein niedliches kleines Mädchen. »Meine Eltern sind schon lange im Himmel«, fuhr Heidi fort. »Ich kann mich fast gar nicht mehr an sie erinnern. Aber ich weine deshalb nicht. Mir gefällt es in Sophienlust. Ich bin froh, dass ich hier zu Hause bin. Bist du nicht froh, Viola?«

Die Gefragte schüttelte heftig den Kopf.

»Lass Viola zufrieden«, flüsterte Pünktchen Heidi ins Ohr. »Das Unglück liegt noch nicht lange zurück, und ihre Mutti fehlt ihr bestimmt noch sehr.«

»Was geschieht jetzt mit dem Vogel?«, fragte ein kleiner Junge dazwischen. »Begraben wir ihn endlich? Wo begraben wir ihn?«

»Wir begraben den Vogel unter dem Strauch mit den gelben Rosen«, entschied Henrik.

Die anderen Kinder waren einverstanden. Eine kleine Grube war rasch ausgehoben, der Karton wurde hineingebettet, und wenig später war die kurze Zeremonie vorbei.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Henrik unternehmungslustig. »Veranstalten wir ein Wettrennen? Oder spielen wir Räuber und Gendarm?«

Pünktchen blickte auf ihre Armbanduhr. »Ich bin mit Nick bei den Pferdekoppeln verabredet«, verkündete sie. »Nick hat mich eingeladen, mit ihm auszureiten.«

»Und da musst du natürlich pünktlich zur Stelle sein. Ja, ja, die Liebe«, stichelte Fabian.

»Halt den Mund«, fauchte das sommersprossige Mädchen ihn an.

Alle, die schon längere Zeit in Sophienlust lebten, wussten, dass Angelina Dommin – so hieß Pünktchen mit ihrem vollen Namen – davon träumte, eines Tages Nicks Frau zu werden. Sie wurde deshalb hin und wieder gehänselt, nicht aus einer bösen Absicht heraus, sondern einfach so zum Spaß. Ihre Reaktion darauf war unterschiedlich. Manchmal tat sie, als ob sie nichts gehört hätte, manchmal lachte sie gutmütig zu dem Spott, aber es kam auch vor, dass sie sauer reagierte, so wie eben jetzt.

Fabian schien drauf und dran, noch einige ätzende Bemerkungen loszulassen, da lenkte Irmela rasch ein: »Wir gönnen dir doch den Ausritt mit Nick, Angelina. Sollen wir dich zu den Pferdekoppeln begleiten?«

»Wenn ihr nichts anderes zu tun habt, gern. Ich muss nur rasch meine alten Jeans anziehen und in die Reitstiefel schlüpfen.« Pünktchen lief davon.

Die Jungen beschlossen, nicht mit den Mädchen zu den Pferdekoppeln zu gehen, sondern lieber den Bernhardiner Barri und die Dogge Anglos zu holen und mit den Hunden einen Spaziergang zum Bach zu unternehmen. Die Mädchen warteten geduldig auf Pünktchen. Dabei fiel es Irmela auf, dass Viola Massinger immer noch ihr dunkles Köpfchen hängen ließ.

»Auf den Pferdekoppeln sind auch zwei Ponys«, versuchte Irmela die Kleine aufzumuntern. »Wenn du möchtest, darfst du sie streicheln. Vielleicht erlaubt Herr von Schoenecker sogar, dass du eines reitest. Bist du schon einmal geritten? Auf einem richtigen lebendigen Pferdchen?«

»Ja«, erwiderte Viola lustlos. »Auf dem Rummelplatz. Dort gab es viele Ponys. Ein Mann und zwei große Jungen führten sie im Kreis herum und passten auf, dass die Kinder nicht herunterfielen. Von Onkel Paul bekam ich Geld, und dann durfte ich ein paar Runden auf einem hellbraunen Pony reiten. Aber so besonders lustig war das nicht. Die Grottenbahn hat mir viel besser gefallen.« Violas Augen leuchteten auf. »Wir mussten in einen kleinen Wagen steigen, Tante Linda und ich, und dann fuhren wir in einen Berg hinein. Innen war es zuerst finster, dann wurde es hell, und wir sahen Schneewittchen und die böse Königin und die Zwerglein und Dornröschen und das tapfere Schneiderlein und noch viele andere Märchenfiguren. Tante Linda hat gesagt, dass es bloß Puppen wären, aber sie sahen aus wie echt. Es war schön auf dem Rummelplatz. Tante Linda kaufte mir Zuckerwatte, und Onkel Paul kaufte mir gebrannte Nüsse und Pommes frites und so ein komisches rundes Ding, das nach Knoblauch schmeckte. Tante Luise hat gesagt, ich sollte nicht so viel durcheinanderessen, weil ich mir damit den Magen verderbe. Aber ich habe mir den Magen nicht verdorben, mir war kein bisschen schlecht.«

Irmela hatte aufmerksam zugehört. Es war das erste Mal, dass Viola so aus sich herausging. Bisher hatte sie sich stets still und schüchtern verhalten, und nicht einmal Denise von Schoenecker oder die Kinderschwester Regine Nielsen hatten mehr als ein, zwei Sätze auf einmal aus ihr herausbekommen.

»Du hast also zwei Tanten und einen Onkel«, stellte Irmela fest.

»Ja. Tante Luise, Tante Linda und Onkel Paul«, bestätigte Viola.

»Hast du deine Tanten und deinen Onkel lieb?«, erkundigte sich Heidi.

»O ja. Ich habe sie sehr, sehr lieb. Tante Luise schimpft allerdings manchmal mit mir, wenn ich etwas angestellt habe. Als ich einmal unfolgsam war und mir weiße Farbe über mein neues Kleid schüttete, da hat sie viel geschimpft.«

»Wie bist du zu der Farbe gekommen? Wo hast du sie hergehabt?«, forschte Heidi interessiert.

»Onkel Paul hat die Küchenstühle neu gestrichen. Tante Luise wollte nicht, dass ich zu nahe an die Stühle gehe, weil ich doch mein neues Kleid anhatte. Aber ich wollte unbedingt in den Farbtopf gucken. Ich habe ihn hochgehoben, und dabei ist er mir aus den Händen gerutscht, und alles war voll. Mein Kleid und der Fußboden und die Türen von den Küchenschränken hatten lauter dicke weiße Farbspritzer.«

»Kein Wunder, dass deine Tante da mit dir geschimpft hat«, meinte Vicky.

»Tante Luise hat nicht nur mit mir geschimpft«, erzählte Viola weiter. »Sie hat auch mit Onkel Paul geschimpft.«

»Wieso denn das?«, wollte Angelika wissen.

»Sie hat zu Onkel Paul gesagt, dass er mehr Papier hätte über den Boden breiten sollen, und dass er die Streicherei überhaupt hätte aufschieben sollen, bis das Kind wieder bei seinen Eltern wohnt. Mit dem Kind hat Tante Luise mich gemeint.«

»Ja, hast du denn nicht ständig bei deinen Eltern gewohnt?«, fragte Irmela erstaunt.

»Aber nein! Vati und Mutti waren doch so oft auf Reisen. Wenn sie fort waren, habe ich immer bei Tante Luise gewohnt.«

»Da warst du sicher arm dran«, meinte Vicky mitleidig.

»Arm? Wieso?«

»Na, weil Tante Luise mit dir geschimpft hat.«

»Ach, das ist nicht so oft passiert. Nur wenn ich nicht brav war. – Ich würde gern wieder bei Tante Luise wohnen«, seufzte Viola.

»Lieber als bei uns?«, fragte Angelika.

Viola zögerte. Instinktiv spürte sie, dass eine Bejahung den anderen Mädchen nicht willkommen gewesen wäre. So kurz sie auch erst in Sophienlust lebte, hatte sie doch bereits herausgefunden, dass die anderen Kinder gern hier wohnten. Vor allem Heidi schien Sophienlust für den schönsten Ort auf der Welt zu halten.

»Sei ehrlich, Viola«, drängte Angelika. »Wärst du lieber bei deiner Tante Luise als bei uns?«

Pünktchens Wiedererscheinen ersparte Viola die Antwort. Die Mädchen schlugen den Weg zu den Pferdekoppeln ein.

Heidi hängte sich zutraulich bei Viola ein. »Erzähl mir noch mehr von deinen Tanten und deinem Onkel«, bat sie.

Viola kam Heidis Wunsch offenbar gern nach und Heidi lauschte mit aufrichtigem Interesse den Ausführungen ihrer neuen dunkelhaarigen Freundin. »Vielleicht besucht dich deine Tante Luise einmal in Sophienlust«, meinte sie, als Viola eine kurze Atempause einlegte.

»Davon hat mein Vati nichts gesagt. Er hat nur versprochen, dass er mich besuchen wird, sobald er wieder in Wildmoos ist.«

»Wo wohnen denn deine Tanten und dein Onkel?«, forschte Heidi weiter. Ihre Neugierde war noch lange nicht gestillt.

»In Maibach.«

»In Maibach!«, rief Irmela unwillkürlich aus. Auch sie hatte Viola zugehört. Obwohl ihr manches daran unklar erschien, so hatte sie doch den Eindruck gewonnen, dass sich die Kleine in der Obhut ihrer Verwandten wohlgefühlt hatte. »Maibach ist doch nicht weit«, sprudelte Irmela hervor. »Wir fahren jeden Tag dorthin zur Schule. Das heißt, wir älteren Kinder. Alle, die das Gymnasium besuchen. Die Fahrt dauert nicht lange. Bestimmt ist sie deinen Tanten und deinem Onkel nicht zu anstrengend. Oder sind sie schon alt und gebrechlich?«

»Alt? Ich weiß nicht. Tante Luise ist die Mutter von Tante Linda, und Onkel Paul ist Tante Luises Mann. Onkel Paul hat schon graue Haare, aber …, aber so richtig uralt ist er nicht.« Viola furchte die Stirn und überlegte. »Ich glaube, Tante Luise ist ungefähr so alt wie Tante Ma«, teilte sie Irmela das Ergebnis ihrer Überlegungen mit. »So alt wie die Huber-Mutter ist sie auf keinen Fall. Tante Luise hat noch ihre eigenen angewachsenen Zähne und braune Haare. Keine weißen.«

»Ich verstehe.« Irmela unterdrückte ein Schmunzeln. »Dann ist Tante Linda die Schwester von deiner …« Sie hielt inne. Sie wollte Viola nicht an ihre tote Mutter erinnern, aber es war zu spät.

Heidi sprach aus, was Irmela verschluckt hatte. »Tante Linda ist die Schwester von deiner Mutti, nicht wahr, Viola?«

»Nein, das kann nicht sein«, warf Angelika, die ebenfalls zugehört hatte, ein. »Dann wären doch Tante Luise und Onkel Paul Violas Großeltern, und Viola würde sie Oma und Opa nennen.«

»Ja, natürlich, du hast recht, Angelika«, räumte Irmela ein. »Vielleicht sind diese Leute gar keine Verwandten, sondern bloß Freunde von Violas Eltern.«

Viola äußerte sich nicht zu dieser Mutmaßung, denn mittlerweile waren die Pferdekoppeln in Sicht gekommen.

Dominik von Wellentin-Schoenecker, ein großer, gut aussehender Junge mit schwarzen Haaren und dunklen Augen, hatte Pünktchen bereits erwartet und war der sich nähernden Gruppe ein Stück entgegengegangen. Er begrüßte die Kinder, dann wandte er sich an Pünktchen: »Na, endlich. Unsere Pferde stehen hinter dem Schuppen. Karl, der neue Pferdeknecht, hat sie schon für uns gesattelt. Komm, sie werden sonst ungeduldig.« Er nahm Pünktchen am Arm und verschwand mit dem sommersprossigen Mädchen um die Ecke des nächstliegenden Wirtschaftsgebäudes.

»Laufen wir ihnen nach?«, regte Vicky an.

»Lieber nicht. Ich habe so das Gefühl, dass wir den beiden lästig sind«, argwöhnte Angelika.

»Ich hätte zu gern gesehen, wie Nick Pünktchen in den Sattel hilft«, sagte Vicky kichernd.

»Ach, lassen wir die beiden in Ruhe«, meinte Irmela. Sie sah sich nach Viola um und bemerkte, dass die Kleine aus sicherer Entfernung die Tiere in den Koppeln musterte.

»Du kannst ruhig näher herangehen, Viola«, sagte Irmela. »Bis zum Gatter.«