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In diesen warmherzigen Romanen der beliebten, erfolgreichen Sophienlust-Serie wird die von allen bewunderte Denise Schoenecker als Leiterin des Kinderheims noch weiter in den Mittelpunkt gerückt. Neben den alltäglichen Sorgen nimmt sie sich etwa des Schicksals eines blinden Pianisten an, dem geholfen werden muss. Sie hilft in unermüdlichem Einsatz Scheidungskindern, die sich nach Liebe sehnen und selbst fatale Fehler begangen haben. Dann wieder benötigen junge Mütter, die den Kontakt zu ihren Kindern verloren haben, dringend Unterstützung. Denise ist überall im Einsatz, wobei die Fälle langsam die Kräfte dieser großartigen Frau übersteigen. Denise hat inzwischen aus Sophienlust einen fast paradiesischen Ort der Idylle geformt, aber immer wieder wird diese Heimat schenkende Einrichtung auf eine Zerreißprobe gestellt. Doch auf Denise ist Verlass. Der Sophienlust Bestseller darf als ein Höhepunkt dieser Erfolgsserie angesehen werden. Denise von Schoenecker ist eine Heldinnenfigur, die in diesen schönen Romanen so richtig zum Leben erwacht. »So viele schöne Blumen«, bemerkte Agnes Hubmann voll Bewunderung. »Die sind am schönsten.« Sie deutete auf ein Rundbeet mit voll erblühten Narzissen, die in der warmen Frühlingssonne leuchteten. »Mir gefallen die rosa Tulpen am besten«, piepste Heidi Holsten. »Gestern hab ich einen großen Strauß davon gepflückt. Schwester Regine hat ihn in eine Vase getan, die sie dann auf den großen Tisch in der Halle gestellt hat.« »Darf ich auch welche von den Blumen pflücken?«, fragte Agnes. Mit ihren fünf Jahren war sie ungefähr im gleichen Alter wie Heidi, aber im Gegensatz zu dem kleinen blonden Mädchen aus Sophienlust, das vor Gesundheit nur so strotzte, wirkte Agnes schmal und blass. Daran vermochten auch die dichten, leicht gelockten hellbraunen Haare und die dunklen Augen nichts zu ändern. »Nein, du darfst bei uns keine Blumen pflücken«, rief ein etwa siebenjähriger Junge unfreundlich aus, bevor Heidi noch eine Antwort geben konnte. »Du gehörst nicht zu uns, du bist bloß zu Besuch da.« »Sei nicht so neidisch«, wies Henrik von Schoenecker den Jungen zurecht. »Bevor Agnes nach Hause fährt, bekommt sie einen Strauß Märzbecher von uns. Ich werde die Blumen selber abschneiden.« »Das darfst du nicht«
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Auf dem kleinen Flugplatz herrschte emsiges Treiben. Viele Hobbypiloten waren gekommen, um das Wochenende und das schöne Wetter für ein paar Flugstunden zu nutzen oder um die Maschinen zu pflegen und durchzuchecken. Soeben wurde ein motorloser Segelflieger von einem Schleppflugzeug in die Höhe gezogen. Wenke Hellström beobachtete fasziniert, wie sich die Fahrwerke der beiden Flugzeuge von der Startpiste lösten und ihren Flug nach oben aufnahmen; der leichte Segler durch ein Schleppseil mit seinem größeren, motorisierten Bruder verbunden. Irgendwann würde er sich von ihm trennen und in ein hinreißendes Wechselspiel aus elegantem Gleitflug und dem Steigen im Aufwind eintauchen. Als begeisterte Seglerin wusste Wenke einen guten Wind zu schätzen und liebte das Spiel mit ihm – allerdings auf dem Wasser und nicht in der Luft. Schon als kleines Kind war das Segelboot ihr zweites Zuhause gewesen. Diese Leidenschaft hatte sie nie verloren, auch wenn man das nach den jüngsten Ereignissen vermuten dürfte. Es waren fast zwei Wochen vergangen, seit sie zusammen mit Lars bei einem schweren Unwetter in Seenot geraten war. Während es ihm gelang, am gekenterten Boot zu bleiben, wurde sie abgetrieben und galt vier endlos lange Tage als vermisst. Seit etwas mehr als einer Woche war Wenke nun zurück. Lars, ihr Lars hatte sie gerettet! Aus den Händen des merkwürdigen Karl Aresson, der Strandgut sammelte und sie nicht von seinem Hof hatte fortlassen wollen. Nein, verständlicherweise hatte Wenke bislang noch keinen großen Drang verspürt, wieder eine Segeltour zu unternehmen. Seit sie wieder in Lündbjorg war, fühlte sie sich wie in einem Kokon eingesponnen, aus dem sie nicht richtig herauskam. Obwohl sie sich bemühte, es niemanden merken zu lassen. Die Ereignisse auf der abgelegenen Landzunge auf dem Hof von Karl Aresson hatte sie tief in sich verschlossen. Etwas in ihr weigerte sich, darüber zu sprechen. Selbst mit Lars konnte sie darüber nicht reden. Ihr Wiedersehen mit ihm war unaussprechlich und innig gewesen.
»So viele schöne Blumen«, bemerkte Agnes Hubmann voll Bewunderung. »Die sind am schönsten.« Sie deutete auf ein Rundbeet mit voll erblühten Narzissen, die in der warmen Frühlingssonne leuchteten.
»Mir gefallen die rosa Tulpen am besten«, piepste Heidi Holsten. »Gestern hab ich einen großen Strauß davon gepflückt. Schwester Regine hat ihn in eine Vase getan, die sie dann auf den großen Tisch in der Halle gestellt hat.«
»Darf ich auch welche von den Blumen pflücken?«, fragte Agnes.
Mit ihren fünf Jahren war sie ungefähr im gleichen Alter wie Heidi, aber im Gegensatz zu dem kleinen blonden Mädchen aus Sophienlust, das vor Gesundheit nur so strotzte, wirkte Agnes schmal und blass. Daran vermochten auch die dichten, leicht gelockten hellbraunen Haare und die dunklen Augen nichts zu ändern.
»Nein, du darfst bei uns keine Blumen pflücken«, rief ein etwa siebenjähriger Junge unfreundlich aus, bevor Heidi noch eine Antwort geben konnte. »Du gehörst nicht zu uns, du bist bloß zu Besuch da.«
»Sei nicht so neidisch«, wies Henrik von Schoenecker den Jungen zurecht. »Bevor Agnes nach Hause fährt, bekommt sie einen Strauß Märzbecher von uns. Ich werde die Blumen selber abschneiden.«
»Das darfst du nicht«, behauptete der Zurechtgewiesene. »Die Blumen gehören nicht dir. Du bist ein Angeber. Immer spielst du dich auf und tust so, als ob du der Anführer wärst.«
Henrik hätte Lust gehabt, den anderen Jungen ordentlich zu schütteln. Stattdessen fuhr er sich mit der Hand über seinen wirren braunen Haarschopf, während seine grauen Augen Funken sprühten.
»Schau nur wütend drein«, spottete Henriks Widersacher. »Mir machst du damit keine Angst. Du bist auch bloß ein kleiner Junge und nichts Besseres als – als wir anderen.« Der Sprecher lebte erst seit wenigen Tagen in dem Kinderheim und litt unter Anpassungsschwierigkeiten. Denise von Schoenecker hatte den übrigen Kindern aufgetragen, Rücksicht auf den Neuling zu nehmen und jeglichem Streit auszuweichen. Henrik hielt sich an diese Anordnung seiner Mutter, obwohl es ihm schwerfiel. Wortlos kehrte er dem Jüngeren den Rücken zu.
Heidi hingegen brachte es nicht über sich, dem Neuling diese Frechheit durchgehen zu lassen. In ihren Augen war Henrik so etwas wie ein Held. Wenn er sich nicht selbst verteidigte, musste eben sie einspringen. »Du bist auf dem Holzweg, du – du dummer, frecher – äh – Frechdachs«, schimpfte sie. »Henrik ist kein Angeber. Wenn er sagt, dass Agnes welche von den gelben Blumen haben kann, dann geht das in Ordnung.«
»Aber die Blumen gehören ihm nicht«, beharrte der Unbelehrbare.
»Hm, sie gehören Henrik nicht direkt«, räumte Heidi ein. »Trotzdem darf er welche abschneiden, wenn er Lust dazu hat, weil nämlich alles hier Nick gehört.«
Heidi, eine Vollwaise, lebte schon seit geraumer Zeit in Sophienlust. Deshalb wusste sie, so klein sie auch noch war, über die Besitzverhältnisse Bescheid. »Nick hat alles von seiner Urgroßmutter geerbt«, führte sie in einem belehrenden Tonfall aus.
»Nick hat einen langen Namen. Er heißt Dominik von Wellentin-Schoenecker. Tante Isi ist seine Mutti und auch die Mutti von Henrik. Sie verwaltet Sophienlust, bis Nick volljährig ist …«
»Pah, das interessiert mich nicht, du kleine Wichtigtuerin«, fiel der Junge Heidi ins Wort, streckte ihr die Zunge raus und lief davon.
»Na warte, das erzähl ich Tante Isi«, rief Heidi ihm drohend nach.
»Nein, lass das lieber bleiben«, mischte sich ein dreizehnjähriges Mädchen ein, auf dessen Stupsnase lustige Sommersprossen prangten. Ihnen verdankte sie ihren Spitznamen »Pünktchen«. Mit ihrem eigentlichen Namen, nämlich Angelina Dommin, wurde sie nur selten gerufen. Ihrer Kameradschaftlichkeit wegen war Pünktchen unter den Kindern sehr beliebt. Die Kleineren billigten ihr sogar eine gewisse Autorität zu.
Heidi allerdings neigte im Augenblick nicht dazu. »Warum soll ich Tante Isi nichts erzählen?«, begehrte sie auf. »Zunge zeigen ist hässlich und ungezogen. So etwas tut man nicht.«
»Petzen tut man auch nicht«, erklärte Pünktchen. »Tante Isi hat uns gebeten, auf ihn Rücksicht zu nehmen. Er ist unsicher und fühlt sich noch nicht richtig wohl bei uns. Mit der Zeit wird sich sein rüdes Benehmen gewiss bessern.«
»Hoffentlich«, knurrte Henrik. »Falls nicht, dann …«
»Streiten wir uns doch nicht herum«, rief Fabian Schöller dazwischen. Er war älter als Henrik und besuchte bereits das Gymnasium in Maibach. »Zeigen wir lieber Agnes den Springbrunnen und den Pavillon.«
»Der Pavillon ist noch abgesperrt«, erinnerte Pünktchen.
»Ich hole den Schlüssel. Geht einstweilen voraus«, ordnete Henrik an und eilte mit langen Sätzen in Richtung Herrenhaus.
Die Zwillinge Alexandra und Andreas Rennert hatten bisher zusammen mit einigen anderen Kindern im Sandkasten Kuchen »gebacken«. Als Alexandra das Wort Pavillon vernahm, horchte sie auf, ergriff den Arm ihres Bruders, zerrte den kleinen Kerl hoch und zog ihn hinüber zu der kleinen Gruppe, die aus Pünktchen, Fabian, Agnes und Heidi bestand. »Auf uns warten. Bitte«, zwitscherte sie mit ihrem hellen Kinderstimmchen. »Auch Pavijon ansau…, anschauen«, verbesserte sie sich selbst.
»Ja, natürlich warten wir auf euch«, entgegnete Pünktchen lächelnd. Im Vorjahr waren die Zwillinge noch zu klein gewesen, um an den Spielen der Kinder von Sophienlust richtig teilnehmen zu können, doch seit einigen Monaten zeigten sie an allem, womit sich die Großen beschäftigten, reges Interesse. Den Pavillon hatten sie schon lange nicht mehr von innen gesehen, denn er war den Winter über verschlossen. In ihrer Fantasie hatte Alexandra ihn mit allerlei Bewohnern ausgestattet. Ihrem Bruder gegenüber behauptete sie, in dem kleinen Rundbau wohne eine schöne Prinzessin, die von einem bösen Krokodil bewacht würde.
Die größeren Kinder passten sich tempomäßig den Zwillingen an. Deshalb kamen sie nur langsam vorwärts. Während Alexandra ununterbrochen von ihrer Prinzessin und dem Krokodil plapperte, beschäftigten Agnes andere Überlegungen. Sie musste erst verarbeiten, was Heidi vorhin erzählt hatte, wobei es Agnes vor allem um den versprochenen Strauß der goldgelben Blumen ging.
»Wer ist das – Nick?«, erkundigte sich der kleine Gast schließlich bei Pünktchen.
Agnes hatte ihre Frage genau an die richtige Adresse gerichtet. Der jugendliche Besitzer von Sophienlust war zwar bei allen Kindern ausgesprochen beliebt, Angelina Dommin bedeutete er jedoch mehr. Sie schwärmte für ihn und träumte manchmal davon, eines Tages seine Frau zu werden. Dies behielt sie wohlweislich für sich. Allerdings wussten die Menschen, die schon länger in Sophienlust lebten, von den Träumen und Hoffnungen des Mädchens.
»Nick ist der Sohn von Tante Isi und Henriks Halbbruder«, erwiderte das sommersprossige Mädchen auf Agnes’ Frage. »Er ist riesig nett und hilft immer, wenn irgendjemand in Schwierigkeiten steckt. Außerdem sieht er gut aus, ist groß, schlank, braun gebrannt und kann ganz fantastisch reiten und Tennis spielen. Er ist überhaupt sehr sportlich, und in der Schule ist er auch gut. Nick ist – er ist einfach …« Pünktchen stockte, sie suchte nach einem krönenden Ausdruck für ihre Lobeshymne.
»Nick ist der Größte«, ergänzte Fabian trocken und fügte ein wenig ironisch hinzu: »Direkt ein Jammer, dass er heute nicht da ist und Agnes infolgedessen versäumt, ihn kennenzulernen..«
»Ja, zu dumm, dass Tante Isi und Nick ausgerechnet heute nach Stuttgart gefahren sind«, bemerkte Pünktchen arglos, ohne Fabians leisen Spott wahrzunehmen. »Aber vielleicht besucht uns Agnes noch öfter. Nicht wahr?«
Das kleine zarte Mädchen nickte lebhaft. »O ja. Wenn mein Vati erst einmal ein schönes Haus mit einem Garten gefunden hat, komme ich oft zu euch. Vati hat gesagt, dass ihm die Gegend hier gut gefällt. Und Mutti gefällt sie auch.«
»Haben deine Eltern vor, nach Wildmoos überzusiedeln?«, erkundigte sich Fabian.
»Das weiß ich nicht so genau. Wir suchen ein Haus für den Sommer. Für mich, damit ich mich erhole, weil ich so lange krank war. Ich habe sogar im Krankenhaus gelegen. Meine Mandeln wurden herausgenommen«, erzählte Agnes mit wichtigtuerischer Miene.
»Ach, eine Mandeloperation ist doch nichts Besonderes«, meinte Fabian. »Davon erholt man sich schnell.«
»Ich nicht«, widersprach die Kleine. »Ich bin immer noch zu dünn. Der Onkel Doktor hat gesagt, dass ich viel frische Luft brauche. Deshalb suchen wir ein Haus auf dem Land. Meine Mutti wird bei mir wohnen. Mein Vati kann leider nur über das Wochenende kommen, weil er arbeiten muss.«
»Mein Vati muss nicht arbeiten«, krähte Andreas.
»O doch, auch dein Vati muss arbeiten«, erklärte Pünktchen den Kleinen auf. »Er ist unser Zeichen- und Musiklehrer. Es ist manchmal ein hartes Stück Arbeit, wenn er es mit musikalischen oder künstlerischen Antitalenten zu tun hat.«
Der Knirps sah fragend zu dem Mädchen auf. So recht verstand er den Sinn ihrer Bemerkung nicht. Bevor Pünktchen jedoch näher darauf eingehen konnte, waren sie bei dem Pavillon angelangt. Fabian rüttelte versuchsweise an der Tür, aber sie war abgesperrt, wie Henrik vermutet hatte.
»Wir müssen auf Henrik warten. Hoffentlich kann er den Schlüssel auftreiben«, sagte Pünktchen.
Alexandra hopste zu der Tür des Rundbaus, stellte sich auf die Zehenspitzen, spähte durch das Schlüsselloch und berichtete freudig: »Das böse Krokodil ist eingeschlafen. Es kann uns nichts tun. Es ist angebunden. Wir müssen aber aufpassen, dass wir ihm nicht zu nahe kommen. Sonst frisst es uns alle auf, mit Haut und Haaren.«
Agnes versteckte sich ängstlich hinter Fabian. »Henrik soll mit dem Schlüssel fortbleiben«, wisperte sie aufgeregt. »Ich will nicht, dass die Tür von diesem komischen kleinen Haus aufgesperrt wird. Ich habe Angst vor dem Krokodil. Ich will es nicht sehen.«
»Sei nicht so dumm«, rügte Heidi. »Da drinnen ist doch gar kein Krokodil. Alexandra bildet sich das nur ein. Wir haben im Sommer oft drinnen gespielt und da war nie ein Krokodil.«
»Aber – aber Alexandra sagt doch, dass sie es sieht, und dass es jetzt schläft. Was ist, wenn es wieder aufwacht und Hunger hat?«
»Es wacht nicht auf und es hat keinen Hunger, weil es nämlich nicht existiert. Alexandra hat eine lebhafte Fantasie. Sie denkt sich die Geschichten aus«, versuchte Fabian, Agnes zu beschwichtigen. »Da drinnen ist bestimmt kein Krokodil«, wiederholte er Heidis Feststellung.
»Nein, wirklich nicht«, bestätigte nun auch Pünktchen.
Agnes atmete erleichtert auf. Erneut meldete sich Alexandra von ihrem Beobachterposten aus. »Die Prinzessin hat ein wunderschönes Kleid an. Aus purem Gold. Auf dem Kopf hat sie eine goldene Krone. Sie hat schwarze Haare, so wie Tante Isi. Um den Hals hat sie eine Kette aus roten Perlen. Ah – wie die funkeln. Die Perlen hat die Prinzessin von den sieben Zwerglein geschenkt gekriegt. Einen Gürtel hat die Prinzessin auch. Der ist grün.«
Agnes und Heidi hörten dem kleinen Mädchen aufmerksam zu, hin und her gerissen zwischen Interesse und Ungläubigkeit. Pünktchen und Fabian nahmen Alexandras Fabulierkunst schmunzelnd zur Kenntnis. Andreas dagegen war an der erfundenen Prinzessin überhaupt nicht interessiert. Ihm ging es vielmehr um das imaginäre Untier. »Was macht das Ko…, das Krokodil?«, fragte er. »Ist es schon aufgewacht?«
»Ja. Es hat gerade die Augen aufgemacht«, erwiderte seine Schwester, ohne zu zögern. »Es schaut ganz böse drein. Jetzt – jetzt sperrt es den Rachen auf. Da kommt Feuer heraus, rotes Feuer.«
Henrik kam plötzlich mit dem Schlüssel angelaufen, er hatte die letzten Sätze von Alexandra gehört. »Ich glaube, du spinnst«, konstatierte Henrik, schob sie beiseite und steckte den Schlüssel ins Schloss.
»Nicht aufsperren!«, schrie Agnes. »Das Krokodil kommt sonst raus.«
Henrik achtete nicht auf den Warnschrei. Die Tür klemmte etwas. Mit einem Ruck riss er sie auf, dann rümpfte er die Nase. »Tante Ma hatte recht«, stellte er fest. »Als sie mir den Schlüssel gab, sagte sie, die Luft im Pavillon würde stickig sein, weil den ganzen Winter über nicht gelüftet worden ist. Puh – und staubig ist es hier drinnen.« Er verschwand im Inneren des kleinen Gebäudes.
Agnes wartete mit angehaltenem Atem, aber nichts Schreckliches passierte. Nach wenigen Sekunden erschien Henrik wieder an der Tür und rief der Gruppe draußen ärgerlich zu: »So kommt doch und helft mir, die Fensterläden aufzustoßen. Warum steht ihr hier herum und starrt mich an?«
»Wir kommen schon«, erwiderte Pünktchen und begab sich furchtlos in das Innere des Pavillons.
Fabian wollte ihr folgen, doch Agnes klammerte sich mit beiden Händen an seinem rechten Arm fest. »Das – das Krokodil wird dich fressen«, stammelte sie.
»Unsinn«, murrte der Junge.
Alexandra und Andreas waren hinter Pünktchen in den Pavillon getreten. Mit vereinten Kräften gelang es Henrik und Angelina, einen der angerosteten Riegel wegzuschieben. Heller Sonnenschein strömte durch das geöffnete Fenster. Aufgewirbelte Staubpartikelchen reizten Pünktchen zum Niesen.
»Bevor wir uns hier wieder niederlassen können, muss alles gründlich gesäubert werden«, meinte Pünktchen. »Soll ich gleich einen Besen holen?«
»Nein«, wehrte Henrik ab. »Wir wollten den Pavillon Agnes doch nur zeigen. Gehen wir lieber weiter zum Springbrunnen und zu den Pferdekoppeln, wo die Ponys weiden.«
Alle waren mit diesem Vorschlag einverstanden, denn der viele Staub, der sich in der kalten Jahreszeit angesammelt hatte, machte das sonst so romantische Bauwerk wenig einladend.
*
Während Agnes, Andreas und Alexandra unter Pünktchens Führung auf den Springbrunnen zustapften, saßen die Eltern der Kleinen in Wolfgang Rennerts gemütlichem Wohnzimmer und plauderten. Auch Else Rennert, Wolfgangs Mutter und die Heimleiterin von Sophienlust, hatte sich wieder zu ihnen gesellt, nachdem sie Henrik den Schlüssel für den Pavillon ausgehändigt hatte.
Agnes’ Vater, Gilbert Hubmann, kannte Wolfgang und Carola Rennert von der gemeinsamen Studienzeit auf der Kunstakademie her. Danach waren sie in loser Verbindung geblieben. Durch Gilberts Heirat hatten sich die Studienkameraden ziemlich entfremdet. Um seine Frau und seine kleine Tochter ernähren zu können, hatte Gilbert seine künstlerischen Ambitionen beiseitegeschoben und bei einer großen Werbeagentur einen Posten als Grafiker angenommen.
Wolfgang und Carola war er damals wie ein Abtrünniger erschienen. Erst nachdem sie ebenfalls im Hafen der Ehe gelandet und Eltern eines Zwillingspärchens geworden waren, hatten sie sich in seine Lage hineinversetzen können.
Carola bot den Gästen Kaffee und Kuchen an.
Gilbert, der in ein Gespräch mit dem Lehrer vertieft war, sah kurz auf und sagte: »Oh, bitte. Gegen eine Tasse hätte ich nichts einzuwenden.«
Carola war in die Küche geeilt. Wolfgang und Gilbert hatten ihr unterbrochenes Gespräch wieder aufgenommen. Elsa wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Hätte sie Carola folgen und ihr ihre Hilfe anbieten sollen? Oder sollte sie lieber hinaus in den Park gehen und nach Agnes sehen? Es war schon sonderbar, seit Jahren hatte sie sich nicht mehr so unsicher gefühlt. Wahrscheinlich kam das daher, weil sie nicht mitreden konnte. Wenn Gilbert ihr von seiner beruflichen Tätigkeit erzählte, war sie durchaus imstande, ihm zu folgen, aber sobald es um Kunst ging, war sie hilflos. Er hatte recht, sie verstand nichts von modernen Gemälden. Wenn ihr wirklich einmal eines gefiel, dann bezeichnete ihr Ehemann es unweigerlich als verwerflichen Kitsch.
»Wollen Sie sich ein wenig in dem ehemaligen Herrenhaus umsehen«, unterbrach Else Rennerts Stimme die Überlegungen der jungen Frau.
»Ich – ich weiß nicht. Vielleicht sollte ich Carola in der Küche helfen«, sagte die jüngere Elsa zögernd.
»Aber nein. Carola braucht keine Hilfe. Sie schafft das schon alleine. Kommen Sie nur.«
Die Besucherin stand auf.
»Die große Halle kennen Sie ja bereits«, begann die Heimleiterin in freundlichem Plauderton. »Wolfgang und Carolas Wohnung ist in einem Nebentrakt, der vor einigen Jahren erbaut wurde. Das ursprüngliche Herrenhaus ist natürlich weit älter. Als Frau von Schoenecker es zu einem Kinderheim umfunktionierte, wurde es gründlich renoviert. Selbstverständlich waren auch weitgehende Umbauarbeiten notwendig, aber sie wurden so behutsam wie möglich vorgenommen, um den Charakter des Hauses nicht allzu sehr zu verändern. Als Erstes zeige ich Ihnen den Wintergarten. Oder möchten Sie lieber hinaus in den Park?«
»Ja. Wenn es Ihnen nicht zu viele Umstände macht. Ich würde gern nach Agnes sehen.«
»Es macht mir keinerlei Umstände«, versicherte die Heimleiterin und geleitete Elsa durch eine Seitentür hinaus ins Freie. »Um Ihre Tochter brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Die Kinder, die zurzeit bei uns leben, sind alle recht umgänglich. Meine eigenen Enkelkinder sind auch dabei. Sie sind jünger als Agnes, aber weder Carola noch ich sind besorgt, dass ihnen im Park etwas zustoßen könnte.«
Langsam schlenderten die beiden Frauen über Kieswege, neben denen sich ein saftig grüner Rasen ausbreitete, durchsetzt von weiß, lila und gelb blühenden Krokussen. Die jüngere der beiden Frauen hielt den Kopf gesenkt, sie schien nichts von der Schönheit der Natur, die sie umgab, wahrzunehmen.
»Haben Sie Sorgen? Stimmt irgendetwas nicht?«, erkundigte sich Frau Rennert besorgt. Sie fand keine Erklärung für die trübe Miene ihrer Namensschwester.