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Aufregung in Bamberg. Kurz vor der Sandkirchweih, dem berühmten Volksfest der Stadt, treibt eine Tote im Fluss. Beunruhigend ist, dass die junge Frau an einer Ricinvergiftung gestorben ist. Privatdetektivin Katinka Palfy, gerade mit der Suche nach einer verschwundenen Ehefrau beauftragt, vermutet einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen und ermittelt fieberhaft in alle Richtungen.
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Seitenzahl: 303
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Friederike Schmöe
Kirchweihmord
Katinka Palfys zweiter Fall
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © PIXELIO
ISBN 978-3-8392-3190-6
Il faut tout croire ou tout nier.
Wir müssen alles glauben oder alles verneinen.
Albert Camus, Die Pest
Es war nicht besonders schwer.
Na ja, sie ist ja eh ein Leichtgewicht, die schnappst du dir und wirfst sie dir über die Schulter. Alles genau nach Plan, perfekt gelaufen.
Katinka trabte langsam den Leinritt entlang. Sie war ziemlich weit gejoggt, zu weit und zu lang für ihre momentan miese Konstitution. Wahrscheinlich hatte die lang anhaltende Wut sie von der Herzog-Max-Straße über die Friedrichstraße, die Lange Straße und die Kapuzinerstraße bis zur Markusbrücke gejagt, wo sie einer spontanen Entscheidung folgend schließlich die Haarnadelkurve zum Regnitzufer genommen hatte. Inzwischen hatte sie sich auf einen ziemlich langsamen, absackenden Schritt verlegt. Morgens um halb sechs war die einzige Zeit, um draußen Sport zu treiben. Es war halbwegs kühl. In wenigen Stunden würde eine unbarmherzige Sonne herabbrennen. Man schrieb Mittwoch, den 20. August im heißesten Sommer der fränkischen Geschichtsschreibung, wie manche behaupteten. Katinka genoss diese Zeit. Sie mochte die Hitze, das klebrige Gefühl auf der Haut, den mit Getränken voll gestopften Kühlschrank. Die Mauern der alten Stadt rückten im Sommer näher heran und umhüllten ihre Bewohner mit mediterraner Geborgenheit. In diesem August erwies sich Bamberg als besonders lethargisch. Schüler und Studenten, die der Stadt sonst ihren unkonventionellen Stempel aufdrückten, waren in die Sommerpause entschwunden. Statt dessen schoben sich Ströme von ausgetrockneten Touristen matt durch die Altstadtgassen, die Einwohner selbst, sofern sie nicht an Ost- und Nordsee ausgeflogen waren, verbrachten ihre Tage im Hainbad, irgendwo sonst am Fluss oder schlossen sich in ihre Altbauten ein, aus denen sie dann vor dem Abend nicht hervorkrochen. Aber nun kündigte sich eine spezielle Zeit an: Die Sandkirchweih, DAS Volksfest der Stadt, einst eine traditionelle Kirchweih für die Bewohner, inzwischen ein Großereignis mindestens für Oberfranken, ganz zu schweigen von den Touristen, die ihre Städtetour extra auf das dritte Wochenende im August verlegten.
Nichts würde ab morgen sein wie immer, das wusste Katinka. Menschenmassen würden sich durch das gesamte Sandgebiet wälzen, an der Stelle, wo sie nun friedlich saß, würden Popcornstände, Bierbuden, Pizzastände, Weinstände für gute Laune sorgen. Kritiker konnten behaupten, es sei alles ein großes Besäufnis – Katinka liebte die Stimmung, die jährlich zur Sandkirchweih durch die ganze Stadt schwappte. Musikgruppen feuerten ihre Dezibel auf die mittelalterlichen Mauern ab. Straßenzüge wurden komplett gesperrt und ganze Scharen von Menschen pilgerten aus allen Himmelsrichtungen in die Stadt. Katinka grinste, als sie das Festzelt betrachtete, das schon seit einiger Zeit aufgebaut am Ufer stand – eigentlich war es als Terrasse über das Wasser gebaut. Die Franken konnten in und um dieses Zelt ihr letztes bisschen in der Hitze geschmolzenes Temperament zusammenkratzen, die roten Köpfe an Strömen von Bier kühlen und den Bär loslassen, wie Tom es gerne formulierte, schließlich war er Berliner. Ach ja, Tom. Katinka kickte ein Steinchen auf die Uferböschung. Alle Häuser von Klein Venedig gegenüber waren schon wunderschön geschmückt mit Wimpeln und Lichterketten. Der Anblick würde ab morgen Abend zwischen romantisch und kitschig liegen, doch selbst Katinka konnte sich dann nicht satt sehen an den verzerrten Spiegelungen der bunten Glühlämpchen auf dem Wasser. Allerdings würde sie die fünf Tage Sandkirchweih – Sandkerwa, wie der Bamberger sagte – ohne ihren Freund Tom durchstehen müssen. Und danach auch noch den Rest des August und, so stand zu vermuten, den vollen September. Ihr aufstrebender Freund, dieser Karrierist von einem Liebsten, hatte einen Auftrag in Prag erhalten, er sollte für eine deutsche Firma ein Verwaltungsprogramm maßschneidern. Genau das Richtige für mich, Kat the Catey, hatte Tom freudestrahlend berichtet.
Nur zeitlich passte der Auftrag Katinkas Meinung nach nicht besonders. Sie war erst vor zwei Wochen zu Tom gezogen. Kompliziert genug war es gewesen, ihren Freund davon zu überzeugen, dass sie beide zusammenziehen sollten. Katinka hockte sich auf eine Bank und streckte ihre müden Beine aus. Selbstkritisch hätte sie zugeben müssen, dass sie zum Umzug auch nicht besonders entschlossen gewesen war. Feministische Gründe stellten da nur die eine Seite der Medaille. Schon einmal hatte sie die eigene Selbständigkeit ein Stück aufgegeben, geblieben war eine traurige Erinnerung an ihren vorherigen Freund.
Wenn man es genau nahm, hatte erst der spektakuläre Abschluß eines Falles im Frühjahr den Anstoß zum Umzug gegeben. Tom, der zwar einen gewissen Beschützerinstinkt besaß, aber auch viel vom Leben um sich nicht mitbekam, weil er permanent die Augen an den Bildschirm klebte und komplizierte Programmierprobleme löste, hatte sich tatsächlich mächtig erschrocken, als er Katinka im Klinikum abholen musste. Dabei war ihr nichts wirklich Schlimmes passiert. Bei der Jagd nach einer Mörderin wurde ihr eine Rippe angebrochen. Die psychopathische Täterin hatte zwar versucht, sie im Fluss zu ertränken – gerade mal ein paar hundert Meter weiter flussabwärts von der Stelle, wo Katinka jetzt saß und die Stadt erwachen spürte. Doch der Einsatz der Bamberger Polizei und nicht zuletzt ihre eigene Hartnäckigkeit hatten das Schlimmste verhindert.
Alles schien zu vibrieren. Katinka nahm die Brille ab und setzte sich dem verschwommenen Anblick der Regnitzwellen, des grasbewachsenen Ufers und der dichtgedrängten Fischerhäuschen gegenüber aus. Sie hasste diese Brille. Nur stand ihr momentan finanziell das Wasser bis Oberkante Unterlippe, an das Fernziel Kontaktlinsen war überhaupt nicht zu denken. Den ganzen August hatte ihre Detektei verwaist in der Hasengasse gelegen. Anstatt im Fluss schwimmen zu gehen, hatte Katinka in der Hitze der winzigen Gasse ausgeharrt, in der Hoffnung auf Klienten. Wenigstens im Juni und Juli hatte sie einige kleinere Aufträge erhalten, aber das Geld war nun so gut wie aufgebraucht. Sie knabberte ihr Erspartes an, um die Miete für die Detektei bezahlen zu können – für zwei wenig repräsentative Räume und ein Etagenklo.
Allein wegen der Kohle war es gut, dass ich umgezogen bin, dachte Katinka nun mürrisch. Wenigstens zahle ich nur noch die Hälfte der Miete. Der Ärger über Toms Abreise nach Prag steckte ihr in den Knochen und flammte regelmäßig einmal pro Stunde auf. Sie brauchte gar keinen Anlaß dafür. Ihre Freundin Britta meinte, sie sei nur enttäuscht, dass sie gerade mal nach zwei Wochen Zusammenleben verlassen würde, wenn auch nur auf Zeit. Tom und sie hatten allerdings zu Beginn ihrer Beziehung ein Abkommen geschlossen, das Katinka oft genug eingeklagt hatte: Der Job ging vor. Katinka wie Tom nahmen sich das Recht, alle Entscheidungen in Bezug auf ihren Beruf allein zu treffen, unabhängig von den Ansichten und Launen des Anderen. ›Klasse‹, seufzte Katinka im Stillen. Sie drängte schnell den nächsten Gedanken weg – wie genervt sie reagierte, wenn Tom ihr die angebliche Gefährlichkeit des Privatdetektivinnendaseins vor Augen hielt. Momentan fehlte ihr einfach das Feeling für Selbstkritik. Dabei war so ein Detektivjob wenig spektakulär. Im Juli musste sie einen Taschendieb aufspüren – in Zusammenarbeit mit einem Kaufhausdetektiv, der der Gerissenheit des Diebs nicht gewachsen war. Und im Monat davor hatte sie eine alte Dame wiedergefunden. Ihre Familie hatte sie schon als vermisst melden wollen, aber Katinka hatte sie nach einem Tag aufgetrieben. Die Dame war lediglich nach einem Spaziergang nicht in ihr Altenheim zurückgekehrt, sondern in ein anderes. Dort war sie gar nicht weiter aufgefallen, bis sie sich abends in das Bett einer Fremden legen wollte.
Die Stadt vibrierte. Katinka setzte die Brille wieder auf. Sie hatte sich wirklich sehr auf die Sandkerwa gefreut. Sie war durstig und verschwitzt. Sie würde heimgehen, nach Hause, was seit zwei Wochen Herzog-Max-Straße Ecke Amalienstraße bedeutete. Immerhin war Toms Wohnung, pardon, ihrer beider Wohnung um einiges kühler als die Wohnung in der Gabelsberger Straße, wo Katinka zuvor gelebt hatte.
Und ich bin Beinert los, murmelte sie in sich hinein, während sie aufstand und nach ein paar halbherzigen Freiübungen weiter in Richtung Festzelt lief, wo sie rechts in die Kasernstraße abbiegen wollte. Mit dem spießigen und überaus neugierigen ehemaligen Nachbarn war sie mehr als einmal aneinander geraten.
Etwas polterte eigenartig im Wasser, das fiel ihr auf, als sie sich schon fast vom Ufer abgewendet hatte. Oder war es ein Schleifen, das an ihren Ohren kratzte und sie bewog, sich umzudrehen? Sie rückte an ihrer Brille. Die Gläser waren innen vom Schweiß verschmiert, sie nahm sie rasch ab und wischte sie an ihrem T-Shirt sauber. Die Verbesserung war nicht berauschend. Wieder das Kratzen. Die Geräusche der Stadt tauchten weg, und Katin-ka ging zügig auf das noch verwaiste Bierzelt und die Uferböschung zu. Mit drei beherzten Schritten stand sie im Gras und starrte in das braune, zügig dahinfließende Regnitzwasser.
Sie sah ein Bein.
Katinka war sich ganz sicher, dass es ein Bein war, das weiße, fast transparente schmale Etwas, das immer wieder gegen die Holzverschalung der Zeltkonstruktion schabte. Dann sah sie einen Fuß, bloß, ohne Schuh oder Strumpf, mit angeknabberten Zehen. Katinka schluckte. Sie griff in die hintere Tasche ihrer Shorts. Ihr Handy war immer dabei. Sie hatte die Nummer schon gewählt, während das Bein sich löste und ein Stück weiter trieb. Es rumste, als ein ganzer Mensch vom Wasser gegen die Holzpfosten gedrückt wurde.
»Uttenreuther?« Seine Stimme klang müde und trocken.
»Hardo«, krächzte Katinka und dankte dem Himmel für ihre nunmehr guten Kontakte zur Bamberger Kripo. »Ich stehe am Leinritt, gleich beim Festzelt. Da treibt eine Leiche im Wasser. Ein Mädchen.« Sie stockte und betrachtete das in den Wellen wehende, lange dunkle Haar der Toten. »Also, eher eine junge Frau.«
Keine zehn Minuten später stand Uttenreuthers mächtige Gestalt, wie immer in Jeans und kariertem Hemd, neben Katinka und fragte: »Also, was genau haben Sie hier getrieben, Palfy?«
Katinka fühlte sich von der Trutzigkeit seines fränkischen Körperbaus irgendwie getröstet. Trotz des Bierbauches, den Hauptkommissar Harduin Uttenreuther, der sich selbst gern Har do nannte, vor sich herschob, wirkte er trainiert und bewegte sich unerwartet schnell.
»Ich habe meine morgendliche Joggingtour gemacht, da vorne auf der Bank ein bisschen pausiert und wollte jetzt eigentlich heim.«
»Da haben Sie sie gesehen.«
»Genau. Zuerst nur ein Bein. Einen Fuß. Dann trieb die Leiche«, Katinka schluckte, »ein Stück weiter und ich konnte erkennen, dass es eine Frau ist.«
»Eine, die mal schön war«, sagte Harduin Uttenreuther. Sein kahler Kopf glänzte im Morgenlicht.
Katinka fand seine Offenheit schockierend.
»Jetzt kommen Sie schon, Sie sind Privatdetektivin. Das wird nicht Ihre erste Leiche sein, oder, Palfy?«
Katinka schüttelte den Kopf, während sie die Männer beobachtete, die die junge Frau endgültig aus dem Wasser gefischt hatten und am Ufer ablegten. Tatsächlich war dieses Mädchen nicht ihre erste Leiche. Im Frühjahr hatte ihr erster Fall sie eines Morgens ebenfalls ziemlich unvorbereitet über einen Toten stolpern lassen, im Sekretariat eines Uniprofessors. Sie stöhnte, machte aber alle Angaben, die man von ihr haben wollte.
»Zunächst mal müssen wir klären, ob wir es hier mit einem Unfall zu tun haben«, sagte Uttenreuther, aber seine Stimme kam aus weiter Ferne. Katinka starrte die Absperrungen an, die Schaulustigen, die sich auch zu so früher Stunde schon herbeibewegt hatten, sie hörte, wie in den Häusern hinter ihr die Fenster auf- und zugingen. Ein Arzt schob sich durch den vorbereiteten Zugang an den Tenderbarriers vorbei. Katinka erkannte sein griechisches Profil wieder. Dr. Stanislaus Wenzinger. Sie beide waren sich damals ebenfalls über den Weg gelaufen.
»Wann wissen Sie mehr?«, fragte Katinka müde.
»Ob sie ermordet wurde? Das denken Sie doch, oder?«
Katinka blickte Uttenreuther böse an.
»Ich kann Ihnen eines sagen, Palfy. Sollte diese junge Schönheit ein Mordopfer sein, dann muss ich Sie enttäuschen: Das wird nicht Ihr Fall werden.«
Katinka wurde schlecht. Tatsächlich hatte sich irgendeine Schaltung in ihrem Kopf aktiviert. Einen kurzen Moment hatte sie gedacht, sie könnte einen neuen Fall kriegen. Verdammt, es war ihr Job. Ein beschissener Job. Warum war sie nicht doch Archäologin geblieben und hatte promoviert, wie ihr Exprofessor es ihr vor Jahren angeboten hatte. Sicher verursachte es bessere Gefühle, alte Mauerreste und Speerspitzen auszugraben als Tote. Zumindest als aktuelle Tote. Gegen ein Skelett aus dem 14. Jahrhundert hatte ja keiner was. Es produzierte keine Schuldgefühle, nicht so wie das hier. Katinka hasste plötzlich den Anblick der Polizeifolie, die klaren, unbeteiligten Stimmen der Polizisten, die auch nur ihren Job erledigten.
Jemand sagte: »Wenn die Sandkerwa scho losganga wär, würd ich behaupdn, die had zu viel gsoffn«.
Wieso sollte sie sich schuldig fühlen, weil jemand gestorben war? Auch die Bullen leben vom Tod, raunte die fiese innere Stimme Katinka zu, wie du, wie du, wie du. Katinka verabscheute diese Stimme, die sie umschwirrte wie eine lästige Wespe, die alles kontrollierte, kommentierte und Komplexe hinterließ.
»Ich glaube, wir beide gehen zusammen frühstücken«, schlug Uttenreuther vor.
»Ich glaube nicht«, sagte Katinka. »Ich stinke. Ich habe Sport gemacht.«
Uttenreuther reagierte nicht. Er redete kurz mit seinen Leuten und stapfte davon. Katinka wandte sich ebenfalls um und ging in die Kasernstraße hinein. Sie hatte ernsthaft vor, zu Fuß nach Hause zu gehen und den Hauptkommissar einfach stehen zu lassen. Als sie Richtung Schlenkerla abbog, hupte es hinter ihr.
»Bocken Sie nicht, steigen Sie ein.«
Uttenreuther thronte hinter dem Steuer eines Streifenwagens. Katinka musste plötzlich lachen. Es erleichterte sie ungemein. Fast fröhlich fühlte sie sich, als sie auf den Beifahrersitz sank und grinsend einigen Passanten zuwinkte, die sie argwöhnisch beäugten.
»Wo gibt’s denn um diese Zeit schon ein offenes Café?«, fragte Katinka.
»Sie sind nicht oft so früh unterwegs, oder?«
»Eigentlich nicht. Genauer gesagt, heute das erste Mal seit …«
»So lange, dass Sie sich schon nicht mehr erinnern können. Wie läuft das Geschäft?«
Sie standen an der Schranne im morgendlichen Verkehr und brauchten drei Anläufe, um über die grüne Ampel zu kommen.
»So làlà.«
»Also wenig berauschend.«
»Mhm.«
»Wie bitte?«
Katinka spürte Uttenreuthers graue Augen auf sich geheftet, während er im Schritttempo durch die Schillerstraße fuhr.
»Ich hatte einige kleinere Aufträge. Aber das ist nicht fair, Hardo, wenn Sie mir unterstellen, ich hätte mich über die Wasserleiche eben gefreut. Das stimmt einfach nicht.«
Uttenreuther verzog keine Miene. Er bremste an der Ampel am Schönleinsplatz. Katinka hätte von hier gerade mal fünf Minuten nach Hause gehabt. Sie könnte den Kommissar zu sich zum Frühstück einladen. Doch bevor sie sich entschied, den Mund aufzumachen, bog er bereits in die Promenadestraße ein und dann links in die Franz-Ludwig-Straße.
»Dürfen wir hier durch?«, fragte Katinka ironisch und wies mit dem Kinn auf das blaue Schild. »Verkehrsberuhigte Zone!«
Uttenreuther stellte den Wagen rechts ab. Der Beck. Ein Selbstbedienungscafé im Bäckerladen. Katinka war nie hier gewesen. Sie holten sich Milchkaffee und Bamberger Hörnla an der Theke. Uttenreuther wählte zudem zwei Schinkenbrötchen mit Ei. Sie setzten sich ganz nach hinten. Das Café war fast voll. Einige Gäste stierten ihnen nach.
»Die sind jetzt alle sauer, weil wir vor der Tür parken und garantiert keinen Strafzettel kriegen«, grinste Katinka.
»Hören Sie, Palfy«, sagte Uttenreuther. Typisch für ihn, einfach aus dem Nichts neue Themen anzuschneiden. »Wenn, ich betone, wenn ich die Möglichkeit hätte, Sie bei uns unterzubringen, ich würde es tun. Aber Sie wissen: Man spart an allen Enden, und die Polizei bleibt nicht davon verschont.«
Ich will keinen Job von Ihnen, wollte Katinka aufbrausen, aber dann schwieg sie und bröselte an ihrem Hörnla herum. Hier war also noch einer, der behauptete, eine selbständige Detektivin würde nie zu etwas kommen. Nach einigen Jahren würde sie erschöpft aufgeben und bei Norma an der Kasse sitzen. Katinka schüttelte sich bei dem Gedanken. Sie wusste, was ihr fehlte: Sie musste endlich in der Stadt richtig bekannt werden. Damals, als sie die Mörderin des Studenten aufgespürt hatte, ging die Geschichte – dank Brittas Initiative als Journalistin beim Fränkischen Tag, der hiesigen Tageszeitung – einige Wochen durch die Stadt. Aber natürlich geschahen neue Dinge und Katinka Palfys Detektei war schnell wieder vergessen.
»Es ist ziemlich ambivalent, sich zu wünschen, dass was Abscheuliches passiert, nur damit man zu tun hat«, sagte Katinka.
»Reden Sie keinen Mist. Abscheuliches passiert immer, da braucht man nicht drauf zu warten.«
Er hat recht, dachte Katinka. Erleichtert rührte sie in ihrem Kaffee. Uttenreuther verschlang sein Schinkenbrötchen mit zwei Bissen und griff zum nächsten.
»Machen Sie sich keine solchen morbiden Gedanken. Oder liegt’s daran, dass Sie aus Wien stammen?«
Katinka grinste. »Ich bin dort geboren. Aufgewachsen bin ich in Deutschland.«
Uttenreuther hatte das zweite Brötchen runtergeschluckt.
»Und? Sandkerwa?«
»Ich hatte vor, hinzugehen«, sagte Katinka zögernd.
Uttenreuther blickte sie wieder mal auf so eine direkte Weise an. Aber?, fragten seine Augen.
»Na ja, mein Freund ist vorgestern nach Prag gefahren. Er hat dort einen Riesenauftrag gekriegt. Programmiert was für eine deutsche Firma, genau nach Maß, also macht er es vor Ort. Im Gegensatz zu meiner Auftragslage sieht seine gülden aus.«
Sie ärgerte sich, kaum hatte sie zu Ende gesprochen. Zurzeit kam einfach alles negativ rüber.
»Ich gehe üblicherweise am Sandkerwafreitag in den Griesgarten, so gegen neun. Wenn Sie Zeit haben, kommen Sie vorbei. Gute Stimmung, gute Musik.«
Katinka nickte. »Mal sehen.«
»Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Uttenreuther schüttete den Milchkaffee in seinen Magen und erhob sich. »Bis Freitag!«
Will ich geben, will ich nehmen
Ich kenne mich mit dem Geben aus. Jeder verlangt von mir, dass ich gebe, insbesondere ich selbst. Ich lerne gerade, dass auch ein Nehmen dazugehört. Ich will mich befreien von all demüblichen Geben, der Hingabe. Was ich nun geben werde, ist etwas Spirituelles: Ich gebe Erfahrung. Ich gebe Wissen. Und, wem ich gebe, dem gebe ich Läuterung.
Was nehme ich dafür? Nichts im üblichen Sinne. Dieses Mal läuft das alles ohne Gegenleistung. Es gibt auch keine passende, keinen Wert, keine Währung, in der ich etwas Materielles nehmen könnte. Ich ernte stattdessen Erfahrung und gute Gefühle. Ich nehme mir das Recht, Verletzungen zurückzugeben. Ich nehme mir das Recht, sensibel zu sein. Ich säe und ich ernte. Wer Wind sät, wird Sturm ernten.
Zu Hause rief Katinka als allererstes ihre Freundin Britta an, um sie über die Leiche im Fluss zu informieren. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, nicht schneller daran gedacht zu haben. Dann duschte sie ausgiebig und suchte sich ein frisches T-Shirt und einen leichten Rock heraus. Aus lauter Protest gegen Tom, dachte sie knurrig, mache ich mich heute mal schick, wenn ich zur Arbeit gehe. Sie verzichtete darauf, ihr ohnehin ziemlich kurz geschnittenes Haar zu fönen, flitzte die Treppe hinunter und schnappte sich ihr Rad. Um halb zehn rollte sie in die Hasengasse ein. Katinka Palfy, Private Ermittlungen stand an der Tür. Der simple Computerausdruck war inzwischen einem richtigen Schild gewichen, blaue Schrift auf weißem Grund und sündhaft teuer. Es war schon heiß, und in dem engen 15 qm-Raum hinter den großen Scheiben klebte stickige Luft. Im Nebenraum hatte sie das Fenster über Nacht gekippt, so dass die Temperaturen ein wenig erträglicher schienen. Sie riss das Fenster ganz auf und ließ auch die Eingangstür offen stehen. Der leichte Durchzug vermittelte ein Gefühl von Frische, als sei es ein Leichtes, zu arbeiten. Zu tun hatte Katinka allerdings nichts, und die Untätigkeit nervte mehr als die Hitze oder das Strohwitwendasein. Sicher, sie nutzte die Zeit und fraß sich durch Weiterbildungsliteratur und Fachbücher. Ihr Regal, anfänglich noch ganz leer, beherbergte nun schon eine Reihe von Büchern und Zeitschriften. Sie hatte sogar angefangen, sich eine Datenbank anzulegen, in der sie sämtliche Bücher nach Themen und Nützlichkeit katalogisierte. Dennoch lauerte in ihrem Hinterkopf der Gedanke, dass dies alles nichts anderes als Beschäftigungstherapie war. Sie betrachtete melancholisch die verwaisten Besuchersessel vor ihrem Schreibtisch und den nackten Terminplaner an der Wand. Dann raffte sie sich auf und checkte Faxgerät und Anrufbeantworter im Nebenzimmer. Nichts. Gewohnheitsmäßig prüfte sie das Waffenschränkchen. Ihre Beretta 9000S war bestens gesichert.
Katinka setzte sich an ihren Schreibtisch, jonglierte mit ein paar Buntstiften und rief dann Toms Handy an. Er hatte seine Mailbox aktiviert und vermeldete, man möge eine Nachricht hinterlassen, er würde sogleich zurückrufen.
Wütend knallte Katinka das Telefon auf den Tisch und fegte dabei die Buntstifte auf den Boden. Schnell kroch sie unter den Tisch, um sie zusammenzuklauben, und fluchte über ihren Rock und die gewittergraue Staubschicht auf dem Linoleum. Als sie sich aufrichtete, stand ein Mann in der offenen Tür und blickte angespannt herein.
»Hallo!«, sagte Katinka halbwegs erschrocken, lächelte rasch, warf die Stifte auf den Schreibtisch und strich sich über den Rock. »Kann ich helfen?«
»Ich suche Frau Palfy.« Er stand immer noch auf der Gasse.
»Das bin ich selbst«, sagte Katinka herzlich und fügte hinzu: »Kommen Sie doch rein!«
Zögernd betrat der Mann den kleinen Raum. Er betrachtete das Dalí-Poster an der Wand, das Plakat zur Ausstellung der Harry-Potter-Illustratorin Sabine Willharm, den Ikea-Kleiderständer. Seine Hände zitterten leicht, und Katinka fragte sich, ob er unter Drogen stand – oder unter Entzug. Ein feiner Schweißfilm bedeckte sein Gesicht. Er trug ein weißes, kurzärmliges Hemd und Jeans, dazu Turnschuhe. Nach Joints sah er ganz und gar nicht aus. Endlich reagierte er auf Katinkas mehrmalige Aufforderung und sank in einen der beiden Besuchersessel. Katinka nahm hinter ihrem Schreibtisch Platz.
Ihr Herz galoppierte. Der Typ könnte ihr vierter Fall werden, seit immerhin beinahe neun Monaten, das machte einen Schnitt von nicht mal einem Auftrag in zwei Monaten. Kein Wunder, wenn ihr Vater lästerte, schließlich besaß er als anerkannter Glamourarchitekt ausreichende finanzielle Reserven, von denen er seiner Tochter gerne abgeben würde – Katinka wehrte sich jedoch vehement dagegen. Sie wischte die surrende Wespe mit den hinterlistigen Bemerkungen über ökonomische Unfähigkeit weg, und konzentrierte sich ganz auf den potentiellen Klienten. Er mochte Mitte dreißig sein, hatte lockiges, braunes Haar, wirkte schüchtern, extrem nervös, im Ganzen sehr sympathisch.
»Womit kann ich Ihnen helfen?«, fragte Katinka wohl zum dritten Mal, ehe er reagierte.
»Ich … mein Name ist Johannes Herzing. Meine Frau ist verschwunden.«
Katinka fühlte den Schreck so heftig in die Glieder fahren, dass sie zusammenzuckte. Die fahrige Bewegung mit ihrem Arm, die beinahe das Telefon heruntergerissen hätte, konnte sie nicht vermeiden. Zum Glück schien Johannes Herzing nichts gemerkt zu haben. Er starrte auf Katinkas Schreibtischplatte.
»Herr Herzing«, sagte Katinka langsam, ignorierte das feine Tremolo in ihrer Stimme, »würden Sie mir ein paar weitere Informationen geben?«
»Klar, Entschuldigung.«
Er griff nach seinem Handy, das in einem Lederetui an seiner Jeans baumelte, warf einen Blick auf das Display und steckte das Telefon wieder ein.
»Nur, weil die Kinder allein sind«, sagte er rasch und konzentrierte sich dann darauf, die wesentlichen Fakten, die er sich vermutlich zurechtgelegt hatte, abzuspulen.
»Meine Frau heißt Claudia. Wir wohnen in Scheßlitz, Am Kreuzschleifer, haben drei Kinder. Am Sonntagabend ging sie spazieren, nur so. Sie kam nicht wieder.«
Katinka lehnte sich zurück. Ihr Herz hämmerte. Mühsam gehorchten ihre Finger dem Befehl, nicht permanent an den Stiften herumzufummeln.
»Hat Ihre Frau etwas hinterlassen? Eine Nachricht, meine ich, irgendetwas, was auf ihr Verbleiben hinweisen würde?«
Wie zweideutig und geschwollen ich daherrede, dachte Katinka. Immer krochen in den kompliziertesten Momenten ganze Ameisenkolonnen von Gedanken herbei und lenkten sie ab. Wie ordentlich sein Hemd gebügelt ist. Wer hat das gemacht? Er selbst? Wie alt sind die Kinder? Die Frisur ist auch mehr oder weniger frisch geschnitten.
»Sie hat einen Zettel hinterlassen. Sie bräuchte ein wenig Freizeit. Also habe ich mir nichts dabei gedacht.«
»Sie haben sich nichts dabei gedacht?«
»Sehen Sie, mit drei kleinen Kindern hat man niemals Zeit für sich. Meine Frau leidet sehr darunter. Sie ist schon ab und zu mal ausgeschlitzt, fuhr für ein paar Tage in eine Großstadt zum Shoppen oder zu einer Freundin. Aber sie rief dann regelmäßig an und wir hatten das auch immer vorher verabredet.«
Katinka seufzte.
»Hat Ihre Frau … Selbstmordabsichten?«
Es fiel ihr schwer, direkt zu fragen, aber Herzing ging unerschrocken drauf ein.
»Nie im Leben. Sie ist aktiv, ein wirklich sozialer Typ, engagiert sich überall, bei ›Amnesty International‹, in einer Theatergruppe, im Chor … Also, die Theatergruppe ist seit einem halben Jahr nicht mehr existent, die Frauen haben es einfach nicht geschafft. Claudia gibt außerdem Nachhilfe in Englisch, sie ist Englischlehrerin, wissen Sie, und sie kennt so viele Leute …«
»Sie haben gar nichts von ihr gehört?«
»Sie hat keinmal angerufen. Sie hat kein Handy. Ich habe mich bei der Polizei erkundigt. Es ist schwierig, einen Erwachsenen als vermisst zu melden. Ich habe keine konkreten Anhaltspunkte. Also … ich möchte Ihnen den Auftrag erteilen, meine Frau zu suchen. Zu finden.«
Katinka erläuterte ihre Bedingungen und den Preis, den sie verlangte. Herzing willigte in alles ein. Er zückte seine Geldbörse und zählte einige Geldscheine auf den Tisch.
»Es ist wegen der Kinder.«
»Klar«, sagte Katinka. »Haben Sie ein Foto von Ihrer Frau mit?«
»Hier.« Er kramte ein Foto aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Claudia Herzing mit drei Jungs, alle blond, aufgereiht wie die Orgelpfeifen.
»Claudia, Oswin, Oldrick und Oliver.«
Katinka atmete hörbar aus. Immerhin hatte sie Claudia Herzing heute morgen nicht im Fluss gefunden. Sie war blond, pummelig, und deutlich älter als die Frau im Wasser.
»Ich brauche mehr Anhaltspunkte. Kollegen Ihrer Frau, Freundinnen, Freunde der Familie …«
»Claudia hat gerade Elternzeit.«
»Dennoch.«
Katinka suchte Block und Bleistift aus der obersten Schublade und notierte die Namen und Adressen, die Johannes Herzing auswendig aufsagen konnte. Sogar die Telefonnummern hatte er im Kopf.
»Gutes Gedächtnis«, sagte Katinka lächelnd.
»Ach, wie dumm von mir. Hier ist ihr Adressbuch.«
Claudia Herzing hatte es anscheinend erst vor kurzem angelegt. Im Gegensatz zu Katinkas Register war hier nichts durchgestrichen, keine Telefonnummer zwischen die Zeilen gequetscht. Sämtliche Einträge waren mit dem gleichen Stift vorgenommen.
»Ich muss los …«
»Wo arbeiten Sie eigentlich?«
»Ich bin Mathelehrer, am E.T.A.-Hoffmann-Gymnasium.«
»Ach …«
»Ich meine, jetzt in den großen Ferien ist das alles kein Thema. Ich kann mich um die Kinder kümmern, aber was, wenn der große Run wieder losgeht? Wenn Claudia nicht zurückkommt?«
Katinka gewann den Eindruck, er habe sich mit diesem Gedanken schon fast vertraut gemacht.
»Ich tue, was ich kann«, sagte sie und hoffte, professionell zu wirken und Herzing damit zu beruhigen. Er nickte, wollte das Foto wieder einstecken, aber Katinka legte die Hand drauf und sagte: »Das könnte ich noch brauchen.«
»Ach ja«, sagte er, stand auf, nickte der Schreibtischplatte zu und trat hinaus in die Hasengasse.
Katinka brauchte nicht lange, um das Adressbuch abzutelefonieren, das Herzing ihr gegeben hatte. Zwar hatte Claudia Herzing viele Kontakte notiert, aber die meisten waren nicht zu Hause, schließlich war Urlaubs- und Badezeit.
Es waren einige Adressen in anderen Städten notiert. Katinka rief dort an und fragte sich durch.
»Katinka Palfy hier, aus Bamberg. Könnte ich wohl mit Claudia Herzing sprechen?«
»Claudia? Die habe ich seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Sie müsste zu Hause sein.«
»Dort habe ich niemanden angetroffen. Es geht um die Lehrerkonferenz zu Ferienende, und Claudia gab mir mal Ihre Nummer für den Fall, dass sie daheim nicht erreichbar sein sollte …«
»Wie gesagt, ich habe sie seit einem Jahr nicht gesehen. Ab und zu telefonieren wir, aber das ist nun mindestens auch drei Monate nicht der Fall gewesen.«
Niemand konnte etwas Entscheidendes berichten. Zwei fragten, ob denn Claudias Mann nicht Bescheid wüsste. Bei der letzten Nummer im Adressbuch meldete sich ein Anrufbeantworter. Katinka sprach eine kurze Nachricht auf das Band und bat um Rückruf. Sie stand auf und griff nach einer Zeitung, mit der sie sich Luft zufächerte. Claudia war nirgends aufgetaucht. Katinka hielt es für unwahrscheinlich, dass sie sich verleugnen ließ. Nach Aussage ihres Mannes war sie ja nicht im Streit weggelaufen. Außerdem machte keine von Claudias Freundinnen einen unruhigen Eindruck – sie wirkten einfach nur überrascht. Wie ich vermutlich auch wirken würde, wenn mich jemand anriefe und fragen würde, ob er Britta sprechen könne, dachte Katinka.
In Bamberg erreichte sie nur zwei Ex-Kollegen von Claudia Herzing und eine Freundin, die mit ihr im Chor sang. Schnell aktivierte sie ihren Anrufbeantworter, schloss seufzend Fenster und Tür und radelte los.
Sie strampelte die Karolinenstraße hinauf, klingelte die Touristengruppen vor dem Dom aus dem Weg und erntete bewundernde Rufe, während sie keuchend über das Kopfsteinpflaster den Berg hinaufrumpelte. Die Hitze drückte, und am Jakobsberg stieg sie entgegen ihrer Gewohnheit ab. Nicht genug mit der Joggingrunde heute morgen, dachte sie. Jetzt auch noch Sport in der größten Mittagshitze. Die Wildensorger Straße reckte sich steil empor, und mit Schatten war um diese Zeit nicht zu rechnen. Katinka bezweifelte, dass Bamberg auf sieben Hügeln erbaut war – das fränkische Rom, wie die Stadt auch genannt wurde. Im Gegenteil, statt Hügel wäre Berg die angemessene Bezeichnung, und bestimmt waren es mehr als sieben, mindestens zehn. Sie warf einen kurzen Blick nach links zur Altenburg, der sie nie sonderlich viel hatte abgewinnen können. Sie wirkte auf Katinka ein wenig wie eine Spielzeugburg, zu rund, zu kuschelig. An der höchsten Stelle der Straße stieg sie wieder aufs Rad und ließ sich ins Tal treiben.
Bernhard Hellmreich lebte in einem angeberischen Eigenheim am Michaelsberger Wald. Er begrüßte Katinka in Shorts und mit nacktem, krebsrotem Oberkörper und führte sie um das Haus herum in den Garten. Ein Rasenmäher nach Machart eines Traktors stand dekorativ auf dem Rasen herum.
»Wie wäre es mit einem Mineralwasser?«, fragte er leutselig. Er mochte Mitte fünfzig sein, vielleicht älter. »Meine Frau ist bei unserer Tochter in Kanada zu Besuch, so habe ich sturmfreie Bude«, sagte er und lachte knirschend.
»Das ist sicher auch mal angenehm«, erwiderte Katinka flach. Gierig griff sie nach dem Wasserglas.
»Ja, die Hitze ist einfach unglaublich. Aber Sie sind doch mit dem Wagen gekommen?«
Katinka versuchte Uttenreuthers Trick und ging nicht auf Hellmreichs gönnerhafte Frage ein. Statt dessen sagte sie:
»Erzählen Sie mir doch etwas über Claudia Herzing. Sie kennen sie ja wohl recht gut, nicht?«
Sie setzte sich auf den Gartenstuhl, den Hellmreich ihr zurechtrückte und bemerkte sehr deutlich seinen Blick auf ihre Beine. Vielleicht sollte man kurze Röcke als generelle Arbeitskleidung für Detektivinnen propagieren, dachte sie. Hellmreich setzte sich in den anderen Stuhl und goss Katinka Mineralwasser nach.
»Ich kenne sie seit zehn Jahren, ja, ziemlich genau so lange«, begann er ausführlich und ließ seinen Blick über die gepflegten Beete gleiten. »Sie begann ihr Referendariat bei uns, also am Kaiser-Heinrich-Gymnasium, und ich habe auch deshalb viel mit ihr zu tun gehabt, weil wir beide die gleiche Fächerkombination unterrichten. Englisch und Deutsch.«
Katinka wartete die nächsten Minuten geduldig ab, betrachtete den Garten. Sie fand ihn geschmackvoll, wenngleich an einigen Stellen protzig genug, um in den Augen seines Eigentümers standesgemäß zu wirken. Endlich kam Hellmreich auf Claudia Herzing zu sprechen.
»Seit der Geburt des Kleinsten, Oliver, ist sie im Erziehungsurlaub. Selbst eine Frau wie Claudia, tatkräftig, energisch, willensstark, schafft diese Mehrfachbelastung nicht mehr. Schade eigentlich. Wir Kollegen hoffen sehr, dass sie zurückkommt, wenn Oli ein wenig älter ist.«
»Inwiefern tatkräftig?«, wollte Katinka wissen.
»Tja, sehen Sie, ich kenne niemanden, keine Frau, die so tüchtig und engagiert ist wie Claudia. Sie setzt sich für alle ein. Seit sie nicht mehr berufstätig ist, gibt sie einigen hoffnungslosen Kindern Nachhilfe in Englisch. Sie können sich nicht vorstellen, was für Kinder von ihren Eltern ans Gymnasium geschickt werden. Die sind nicht zu gebrauchen. Aber was rede ich … ja. Claudia lässt das nicht gelten. Für sie gibt es keine hoffnungslosen Fälle.«
»Sie ist ein sozialer Typ?«
»Absolut. Ein Wunder an Energie und Tatendrang. Auch die Feste, die sie organisiert – unvorstellbar. Keine Arbeit ist ihr zu viel.«
»Feste? Bei sich zu Hause?«
Hellmreich nickte. »Sie will eben immer noch den Kontakt halten zu uns Kollegen. Ist auch sinnvoll, nicht, Sie wissen ja, wie schwer man sich tun kann, nach einer Pause wieder in die Berufstätigkeit zurückzukehren.«
Katinka meinte, einen Hauch von Verächtlichkeit wahrzunehmen. Sie fragte sich ernsthaft, wie Hellmreich meinen konnte, dass gerade sie das wusste, aber sie sagte nichts dazu.
»Claudia Herzing ist verschwunden.«
Hellmreich kippte die Kinnlade herunter. Er brauchte beinahe eine Minute, um die Sprache wieder zu finden.
»Verschwunden?«
»Ja. Sie machte sich am Sonntagabend auf den Weg, wollte einen Spaziergang machen. Sie kam nicht zurück.«
Hellmreich hustete, griff nach der Wasserkaraffe und schenkte sich nach.
»Dann ist ihr etwas zugestoßen«, sagte er entschieden. »Claudia ist garantiert nicht die Frau, die Mann und Kinder im Stich lässt.«
»Wann haben Sie sich zuletzt gesehen?«
»Kurz nach Beginn der Sommerferien, auf dem Markt in Bamberg. Claudia war mit ihrer Familie einkaufen, ich mit meiner Frau. Wir wechselten drei Worte, das war’s.«
»Könnten Sie sich vorstellen, dass Frau Herzing einfach abtaucht? Und nach einiger Zeit wieder zurückkommt?«
»Unmöglich!«
»Vielleicht wollte sie einfach mal ihre Ruhe haben.«
»Niemals! Claudia braucht keine Ruhe. Sie will immer aktiv sein, dafür lege ich beide Hände ins Feuer.«
Katinka bemühte sich um Konzentration. Sie witterte hinter Hellmreichs Worten ein Spötteln, etwas Abfälliges, aber er saß höflich lächelnd auf seinem Stuhl.
Mit einem eigentümlich bitteren Gefühl in der Magengegend kämpfte Katinka sich den ganzen Weg zurück in die Stadt. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Lehrer Hellm-reich eine Spur von Herablassung in seine Worte gelegt hatte, als habe er Claudia zwar oberflächlich gelobt, in seinen Worten jedoch so etwas wie Kritik angelegt. Katinka bog nach links in die Storchsgasse ab und sauste mit Schwung gegen die Einbahnstraßenrichtung hinab. Als Schülerin hätte sie Hellmreich definitiv nicht gemocht, und obwohl sie Claudia Herzing nicht kannte, war sie sich ziemlich sicher, sie lieber als Lehrerin gehabt zu haben als Hellmreich. Für sie gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Wie er das gesagt hatte! Als sei jeder, der einen Menschen nicht nur nach dessen Schulnoten bewertete, ein übler Fantast. Katinka strampelte die Michaelsberger Straße wieder hoch und ließ anschließend das Rad den Maienbrunnen hinunterrollen. Die Straße war so eng, dass die Autos teils zurückstoßen mussten, um den entgegenkommenden Verkehr durchzulassen. Katinka schlängelte sich zwischen den Blechkisten rücksichtslos durch und aktivierteüberhitzte, zornige Hupkonzerte.
Der Biologie- und Chemielehrer Dietram Zenk war allein stehend. Er wohnte im Erdgeschoss eines gepflegten Hauses gleich bei der Abzweigung zum Abtsberg. Artig bat er Katinka herein.
»Möchten Sie etwas trinken?«
Katinka fühlte sich völlig vertrocknet.
»Das wäre nett. Es ist unglaublich heiß.«
»Sie sagen es. Die Sandkirchweih wird was werden bei der Hitze. Alkoholleichen, Chaoten, dehydrierte Jugendliche. Ach, na ja. Mich geht’s nichts an.«
Er fummelte zittrig eine Flasche Bitter Lemon aus dem Kühlschrank und ließ sie prompt fallen. Zum Glück war sie aus Plastik. Katinka hob die Flasche auf und stellte sie auf den Küchentisch.
»Danke. Entschuldigung, Sie sollen doch nicht … Ich …« Zenk schwieg und goss zwei Gläser voll. Er bugsierte sie auf ein Tablett und trug es vor Katinka her in ein braunes Wohnzimmer. Alle Arten von Braun und Beige saugten Katinka die letzte Energie aus dem Körper. Braune Deckentäfelung, braune Schrankwand, braune Bilderrahmen, ein beige-brauner Teppichboden, eine beigefarbene Sesselgarnitur. Die moosgrünen, geblümten Vorhänge bemühten sich redlich um ein wenig Abwechslung auf der Farbpalette, allerdings ohne nennenswerten Erfolg.
Katinka sank auf einen der Sessel. Die Kleider klebten ihr am Leib. Tom würde über dieses Zimmer endlos lästern. Er, der Farbe so liebte! Sie verkniff sich ein Grinsen. Sorgsam platzierte Zenk zwei gläserne Untersetzer mit Blumenmuster auf dem Kirschholztisch und setzte dann vorsichtig die Limonadengläser ab.
»Sie sind Chemielehrer, nicht wahr?«, fragte Katinka angelegentlich. Zenk wirkte ziemlich verkniffen, sie würde ihn erst in eine etwas entspanntere Stimmung versetzen müssen. Er schien nur ungern auf die Frage einzugehen.
»Biologie und Chemie, ja!«, verkündete Zenk. »Wissen Sie, die meisten erinnern sich ungern an diese Fächer. Entweder lieben sie sie, oder sie haben einfach komplett versagt.«
»Ich fand Chemie immer ganz abenteuerlich«, sagte Katinka und beruhigte die Kontrollwespe, die drohend um ihre Ohren summte. »All diese Versuche, wo man nie wusste, ob es laut knallt, sich irgendwas verfärbt oder zu stinken anfängt … Sie schienen mir wie Ausflüge für die Sinne.«
Zenk nickte erfreut. »Sehen Sie, sehen Sie!«, rief er. Dann stockte er plötzlich, griff schließlich halbherzig nach dem Limonadenglas und trank einen Schluck.
Katinka durchforstete ihr Gehirn, um ein weiteres Gesprächsthema zu finden, aber es war ihr unmöglich, sich etwas aus den Rippen zu schneiden. Also sagte sie ganz einfach: »Claudia Herzing ist verschwunden.«
Zenk stutzte. Er stellte das Glas ab, und nun verschüttete er eine gehörige Portion Bitter Lemon.
»Verschwunden?« Er räusperte sich, um die Heiserkeit zu kaschieren. Die Nervosität schien sich auf seine Stimmbänder gesetzt zu haben.
»Wissen Sie etwas darüber?«, fragte Katinka in behutsamem Tonfall. Vor Schreck riss Zenk die Augen weit auf.
»Wissen? Ich? Wieso? Ich …« Er brach ab und nahm wieder das Glas zur Hand. Voller Konzentration setzte er es an die Lippen. Katinka blickte ihn geradeheraus an und wartete ab.
»Claudia … sie ist eine so herzensgute, so engagierte Kollegin, wirklich. Was meinen Sie denn mit … verschwunden?«