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Wenig lukrative Aufträge und ein überzogenes Bankkonto – Modedesignerin Paulines Leben hat Verbesserungspotential. Und prompt erhält sie den Zuschlag, ein Berliner Hotel auszustatten. Als sie nach Hamburg fährt, um ihren Onkel nebst Gattin auf einem Kreuzfahrtschiff abzugeben, kommt es zu einem Verkehrsunfall mit einem schicken Sportwagen. Dumm, dass sich bei der Hoteleröffnung herausstellt, dass der Fahrer des Sportwagens der Architekt des Hotels und bester Freund des attraktiven Hotelbesitzers ist. Und dann ist da auch noch ihr Ex-Freund mit seiner neuen Flamme, die das Marketing des Hotels leitet. Als alle zusammen zu einem neuen Hotelprojekt nach Südfrankreich reisen, ist das Gefühlschaos perfekt …
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Seitenzahl: 293
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Wenig lukrative Aufträge und ein überzogenes Bankkonto – Modedesignerin Paulines Leben hat Verbesserungspotential. Und prompt erhält sie den Zuschlag, ein Berliner Hotel auszustatten. Als sie nach Hamburg fährt, um ihren Onkel nebst Gattin auf einem Kreuzfahrtschiff abzugeben, kommt es zu einem Verkehrsunfall mit einem schicken Sportwagen. Dumm, dass sich bei der Hoteleröffnung herausstellt, dass der Fahrer des Sportwagens der Architekt des Hotels und bester Freund des attraktiven Hotelbesitzers ist. Und dann ist da auch noch ihr Ex-Freund mit seiner neuen Flamme, die das Marketing des Hotels leitet. Als alle zu einem neuen Hotelprojekt nach Südfrankreich reisen, ist das Gefühlschaos perfekt …
Über Petra Haghjou
Petra Haghjou studierte Geschichte und Sprachen, doch ihr Herz schlug schon immer für die Welt der Bücher. In Ihrer Freizeit schreibt sie gerne Kurzgeschichten und Krimis. »Kleider machen Liebe« ist ihr Debütroman. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Süddeutschland.
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Petra Haghjou
Kleider machen Liebe
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Kapitel 12
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Kapitel 15
Kapitel 16
Impressum
Alles begann am 10. September. An diesem Tag fegte ein früher Herbststurm über Norddeutschland hinweg und vertrieb mit aller Macht den warmen Spätsommer.
»Ich werde todsicher seekrank werden«, sagte Onkel Quirin, der heute keine Gelegenheit ausließ, um über seine stürmische Segeltour letztes Jahr auf der Ostsee zu klagen. Ein schlechtes Omen für die Kreuzfahrt, die ihm bevorstand.
Ich blinzelte zu den bleigrauen Wolkenbergen hoch, die über dem Hamburger Cruise Center brodelten wie vormittags die Autoabgase im Berliner Stadtring. Seit unserer Abfahrt aus Charlottenburg grollte Onkel Quirin gegen den Sturm und gegen den unbekannten Meteorologen, der das Tief aus Russland ausgerechnet nach dem Vornamen Tante Merets benannt hatte.
»Die Vorhersage meldet für diese Woche ein Atlantikhoch«, machte ich den Versuch, die Reisestimmung zu heben. »Kommt von den Azoren und sorgt für stabiles Wetter.«
Ich klang wie die Meteorologen im Fernsehen, wenn sie vor der Tagesschau die Wetterlage erklärten.
Im Grunde haderte Onkel Quirin jedoch nicht mit dem Wetter, sondern mit seinen fünfzig Lebensjahren. Vor drei Wochen hatte Tante Meret ihrem Mann zum runden Geburtstag die Kreuzfahrt geschenkt. Natürlich von seinem Geld und mit sich selbst als Begleitung. England, Frankreich, die Beneluxstaaten in zehn Tagen auf einem Fünf-Sterne-Kreuzfahrtschiff, Abfahrt Hamburger Hafen.
Onkel Quirin fühlte sich zu jung für eine Kreuzfahrt, stand er doch als Anwalt auf dem Zenit seines Berufslebens und seines Jahreseinkommens. Auf einem Kreuzfahrtschiff tummelten sich bloß Menschen mit einem Durchschnittsalter weit darüber.
Insgeheim schlug ich mich auf Onkel Quirins Seite. Nicht so sehr wegen der vielen ergrauten Paare, die sich mittlerweile im Cruise Center drängelten wie Heringsschwärme. Es lag an meiner Abneigung gegen alles, was mit Wasser zu tun hatte – genauer gesagt, an meinen mangelnden Schwimmkünsten. Und jetzt baute sich in nächster Nähe ein mehrstöckiges schwimmendes Hotel vor meiner Nase auf. Es war so hoch, dass ich den Kopf in den Nacken legen musste, um das Deck zu erkennen. Ich kam mir wie im Film Titanic vor. Aber eben nur fast. Denn die Reisenden um uns herum hatten bei Weitem nicht das mondäne Auftreten der Menschen aus der Belle Époque.
»Wie im Film, nicht wahr, Pauline?«, hauchte Tante Meret neben mir bewundernd.
Mir wurde allein von dem Anblick schwindelig, und ich war froh, gleich wieder nach Berlin zurückfahren zu können. Schließlich hatte ich meine Erfahrungen mit dem nassen Element gemacht, und keine davon war gut ausgegangen. Meine Eltern hatten mich ins Freibad geschleppt, mir Schwimmflügelchen aufgepustet und gedacht, dass ich wie jedes andere Vorschulkind fröhlich im Wasser planschen würde. Weit gefehlt: Mein Geschrei war noch lange zu hören. Meine Eltern verzogen sich in den äußersten Winkel der Grünanlage, nur weg vom Schwimmbecken. Und ich ging weder für frisch gebackenen Apfelkuchen noch unter Androhung von Hausarrest wieder ins Freibad. Auch die vielen gleichaltrigen Cousins in unserer Verwandtschaft, mit denen ich viel Zeit verbrachte, wussten: Mit Pauline war nicht zu spaßen, sollte sie sich einem Schwimmbecken oder einem der Berliner Seen nähern.
Während Tante Meret kaum ihre Ungeduld zügeln konnte, auf die unruhige Nordsee des Hamburger Hafens hinauszugleiten, hörte ich hinter mir ein herzzerreißendes Jaulen.
»Passen Sie, Herrgott noch mal, auf, wohin Sie treten«, schimpfte Onkel Quirin in gebückter Haltung und rettete Napoleon, Tante Merets Terrier, in die sichere Zuflucht zwischen seinen Beinen.
»Es tut mir leid! Ich habe Ihren Hund nicht gesehen.«
Mein erster Gedanke war: Die elegante Frau vor uns würde perfekt in die noble Welt der alten Ozeanriesen passen. Alterslos, schlank und mit tadellos hochgesteckten Haaren erinnerte sie mich an Filmstars aus vergangenen Zeiten. Ich bemerkte sofort den edlen Stoff ihres Kostüms.
»Gibt es ein Problem, Mutter?«
Der Riese, der sich hinter der eleganten Dame aufbaute, konnte doch nicht ihr Sohn sein! In zerknittertem Parka und mit einem Dreitagebart sah er wie einer der übermüdeten Reporter aus, die aus einem Überschwemmungsgebiet in Südostasien berichteten, in dem es seit einer Woche kaum fließendes Wasser gab.
Und dann geschah das Unvermeidliche: Napoleon stellte sein Jaulen ein, quetschte sich zwischen Onkel Quirins Beinen hervor und begann hingebungsvoll an der schlanken Fessel der Dame zu schnuppern. Ihm gefiel wohl, was er roch. Wieder quietschfidel sprang er mit seinen Pfötchen an ihrem Bein hoch. Der Strumpf zerriss und hinterließ ein hässliches Loch mit rasant wachsenden Laufmaschen. Fünf Augenpaare starrten entgeistert zu dem Bein hinunter, das nur noch ein Fetzen Nylon bedeckte.
»Napoleon! Du sollst doch Fremde in Ruhe lassen.«
Das war Tante Meret. Sie lächelte mitleidig in die Runde und guckte sofort wieder Richtung Schiff, als könnte es aus Versehen ohne sie abfahren.
»Verdammt! Sie haben meinen Hund vollkommen verrückt gemacht«, wetterte Onkel Quirin und blitzte die Dame feindselig an.
»Aber ich bitte Sie: Das Ganze ist bestimmt nicht so schlimm«, erwiderte diese.
»Was heißt hier nicht so schlimm? Müsste ich jetzt nicht verreisen, würde ich meinen Hund nach Ihrer Attacke vom Tierarzt untersuchen lassen.«
In diesem Moment sprach der Anwalt aus Onkel Quirin. Angriff ist die beste Verteidigung und allemal besser, als von der Gegenseite für einen kaputten Strumpf verantwortlich gemacht zu werden.
»Das ist doch albern«, brummelte der Mann mit dem Dreitagebart.
Onkel Quirin streckte das Kinn nach vorne und schaute angriffslustig drein. Als könnte er damit seinen Widerwillen gegen den Geburtstag, die teure Kreuzfahrt und das Sturmtief ausgleichen.
Ich blickte voller Sensationslust auf die beiden Männer, als lautes Hupen Onkel Quirins nächste verbale Attacke stoppte. Das gewaltige Schiffshorn des Kreuzfahrtriesen forderte zum Einschiffen auf.
Stolz wie ein schottischer Clanführer im aussichtslosen Kampf gegen die Engländer blies Onkel Quirin zum Rückzug. Er hob Napoleon auf und drückte ihn mir in die Arme. »Passt gut auf euch auf, während wir weg sind.« Er musterte mich irgendwie wie damals, als ich zehn war und auf den Baum in seinem Garten klettern wollte. »Und fahr vorsichtig zurück, Pauline. Du bist vorher nie mit einem Automatikwagen gefahren. Und heutzutage benehmen sich die Leute wie die Wilden. Du musst immer auf die Fehler der anderen achten.«
Ein Seitenblick auf die Frau mit dem zerrissenen Strumpf unterstrich seine letzten Sätze. Und waren in meinem Fall berechtigt, hatte ich doch den Führerschein erst beim dritten Anlauf geschafft und vor Kurzem meinen geliebten alten Kleinwagen zu Schrott gefahren. Ich kam nicht einmal in die tröstliche Lage, jemandem die Schuld geben zu können – außer dem Müllcontainer im toten Winkel hinter mir. Der Aufprall hatte meinem zwanzig Jahre würdevoll gealterten Kleinwagen den Todesstoß versetzt.
»Komm endlich, Quirin. Ich will an Bord.« Ungeduldig wedelte Tante Meret mit der Hand.
Hinter uns beruhigte die elegante Dame ihren Sohn: »Es ist alles in Ordnung, Dominik. Du kannst unbesorgt nach Hause fahren.«
Ich umarmte Onkel Quirin und Tante Meret, wartete, bis sie im Bauch des Schiffes verschwanden, und ging zurück zum Parkplatz.
Für die nächsten zehn Tage würde ich in Onkel Quirins schmucker Jugendstilvilla wohnen. Selbstlos hatte ich angeboten, auf Haus und Hund aufzupassen, während mich in meiner Wohnung lediglich die zurückgelassene Leere von Michael erwartete. Wenn ich meinem Spiegelbild glauben durfte, war ich durchaus attraktiv. Aber eine Frau, deren Beziehung nach vier Jahren Zusammenleben einseitig beendet wurde, bekam automatisch Minderwertigkeitsgefühle. Linda hieß meine Nachfolgerin und hatte goldglänzende, akkurat geglättete Haare. Meine waren dunkelbraun und hatten ihr lockiges Eigenleben. Linda hatte einen aufstrebenden Job in einer Werbefirma, ich zwar die künstlerisch klingende Berufsbezeichnung Master Designerin, jedoch augenblicklich ohne Aussicht auf ein beständiges und lukratives Einkommen. Linda hatte gut aussehende und gut situierte Freunde, ich kannte ein wildes Potpourri aus Exzentrikern. Kurz gesagt: Linda hat mir so einiges von meinem Selbstvertrauen geraubt.
Eine Weile hatte ich mich mit der Erklärung getröstet, dass Michael mit Mitte dreißig möglicherweise in seiner ersten Lebenskrise steckte. Linda war vierundzwanzig Jahre jung. Dafür konnte ich sie nun wirklich nicht verantwortlich machen – allein Michael, weil er sich eine Jüngere gesucht hatte. Ich war ein klitzekleines bisschen älter als Linda. Nächsten April würde ich einunddreißig. Und das ist entscheidend anders als letztes Jahr. Mit dreißig kann man sich einreden, dass man soeben noch neunundzwanzig war. Mit einunddreißig liegt das vorige Lebensjahrzehnt endgültig hinter einem, und es geht rasant auf die nächste Zahl zu.
Und mit dieser unattraktiven biologischen Zukunft vor Augen tat sich gerade auch eine tiefe Flaute in meiner Karriere und in meinen Finanzen auf. Finanzen war ein übertriebenes Wort mit knapp 1300 Euro auf dem Girokonto und einem peinlich kleinen Aktienpaket bei der Sparkasse. Mein Notgroschen, sollte in der nächsten Zeit niemand meine Designerdienste buchen.
Ich bezahlte das Parkticket mit dem Hunderteuroschein, den Onkel Quirin mir in die Hand gedrückt hatte – »Ich weiß, dass du zurzeit nicht so viele Aufträge hast, Paulinchen« –, und ging durch die Parkschranke zum Alfa Romeo.
Jetzt war das so eine Sache mit der Automatik. Onkel Quirin hatte mich vorausschauend Probe fahren lassen. Lässig hatte ich hingeworfen, wie einfach doch das Fahren damit sei. Nur aufs Gas gehen, und schon fuhr das Auto nach vorne und nach hinten. Wie man es brauchte. Bloß war meine Motorik einfach nicht auf das fehlende Kupplungspedal eingespielt, und der zuständige Bereich in meinem Gehirn sendete in dieser Sekunde wirre Signale aus. Mein linkes Bein hing nutzlos in der Luft herum. Es gab keine Kupplung zu treten. Mein aktives rechtes Bein lief Amok und wusste nicht mehr, was zu tun war. Welches Pedal war noch mal das Gas?
Ich trat auf das rechte und tatsächlich: Das Auto bewegte sich nicht nur, es machte einen geradezu olympischen Sprung aus der Parklücke. Allerdings in die falsche Richtung. Ich hatte den Hebel auf R anstatt auf D gestellt. Warum gab es in einem italienischen Auto überhaupt englische Abkürzungen? Das anschließende laut hörbare Knirschen konnte rein gar nichts mit mir zu tun haben.
Ich warf einen Blick auf den Beifahrersitz, als säße Onkel Quirin neben mir während unserer Fahrstunde. Aber es blinzelten mich lediglich die treuen Augen Napoleons aus seinem Körbchen an – von ihm konnte ich keine Erklärung erwarten. Mein eigentliches Ziel, die leere Parklücke vor mir, lachte mich höhnisch an.
Ich verrenkte meinen Kopf nach hinten. Ein niedriger Wagen stand dicht hinter Onkel Quirins Auto. Ich fuhr mit dem richtigen Gang ein Stück sacht nach vorne, holte tief Luft und stieg aus.
Irgendwie hatte ich den irrsinnigen Gedanken, dass das Ganze nichts mit mir zu tun hatte und ich lediglich die hilfsbereite Zeugin abgeben durfte.
Meine Hoffnung prallte jedoch am Kragen eines zerknitterten Parka auf meiner Kinnhöhe ab. Weit und breit war niemand sonst zu sichten. Das Knirschen musste also doch von meinem Rückwärtssprung verursacht worden sein. Langsam schielte ich eine Etage höher: Sohn Dominiks bärtiges Gesicht sah mir entgegen. Unergründlich heftete sich sein durchdringender Blick auf mich. Ich ahnte sofort, dass ich bei dem Mann mit banalen Beschwichtigungen nicht weiterkommen würde.
Mein nagendes Schuldgefühl schluckte ich hinunter und machte mir stattdessen Onkel Quirins Motto zu eigen. Angriff ist die beste Verteidigung! Das musste auch für bedrohlich wirkende Hünen aus Katastrophengebieten gelten.
Mit schmalen Lippen gönnte ich dem schnittigen Sportwagen einen gleichgültigen Augenaufschlag. »Sie sind zu schnell vorbeigefahren«, säuselte ich und übersah geflissentlich die Delle an der Frontseite des Sportwagens. Onkel Quirins Alfa Romeo wagte ich erst gar nicht genauer anzusehen.
Es war schwer, mit jemandem einen verbalen Kampf auszufechten, wenn der Gegner stumm blieb. Nervtötend langsam begutachtete Sohn Dominik die Autos. Immer noch gab er keinen Laut von sich. Stattdessen ging er in die Knie und fuhr sacht mit der Hand über die Dellen und Lackspuren. Eine Schrecksekunde lang kam mir der Gedanke, dass dieser Dominik vielleicht ein Automechaniker war, der im Kopf bereits einen Kostenvoranschlag erstellte. Oder schlimmer: ein Streifenpolizist.
»Soweit ich sehen kann, scheint es bei beiden Autos ein Blechschaden zu sein. Der Aufprall war nicht allzu heftig.«
Er konnte ja doch sprechen. Und was er sagte, klang irgendwie besänftigend. Dominik schien nicht zu der Sorte Männer zu gehören, die für ihr Auto in den Krieg zogen.
Der kurze Frieden wurde brüsk von Napoleon gebrochen. Ihm war in seinem Körbchen anscheinend langweilig geworden, denn er bellte um Aufmerksamkeit heischend aus dem Auto heraus, dass mir die Ohren gellten.
»Napoleon, Ruhe!«
Aber Napoleon hatte seinen eigenen Dickschädel. Er hörte auf zu bellen, quetschte sich durch die nur angelehnte Fahrertür, sprang aus dem Auto und hechelte mit flatternden Ohren zu Dominik. Seine kleinen Zähne bissen sich in der Hose fest und schüttelten den Stoff wild hin und her. Vermutlich roch er ihm unbekannte asiatische Düfte.
»Ist Ihr Hund grundsätzlich so angriffslustig oder zieht er ausschließlich gegen meine Familie in eine Art Privatkrieg?«
Ich warf Dominik einen erbosten Blick zu, was nicht einfach war, da ich dafür den Kopf in den Nacken legen musste. Hätte ich heute früh nur nicht die flachen Schuhe angezogen.
»Napoleon ist nicht aggressiv. Außerdem ist er nicht mein Hund. Ich passe auf ihn während der Kreuzfahrt auf.«
Dominik beugte sich zu Napoleon hinunter und kraulte unerwartet sanft sein Fell. Fast war ich beleidigt, als Napoleon die Hose losließ und hingebungsvoll mit feuchter Nase an der Hand unseres Gegners roch.
»Demnach ist das auch nicht Ihr Auto, sondern das von Ihren Eltern?«
»Onkel und Tante«, korrigierte ich schwach.
Die heftige Sturmbö, die an meinem Mantel zerrte, blies auch den letzten Rest meiner Taktik der Offensive weg.
Irgendwo zwischen den dichten Bartstoppeln glaubte ich, ein Grübchen zu erkennen.
»Das passt ja wunderbar. Der Wagen gehört nämlich auch nicht mir, sondern meiner Mutter.«
»Äh. Ja?« Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
»Am vernünftigsten ist es, wenn wir unsere Adressen austauschen. Und die Versicherungen.«
»Natürlich!«, stimmte ich mit täuschend fester Stimme zu, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob Onkel Quirin seine Versicherungsunterlagen im Auto aufbewahrte. Sohn Dominik griff hingegen zielsicher in das Handschuhfach des Sportwagens und drückte mir die Versicherungskarte zusammen mit einer Visitenkarte in die Hand.
Dominik Behrens. Mit einer Berliner Adresse. Der Postleitzahl nach musste es Mitte sein.
Ergeben setzte ich mich auf den Fahrersitz von Onkel Quirins Alfa Romeo und beugte mich würdelos über den Schaltknüppel und Napoleons Körbchen. Hurra. Im Handschuhfach fand ich die Versicherungskarte. Sie steckte ordentlich in der ledernen Mappe mit einer dicken Gebrauchsanleitung.
Natürlich hatte ich keine meiner eigenen Visitenkarten dabei. Die lagen ungenutzt in der Schublade meines Arbeitstisches herum.
»Wollen Sie sich meinen Namen notieren?«, schlug ich vor.
Dominik Behrens fischte eine weitere seiner Karten aus der Tasche und streckte sie mir mit einem Kugelschreiber entgegen. In einem Parka lässt sich mehr verstauen als in jeder Damenhandtasche. Höchstwahrscheinlich brauchte man in Krisengebieten, wo Einkaufszentren rar waren, so ein Kleidungsstück.
Ich kritzelte meinen Namen, Telefonnummer und Onkel Quirins Adresse auf die Rückseite.
Dominik Behrens warf einen Blick darauf und verstaute alles kommentarlos in den Parkataschen.
Ich glaubte, ein kurzes Zögern zu bemerken, als er vorschlug: »Fahren Sie vorsichtshalber zuerst ein paar Meter mit Ihrem Auto Probe. Ich passe auf, ob auch alles in Ordnung ist.«
Er wartete meine Antwort nicht ab, sondern setzte sich hinter das Lenkrad des Sportwagens, um mir den Weg nach hinten frei zu machen. Ich fühlte seinen Blick im Nacken, als ich das Auto aus der Parklücke rangierte und das Gelände entlangfuhr. Die Automatik folgte mir dieses Mal aufs Wort. Ich wendete, während Dominik Behrens jede Reaktion und jedes Geräusch des Alfas überwachte.
»Scheint so weit alles in Ordnung zu sein, Frau Sander«, sagte er, als ich neben ihm stoppte. »Wir hören voneinander, sobald klar ist, was uns der Schaden kostet. Sind Sie damit einverstanden?«
»Natürlich!«, erwiderte ich.
Es war sinnlos, meine Schuld zu leugnen. Onkel Quirin hatte hoffentlich eine Vollkaskoversicherung abgeschlossen.
Wieder betrachtete mich Dominik Behrens durch das offene Seitenfenster mit einem Blick, als wollte er mir vermitteln, er wisse sowieso alles über mich. War er vielleicht doch Polizist? Prüfte er, ob ich die Wahrheit sagte?
Ein Läuten aus den Tiefen seiner Jacke unterbrach unseren wortlosen Dialog. Der Parka wurde mir immer sympathischer.
Dominik Behrens sah mich ein letztes Mal an, bevor er den Anruf entgegennahm und dabei in den Sportwagen stieg.
Ein starker Motor brummte auf, und ich wagte nicht, dem Auto samt Fahrer nachzusehen. Meine Ohren folgten dem Geräusch, bis es in der Ferne verschwand.
Niedergedrückt schlich ich mit dem demolierten Alfa nach Berlin zurück. Bei Wittenburg machte ich halt und kaufte mir in einem Fast-Food-Restaurant ein trockenes Käsebaguette und einen Milchkaffee zu überteuerten Preisen. Meine Stimmung sank immer tiefer. Der wolkenlose Herbstabend, der sich kurz vor Berlin auftat, verstärkte meinen Unmut nur. Ich sehnte geradezu den grauen Herbststurm zurück, damit wir gemeinsam gegen die Welt zürnen konnten. Aber der blaue Abendhimmel mit seinen orangefarbenen Sonnenstreifen leuchtete strahlend auf, als ich den Alfa in Onkel Quirins blitzsauberer Garage parkte. Mit gesenktem Kopf ging ich ins Haus.
Am nächsten Morgen weckte mich mein knurrender Magen. Das trockene Käsebaguette an der Autobahnraststätte war das Letzte gewesen, was ich gegessen hatte. Sorgen drückten mir grundsätzlich auf den Appetit.
Zerknirscht stieg ich aus dem Bett. Tante Meret hatte Hanna, ihre treue Haushälterin, vor ihrer Abreise angewiesen, das größte Gästezimmer für mich vorzubereiten, bevor Hanna sich zu ihrem jährlichen Wanderurlaub nach Österreich aufmachte. Früher war es das Jugendzimmer von Paul, meinem um drei Monate älteren Cousin, gewesen. Ich war in der weiblichen Form nach ihm benannt und das verzeihe ich meinen Eltern nie. Namensgleichheiten innerhalb der Familie hat man einfach nicht mehr im 21. Jahrhundert, wo Individualität gefragt ist. Egal, wie sich vor dreißig und einem halben Jahr die gesamte Verwandtschaft über den ersten weiblichen Nachwuchs nach langer Zeit gefreut hatte. Und auch Paul hatte wohl etwas gegen diese Gleichmacherei. Wir mochten einander von der ersten Sekunde meines Daseins nicht.
Als ich unter der Dusche stand, trottete Napoleon herein, legte sich auf die Badematte und klopfte mit dem Schwanz. Ich streckte gerade den Fuß aus der Duschkabine, als Napoleon ein erbärmliches Japsen, gefolgt von einem abgrundtiefen Keuchen, von sich gab. Mir fiel ein, dass er Frühaufsteher und es gewohnt war, sein Frühstück vor acht Uhr morgens vorgesetzt zu bekommen. Konnte es sein, dass Napoleon deswegen einen nahen Hungertod schauspielerte? Sicherlich war er jetzt vom ersten Tag meines betreuenden Wohnens an beleidigt und sehnte sich bereits nach seiner alten Familie.
Mit schlechtem Gewissen stieg ich aus der Duschkabine, zog Tante Merets Bademantel über und lief in die Küche hinunter, Napoleon dicht auf den Fersen.
Bevor wir mit dem Frühstück fertig waren, meldete sich vibrierend mein Telefon.
»Pauline, wo steckst du bloß? Ich versuch dich seit gestern zu erreichen.«
Saskia Winkler hatte mit mir an der Universität der Künste Modedesign studiert, war alleinerziehende Mutter und behandelte mich gelegentlich wie ihren zehnjährigen Sohn Sven. Und so klang ihre Stimme mütterlich besorgt mit einem nicht zu überhörenden tadelnden Unterton.
»Gestern war viel los«, antwortete ich und schielte auf mein stumm geschaltetes Telefon.
Neben drei Anrufen von Saskia waren eine Menge Mails reingekommen. Die meisten davon Werbung. Ich war sehr beliebt bei Zalando, Amazon und einer Gärtnerei in Potsdam, bei der ich letzte Weihnachten drei Töpfe Christsterne aus nachhaltig biologischem Anbau bestellt hatte. Seitdem studierte ich ihre Online-Angebote über winterharte Stauden und Rasendünger. Vielleicht pachtete ich ja irgendwann mal einen Schrebergarten. Ab und zu brachte ich es fertig, mich aus einem Newsletter abzumelden. Wie vor einer Woche aus der Punktekarte meines Supermarktes um die Ecke. Ich hatte es sofort bereut. Und als mir postwendend Bedauern bekundet wurde mit dem Hinweis, wie viele tolle Sonderangebote ich ab jetzt jeden Tag verpasse, fühlte ich mich wie auf Entzug. Trotzdem blieb ich standhaft.
»Pauline. Bist du noch da?« Nun klang Saskia wahrhaftig wie eine strenge Mutter.
»Entschuldige. Ich frühstücke gerade mit Napoleon.«
Der wärmte unter dem Küchentisch meine nackten Füße.
»Hast du einen neuen Freund? Den Namen finde ich aber albern. Schlimmer als William Gonzales.«
Saskias Alptraum-Kunde! Musizierender Sohn eines deutschen Serienschauspielers. Saskia hatte vor einem Jahr das Outfit für seinen Konzertauftritt geschneidert und war schier an den modischen Ansprüchen des Sprösslings verzweifelt. Kein Designer ließ sich gerne vorschreiben, wie er die Nähte zu setzen hatte.
»Ich habe gestern meinen Onkel mit Tante nach Hamburg gebracht. Napoleon ist ihr Hund.«
»Ach ja. Stimmt. Das habe ich total vergessen.« Saskia stöhnte auf. »Sven ist gestern vom Rad gestürzt und hat sich den Vorderzahn ausgeschlagen. Ich war sage und schreibe vier Stunden mit ihm beim Arzt.«
Eine selbstständige Designerin mit Kind hatte es nicht leicht. Die Arbeitszeiten dauerten gerne bis tief in die Nacht. Ein Grund, warum Saskia am Prenzlauer Berg als Haupteinnahmequelle eine Kleiderboutique für Kinder eröffnet hatte. Die gingen mit ihren Eltern am Tag shoppen und lagen abends brav im Bett, wohingegen reiche Sprösslinge ihr Outfit eine Stunde vor ihrem Konzert zum hundertsten Mal umgeändert haben wollten.
»Die gute Nachricht ist: Ich habe einen aufregenden Job für dich«, fuhr Saskia wieder munter geworden fort.
Ich staunte jedes Mal, wie schnell Mütter blutige Unfälle vergaßen. Sie dankten dem Himmel, dass ihr Nachwuchs überlebt hatte, und schon bereiteten sie sich auf die nächsten Pflichten vor.
»Welchen Job?«, fragte ich lahm.
Nach einer Tasse Kaffee fiel mir schaudernd in voller Grausamkeit mein Unfall mit dem Alfa ein. Wo Dominik Behrens jetzt stecken mochte? Hatte er den Kostenvoranschlag bereits auf dem Schreibtisch liegen?
Ich klemmte das Smartphone zwischen Kopf und Schulter, schüttete Napoleon eine zweite Portion Hundeflocken nach und lauschte weiter Saskia.
»In der Nähe des Winsviertels macht demnächst ein furchtbar nobles Hotel auf. Irgendetwas ging mit den Uniformen schief. Jetzt müssen sie auf die Schnelle neue entwerfen lassen.«
»Etwa das Somnus?«
»Genau. Die Ausschreibung kam gestern raus. Du musst dich nur bewerben.«
Ein Traumauftrag! Das Somnus war eines dieser Vorkriegs-Traditionshotels, das vor Jahrzehnten in einen Dornröschenschlaf gefallen war. Jeder in Berlin wusste, dass die ursprünglichen Besitzer ihr Eigentum nach einem Gerichtsstreit zurückbekommen hatten. Und jeder kannte vom Vorbeifahren die mächtige Baustelle nahe dem Volkspark.
»Was für ein Design stellen sie sich vor? Haben sie irgendwelche Vorgaben?«, japste ich aufgeregt und klang Napoleon, der neben mir geräuschvoll seine Cerealien verschlang, sehr ähnlich.
»Ich weiß auch nicht mehr. Sieh mal auf ihrer Homepage nach. Dort steht alles über die Ausschreibung. Nächsten Dienstag ist Abgabetermin.«
Das war sportlich. Nicht mal eine Woche Zeit.
»Und was ist mit dir?«, fragte ich nicht ohne schlechtes Gewissen. Konkurrenzdenken hatte nie zwischen uns gestanden. Und in alter Freundschaft empfahlen wir uns oft gegenseitig Kunden weiter.
»Mach dir keinen Kopf. Ich hänge voll in einem Auftrag für Norwegen fest. Ein Nobelkaufhaus in Oslo will meine Kinderkleidung in ihr Sortiment aufnehmen.«
»Das ist klasse. Skandinavier zahlen sicher pünktlich.«
»Das hoffe ich. Allerdings ist die Zollabwicklung ein Graus. Ich muss Papiere ausfüllen, deren Namen ich nicht mal kenne. Sagt dir ein CN23-Zollformular was?«
Da musste ich passen.
Plötzlich sah ich wieder optimistisch in die Zukunft und verschob das Alfa-Romeo-Problem auf morgen. Mein Cousin Paul hatte mir nämlich zum letzten Geburtstag einen wertvollen Ratgeber geschenkt: »Zum Erfolg mit Selbstdisziplin«. Ich vermutete, er wollte damit rechtzeitig mein nächstes Lebensjahrzehnt optimieren. Seine eigene Karriere lief seit der Einschulung erfolgreich.
Das Buch war toll: Es legte mir ans Herz, dass ich im Alltag Prioritäten setzen und diese mit Disziplin umsetzen musste. Also nicht zu spät aufstehen, nicht halb angezogen durch die Wohnung laufen, nicht Kaffee auf die gute Bluse schütten und deswegen zu spät zu einem Kundentermin kommen. Stattdessen sollte ich den Alltag mit Gewohnheiten strukturieren: aufstehen, sobald der Wecker läutet, gesund frühstücken (was ich sowieso tue – ich mag Joghurt mit frischen Früchten), danach die Tagesaufgaben im Kopf ordnen, diese dabei mit einem Punktesystem priorisieren.
Das Hotelprojekt hatte jedenfalls Priorität.
Ich lief nach oben ins Schlafzimmer und zog meinen Laptop aus dem Trolley. In der nächsten Stunde durchforschte ich alles nach dem Somnus-Hotel und die Ausschreibung. Eigentümer war ein Rafael Sternberg, Urenkel des Hotelgründers. Wenn Rafael Sternberg in Wirklichkeit nur halb so gut aussah wie auf den todsicher retuschierten Pressefotos, musste ich mein Allerbestes geben. Denn es starrte mir eine Mischung aus klassisch-römischem Gott, sportlichem Surfertyp und Business-Mann mit Visionen in den Augen entgegen. Letzteres ähnlich den Bildern von CEOs der amerikanischen Multikonzerne.
Verwirrt von diesem Anblick männlichen Erfolgs überflog ich meine momentanen Verpflichtungen (mit Ausnahme der anstehenden Reparatur von Onkel Quirins Auto natürlich). Das war schnell geschehen: Ich hatte weniger als eine Woche Zeit, einen Hosenanzug für eine in den 90er Jahren populär gewordene Schauspielerin fertig zu schneidern. Die Schauspielerin schuldete mir auch meinen Lohn für die Umarbeitung des sündhaft teuren Abendkleides, in das sie kurz vor einer Filmpremiere am Potsdamer Platz nicht mehr hineingepasst hatte. Solche Umarbeitungsaufträge fremder Kreationen bekam ich regelmäßig. Ich wunderte mich, warum manche Promis sich genierten, ihre Roben nachträglich von den eigentlichen Designern umarbeiten zu lassen. Für mich bedeuteten solche Jobs pure Schneiderarbeit mit wenig Ruhm und das mit knappen Terminen.
Ansonsten hatte ein Made-in-Berlin-Laden in Friedrichshain einige meiner Entwürfe verkauft und war bereit, weitere Stücke von mir anzunehmen. Viel Geld kam damit nicht rein, aber ich hatte bereits gute Ideen für die Wintersaison.
Andere Verpflichtungen fielen mir auch mit viel Mühe nicht ein. Ich konnte mich somit voll und ganz auf Rafael Sternberg konzentrieren.
Der Rest des Tages war eine einzige Entfaltung von kreativen Geistesblitzen. Wie stets bei angestrengter Arbeit lief mein Gehirn auf Hochtouren. Ich vergaß alles um mich herum und leider auch Napoleon. In letzter Sekunde ließ ich ihn in den Garten hinaus.
Was ich mit vorerst groben Skizzen zu Papier brachte, konnte sich sehen lassen. Mir schwebte keine starre Hoteluniform mit Kostüm und Anzug vor. Die weiblichen Hotelangestellten würden Culotte oder bequeme A-Linien-Röcke tragen, die Männer Slim-Fit-Hosen mit lässigen Blazern. Stoffe und Farbnuancen würden mit den Jahreszeiten wechseln. Unisex-Halstücher mit dem Markenzeichen des Somnus’, Schmetterlingsflügel mit Schlummerhorn, könnten sowohl die weiblichen als auch die männlichen Angestellten tragen. Statt langweiliger Schuhe dürften sie in modischen Sneakers laufen, weil bequemer. Allein das Service-Personal sollte klassische Kleidung tragen, allerdings mit dem Emblem des Hotels.
Ich sammelte gerade die weggeworfenen Papierbögen vom Boden auf, als es an der Haustür klingelte. Erschrocken, als wäre ich ein Dieb, der Tante Merets Goldschmuck klauen wollte, drückte ich die Bögen an meine Brust. Bis mir einfiel, dass die Kostbarkeiten ja in die Kabine eines Fünf-Sterne-Kreuzfahrtschiffes umgezogen waren.
Mit der täuschend unbefangenen Art eines Hausbesitzers öffnete ich die Tür. Michael Kainz stand vor mir. Der Mann, mit dem ich vier Jahre zusammengelebt hatte und der mir in meiner momentanen kreativen Glückseligkeit nur eine leichte Verwunderung abringen konnte.
»Was machst du denn hier?«, hauchte ich so frostig wie der kühle Wind, der um die Hausecke zog.
»Frau Pollatschek hat mir verraten, dass du zurzeit bei deinem Onkel wohnst, weil er auf Kreuzfahrt ist.«
Warum plapperte ich ständig alles aus? Ich wusste doch, dass Michael und ich ein Lieblingsthema unserer, oder richtigerweise jetzt meiner, Nachbarin waren. Trotzdem hatte ich ihr vor ein paar Tagen am Briefkasten erzählt, dass ich für einige Tage das Haus von Onkel Quirin hüten würde. Unsere beiden Alt-Berliner Wohnungstüren waren nur zwei Meter voneinander entfernt, und Frau Pollatschek hatte aufmerksam den Beziehungsverlauf mit Michael verfolgt. Sie hatte zweiundvierzig Jahre lang einen Zeitungskiosk betrieben, in dieser Zeit drei Ehemänner unter die Erde gebracht und lebte recht gut von deren Nachlässen. Offenbar gab es keine staatliche Beschränkung beim Bezug von Witwenrenten. Nach Michaels Auszug hatte ich darüber nachgedacht, sie mir als Vorbild zu nehmen und mir damit langfristig ein paralleles Geschäftsmodell aufzubauen.
»Ich muss nämlich in unsere Wohnung, einen USB-Stick holen«, sagte Michael. An seinem Hals kroch eine verlegene Röte hoch. »Er muss im Schreibtisch liegen.«
»Aha«, meinte ich, da mir nichts Besseres einfiel.
»Da sind Infos drauf, die ich für einen Artikel brauche.«
Während unserer Beziehung hatte Michael als freiberuflicher Sportjournalist nur sporadisch zu unserem Lebensunterhalt beigetragen. Manche Zeitungen zahlten noch unregelmäßiger als alternde Schauspielerinnen. Aber seit er Linda bei einer Sportgala kennengelernt hatte, war ihre Dynamik auch auf ihn übergesprungen. Jetzt sauste Michael von einer Leichtathletikmeisterschaft weiter zu einem Tennisturnier, nur um danach von einem Fußballspiel zu berichten. So hatten es mir zumindest unsere gemeinsamen Freunde erzählt.
»Wie war die Fahrt nach Hamburg?«, fragte Michael unerwartet fürsorglich. »Konntest du mit Quirins Automatik umgehen?«
Wie gut Michael mich kannte. Da fiel alle Reserviertheit von mir ab und ich erzählte ihm von dem Unfall. Einzelheiten zu Dominik Behrens sparte ich aus.
»Kann ich mir das Auto mal ansehen?«
In der Garage inspizierte Michael die Beulen und Kratzer.
»Scheint nicht schlimm zu sein. Mit Glück kann man es ausbeulen und neu lackieren. Wenn nicht, muss höchstens das hintere Teil ausgewechselt werden.«
Hingebungsvoll wischte sich Michael die Finger an einem Lappen ab. Wie das Thema »Auto« einem Mann sofort den Mantel des Selbstbewusstseins überstreifte.
»Wenn du willst, bringe ich es zu der Werkstatt von einem Kumpel, wenn ich mir den USB-Stick hole. Du kannst ja mit meinem Auto später nachfahren.«
Ich spürte einen Stich im Herzen. Michaels Leben und Freunde entglitten mir. Ich fragte nicht nach, wer der neue Kumpel war, sondern nahm das Angebot an, und drückte Michael den Auto- zusammen mit meinem Wohnungsschlüssel in die Hand. Wir vereinbarten, uns am Nachmittag im Café Newton nahe »unserer« Wohnung zu treffen.
Natürlich verspätete sich Michael. Wie immer. Daran hatte auch Linda nichts geändert. Oder er tat es aus reiner Gewohnheit nur bei mir.
Ein Touristenpaar aus Bayern, das nach freien Plätzen an meinem Tisch fragte und sich neben mich setzte, band mich leutselig in ihr Gespräch mit ein. Eigentlich wollte ich weiter über Stoffe für die Hotelkleidung nachdenken, aber Maria und Johann beharrten darauf, mir von Berliner Sehenswürdigkeiten zu berichten. Johann war Senior Finanzanalyst bei einer Münchener Versicherung und hatte als besonderen Bonus für Führungskräfte diese Städtereise erhalten. Gewohnt wurde im Marriott, und Maria zeigte sich ein klein wenig verstimmt darüber, dass es nicht das Adlon geworden war. Heute Abend würden sie ins Revuetheater gehen, und Maria fragte mich, wo sie etwas Passendes zum Anziehen finden würde. Denn die Berliner kleideten sich doch a bisserl anders als die Münchener. Ich verwies sie auf das Lafayette, solange es noch in der Friedrichstraße war. Zufrieden mit meinem Insidertipp zogen die beiden ab.
Als endlich Michael auftauchte, begrüßte ich ihn leicht verstimmt. »Warum konntest du nicht Versicherungs-Mathematiker werden?«
Michael glotzte verständnislos auf mich herab. »Ist irgendwas mit dir, Pauline?«
»Nöööö. Ich frag mich bloß, warum wir nie auf Kosten deiner Zeitungen irgendwohin zusammen verreist sind. Es gibt nämlich Menschen, die erhalten von ihren Arbeitgebern als Bonus Städtereisen. Zum Beispiel nach München. Das hätte mir mal gefallen. Die Leute dort sollen einen anderen Kleidungsstil haben, und ich hätte dabei meinen modischen Horizont erweitern können.«
Michael schüttelte den Kopf und setzte sich kommentarlos neben mich. Er bestellte sich einen Milchkaffee und aß meinen Käsekuchen auf.
»Du hast Glück gehabt«, berichtete er. »Mein Kumpel denkt, er kann das Auto locker bis zum Wochenende herrichten. Ist danach wie neu.« Er sah mich wie früher an, als magere Finanzen an uns genagt, uns dabei auch verbunden hatten. »Er macht dir einen guten Preis.«
Ein mittelgroßer Stein fiel mir vom Herzen, denn mehr als die 1300 Euro auf dem Konto konnte ich mir nicht leisten, ohne wie ein Bittsteller zur Sparkasse gehen zu müssen. Mit einem guten Preis würde ich problemlos Onkel Quirins Versicherung umgehen können. Immerhin blieben neun Tage bis zur Rückkehr des Kreuzfahrtschiffes. Die Zeit reichte sicher aus.
»Wie läuft es mit Linda?«, fragte ich in die gelöste Stimmung hinein.
Michael schaute mich mit tragischem Gesichtsausdruck an. »Linda ist mit einer Freundin für ein paar Tage zum Spa am Scharmützelsee. Sie lassen sich dort die Lippen und Augenbrauen mit Permanent Make-up auffrischen.«
Ich wunderte mich, dass Michael sich auf einmal mit Beautysachen auskannte. Wenn ich ihn gefragt hatte, ob er irgendwo meine Mascara im Bad gesehen habe, war die Antwort nur ein »Ähhhh? Was’n für’n Ding?« gewesen.
»Fühlst du dich nicht komisch, ganz allein in dieser riesigen Wohnung?«, forschte ich interessiert.
Meine, beziehungsweise unsere ehemalige Wohnung war auch nicht klein. Als Designerin brauchte ich Platz, und ein separates Atelier konnte ich mir nicht leisten. Somit hatten wir eine in die Jahre gekommene Drei-Zimmer-Altbauwohnung angemietet. Das Hellste war mein Arbeitszimmer geworden mit Nähtisch, Stoffballen und meinen Kollektionen. Ich fühlte mich wohl mit den hohen Zimmerdecken, dem abgetretenen Parkett und den abblätternden Doppelfenstern, durch die der Wind pfiff. Von Lindas Luxuswohnung, die ihr die Eltern gekauft hatten, trennten mich damit Welten.
»Es ist nicht einfach«, grunzte Michael aus dem tiefsten Abgrund seiner Seele und kratzte mit der Gabel ziellos ein Flöckchen Sahnequark vom rechten zum linken Rand des Kuchentellers. »Ach, Pauline! Ich war ein Idiot.«
Es war seltsam, so viel Tragik in Michaels Stimme zu hören.
Und ich war verwirrt. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich begriffen hatte, dass Michael nicht mehr Teil meines Lebens sein würde. Aber letztendlich hatte ich es akzeptiert, auch wenn es schwerfiel. Wenn sich Michael nun nach nur fünf Monaten Zusammenleben mit seiner neuen Liebe als Idiot bezeichnete, so begriff ich nichts mehr.
»Es ist alles unglaublich stressig«, seufzte Michael. »Ich hätte das mit Linda vorher alles sortieren müssen.«
»Du Armer«, warf ich ein, ohne recht zu verstehen.
»Ich war so ein gewaltiger Idiot.«
»Was gibt es denn Schlimmes?« Es war seltsam, ihn beruhigen zu wollen. Sollte nicht eher ich als alleingelassene Ex-Freundin getröstet werden?
»So ein gewaltiger Idiot«, wiederholte Michael und hypnotisierte das mittlerweile vertrocknete Flöckchen Sahnequark auf dem Kuchenteller.
Selbstkritik war grundsätzlich gesund, sofern sie nicht ausartete. Michael hatte nun den Anfang gefunden, und die Steigerung seines Kummers blubberte jetzt hemmungslos aus ihm heraus. Jede männliche Zurückhaltung fiel von ihm ab.
»Linda hat ihr Leben furchtbar perfekt organisiert. Mit Software-Programmen, die rechtzeitig piepsen. Für die Arbeit ist das ja okay, doch bei ihr piepst es sogar, um sie an ein Treffen mit Freunden in der nächsten Kneipe zu erinnern.«
Linda musste auch Pauls Ratgeber »Zum Erfolg mit Selbstdisziplin« gelesen haben. Und das nahm ich ihr eine Sekunde lang richtig übel. Jetzt drängte sie sich sogar in meine Familiengeheimnisse hinein.