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Kreuzfahrt durch ein schicksalhaftes Jahrhundert Fjodor Kokoschkin ist Gast an Bord des Luxusliners Queen Mary 2. Der rüstige Mittneunziger kehrt zurück in die USA, wo er seit den dreißiger Jahren eine neue Heimat gefunden hat. Jeden Tag auf See werden Erinnerungen an die Orte seiner Vergangenheit wach: St. Petersburg, die Stadt seiner Kindheit, wo die Bolschewiken 1918 seinen Vater ermordet haben. Odessa, wohin seine Mutter mit ihm geflohen ist. Berlin, bevor die Nazis sich breitmachten. Zwischen den Tischgesprächen und der Karaoke-Bar an Bord wendet sich Kokoschkin schließlich der fünfzig Jahre jüngeren Architektin Olga Noborra zu ... Lakonisch, fast beiläufig, erzählt Hans Joachim Schädlich in diesem Buch von der langen Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts. «Hans Joachim Schädlich ist einer der ganz Großen in der zeitgenössischen deutschen Literatur. Zweifellos ist dieser wunderbar weise Roman sein tröstlichstes Buch.» (Die Zeit) «Das ist das Meisterhafte in allen Büchern Schädlichs: Die Sätze sind so schlau, sie sehen aus, als wären sie ahnungslos.» (Herta Müller) «Hans Joachim Schädlich ist der große Lakoniker unter den deutschen Gegenwartsautoren.» (Die Zeit) «Ein Meister der Reduktion, der mit dieser Reduktion eine ungeheure Intensität erreicht.» (Süddeutsche Zeitung) «Die großen Gefühle, Trauer, Schmerz, Erinnerung und letzte Liebe, all das zwingt er mühelos in die Nußschalen seines kargen Stils.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung) «Ein außerordentlicher Roman.» (Neue Zürcher Zeitung) «Eine bedrängende Geschichte von Vertreibung, Flucht und Exil. Bewundernswert.» (Frankfurter Rundschau)
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2015
Hans Joachim Schädlich
Kokoschkins Reise
Roman
Ihr Verlagsname
Kreuzfahrt durch ein schicksalhaftes Jahrhundert
Fjodor Kokoschkin ist Gast an Bord des Luxusliners Queen Mary 2. Der rüstige Mittneunziger kehrt zurück in die USA, wo er seit den dreißiger Jahren eine neue Heimat gefunden hat. Jeden Tag auf See werden Erinnerungen an die Orte seiner Vergangenheit wach: St. Petersburg, die Stadt seiner Kindheit, wo die Bolschewiken 1918 seinen Vater ermordet haben. Odessa, wohin seine Mutter mit ihm geflohen ist. Berlin, bevor die Nazis sich breitmachten. Zwischen den Tischgesprächen und der Karaoke-Bar an Bord wendet sich Kokoschkin schließlich der fünfzig Jahre jüngeren Architektin Olga Noborra zu ... Lakonisch, fast beiläufig, erzählt Hans Joachim Schädlich in diesem Buch von der langen Geschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts.
«Hans Joachim Schädlich ist einer der ganz Großen in der zeitgenössischen deutschen Literatur. Zweifellos ist dieser wunderbar weise Roman sein tröstlichstes Buch.» (Die Zeit)
«Das ist das Meisterhafte in allen Büchern Schädlichs: Die Sätze sind so schlau, sie sehen aus, als wären sie ahnungslos.» (Herta Müller)
«Hans Joachim Schädlich ist der große Lakoniker unter den deutschen Gegenwartsautoren.» (Die Zeit)
«Ein Meister der Reduktion, der mit dieser Reduktion eine ungeheure Intensität erreicht.» (Süddeutsche Zeitung)
«Die großen Gefühle, Trauer, Schmerz, Erinnerung und letzte Liebe, all das zwingt er mühelos in die Nußschalen seines kargen Stils.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)
«Ein außerordentlicher Roman.» (Neue Zürcher Zeitung)
«Eine bedrängende Geschichte von Vertreibung, Flucht und Exil. Bewundernswert.» (Frankfurter Rundschau)
Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Heute lebt er wieder in Berlin. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u.a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg, Lessing-Preis, Samuel-Bogumil-Linde-Preis, Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Bremer Literaturpreis, Corine-Preis und Joseph-Breitbach-Preis.
Weitere Veröffentlichungen
Versuchte Nähe
Tallhover
Schott
Trivialroman
Anders
Der andere Blick
Vorbei
Familienstücke
Gib ihm Sprache / Vorbei
Der Sprachabschneider und andere Erzählungen
Sire, ich eile
Narrenleben
Aufsätze, Reden, Gespräche
In memoriam Hans Georg Heepe
«Nun? Beschlossen?» fragte Fjodor Kokoschkin, ein großer, hagerer, weißhaariger Mann. Der jüngere, kleinere, füllige Jakub Hlaváček schüttelte den Kopf.
Sie standen in der Lobby des Hotels Bogota in Berlin, es war am 7. September 2005, einem Mittwoch, nachmittags.
«Setzen wir uns doch», sage Kokoschkin. Er winkte einem Kellner und sagte: «Sie auch, Jakub?»
«Ja.»
«Zwei Kännchen Altrussische Mischung. Dazu Warenije.»
Hlaváček sagte: «Nach unserer Reise brauche ich Ruhe.»
«Wir könnten Hechte angeln.»
«In Boston?»
«Nahebei. Wie in Studená bei Telč, in Mähren.»
«Ich muß nach Hause.»
«Lieber Freund», sagte Kokoschkin, «ich verstehe Sie, mir geht es ja wie Ihnen. Ich bedaure, daß wir uns verabschieden müssen. Ohne Sie hätte ich die Reise nicht unternehmen können.»
«Ich hoffe, daß Sie den Zweck der Reise erreicht haben.»
«Das glaube ich.»
«Ich bin froh darüber, daß ich Sie begleiten konnte», sagte Hlaváček. «Vieles wußte ich vorher gar nicht. Manches wurde mir wieder gegenwärtig. Später hätte die Reise nicht unternommen werden dürfen. Meine Jahre …»
«Was soll ich da sagen! Gegen mich sind Sie …»
«Neinnein. Obwohl …»
«Bleiben Sie noch in Berlin?» fragte Kokoschkin.
«Nein. Ich fliege heute abend nach Prag.»
«Ich bleibe noch über Nacht. Morgen fliege ich nach London.»
Kokoschkin und Hlaváček standen auf. «Mein lieber Jakub. Ich weiß nicht, ob ich noch einmal nach Europa reise. Aber Sie können in die Staaten kommen. Dann müssen Sie mein Gast sein. Bleiben Sie gesund!»
«Das wünsche ich Ihnen», sagte Hlaváček.
Sie gaben einander die Hand.
Kokoschkin sagte zum Kellner: «Den Tee auf meine Zimmerrechnung.»
8. September 2005
Um 12:00 Uhr landete Kokoschkin in London-Heathrow.
Bei der Kontrolle von Kokoschkins Handgepäck in Berlin-Tegel war ein kleines Schweizer Taschenmesser entdeckt worden, das Kokoschkin abgeben mußte.
Nachdem Kokoschkin in Heathrow die Paßkontrolle hinter sich gebracht, seinen Koffer vom Band genommen und auf einen Gepäckwagen gehoben, schließlich den Zoll passiert hatte, sah er in der Empfangshalle Frauen, die Schilder mit dem Namen und Logo der Reederei hochhielten. Er machte halt bei einer dieser Frauen und folgte ihr sogleich mit anderen Leuten zum Sammelpunkt. Auf dem Weg bemerkte Kokoschkin, daß die meisten Leute der Gruppe eine Art Banderole, weiß, circa vier Zentimeter breit, um die Griffe ihrer Koffer geschlungen hatten. Er erinnerte sich, daß er im vorderen Fach der schwarzen ledernen Ticketbörse zwei solche Papierbänder gesehen hatte.
Am Sammelpunkt angekommen, nahm er eines der Papierbänder aus der Ticketbörse und schrieb die verlangten Angaben darauf: Name, Straße, Ort, Land, Telefonnummer, Deck- und Kabinennummer (die beide auf dem Ticket standen), zog das Papierband um seinen Koffergriff und drückte die selbstklebenden Enden zusammen.
Seit Berlin-Tegel hatte Kokoschkin mit niemandem gesprochen, abgesehen von der Stewardess im Flugzeug. Die Frauen mit den Schildern waren verschwunden. Die Wartenden standen oder saßen bei ihren Gepäckwagen, die meisten schwiegen.
Es erschien eine geschäftige Frau mit einem Schreibblock in den Händen; sie verkündete, nun werde man in Busse einsteigen. Kokoschkin gehörte nicht zu den ersten, die aus der Halle geleitet wurden. Als er an die Reihe kam, waren noch fünf Reisende übrig. Kokoschkin reihte sich als letzter ein. Er folgte den vieren und der Frau. An einer Barriere kurz vor dem Bus mußten die Gepäckwagen abgestellt werden. Es fiel Kokoschkin schwer, seinen Koffer von der Barriere bis zum Bus zu rollen, wo der Fahrer ihn verstaute.
Im Bus setzte Kokoschkin sich in die vorletzte Reihe, rechts. 13:30 Uhr verließ der Bus den Flughafen Heathrow. Drei Reihen vor Kokoschkin saß ein junger Mann, der sich Notizen machte.
Wenige Autos auf der Autobahn nach Südwesten. Sonne über dem Grün der Grafschaft Berkshire, nahe Windsor Castle. Kokoschkin nickte ein. Vor dem Hinweis auf Winchester war Kokoschkin wieder wach. Um 15:00 Uhr hielt der Bus vor Gate 4 der Eastern Docks in Southampton.
Einige Schritte vom Bus bis zur Abfertigungshalle. Kokoschkin wurde zu einem Schalter gewiesen.
«Ticket und Paß, bitte.»
«Fingerabdruck, bitte.»
«Schauen Sie in die Kamera, bitte.»
Nach einigen Minuten hielt Kokoschkin eine Plastikkarte mit Magnetstreifen in Händen: Foto, Name, Geburtsdatum, Nationalität, Paßnummer und Gültigkeit von bis, Einschiffung Southampton 8. September 2005, Ausschiffung New York City 14. September 2005: Die Karte soll zur Identifikation, als Kabinenschlüssel, als Scheckkarte für Zahlungen an Bord dienen.
Von der Abfertigungshalle ins Schiff – ein Schritt.
Zwei Stewardessen begrüßten Kokoschkin.
Kokoschkin nannte seine Kabinen- und die Decknummer. Die eine Stewardess sagte: «Sie können mit einem Aufzug hinauffahren.» Die andere sagte: «Sie können auch die Treppe nehmen.»
Er ging die Treppe hinauf, ging einen Gang entlang, der ihm endlos vorkam, stand vor seiner Kabinentür. Es kam ein Steward: «Ich bin Ihr Steward. Mein Name ist Philipp. Wenn Sie etwas fragen möchten oder brauchen – hier ist meine Telefonnummer.»
Kokoschkin gab ihm 10 Dollar und fragte: «Wo ist mein Koffer?»
«Der wird in Kürze gebracht. Das Personal stellt ihn neben die Kabinentür.»
Kokoschkin betrat seine Kabine. Er fand ein Schreiben vor, das zu 17:00 Uhr auf Deck 7 bat: Man möge üben kommen, wie das Leben zu retten sei mittels einer Rettungsweste.
Zuvor nehme man die Weste, die sich in der Kabine finde, in beide Hände und ziehe sie sich über den Kopf, mit den Reflektoren nach vorn. Man drücke die beiden Teile so zusammen, daß sich die Klettverschlüsse verbinden. Sodann ziehe man den Gurt um die Taille und schließe die Schnalle. Den Gurt so eng wie möglich ziehen, dabei die rechte Seite der Rettungsweste festhalten! An der Rettungsweste befinde sich ein Licht, das im Wasser automatisch aufleuchte, und eine Pfeife.
Bis 17:00 Uhr blieb noch Zeit. Kokoschkin wollte zuerst vom obersten Deck aus die Hafenanlagen betrachten. Er fuhr bis Deck 13. Sah große Schiffe, die festgemacht hatten. Sah kleine Schiffe, die in den Hafen einfuhren. Die Bläue des Wassers unter sonnigem Himmel am späten Nachmittag.
Nach der Reise mit Jakub Hlaváček kam plötzlich große Ruhe über ihn. Das Schiff eine Insel. Kokoschkin unerreichbar. Die Aussicht auf eine gleichmäßige mittlere Geschwindigkeit. Besinnung auf die Bilder der Vergangenheit.
Zurück in seiner Kabine, legte Kokoschkin die Rettungsweste an, wie es geschrieben stand, und machte sich auf den Weg zu Deck 7. Unzählige Leute in roten Westen.
Die Passagiere lernten: Nur im extremsten Fall sich ins Wasser fallen lassen! Sollte dieser Fall aber eintreten, so halte man sich die Nase zu und drücke die Handfläche gegen den Mund. Die andere Hand drücke man auf der gegenüberliegenden Seite gegen die Weste, damit sie nicht nach oben gerissen werde, wenn man aufs Wasser treffe.
Nun schaue man nach, ob direkt unter einem etwas oder jemand im Wasser schwimme.
Jetzt geradeaus schauen und nach vorne schreiten!
Die Passagiere lernten auch, daß das Notsignal aus sieben kurzen Tönen und einem langen Ton der Schiffsglocke bestehe. Wenn es ertöne, habe man warm angezogen (Kopfbedeckung nicht vergessen) mit angelegter Rettungsweste und mit lebensnotwendigen Medikamenten versehen zu einer Assembly Station zu gehen. Die Assembly Stations befänden sich eben hier auf Deck 7, wo die Rettungsboote hingen, wie man sehe.
Am Ende der Übung brachte Kokoschkin die Rettungsweste in seine Kabine zurück. Neben der Kabinentür stand sein Koffer.
Kokoschkin wollte, bevor er seinen Koffer auspackte, noch einmal auf Deck 7 gehen, das Promenadendeck. Neben Kokoschkin traten mehr und mehr Leute an die Reling. Hafenbedienstete in gelben Westen machten die Leinen los. Um 18:00 Uhr löste sich das Schiff fast lautlos von der Pier.
Abendessen 20:30 Uhr im Britannia Restaurant. Die Kleidung für den Abend: leger. Hemd oder Pullover und lange Hose. Sakko nicht nötig. Und die Damen? Bluse oder Pullover, Rock oder Hose. Kokoschkin trug nie Pullover, und er ging nie ohne Sakko in ein Restaurant.
Zeit umherzuwandern. Die Grand Lobby sechsstöckig. Zugang zu den Mayfair Shops auf der Höhe von Deck 3. Hermès, Chopard, H. Stern etc. Kokoschkin sah sich die Dinge zwar gerne an. Schmuck, Uhren, Parfums, Kosmetika, Kleidung, Spirituosen, Tabakwaren. Alles zu Phantasiepreisen. Aber er registrierte, daß ihn die Sachen nicht wirklich interessierten. Höchstens der Photo Shop.
Er warf einen Blick in den Chart Room; für einen Barbesuch war es zu früh. Zu schweigen von der Champagner Bar Veuve Clicquot. Aber Sir Samuels Wine Bar hielt ihn auf. Einen Apéritif.
Erst gegen 20:45 Uhr ging Kokoschkin hinunter zum Eingang des Britannia Restaurants.
Er war beeindruckt. Das Restaurant drei Decks hoch und so breit wie das Schiff. An der Stirnwand ein riesiger Gobelin: Das Schiff vor der Skyline von Manhattan. Zu Füßen des Gobelins der runde Tisch des Kapitäns, der Master genannt wird. Er residierte mit zehn Gästen.
Kokoschkin gelangte zu dem Tisch, der ihm durch eine Tischkarte zugewiesen war, die er aus seinen Papieren genommen hatte. Er verbeugte sich leicht: «Kokoschkin.»
Er setzte sich. Zu seiner Rechten eine dunkelhaarige Frau Mitte Vierzig. Sie sagte: «Noborra.»
Im gleichen Moment sagte der Mann zur Linken, an der Stirnseite: «Herr Kokoschkin, wir kennen uns. Aus Boston. Ich bin Josh Oakley.»
«Das ist eine Überraschung. Ich habe nicht vergessen, daß Sie mich einmal aus einer gefährlichen Lage befreit haben.»
Frau Noborra sagte: «Darf man wissen …»
«Ich war auf offener Straße angerempelt worden.»
Oakley sagte: «Sagen Sie ruhig: überfallen.»
«Zwei junge Männer hielten mich fest und verlangten Geld von mir. Ich war drauf und dran, ihnen Geld zu gehen. In diesem Moment trat Herr Oakley hinzu und zog seine Dienstwaffe. Die jungen Männer ließen mich los und rannten davon.»
Der schmächtige alte Mann, der Kokoschkin gegenübersaß, sagte: «Sie können mich Frank nennen.» Er wies auf die zarte alte Frau zu seiner Seite: «Das ist meine Frau.»
Sie sagte zu Kokoschkin: «Sie dürfen mich Lucy nennen.»
«Das ist freundlich von Ihnen.»
An der Stirnseite zur Rechten Kokoschkins saß ein junger Mann. Er sagte: «Sachnowski.»
«Sind Sie Russe?»
«Wie Sie.»
Frank sagte: «Sie kommen spät. Die Vorspeisen sind schon verzehrt.»
«Ich wollte einer Begrüßungszeremonie mit dem Master ausweichen.»
«Es gab keine. Zum Glück. Man müßte lange in der Schlange stehen. Das kommt vielleicht morgen.»
«Außerdem esse ich wenig. Die Vorspeise hätte ich ohnehin ausgelassen.»
Lucy sagte: «Ich hatte ein bißchen Avocado und Tomato in Pico di Gallo.»
Der Ober fragte Kokoschkin, was er zu trinken wünsche.
«Mineralwasser, nur Mineralwasser, bitte. Und als Entrée Waldpilze, Polenta und Spinat.»
Zu seiner Nachbarin sagte Kokoschkin: «Ich glaube, Noborra ist ein baltischer Name.»
«Ich bin Deutsche. Vielleicht kommen meine Vorfahren aus dem Baltikum.»
«Bestimmt.»
«Das glaube ich auch», sagte Sachnowski.
Zu Oakley sagte Kokoschkin: «Ich freue mich auf Boston. Ich sehne mich richtig danach, vor allem nach unserem Beacon Hill.»
«Sie waren längere Zeit fort?»
«Nein. Drei Wochen.»
«Wo?»
«In Europa und in Rußland.»
Lucy sagte: «Heutzutage rechnet man Rußland schon zu Europa.»
«Europa reicht gerade bis Polen», sagte Kokoschkin.
Sachnowski wandte sich Lucy zu: «Waren Sie einmal in Rußland?»
«Neinnein.»
«Das ist Asien. Gleich hinter Polen und dem Baltikum fängt es an.»
«Wir leben in London, in Richmond», sagte Lucy. «Von unserem Haus aus sehen wir die Themse.»
Oakley sagte: «Ich war nur eine Woche weg. Wenn ich zurückkomme, sind es zwei Wochen.»
«Dienstlich?» fragte Kokoschkin.
«An Bord des Schiffes auf der Fahrt nach Southampton dienstlich. Jetzt, auf der Rückfahrt, privat.»
Frank sagte: «Fast so wie wir. Wir fahren nach New York, treffen Freunde zum Lunch, gehen am Nachmittag wieder an Bord und fahren zurück nach Southampton.» Er lachte. «Alles privat.»
«Zwei Wochen auf See», sagte Frau Noborra.
«Das sind unsere Ferien.»
«Beneidenswert», sagte Sachnowski.
Frau Noborra fragte: «Wo leben Sie?»
«In Chicago. Ich war in Amsterdam. Zum Vorspiel. Beim Concertgebouw Orchestra.»
«Wo spielen Sie zur Zeit?»
«Im CSO.»
Lucy fragte: «Wo!?»
«Im Chicago Symphony Orchestra.»
«Dann habe ich Sie schon gesehen und gehört, im Konzert», sagte Frau Noborra.
Kokoschkin fragte Frau Noborra: «Sie leben auch in Chicago?»
«Ja.»
Sachnowski sagte, zu Frau Noborra gewandt: «Ich möchte die europäische Orchester-Tradition kennenlernen.
«Und?»
«Es hat nicht geklappt.»
Lucy sagte: «An Bord gibt es ein Streichquartett. Es spielt im Planetarium Illuminations.»
«Woher wissen Sie das?» fragte Kokoschkin.
«Das ist nicht unsere erste Reise.»
Sachnowski sagte: «Ich weiß nicht so recht. Ein Streichquartett auf einem Schiff. Die Streichquartette, die ich kenne, spielen an Land.»
«Nun ja», sagte Lucy.
«Sind Sie mit Ihrer Kabine zufrieden, Herr Kokoschkin?» fragte Frank.
«O ja. Es ist eine Balkonkabine.»
«Wie wir», sagte Lucy.
«Als ich zum erstenmal auf den Balkon trat», sagte Kokoschkin, «mußte ich an die Rettungsübung denken.»
«Ich bitte Sie!»
«Setzen Sie sich nie auf die Reling. Sollten Sie sehen, daß jemand von Bord fällt, so werfen Sie der Person einen Rettungsring zu oder irgend etwas, das schwimmt, rufen ‹Man Overboard!› und sagen dem nächsten Crewmitglied Bescheid.»
Oakley sagte: «Schön, wenn das immer so wäre.»
«Seien Sie nicht grausam», sagte Lucy.
«Immerhin ist das Wasser um die zwanzig Grad Celsius warm. Das hält man eine Weile aus.»
Sachnowski sagte: «Aber dieses riesige Schiff kann nicht einfach stoppen. Es hat schließlich mehr als neunundzwanzig Knoten drauf, das sind sechsundfünfzig Stundenkilometer.»
«Man läßt ein schnelles Rettungsboot zu Wasser», sagte Oakley.
Kokoschkin fragte Sachnowski: «Sind Sie in Rußland geboren?»
«Ja.»
«Ich frage mich die ganze Zeit, woher ich den Namen Sachnowski kenne. Musiker? Schauspieler? Sportler?»
«Schauspieler», sagte Sachnowski. «Wasja Sachnowski. Er hat den Serjoscha in Anna Karenina gespielt. Neunzehnhundertsiebenundsechzig.»
«Richtig. Und Tatjana Samoilowa war die Anna.»
«Stimmt.»
«Sind Sie mit Wasja Sachnowski verwandt?»
«Nein.»
Frau Noborra sagte: «Sie kennen sich aus in Asien.»
«Da gäbe es einiges zu erzählen», sagte Kokoschkin und blickte zu Sachnowski.
«Ich kenne die Verfilmung mit Greta Garbo, und die neueste, mit Sophie Marceau», sagte Frau Noborra.
Der Ober fragte, welche Desserts gewünscht seien.
Kokoschkin wollte auf ein Dessert verzichten. Frau Noborra bestellte Lime Sorbet, Chocolate Ice Cream, Vanilla Frozen Yoghurt, Peach Sauce. Da sagte Kokoschkin unvermittelt, das wolle er auch.
Nach dem Dessert verabschiedeten sich als erste Frank und Lucy. Lucy sagte in die Runde: «Stellen Sie Ihre Uhren sechzig Minuten zurück, bevor Sie schlafen gehen. Jede Nacht, bis wir in New York sind.»
Oakley sagte zu Kokoschkin: «Wir sehen uns morgen», und stand auf.
Sachnowski folgte ihm.
Kokoschkin hoffte, Frau Noborra werde noch bleiben. Aber sie ging. Kokoschkin blieb noch einige Minuten sitzen.
Im Chart Room setzte er sich nicht an einen Clubtisch, er stellte sich an die Bar. Neben ihm ein Mann, den er erkannte. Es war der junge Mann, der sich im Bus von Heathrow nach Southampton Notizen gemacht hatte. Kokoschkin bestellte ein Bier und hörte dem Jazz Trio zu: Piano, Kontrabaß, Drums. Obwohl das Trio ihm gefiel, blieb er nicht lange.
Mit dem Aufzug fuhr er bis zum Promenadendeck und ging an die Reling. Auf See kein einziges Licht. Die Luft mild, 18° Celsius.
Bevor er schlafen ging, stellte er seine Uhr um eine Stunde zurück.
9. September 2005
Kokoschkin verspürte keine Lust, zum Frühstück ins Britannia Restaurant zu gehen. Er ging ins Kings Court, Deck 7, suchte sich an den Büfetts sein Frühstück zusammen und setzte sich an einen kleinen Tisch, mit Blick auf die See. Er konnte an einem der Büfetts Frau Noborra sehen. Sie trug einen sportlichen Hosenanzug, ihr Haar hatte sie hochgesteckt.
Kokoschkin ging zu ihr, sagte: «Guten Morgen. Kommen Sie doch an meinen Tisch.»
«O.K.» Sie nahm nur Orangensaft, Früchtesalat und Kaffee.
Kokoschkin sagte: «Tun Sie mir den Gefallen, nennen Sie mich Fjodor.»
«Fjodor? O.K. Ich heiße Olga.»
«Was tun Sie in Chicago?»
«Sie sind sehr direkt. Ich bin Architektin im Büro meines Mannes.»
«Und woran arbeiten Sie als Architektin?»
«An einer verrückten Sache. Begrünte Dächer.»
«Nicht verrückt. Mich interessiert das sehr.»
«Was war Ihr … was tun Sie?»
«Ich war … bin Botaniker. Spezialgebiet Gräser und Halme.»
«Nein!»
«Ja! Ich habe ein Buch über Gräser geschrieben. Und ich habe mit Architekten zusammengearbeitet.»
«Sie überraschen mich, Fjodor.»
«Es ging meist um intensive Begrünung.»
«Das ist unsere Sache. Ich habe mich zwar auch mit Dächern für extensive Begrünung beschäftigt, aber Hallen- und Garagendächer sind für uns nicht interessant. Unsere Kunden wollen intensiv begrünte Dächer. Wir sind mit der Auswahl der Gräser nicht zufrieden.»
«Ich könnte Sie wahrscheinlich beraten, Olga. Natürlich umsonst.»
«Ich bespreche das mit meinem Mann. Kommen Sie denn gelegentlich nach Chicago?»
«O ja.»
«Fjodor, im Vertrauen. Ihre Reise nach Rußland und Europa. Nostalgie?»
«Nein. Ich mußte manche Orte meiner Vergangenheit einfach noch einmal sehen. Petersburg, Berlin, Prag. Nach Prag kam ich Dreiunddreißig, ein zweites Mal Achtundsechzig, im Prager Frühling.»
«Ich verstehe.» Olga stand auf. «Sehen wir uns beim Lunch im Britannia?»
«Ja.»
Das Schiff zu erkunden, machte Kokoschkin sich auf den Weg zur Bibliothek, der größten Bücherei auf See. Vom Kings Court Restaurant in der Schiffsmitte zur Bibliothek unterhalb der Kommandobrücke quer durch das halbe Schiff. In Gängen, her und hin, auf Treppen hinauf, hinab, unzählige Leute wie auf Wegen einer Stadt.
Die abgeschrägten vorderen Fenster der Bibliothek mit Blick auf den Bug, den Horizont. Zwischen den vorderen Fenstern Lesesessel. Kleine runde Lesetische, Sessel zwischen den offenen Edelholz-Bücherschränken. Auf der rechten Seite des halbrunden Raums sechs Computer.
Kokoschkin verspürte Lust, sich an einen Computer zu setzen und eine Mail an Jakub Hlaváček zu schreiben. Aber was hätte er schon schreiben sollen. Vielleicht, daß Sturm herrsche? Daß an den Treppenaufgängen und neben den Türen der Aufzüge Spucktüten zu haben seien? Daß das Schiff, unbeeindruckt von der stürmischen See, ruhig seine Fahrt mache? Wahrscheinlich aber hatte Hlaváček gehört, daß bei rauher See automatisch vier Stabilisatoren ausgefahren und an die Strömung angepaßt werden, um das Rollen des Schiffes zu verhindern. Interessanter für Hlaváček wäre es vielleicht gewesen, daß in der Bibliothek auf See aktuelle Tageszeitungen in handlichem Format zu lesen seien, die offenbar an das Schiff gefunkt würden und an Bord gedruckt worden wären. Kokoschkin wußte es nicht genauer.