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Ein zerrissenes Land. Eine zerrissene Seele.
Im Werk des weltberühmten Schriftstellers Lobo Antunes haben die Kolonialkriege seines portugiesischen Heimatlandes schon immer einen festen Platz. Nun geht er einen Schritt weiter und schreibt über das postkoloniale Angola, über die Zeit nach der Befreiung von der portugiesischen Herrschaft, als die damalige kommunistische Regierung auf brutale Weise gegen Oppositionelle in den eigenen Reihen vorging. Und es wäre kein Roman von Lobo Antunes, dem Meister der Polyphonie, wenn es nicht viele widerstreitende, melodische und rhythmisch sich abwechselnde Stimmen wären, die von der »Kommission der Tränen« und ihren fatalen Folgen erzählen und davon, wie ein Land seine Unschuld verlor.
Cristina lebt in der Altstadt von Lissabon, in der Nähe des Tejo, hin und wieder aber auch in einer psychiatrischen Klinik, denn sie hört Stimmen, die ihr keine Ruhe lassen. Auch Gegenstände und Pflanzen sprechen zu ihr, aber vor allem sind es ihre frühen Erinnerungen, die sie nicht mehr loslassen. Sie wurde in Luanda, der Hauptstadt Angolas geboren, ihr Vater war Mitglied der MPLA, der marxistischleninistischen Befreiungsbewegung, die nach der Unabhängigkeit des Landes an die Regierung kam. Ihre Mutter, eine weiße Portugiesin, hat er in dem Nachtclub kennengelernt, in dem sie als Tänzerin auftrat. Als es in den späten Siebzigern zu grausamen »Säuberungen« innerhalb der MPLA kam, mit Schnellgerichten, Folterungen und Hinrichtungen, lud er schwere Schuld auf sich und floh später mit seiner Familie nach Portugal. Damals war Cristina fünf Jahre alt. Und doch kann sie nicht vergessen, wie manche der Opfer so lange tanzten, sangen und lachten, bis sie für immer verstummten.
Flirrende Erinnerungen, in denen die Grenzen zwischen Realität und Phantasie verschwimmen, Traumgebilde und Halluzinationen, Wahrheiten und Gegenwahrheiten zeichnen in Lobo Antunes’ neuem Roman ein düster leuchtendes Bild Angolas und Portugals, das vielleicht stimmigste Bild einer Zeit, die geprägt war von Schuld und Rache, von Rassismus, Angst und Grausamkeit, einer Zeit, die bis heute nachwirkt.
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Seitenzahl: 514
António Lobo Antunes
Kommission der Tränen
Roman
Aus dem Portugiesischen von
Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand
Für Cristina
dieses Buch mit dem Beutel fürs Brot
in Moledo vor der Tür abgelegt
1.
Nichts, nur von Zeit zu Zeit ein Erschaudern in den Bäumen, und jedes Blatt ein Mund in einer Sprache ohne Beziehung zu den anderen, anfangs zierten sie sich, zögerten, baten sie um Entschuldigung, und dann Worte, die an sie gerichtet waren und deren Sinn zu verstehen sie sich weigerte, wie viele Jahre schon quält ihr mich, ich bin euch nichts schuldig, lasst mich, das als Kind in Afrika und dann in Lissabon, die Mutter trat an den Küchenschrank, in dem sie die Arzneien verwahrte
– Sind es die Stimmen Cristina?
hier in der Klinik Stille, durch die Spritzen verlieren die Dinge ihr Interesse an mir, ein Satz dann und wann, aber ohne Drohungen oder Feindseligkeit, nur der Name
– Cristina
beflissen, freundlich
– Wie geht es dir Cristina?
oder sich beschwerend
– Du hast uns zuletzt nicht mehr beachtet
das Bett, der Tisch und die Stühle trotz einer spürbar lauernden Feinseligkeit beinahe wieder Gegenstände, sie wagte nicht, sie zu berühren, legte sich hin, wobei sie so wenig wie möglich dachte, hoffte, dass die Kissen oder die Betttücher sie nicht spürten, und möglicherweise waren sie ja abgelenkt und spürten sie nicht, sie scheinen nichts zu spüren, denn kein
– Wie geht es dir Cristina?
seit Wochen schon, ausgenommen die Blätter wegen einer Laune des Windes, und die Münder einen Augenblick lang wieder da, was stören mich die Münder, der Klinikdirektor
– Ich überlegte gerade ob ich sie ein paar Tage rauslasse unter der Voraussetzung dass sie die Tabletten nimmt
und in dem
– Ich überlegte gerade ob ich sie ein paar Tage rauslasse unter der Voraussetzung dass sie die Tabletten nimmt
gab es nicht den Schatten einer Suggestion, eines Rates, der Befehl
– Du musst deinen Vater mit dem Messer töten
Gott sei Dank abwesend, beinahe Frieden, gäbe es Frieden, aber den gibt es nicht, es gibt in Luanda rennende Neger, Lastwagen mit Soldaten, Schüsse, Schreie in einem am Strand unter fliehenden Vögeln brennenden Krankenwagen, und als er aufhört zu brennen, kein Schrei, der Vater war Priester, war kein Priester mehr, und die Mutter böse
– Wer hat dir das erzählt Mädchen?
der Vater dunkel, die Mutter hell, sie war, bevor sie ihn kennengelernt hatte, mit dem Schiff gekommen, um in einem Theater zu tanzen, sie hatten es nicht so genannt, hatten einen anderen Namen gebraucht, da sie sich nicht an den Namen erinnerte, sagte sie Theater, und was war schon dabei, Priester gewesen zu sein oder in etwas mit einem anderen Namen zu tanzen, wenn die Stimmen in den Dingen oder in ihrem Kopf fragten
– Wie geht es dir Cristina?
verstummten die Schreie, erlosch der Krankenwagen, nur noch verbogenes Eisen auf dem Sand, etwas, das Körpern ähnelte, das sie für Köpfe hielt, auf der Insel vor dem Strand Überreste von Schiffen, wenn die Stimmen
– Wie geht es dir Cristina?
antwortete sie
– Ausgezeichnet
in der Wohnung in Lissabon sieht man vom verglasten Balkon aus den Tejo, sofern man den Fenstergriff öffnet, denn die Scheiben sind undurchsichtig, als der Mann wegging, der sie eingebaut hatte, die Mutter zum Vater
– Hast du nach all der Zeit immer noch Angst?
der Vater antwortete nicht, zumindest konnten die Bäume des jüdischen Friedhofes sie nicht sehen, und daher keine Drohungen und keine Feindseligkeit, sie blickte den Vater an, der in einer Ecke Schach spielte, auffuhr, sobald Schritte auf der Treppe
– Was hat der Vater Mutter?
und die Mutter, die wegen des Knies für sie nie getanzt hatte
– Dieses Knie
und die Schmerzen mit der Salbe aus der Tube massiert
– Macken
auf die Spüle wie auf einen Handlauf gestützt, denn in ihrem Fall bestand der Fußboden aus unter Mühen einzeln erklommenen Stufen, für uns war er glatt, das Knie zerlegte sich unter dem Rock und setzte sich wieder zusammen
– Macken
nicht so wie von den Blättern der Bäume gesagt, sondern gehaucht, die Mutter, der Zähne fehlten
– Warum fehlen Ihnen Zähne Mutter?
bissen mit riesigen Schneidezähnen das
– Macken
dessen Falten man glätten musste, um es zu hören, auf der Kommode ein Foto von damals, als sie in der zweiten Reihe von Tänzerinnen mit Federn und Pailletten tanzte, der Fingernagel, auf dem kaum noch Lack war, auf dem Rahmen plattgedrückt
– Das bin ich
will heißen nur Federn, kein Gesicht, hinter den größeren Federn die Federn meiner Mutter beleidigt
– Sie verdeckten uns immer
aber zum Glück schwiegen sie sofort, befahlen mir nicht, das Messer zu nehmen oder was auch immer kaputtzumachen, jedes Blatt ein Mund, daher den Finger warnend auf- und abbewegen, der niemals lackiert gewesen und, wäre er es, nicht ihrer war
– Vergesst mich
Menschen rennen durch Luanda, und der Fingernagel meiner Mutter verlässt das Foto
– Ich war keine wichtige Choristin
die Sonne außen an den undurchsichtigen Fensterscheiben, würde sie sie mit einem Nagel einritzen, aber in welcher Schublade sind Nägel, und wo sie den Werkzeugkasten verwahrten, wusste sie nicht, dann könnte sie die Sonne sehen, genauso wie die brennenden Krankenwagen mit denselben Schreien und derselben Aufregung darin, eines Abends hat sie die Streichhölzer aus der Speisekammer genommen und versucht, die Gardine anzuzünden, damit die Schreie verstummten, die das Wohnzimmer durcheinanderbrachten, aber die Mutter und ihr Knie humpelten die Stufen hinauf, die sich für sie bildeten, und sie nahm ihr die Streichhölzer weg, anstatt sie zu schlagen, drückte sie ihre Nase gegen den Bauch, da weinen die Erwachsenen nämlich, der Bauch hüpfte
– Warum hüpft Ihr Bauch Mutter?
und weit weg von der Nase, im Bauch versunken, eine Kehle, die keiner von uns beiden gehörte, wem gehörte die Kehle, die ebenfalls hüpfte, als die Mutter sie losließ, die Augen des Vaters selbstverloren auf ihr, fast brachten sie sie dazu, vor Seelenangst niederzuknien, sie antwortete ebenfalls mit den Augen
– Ich werde mich Ihretwegen nicht aufregen
und nicht nur die Augen, die Atmosphäre rings um die Augen, der Klinikdirektor
– Ich überlegte gerade ob ich sie ein paar Tage rauslasse unter der Voraussetzung dass sie die Tabletten nimmt
die Atmosphäre rings um die Augen ähnlich wie die alter Häuser, in denen niemand wohnt, auch nicht die Erinnerung der Toten, und dennoch heftet sie sich an einen und bleibt, wandert auf Echos verzichtend durch die Zimmer, ein Morgenmantel auf einem Samtsessel
– Ich gehöre niemandem bin allein
die Mutter
– Cristina
und was heißt hier Cristina, Senhora, wenn Sie wollen, dass ich antworte, rufen Sie mich, wie es sich gehört, mit dem Mund der Blätter, hinter den Spritzen wisperten die Stimmen, sie beugte sich zu ihnen vor
– Wie bitte?
und eine hinter ihrem Rücken, so traurig
– Wir dürfen uns nicht unterhalten Cristina
wenn sie wenigstens mit einem Nagel die Scheibe anritzen könnte, die sie von den Stimmen trennte, und indem sie sie von den Stimmen trennte, trennte sie sie von allem, von den Menschen, die in Luanda rannten, von den Lastwagen der Soldaten, den Schreien, ich war weder neugierig noch erschrocken, war geistesabwesend, hin und wieder stürzten Menschen und schleppten sich wie das Knie meiner Mutter ein paar Meter weiter, bevor sie zu Erdboden wurden, ein kleines Mädchen schaffte es bis zu ihrem Schuh, legte leicht die Wange auf die Schuhspitze, ließ die Schuhspitze los, gab auf, die Mutter wischte zu Hause das Blut mit dem Schwamm für die Töpfe ab, natürlich nicht in der Wohnung in Lissabon, in Luanda, gleich hinter Muxima, mit Steinwürfen gelöschte Laternen, von Maschinengewehren geblendete Balkons, wenn das Telefon zu schluchzen begann, verteidigte der Vater den Apparat mit ausgebreiteten Ärmeln
– Nehmt nicht ab
ohne sich ihm zu nähern, interessierte sie sich
– Sind Soldaten am Telefon Vater?
das Gesicht der Mutter, nicht die Lippen
– Halt den Mund
die Lippen reglos, Menschen, die an die Tür klopften, die Tür verließen und weiterrannten, nach all diesen Jahren hörten sie nicht auf zu rennen, manchmal dachte sie, dass Stille herrschte, aber es herrschte keine Stille, noch immer die Menschen, noch immer der Krankenwagen, noch immer die Lastwagen, wer würde ihnen das Blut mit dem Schwamm von den Schuhen wischen, jedes Möbelstück atmete für sich allein, nicht gemeinsam mit den anderen wie üblich, wenn sie gemeinsam atmeten, war das Wohnzimmer das Wohnzimmer, atmeten sie ein jedes für sich, verstand sie nicht, wo sie sich befand, Fragmente von Kommoden, von Gefühlen, von Schränken
– Wo leben wir?
der Vater schrieb, das Papier mit dem Ellenbogen bedeckt, er stieg aus einem Polizeijeep, kam morgens nach Haus, die Krawatte in der Tasche zusammengerollt und mit Flecken, deren Herkunft nicht zu erraten war, auf dem zerknautschten Anzug
– Streitet nicht mit mir
die Möbelstücke nicht nur ein jedes für sich, sondern durchsichtig, man erkannte das Besteck auf den Borden, Servietten, Knäuel aus Kordeln, Altardecken
– Haben Sie die Kirche ausgeraubt Vater?
Schüsse, nicht von einem Gewehr, stärkere, die Fassade der Schule in Trümmern, aus denen Diebe mit Karteikästen und Landkarten herauskamen, sogar beim Abschreiben machtest du Fehler, Cristina, schäm dich, sag uns, ob du noch heute Fehler machst, hättest du was gelernt, würdest du die Blätter verstehen und wüsstest du, weshalb die Soldaten auf die Bäume schossen, der Polizeijeep stand auf dem Bürgersteig und bewachte nachts den Vater, und dennoch Steine gegen die heruntergelassenen Rollläden, woher sie kamen, wusste man nicht, die Mutter
– Worin bist du verwickelt?
und der Vater schrieb, wenn er von den Papieren aufblickte, waren die Augen selbstverloren auf sie gerichtet, verweilten dort, sie spielen Schach gegen ein Buch, die Uferstraße von Luanda von Vögeln entleert, die Restaurants geschlossen, der Vater
– Geht nicht aus dem Haus
so wie er in Lissabon nicht aus dem Haus ging, fuhr ein Krankenwagen auf der Straße, zwang er die Mutter, einen Spalt vom verglasten Balkon zu öffnen
– Brennt er?
und unter den verbogenen Eisen zwei Köpfe, viele
– Ich überlegte gerade ob ich sie ein paar Tage rauslasse unter der Voraussetzung dass sie die Tabletten nimmt
Körper oder vielmehr, was wie Köpfe aussah, was wie Körper aussah, und zwischen den Köpfen und den Körpern ein echter Fuß, unversehrt, der unablässig hin und her schaukelte
– Cristina
denn alles redete mit ihr
– Alles redet mit mir
Tausende von Stimmen lenken sie beim Abschreiben in der Schule und beim Abendessen von der Suppe ab
– Wer keine Suppe isst den fressen wenn es dunkel ist die Tiere
nehmt die Stimmen hier weg, warum kann es nicht nur Hunger auf Obst geben, die Stimmen verabschiedeten sich, wenn es regnete, aber dann waren es die Regenrinne und die Tropfen, die von außen in mich eindrangen, und keine Bluse dämpfte ihren Lärm, mein Vater war Priester, bevor ich geboren wurde, jetzt ist er kein Priester mehr, ganz bestimmt nicht, obwohl er segnen und die Sünden vergeben kann, sie zog die Schuhe aus, sah die Füße prüfend an, unschlüssig
– Schaukeln sie hin und her wie der vom Krankenwagen Mutter?
damals war alles so groß, auch das Unglück und der Schrecken, wir möchten so groß sein wie das, was uns passiert, schaffen es aber nicht, als der Wellensittich gestorben ist, eine Enttäuschung voller Dornen, die vom Bauchnabel bis zum Hals reichten, daher verhielt sie sich reglos in der Hoffnung, dass sie sie nicht pieksten
– Tut mir nicht weh
und nach dem Tut-mir-nicht-weh
– Ist das womöglich Traurigkeit?
die Mutter hielt den Wellensittich an einem Flügel, und das Tier entfaltete sich wie ein Akkordeon mit kleinen Krallen in der Mitte, der Vater, erleichtert, dass der Krankenwagen nicht brannte
– Sie haben mein Versteck nicht entdeckt
falten Sie ihn an den Kniffen wieder zusammen und stecken Sie ihn in den Käfig, Senhora, es gibt Verstorbene, irgendwann, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, erkläre ich Ihnen, wie ich es erfahren habe, die wachen auf, blicken um sich, beschließen
– Ich kehre wieder zurück
und sie gehen, von den Veränderungen verwirrt, die ganze Zeit auf dem Flur auf und ab
– Bist du sicher dass du dich nicht in der Adresse geirrt hast Matilde?
wo doch keine Matilde, sie entschuldigen sich am Ende und verschwinden mit kleinen nervösen Schritten, man kann sich die große Schar der Verstorbenen gar nicht vorstellen, die auf der Suche nach dem Haus herumlaufen, das sie einmal bewohnt haben, wie war noch der Name der Straße, ich erinnere mich nicht mehr genau daran, mir war so, als wäre da ein chinesischer Basar, mir war so, als wäre da der Fleischer, aber ich bin wohl am Optiker vorbeigegangen und kann den Optiker nicht finden, sie setzen sich auf eine Bank
– Wenn ich mich hinsetze beruhige ich mich
die Mutter hat mit ihrem Knie zu tun, soll ich nun die Wärmflasche holen, soll ich die Wärmflasche nicht holen
– Als wäre es wichtig wo du dich versteckst diese Geschichte ist vorbei
in den Nächten, in denen der Vater nicht kam, störten die Verstorbenen sie in ihrem Zimmer, wenn sie das Betttuch abtasteten
– Gehörst du wirklich nicht zu meiner Familie Kleine?
die Mutter mit einem alten Verlassenes-Haus-Morgenmantel, wahrscheinlich schlüpfte sie heimlich in sie hinein, im Weggehen
– Jeder Mensch träumt schlaf weiter und zieh nicht an meiner Schulter
nach all diesen Jahren das Knie meiner Mutter, und meine Träume gingen anders weiter, was ist uns inzwischen passiert, in Luanda schossen die Soldaten nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Hunde, in Lissabon weitete der Blinde auf einem Stühlchen neben dem Kurzwarenladen die Nasenlöcher zu dem kleinen Jungen hin, der für ihn die Zigaretten kaufte
– Da ist eine Frau vorbeigegangen nicht wahr Carlos?
und der kleine Junge zog ihm das Geld aus der Tasche
– Es ist die Tochter vom Priester die Verrückte die mit sich selber redet
und ihre Röcke eng, die der Mutter
– Probier diesen hier
zu weit, wie waren Sie in meinem Alter, erzählen Sie, der Doktor, der ihr Knie behandelte, verständnislos
– Das Mädchen hier hört Stimmen?
neben einem Imperativ-Plakat, Vor dem Essen die Hände waschen, die Zeichnung mit den sich reibenden Handflächen unter einem Wasserhahn, aus dem das Wasser als gestrichelter Kegel kam, der Doktor war an der linken Ecke des Kinns schlecht rasiert und kaute, ohne ihnen auch das Schächtelchen zu reichen, Pastillen, die Silben aus den Wörtern löschten und alle Konsonanten zu Vokalen machten, die Zunge erschien mit der bereits winzigen Pastille auf der Spitze, er biss mit einem glassplitternden Geräusch darauf, zeigte
– Die Mandeln
als würde ein Doktor krank werden, so ein Lügenmärchen, am Strand in Angola gab es außer dem Krankenwagen an den Handgelenken mit Draht festgebundene, fast nackte Kerle, die dort hockten und warteten, was die Menschen betraf, so erinnerte sie sich am besten an die Resignation, in jedem von ihnen eine Nacht ohne Gewähr für den Morgen, noch hörte sie keine Stimmen, es gab keine Münder in den Blättern, die Mutter mit gefärbtem Haar, nicht dick, nicht alt, trug mit einem Pinsel blaue Augenlider über den rosa Augenlidern auf
– Was haben Sie gemacht bevor Sie getanzt haben Mutter?
– Ich habe in einer Fabrik gearbeitet
mal war es eine Fabrik, mal eine Schneiderei, mal ein Büro, dann
– Nerv mich nicht mit Fragen
sie korrigierte den Pinselstrich, aus dem kein Augenlid geworden war, sondern nur ein Schmierfleck, und wusch den Pinsel unter dem Wasserhahn aus, Vor dem Essen Hände waschen, die Mutter, über den Konsoltisch gebeugt, mit einem Foto, auf dem sie oben etwas trug und unten etwas anderes und Simone hieß, obwohl sie Alice hieß, zumindest nannte der Vater sie Alice, und Alice stand in den Briefen von einer Tante in einer Schrift, die die Lehrerin in der Schule jeden Mut verlieren lassen würde
– Ach Cristina
die Mutter vervollkommnete das Augenlid im Spiegel
– Deinetwegen habe ich das beinahe verpatzt
nicht mit dem Pinsel, mit einem Bürstchen und einem Stift, hin und wieder kam eine Kollegin von der Tanzerei, die in der Fabrik, in der Schneiderei, im Büro gearbeitet hatte, mit Tafeln zu beiden Seiten der Tür, auf denen Fotos wie die der Mutter zu sehen waren, nur anstatt des Namens Girls, dann bat sie um Geld in einem Pelzmantel ohne Pelz, mit räudigen Tuffs, so eine Katze hatten sie gehabt, wir haben sie im Hintergarten begraben, sogar mit Erde zugedeckt hat sie monatelang weiter miaut, und an bestimmten Abenden kommt sie tatsächlich zurück und ärgert uns, die Kollegin
– Probleme mit der Miete kannst du mir weiterhelfen Simone?
auf der Strohkiste von einem Sofa, so mager
– Simone
mit einer Stimme, die der der Bäume ähnelte, wo sind die Federn, meine Freundin, das hochgehobene Fußgelenk in der zweiten Reihe, mit weniger Pailletten und einem abgewetzteren Kostüm, erinnerst du dich an die Bucklige, die an der Garderobe mit einem Teller für das Trinkgeld auf dem Tresen geendet ist, und die Tochter in einer Wiege in der Küche, wenn Schluss war, behielt der Geschäftsführer die Hälfte der Münzen
– Danke Gott dass ich Mitleid mit dir habe
und ein Angestellter, ein Mestiço, strich die andere Hälfte ein, warnte
– Schön den Mund halten
erinnerst du dich an den Priester, der dich auf der Straße erwartete, zugeknöpft, respektvoll, eine Lilie in der Faust
– Madame
und wir zu dir
– Dir fehlt nur noch ein weißer Schleier
denn seiner Meinung nach kanntest du keine Männer, so wie er keine Frauen kannte, die Katze hat einen Augenblick lang dort oben miaut und ist wieder verschwunden, sie wollte rufen
– Katze
aber das Tier weigerte sich, auf sie zu hören, schau, die Erde in den offenen Augen, schau, wie sich der Schwanz bewegt, eine Pfote, eine zweite Pfote, die Schnauze hebt sich, zittert einen Augenblick lang, sinkt herunter, ihr war so, als ob sie
– Cristina
und ich schweigend
– Verzeih
die Mutter zur Kollegin mit einem Seitenblick zur Erinnerung an den weißen Schleier
– Die hier spricht mit den Schatten
aber sie sprach nicht mit den Schatten, sie beschränkte sich darauf, dem zu antworten, was sie unermüdlich verfolgte, die Sonne in den Mangobäumen zum Glück stumm, aber der Rest ein Aufruhr von Echos, wie kann ich bei euch und doch weiter allein sein, die Mutter Simone oder Alice und der Vater weder Alice noch Simone, kam und ging mit dem Jeep, die Mutter wartete tagelang darauf, dass er mit gezückter Lilie
– Madame
linkisch vor Schüchternheit und Leidenschaft, die Kollegin
– So lächerlich
lächerlich waren ihr Elend und der dunkle Nachwuchs im blonden Haar, sie versuchte, sich zu den Kunden aus der Fabrik, der Schneiderei, dem Büro an Tische mit dickem Männerlachen zu setzen
– Erlauben Sie?
und Handflächen verscheuchten sie
– Was will die denn?
daher die Zimmermiete, verstehst du, vielleicht ist noch ein Kotelett vom gestrigen Abendessen übrig, das ich in ein Beutelchen stecken kann, ich verspreche dir, ich tauche nicht wieder auf, störe dich nicht wieder, die Brauen der Kollegin zusammengezogen, ihr Blick irrlichternd, warum gruben wir sie nicht ein wie die Katze und beteten, dass sie nicht wiederkam, die Kollegin, kurz davor, ihr den Pony zu verstrubbeln
– Deine Tochter ist so hübsch
als sie sich mit einem Lächeln aus Lumpen alten Lächelns verabschiedete, das die Menschen konservieren, ohne es zu bemerken
– Ich sollte mir einen Priester anlachen wie du Simone
die Mutter ihrerseits nur ein Auge, und etwas Nasses rann an der Nase herunter, der Vater von hinten aus der Wohnung
– Wer war das?
das Nasse rann an der Nase herunter
– Niemand
und das stimmte, niemand, hast du irgendein Geräusch gehört, Cristina, außer den Stimmen und der Katze, die nicht aufhört, zurückzukommen und uns anzuklagen, wie oft habe ich meinen Mann gebeten, mich nach Lissabon reisen zu lassen, die Dame in der Botschaft machte mit einem Bleistift Striche auf einen Block, Dutzende Striche, letztlich immer ein und denselben
– Wissen Sie die Lage ist kompliziert geworden
oder, anders gesagt, mein Mann schrieb hinter dem Ellenbogen, das Gerenne, die Schüsse, ein paar der auf dem Strand hockenden Menschen versuchten, mit zusammengebundenen Schienbeinen zum Meer zu fliehen, und auch das Striche auf dem Block, noch mehr Striche, derselbe endlose Strich
– Die Lage
meine Fingernägel wuchsen erst gegen die Handflächen und dann ins Fleisch hinein, und die Eingeweide leer, sind wir gestorben oder all die anderen, was erzählen dir die Bäume, Cristina, was erzählen dir die Dinge, mir entzieht sich, was zwischen euch ist, wie auch zwischen dir und deinem Vater, ich werde missachtet, ich hole die Federn aus der Truhe, setze sie mir auf den Kopf und lege sie gleich wieder zurück, ich werde missachtet, mein Onkel packte mich am Arm
– Komm her Alice
in einer Bodensenke, in der es Fasane gibt, wenn man mir wenigstens sagen würde, wie man es schafft zu weinen, die Flügel kamen und gingen, vermischt mit dem Fiepen der Jungen, machen Sie, was Sie wollen, zerreißen Sie mich nicht, Senhor, und die Soldaten töteten nicht nur die Menschen, auch die Wellen, wer glaubt, das Meer könne nicht sterben, irrt sich, es bleibt bäuchlings auf dem Sand liegen und hört auf, uns anzustarren, ich bleibe bäuchlings in der Senke liegen, und mein Onkel
– Steh auf
würde ich das Jagdgewehr nehmen, wäre er ein Fasan, der Arme, das Hemd Federn, die Weste Federn, der Kopf hängt von einem Haken an der Taille herab, die Kollegin
– Simone
und nenn mich nicht Simone, nimm noch mehr ab, verschwinde, man wird dich, wie für die Tanzerei geschmückt, in einem Musseque finden, wo du Scherben und Erde isst, vor den Aufführungen haben wir die Strümpfe ausgebessert, die Korsagen mit Fäden in einer anderen Farbe ausgebessert, denn in der zweiten Reihe sah man das nicht so, ich beobachtete, wie mein Mann Mut fasste
– Madame
nicht wagte, mir zu folgen, ich war es, die zwischen den Mülleimern nach ihm suchte, und er versteckte verlegen die Lilie
– Ich wollte Sie nicht beleidigen
aber was könnte mich nach den Fasanen noch beleidigen, du schon gar nicht, ich hänge deinen Kopf an einen Haken an der Taille, der Besitzer der Fabrik, der Schneiderei, des Büros klatschte zornig in die Hände
– Mehr Fröhlichkeit meine Süßen
bis die Fabrik, die Schneiderei, das Büro leer waren, nicht einmal mehr ein Orchester, ein Grammophon auf einem Schemel hinter den Vorhangfalten verborgen, und wir nicht zwanzig, sondern vierzehn, nicht vierzehn, sondern sieben und eine einzige Reihe, daher fallen die mit Fäden in einer anderen Farbe ausgebesserten Korsagen auf, warum verbietest du mir zu gehen, ich bin nicht von hier, ich bin nicht schwarz, nichts, nur ein Erschaudern in den Bäumen, und jedes Blatt bebt in einer Sprache ohne Beziehung zu den anderen, Worte, die an mich gerichtet sind und deren Sinn ich nicht kenne, ich habe Angst davor, dass mein Mann und meine Tochter über mich urteilen, ich habe dich gehasst, als ich dich in meinem Bauch entdeckt habe, viele Abende, an denen die Senke mit den Fasanen im Bauchnabel wuchs, und ich hasste euch, die Überraschung, als du geboren wurdest
– Es ist kein Fasan
denn nachdem das mit meinem Onkel war, fand ich Fasanenblut, Blutstropfen, Kot, Vogelkleinigkeiten, der Wind bog die Zweige der Büsche, der selbstvergessene Blick meines Mannes, weder
– Simone
noch
– Alice
im Ellenbogen verborgen, während er schreibt, Polizisten, die im Garten wachen, und ein geheimes Licht in der Mimose, unter der wir die Katze begraben haben, Pfoten, die in einer Hoffnung auf ein Körbchen zu mir herauskommen, würde ich sie meiner Kollegin geben, würde sie sie essen, schlechtes Gewissen, weil ich sie nicht anrufe, grab unter der Mimose und nimm sie mit, sie kniet mit Federn und Pailletten im Beet, der Besitzer der Fabrik, der Schneiderei, des Büros
– Mehr Fröhlichkeit meine Süßen
und meine Kollegin lächelt, den Fußknöchel in der Luft, wir wohnten damals in Prenda, warteten auf der Treppe, bis die andere den Kunden abgefertigt hatte, und die Fasane waren zurück, pickten in den Büschen, im Regen tropfte der Priester Bangigkeit und Haar
– Madame
er zahlte und zog sich nicht einmal aus, möglicherweise bemerkte er die Münder der Blätter, die viele Jahre später mit meiner Tochter redeten
– Wie geht es dir Cristina?
und der Priester hatte mir den Rücken zugekehrt, ich nehme an betend, beim zweiten Mal suchte ich vergebens nach seinen Intimteilen, und er
– Haben Sie Geduld mit mir Madame
zwei Geckos bei der Lampe, nein, einer bei der Lampe, der andere im Schatten, ich hatte Mitleid mit seiner Angst und seinen Niederlagen
– Solange Sie mich bezahlen ist es mir egal
und ich hatte eine Vogelscheuche neben mir liegen, die Wirbelsäule aus Bambus, die Ärmel zu einem Kreuz ausgebreitet, die Gesichtszüge des Maiskolbenkopfes mit Kreide aufgemalt, will heißen Augenbrauen, Mund und ein halbes Dutzend Schneidezähne, die mich in einem Stück verschlangen, der Kniedoktor, während er bei meiner Karteikarte innehielt
– Stimmen wie?
und da der Verdacht, dass der Schreibtisch und die Waage sprachen, keine lange Unterhaltung, ein oder zwei Silben
– Ach Alice
ich suchte Cristina, und sie gedankenverloren, die Dame von der Botschaft beugte sich zu einem Geheimnis zwischen uns herunter
– Gehört Ihr Mann nicht der Kommission der Tränen an?
und umgehend diskutierten alle Dinge durcheinander, du dies da du das da, wie geht es dir Simone, eine Frau mit einem Schuss in jedem Glied, und der kleine Sohn löste sich von ihrem Rücken, rollte aus dem Tuch, in das sie ihn eingewickelt hatte, ich im Inneren von tausend Geräuschen
– Die Kommission der Tränen?
während die Dame die Stirn runzelte und dabei das Ohr größer werden ließ
– Ich verstehe Sie nicht
so wie ich sie nicht verstand, was für eine Kommission, was für Tränen, die des Maiskolbenkopfes des Priesters, die wie der Regen im Obstgarten meines Großvaters die Zähne auslöschten, hätte ich einen Strohhut, würde ich ihn ihm leihen, mein Großvater unter dem Vordach lauschte dem Wasser, und gleich darauf verstorben, mit Krawatte und Stiefeln auf dem Esstisch aufgebahrt, während der Besitzer der Fabrik, der Schneiderei, des Büros
– Mehr Fröhlichkeit meine Süßen
mit einem Stöckchen an meine Fersen schlug
– Hoch mit diesen Fußknöcheln
die Kollegin wird in einem Krankenwagen verbrannt oder unter den Wellblechplatten zurückgeblieben sein, als die Lastwagen der Soldaten die Musseques zerstört haben, ich frage mich, ob ich heute Simone oder Alice heiße, in dieser kleinen Lissabonner Wohnung rittlings über dem Fluss, Möwen, Ölflecken, eine humpelnde Schute, mein Mann sicher, dass jemand an die Tür klopfen wird, morgen oder später, mit riesigen Fingerknöcheln, er wird meine Tochter ansehen, wird mich ansehen, wird einwilligend den Schlüssel im Schloss drehen, und wir erkennen von der Lampe auf dem Fußboden hin und her bewegte Schatten von Gestalten auf dem Treppenabsatz, er wird mit ihnen weggehen, und der Platz beim Mittagessen leer, oder besser gesagt, die Welt genauso wie vorher, ausgenommen der leere Platz beim Mittagessen, während ich denke, es hat ihn nicht gegeben, ich habe mich geirrt, ich ersetze diese Fensterscheiben durch normale, und es erscheinen, endlich dürfen sie existieren, Häuser, das Tor vom jüdischen Friedhof, dazu der eingravierte Stern, der kleine Platz, auf dem sie das Knie ausruhte, während Tauben mit Krücken auf den Bänken rauchen und alte Männer um die Dächer kreisen und bei jeder Runde ihre Farbe wechseln, ich werde in der Gasse der Fabrik, der Schneiderei, des Büros vorbeigehen, aber auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig, und ein anderer livrierter Angestellter, andere Kunden gehen hinein, andere Simones, nein, Alices, die dabei sind, sich in Simones zu verwandeln, aber Alices und Simones aus den ersten Zeiten im einfachen Blüschen, mit Provinzfrisur, der Onkel
– Warte in der Senke auf mich
und harsche Bewegungen, Fasane, ich habe nie wieder Fasane gesehen, wo schluchzen sie, und warum tun sie es, erzählt es mir, Alice richtet ihre Haarklammern, aber ich habe auch Alice nie wieder gesehen, liebe Alice, der Großvater der lieben Alice
– Wie viel Uhr ist es Mädchen?
weil ein Problem mit den Augen ihm die Uhren und den Lauf der Sonne verwehrte, die sich übrigens nicht fortbewegt, sondern verteilt, wie oft habe ich ihn dabei erwischt, wie er mich von den Weiden her beobachtete, oder er erschreckte mich plötzlich auf dem Schulweg, mein Großvater verscheuchte die Sonne, bis er mein Gesicht erreichte
– Ich sehe dich übrigens nicht
er veränderte meine Gesichtszüge mit den Daumen, und ich
– Ich bin so wie Sie mich gemacht haben Senhor
er sieht mich nicht, aber ich behaupte, ich sei der Erinnerung ähnlich, die er hat, und wenn Sie Lust haben, mich mit den Fingern zu verändern, machen Sie es, er hat mir auf dem Jahrmarkt ein Kettchen gekauft, er versteckte sich hinter dem Hut, damit ich nicht daraufkam, dass er mich mochte, und dennoch vorsichtigere, leichtere Finger, behandle mich wie der Rest der Familie, keine Angst, ich gehe schon nicht kaputt, die liebe Alice ist widerstandsfähig, er briet Vögelchen für uns, die Fett aufs Brot tropften, er beklagte sich
– Du machst mir vielleicht eine Arbeit Mädchen
und er war glücklich, falls ich
– Was für Arbeit mache ich Ihnen denn?
bekräftigte
– Wozu bist du gut?
aber wenn ich mich entfernte, fragte er die Nebel, die ihn umgaben, in der Hoffnung, dass Verwandte dort, ein Patenkind, ein Neffe, der Onkel von den Fasanen
– Meine Enkelin?
und seine Enkelin, die liebe Alice, sie hob das Fußgelenk in der Fabrik, in der Schneiderei, im Büro, die liebe Alice in Luanda, voller Sehnsucht nach den Vögelchen, selbst wenn sie die Fußknöchel in der Luft hielt, aus dem Rhythmus geriet, während der Großvater sich, durch die Wände hindurchgehend, ins Schlafzimmer begab, er kam von uns unerwartet, mit dem Spazierstock rudernd auf der anderen Seite heraus, wenn man ihm sagte, dass er durch Wände ging, glaubte er es nicht
– Ich?
ich stieg in dem Augenblick aus dem Linienbus, als sie den Sarg herunterließen, ich erinnere mich an die Männer und die Seile, auch an die Bäume, und jedes Blatt ein Mund ohne Beziehung zu den anderen, anfangs zieren sie sich, zögern, bitten um Entschuldigung, und dann Worte, die an mich gerichtet sind und deren Sinn ich nicht zu erkennen vermag
– Und schaffst du es Cristina?
lasst mich in Frieden, nervt mich nicht, wie viele Jahre schon
– Gehört Ihr Mann nicht der Kommission der Tränen an?
verfolgt ihr mich, das mit dem Großvater war im Frühjahr oder im Herbst, und ich sage im Frühjahr oder im Herbst, weil ich beginne, die Jahreszeiten zu verwechseln, April oder November, ist egal, die Monate verändern sich nicht, und die Krankenwagen brennen am Strand, sie werden für immer brennen, genau wie das Gerenne und die Schüsse nicht aufhören werden, Ihre Enkelin vom Knie blockiert, stellen Sie sich das vor, sie humpelt, selbstverständlich haben Sie sie nie liebe Alice genannt, welche Übertreibung, was man alles herausfindet, wenn man sich selber fühlt, wie soll ich es ausdrücken, ich drücke es nicht aus, was man alles an schwierigen Morgen herausfindet, die Kollegin zu meiner Mutter
– Probleme mit der Miete kannst du mir nicht irgendwie weiterhelfen Simone?
ohne Federn und erhobenen Fußknöchel, so mager, ein schwieriger Morgen ist, wenn
– Was haben Sie gemacht bevor Sie getanzt haben Mutter?
ist, wenn nur die Katze auf dem Fußboden auftaucht und nach uns sucht, nicht in Luanda, hier, dieselbe Katze, das schwöre ich, mein Großvater Erde oder vielmehr Seile, die ihn hinunterließen, und ich stand neben dem Bus und starrte ihn an, meine Mutter unvermittelt wieder Alice, nicht Simone, sie werden Sie nicht töten, Vater, haben Sie keine Angst, alle haben die Menschen mit den zusammengebundenen Handgelenken am Strand vergessen, nur wir nicht, ein paar Tage raus unter der Voraussetzung, dass sie die Tabletten gegen die schwierigen Morgen nimmt, staubige Ruinen, winzige Fragmente, ich in den Armen einer Frau, aber welcher, denn die Soldaten haben Dutzende von Nachbarinnen mitgenommen, übrig geblieben sind wir in Lissabon, wo mein Vater Schach spielt, ich in den Armen einer Frau, ich hielt ein zerbrochenes Spielzeug fest, das ich, als sie mich auf dem Boden absetzten, noch einmal mit einem Stück Eisen zerbrach, um nicht zu weinen, weil ich es verlor, es hörte auf zu existieren, hat nie existiert, und ich ruhig, ich erinnere mich an einen Kerl, der zwischen Müll und Asche neben Vögeln mit kahlem Hals, die die Verstorbenen mit den Klauen entleerten, auf einem Backstein saß, sogar nachts hörte ich das steife Papierrascheln der nicht weißen, sondern braunen Flügel und die roten Füße, die Füße hoch, meine Süßen, eins zwei drei eins zwei drei, und meine Mutter trat an den Sarg meines Großvaters, hielt die Taille der Kollegin links und der Kollegin rechts im Takt der Musik, eins zwei drei, eins zwei drei, nun mal los, nun mal los, wie viele waren wir, zwölf vorn und zwölf hinten, dann sieben vorn und sieben hinten, dann nur noch vier und dann nichts, der Besitzer der Fabrik, der Schneiderei, des Büros
– Es werden keine Künstlerinnen mehr geboren
bis er seinerseits verschwand, ohne den Lohn auszuzahlen, das Plakat Girls lehnte an der Schwelle, kein Foto, und die Löcher der Nägel umrahmten die helleren Rechtecke unserer Abwesenheit, mein Großvater ist nicht tot, er lädt mich nach der Aufführung an den Tisch ein
– Setz dich Mädchen
verändert meine Gesichtszüge mit den Daumen, und ich bin glücklich, mein Arm an seinem Nacken, mein Bein an seinem, mein Großvater kitzelt mich
– Versprich mir dass du böse mit mir sein wirst
denn ich möchte, dass du richtig böse zu mir bist, schimpf mit mir, tu mir weh, und ich denke an die Fasane, die Fasane in der Senke, die schreiend vor den Truppen flohen, waren das Einzige, was mir einfiel, und mein Vater, wie er sich hinter dem Haus an den Mülleimern festhielt
– Madame
die Lilie vor dem Regen schützte, er kümmerte sich nicht um sich selber, ihm war die Blume wichtig, meine Mutter zur Kollegin, die uns besucht hat
– Ein Priester?
kam zu den Mülleimern zurück
– Bist du ein Priester?
und mein Vater zog sich stumm zurück, richtig böse zu mir, bestraf mich kräftig, hör nicht auf, ich verdiene kein Pardon, lass nicht locker, denn ich verdiene kein Pardon, die Nacht kam, und mein Vater
– Macht das Licht nicht an
daher nur der Widerschein der Straßenlaternen an den undurchsichtigen Fensterscheiben, meine Mutter ging zurück zum Bus, vier Stunden vom Dorf bis nach Lissabon, und Obstgärten, Brunnen, ein Zug auf einer Brücke
– Wie dieser Fluss wohl heißt?
gekreuzte Stöckchen und über dem Feuer die Vögelchen auf dem Spieß, das Fett sammelte sich, legt, wo das Fett heruntertropft, ein Stück Holz darunter, manchmal eine Feder im Mund eingerollt, manchmal ein Knöchelchen, das die Zunge lange nicht fand, das Kinn des Großvaters glänzte, die Finger an der Hose abgewischt, der Großvater fragte den Nebel
– Meine Enkelin?
und hier bin ich, Senhor, ich bin nie weggegangen, erlauben Sie, dass ich Sie nach Hause führe, damit Sie nicht über diese Gießkanne, diesen Eimer stolpern, die liebe Alice ist nie nach Angola gegangen, die liebe Alice hilft Ihnen, eins zwei drei dieser Fußknöchel, eins zwei drei der andere, die liebe Alice
– Wozu bist du gut?
die zu nichts gut ist, nicht weiß, was sie neben dem Wort Girls tun soll, vor einer Tür, die sie nie öffnen würde, vor einer endgültigen Tür.
2.
Der Jeep mit dem Vater in Luanda, das nie so viele Straßen hatte wie in jenen Nächten und nie so viel Stille in den Bäumen, die der Stille glich, wenn die Welt vergaß, sich fortzubewegen, alles für ein paar Augenblicke stillstand, Gesten, Hass, Uhren, wir verblüfft
– Wo sind wir jetzt?
es bleibt das Bild der Heiligen Jungfrau, überrascht im geschnitzten vergoldeten Rahmen
– Also wirklich
und die Welt kam nach und nach zurück, die Schüsse hörten auf, und noch mehr Gassen, noch mehr Sträßchen, noch mehr Musseques, umgestürzte Bretterwände, bei denen Hühner schluchzten, eine Ziege schwebte aufs Geratewohl herum, oder nur die Glocke, die an keinem Kehllappen herabhing, lief dort vorbei, in den Falten eines Gebäudes verborgene Menschen, die nicht Teil der Dunkelheit, sondern Teil der Häuser waren, immer weniger Füße, weniger Arme, weniger Fleisch, Backsteine, auf denen Lippen, zu Wänden geworden, immer noch atmeten, ihn mit den Augen aus Mörtel verfolgten, die ihn sahen, obwohl sie blind waren
– Der Priester
er, der schon vor Jahren aufgehört hatte, Priester zu sein, er arbeitete in einem Ministerium, und dennoch, wo warst du noch gerade, António, und dennoch nichts, achtet auf die vor Angst hohlen Augen, au, auf die Leichen, bäuchlings, die Spuren von Buschmessern und Kugeln, fast alle Leichen bäuchlings, wo sind die Gesichter, in der Glocke, die zurückzukommen schien, wieder verschwand, trotz der Explosionen unaufhörlich der leise Ton, mal links, mal rechts, während der Jeep weiterfuhr, Knochen ans Tageslicht beförderte, im Seminar wurden die Schüler mit so einer Glocke geweckt
– Sechs Uhr sechs Uhr
sie riss ihn heftig wie ein Kran von der Matratze, wobei er wirre Träume auf das Betttuch tropfte, die Mutter auf Knien in der zu den Sonnenblumen geöffneten Küche des Postenchefs, und die Frau des Postenchefs
– Bitte um Verzeihung du Diebin
Ölpalmen oder Kokospalmen, genau wusste er es nicht mehr, bis hin zum Meer von Moçâmedes, und die Ohren der Meeresschnecken zählten die Wellen, siebzehn, achtzehn, neunzehn, nach der Neunzehn ellenlange Zahlen, die sie einem in der Schule nicht beibrachten und die nur sie kannten, der Wunsch zu bitten
– Wiederholt das
die Mutter übergab ihn italienischen Missionaren in einem Hof mit einem Brunnen, einem Engelchen, das aus Mooslippen tropfte, der im Nebenbett spähte zu seinen Intimteilen im Pyjama
– Zeig her
an zähflüssigen Morgen mit wehenden Frauenhaarfarnen vor dem dunklen Fenster suchte er nach seinen Schuhen, dem Gebetbuch, der Soutane, die Frau des Postenchefs verspottete ihn von fern
– So hässlich
und Cristinas Vater hockte inmitten der Sonnenblumen auf einem Stein
– Ob ich einmal eine Eidechse war?
während der Wind der kühleren Jahreszeit Kehricht kreiseln ließ, er fand die Schuhe, das Gebetbuch und die Soutane, fand nicht die Mutter, die wohl noch immer in Cassanje kniete, während die eintausendeinhundertdritte Welle sich dem Strand näherte, um sie mit sich fortzutragen, Cristinas Vater
– Mutter
und die Mutter mit dem Messer zum Ausweiden der Schafe in der Hand
– Tut mir sehr leid aber ich kann nicht
der Jeep der Polizei auf dem Weg zum Gefängnis von São Paulo fuhr um eine Frau mit Schürze herum, die zufällig nicht sie war, wenn wir weinen, sabbern die Augen Spucke, in der Kehle nämlich sammeln sich die welken Tränenblätter, wenn wir auch nur leicht auf sie treten, protestieren sie sofort, wer hört nicht ihre Klagen, Herrschaften, die Vögel mit dem kahlen Hals wichen den Scheinwerfern nicht fliegend, sondern humpelnd, lauter Hornhaut an den Füßen, auf den zerstörten Bürgersteigen aus, der vom Nebenbett, bereits in die Schlange auf dem Weg zur Kapelle eingereiht
– Wirst du sie mir nie zeigen?
der andere Polizeijeep, ein Lastwagen mit Soldaten, einige nur mit halber Uniform und in Pantoffeln, hinter Moçâmedes die Wüste, und die Januarschlangen kamen bis zum Haus, die meisten aus den Wellen, die anderen, vom Regen vergrößert, aus Affenbrotbäumen und unter Steinen hervor, der Maniok blühte nicht, er schrumpfte, schau nur, wie dessen weiße Schädel auf der Bastmatte trocknen, mit jeder Kreuzung wuchs das Gefängnis von São Paulo, bis es die Größe seiner Panik erreichte, sie hatten ihm gesagt
– Du wirst Teil der Kommission der Tränen sein
oder, anders gesagt, Augen, die Spucke sabbern, in der Kehle nämlich sammeln sich die welken Tränenblätter, wenn wir auch nur leicht auf sie treten, protestieren sie sofort, sie sagten zu ihm
– Du wirst Teil der Kommission der Tränen sein
die Mutter auf Knien in der Küche des Postenchefs, in die die Sonnenblumen hereinkamen und das Geschirr durcheinanderbrachten, meine Mutter, während sie die Terrinen in Reih und Glied stellte
– Lasst das Haus in Frieden
und das Problem ist, dass es mir, je mehr ich mich bemühe, umso weniger gelingt, mich zu beruhigen, im Gefängnis von São Paulo Menschen über Menschen auf den Fluren, in den Zellen, die Handgelenke mit Draht zusammengebunden, die ihn wartend anstarrten, der vom Nebenbett, mitten in der Nacht
– Magst du mich nicht?
und ein- oder zweimal, ich habe es nie gebeichtet, habe ich so getan, als möge ich ihn, ich feierte die Kommunion, voller Angst, dass die Hostie mich wütend verraten würde, selbst wenn ich den Mund fest zumachte, und die zu mir heruntergeneigten Kruzifixe
– Sünder Sünder
die Missionare würden mich ins Büro rufen
– Pack deine Sachen
und ich, der ich nichts hatte außer dem Hemd und der Hose, die mir schon nicht mehr passten, mich würden sie zurück nach Cassanje schicken, ich würde schrumpfen und wieder in die Kleider passen, die Gewissheit, dass der Vater es wusste, obwohl es ihm nicht bewusst war, es gibt Teile von uns, die Leber, die Blase, die sind imstande zu begreifen, was der Kopf nicht versteht, sie teilen, über Steine stolpernd, mit
– Dies ist passiert jenes ist passiert
und wir stimmen nach einigen Überlegungen zu
– Tatsächlich
was den Vater betrifft, so wurde er nicht in einem Sarg beerdigt wie die Weißen, sondern auf einem Brett wie die Neger, und man bekam mit, dass er das unter den Wurzeln missbilligte, so wie man auch mitbekam, dass die Katze immer wieder zurückkehrte, sogar in Lissabon, ein Sichmühen unter den Schränken oder eine Erhebung, die sich auf dem Teppich fortbewegte, und das war sie, ich bemerkte es am Gesicht meiner Tochter, die sich mit den Bäumen und den Stimmen aus dem Nichts verständigte, Gott sei Dank wurden Sie beerdigt, Vater, hoffentlich erwürgen Sie die Wurzeln, und der vom Nebenbett ebenfalls stumm, in Cabinda, mit einem Knüppel im Bauch, wer ist Gott, er ist nicht da, die Heilige Jungfrau
– Also wirklich
sie verstand die Launen der Welt nicht, denn die Frauen bewahren Illusionen und Hoffnungen unversehrt, die undurchsichtigen Fensterscheiben verwirrten meine Tochter
– Hört da alles auf?
und ich vertat mich beim Schach
– Da hört alles auf
wo doch nicht alles dort aufhörte, das Gefängnis von São Paulo beispielsweise ging weiter, Gefangene über Gefangene auf den Fluren, in den Zellen, die Dame von der Botschaft zu seiner Frau
– Gehört Ihr Mann nicht der Kommission der Tränen an?
daher ist es ausgeschlossen, dass sie ihn im Stadtteil nicht suchen, keine Polizeijeeps, keine Militärlastwagen, Menschen, von denen er nicht wusste, wer sie waren, die aber wussten, wer er war, riefen auf dem Treppenabsatz nach ihm, der Sohn des Mädchens, das nicht aufhörte zu singen, während es geschlagen wurde, sie zogen es an einem Haken hoch, ließen es fallen, hörten sein Zahnfleisch auf dem Zement, und es sang mit dem Zahnfleisch, eine Kugel in den Bauch, und es sang, eine Kugel in die Brust, und es sang, sogar ohne Nase und ohne Zunge, als die Nase und die Zunge von rotem Geronnenem ersetzt wurden, sang es weiter, sie glaubten, es mit einer Pistolenkugel ins Herz zum Schweigen zu bringen, und die Büsche im Hof zitterten, ich frage mich, ob es anstelle der Büsche meine Hände waren, die keine Ruhe fanden, meine Frau, die Gabel vom Mittagessen in der Luft
– Was hast du?
und wie soll ich sie dazu bringen zu glauben, dass der Gesang mich nicht loslässt, meine Frau mit den Kolleginnen auf dem schmalen Pfad hinter der Fabrik, der Schneiderei, dem Büro, ohne Pailletten oder Federn, und er, die Blume gezückt, eine Lilie übrigens
– Madame
wo er eigentlich
– Gnädiges Fräulein
sagen wollte, nicht
– Madame
nicht alt genug für
– Madame
noch so viel Kindheit im Gesicht, vielleicht keine Lilie, aber es gefiel ihm sich vorzustellen, dass es eine Lilie war, wo findet man in Afrika Lilien, derjenige, der auch nur eine einzige findet, bekommt ein Stück Kuchen von mir, eines Tages erzähle ich, wo ich diese hier aufgetan habe, nein, ich erzähle es sofort, wahrscheinlich wurden sie in Europa bestellt, denn für unsere heilige Muttergottes selbstverständlich Lilien, wäre die vom Altar jene, die wir im Wohnzimmer haben, stünden ihr die Haare zu Berge
– Also wirklich
wäre sie von den undurchsichtigen Fensterscheiben
– Hört da alles auf?
und der Kleinheit der Erde verwirrt
– Wozu die ganze Anstrengung mein Sohn?
seine Frau, Simone oder Alice, und da er nie sicher war, hatte er sie mit gar keinem Namen angeredet, wie er auch nicht antwortete, wenn sie ihn rief, weil er in Luanda geblieben war und auf sie wartete, sich hinter der Fabrik, der Schneiderei, dem Büro im Regen die Jacke zuknöpfte, zwischen Bettlern, die Flaschenscherben, vertrocknetes Gemüse, Elend durchstöberten, während es im Kreuzgang des Klosters wilde Mandelbäume und die Holzkreuze der toten Missionare gab, in der Dämmerung zündeten sie kleine Papierlaternen an, um die Nacht zu beschwören, würde mein Vater eine kleine Papierlaterne hier aufhängen
– Wagt ja nicht mich am Tag zu töten
würde er gerettet werden, der Direktor
– Eine kleine Papierlaterne in der Klinik wozu?
und wie ihm begreiflich machen, dass ich nicht krank war, alle Blätter sprechen und jeder Mund Feindseligkeiten, Meinungen, Warnungen
– Wir mögen dich nicht
kein wilder Mandelbaum in Lissabon, die Krankenwagen, die die Straße entlangjaulten, während sie ihn zu einem Strand möglicherweise auf der anderen Seite des Tejo in der Nähe von dornigen Tuffs zu einer Bodensenke transportierten, von der aus man das Meer nicht sah, wo sich dieselbe Welle seit Jahrhunderten verabschiedete
– Mach’s gut
und er glaubte, dass er neben dem Gerippe einer Möwe oder eines Albatrosses sterben würde, die Albatrosse weiter oben, neben dem Gerippe einer Möwe, er hat die Frau nie mit irgendeinem Namen angeredet, sei es Simone oder Alice, und warum Simone, warum Alice, warum die Vorstellung von Fasanen, er, der keine Fasane kannte, Perlhühner, die ja, aber Fasane, wie sehen die aus, was machen die, wovon ernähren die sich, in welchem Bereich seines Hirns war diese fixe Idee entstanden, ihm gelang, ins Schachbrett verkrochen, mühsam ein
– Madame
und im Inneren des
– Madame
das die Jahre und das kranke Knie ganz allmählich zerfledderten, ein unversehrtes
– Gnädiges Fräulein
eigenartig, dass es Gefühle gibt, die sich halten, wenn ich dich an der Hand nehme, wenn ich dich nicht an der Hand nehme, keiner von uns beiden nimmt die Hand des anderen, wozu, weiche Finger, die man am liebsten abschütteln würde, und dann die eigene Handfläche und die eigenen Finger, die ja, mit Knochen, am Bein abwischen, ich frage mich, ob ich es war, der die Kugel ins Herz des Mädchens, mir ist so, als ob die Pistole, mir ist nicht so, als ob die Pistole, wie soll ich mich dreißig Mai später daran erinnern, ich ertrug nicht, sie singen zu hören, ich war es, die Nase und die Zunge bereits von rotem Geronnenem ersetzt, ich weiß nicht
– Gehört Ihr Mann nicht der Kommission der Tränen an?
die Kirche leer, nur ein Typ, der sich unaufhörlich mit der den Negern eigenen Monotonie bekreuzigte, ich holte die Lilie aus der Vase, und gleich darauf der vom Nebenbett
– Zeig her
zeigt mir dabei nicht den Knüppel im Bauch, erlaubt nicht, dass ich schlafe, weckt mich auf, ich will keinen Jeep an der Ecke, auch nicht diese offene Tür, und Soldaten, die an mir rütteln
– Komm her
meine Frau
– Hast du noch immer Angst?
und ich schäme mich nicht, es zuzugeben, ich habe immer noch Angst, das Gefängnis von São Paulo liegt jetzt vor ihm, Menschen über Menschen, die nicht fliehen, auf Fluren, in Zellen, sie waren schwer zu erkennen, die Gefangenen, wegen der Schwellungen, einmal abgesehen von den schmalen Fenstern, ich frage mich, wie meine Tochter es herausbekommen hat, denn ich habe geschwiegen oder wenn überhaupt nur stumme Schreie, die niemand gehört hat, haben etwa die Bäume und die Dinge beschlossen, sie zu informieren, aber wie, wenn sie Lissabon nie verlassen haben und daher nichts aus Afrika wissen, was Afrika betrifft, gibt es übrigens Augenblicke, in denen ich bezweifle, jemals dort gewohnt zu haben, Ehrenwort, seit Jahrtausenden dieses Schachbrett und diese undurchsichtigen Fensterscheiben, und dennoch ist jeder Bus ein Lastwagen der Streitkräfte, jedes Auto ein Polizeijeep, ich habe viele Wochen mit gezückter Lilie verbracht, nicht alle im Regen, das stimmt wohl, aber fast alle im Regen und dem Regen gegenüber gleichgültig, denn Simone, denn Alice, Simone habe ich auf den Fotos vom Plakat gelesen, Alice später, die liebe Alice, die in einem Schiff mit Frauen voller Pailletten und Federn für die Kaffeefarmer aus Lissabon gekommen war, als ich die liebe Alice erwähne, sehe ich gleich den blinden Großvater und die Vögelchen im Brot, da schleppt sie ihr Knie zum Schlafzimmer, es muss kompliziert sein, etwas zu transportieren, das nicht uns gehört, die Dame von der Botschaft
– Gehört Ihr Mann nicht der Kommission der Tränen an?
und schwer und unschlüssig, wenn sie glaubte, ich sähe sie nicht, eine Bitte um Hilfe, an wen gerichtet, ich weiß es nicht, die Heilige Jungfrau starrt uns nicht an, ist wegen der Enge des Universums besorgt
– Gibt es ein Draußen wirklich nicht?
und ein Draußen gibt es nicht, Senhora, es gibt das Gefängnis von São Paulo, und mein Vater sitzt mit den anderen an einem langen Tisch, darüber an der Decke zwei Glühbirnen, die in grauen Pfützen graue Lichtpfützen verbreiten, er fragt, zischelt, schilt mit den anderen Gefangenen auf den Fluren und in den Zellen, wen hast du gestern aufgesucht, mit wem hast du gesprochen, wo warst du, die Blätter seines Mundes nicht
– Ach Cristina
nicht
– Wie geht es dir Cristina?
welchem Feind hast du gestern etwas gegen uns geschrieben, warum hattest du vor, uns zu töten, und noch mehr Pfützen, Augen, die Spucke sabberten, Gemurmel erstickter Palmen, und nach dem Palmengemurmel eine leere Stille, in der ein Schiff mit einer kleinen Laterne aus Papier, Verzeihung, ein Schiff ohne kleine Laterne aus Papier Leichen in der Bucht aussetzte, in der das Meer Samen von Frauenhaarfarn gegen das Fenster drückte, im Seminar schlug die ganze Zeit Frauenhaarfarn gegen die Fensterrahmen, warnte
– Mach Gott nicht traurig
während der vom Nebenbett, leiser als die Frauenhaarfarne
– Gib mir
und zu viele Arme, zu viele Fingernägel, zu viel Schweiß an seinem Nacken, am Rücken, er dachte dabei niedergeschlagen
– Eines Tages wird es Gott ganz bestimmt erfahren
weil die Frauenhaarfarne es auch wussten und mich nicht mochten, die Frauenhaarfarne
– Du bist schwarz
mit einer einfach nicht enden wollenden Arroganz, meine Mutter auf Knien, und er außerstande, sie zu trösten, er schwarz
– Gehört Ihr Mann nicht der Kommission der Tränen an?
er gewundener Maniok auf den Bastmatten, er aus Stein wie in Lissabon, fast achtzig Jahre aus Stein, er mit der Mutter, die heute das hohe Steppengras nährt, in der Küche des Postenchefs, zu den Sonnenblumen gewandt, und hinter den Sonnenblumen die Mangobäume, um das Seminar herum Eukalyptusbäume, die einer Meinung waren
– Du bist schwarz
Schatten versammelten, in denen in dichten Trauben kopfüber die Fledermäuse schliefen
– Du bist schwarz
der Postenchef weiß, die Frau des Postenchefs weiß, meine Mutter schwarz, mein Vater schwarz, er arbeitete in einem Lager, wo er die Löhne verteilte, aber es gab keine Löhne, du hast die Steuer nicht gezahlt, hast, was übrig war, im Dorfladen ausgegeben, und die Idioten stumm, noch nie hatte er so unterwürfige Menschen gesehen, Fetzen von Hosen, Fetzen von Hemden, der eine oder andere Strohhut ohne Stroh, welchen armen Hund hast du bestohlen, du Dieb, er in der Kommission der Tränen
– Willst du die Portugiesen wieder zurück in Angola haben?
das Mädchen ohne Zahnfleisch und Zunge, das nur die Pistole zum Schweigen gebracht hatte, er begriff nicht, warum er es in Lissabon immer noch hörte, was hast du getan, damit ich dich in Lissabon hören kann, womöglich bringt euch das Meer einen nach dem anderen hierher, die Messe im Seminar ist morgens um Viertel nach sechs, und ihm ist eiskalt, hoffentlich erzählt es niemand Gott, hoffentlich kommt er nicht und ahnt etwas, Gott ist weiß wie der Postenchef und die Frau des Postenchefs, sie hat den Löffel, mit dem man die Suppe auf dem Herd umrührt, erhoben, streck die Händchen aus, Diebin, und mit jedem Schlag zerbricht eine Sonnenblume, unzählige gelbe Wimpern, und die Lackpupille entdeckt mich unvermittelt
– Hast du sie ihm gezeigt?
ich, der ich mit meiner Frau
– Macht es Ihnen nichts aus einen Neger zu heiraten?
nicht konnte, meine Tochter, und ich bezweifle, dass es meine Tochter ist, ebenfalls weiß, nennt mich nicht
– Vater
ich bin außerstande, sie zu streicheln, brauche gar nicht zu bitten
– Nenn mich nicht Vater
da sie mich überhaupt nicht anredet, sie vertreibt sich die Zeit mit den Stimmen, antwortet ihnen, wenn ich es schließlich einmal schaffe zu schlafen, ich, der ich es nicht schaffe zu schlafen, weckt sie mich aus dem Wohnzimmer, wo sie Geheimnisse flüstert, gäbe man mir eine Pistole, würde ich das Mädchen in mir zum Schweigen bringen, und mein Kinn auf dem Schachbrett würde die Figuren umstoßen, einer der Gefangenen reinigte die Pfützen mit einem Eimer, in dem die beiden Glühbirnen tanzten, mal zusammen, mal die eine, mal die andere, und meine Frau, als ich
– Macht es Ihnen nichts aus einen Neger zu heiraten?
lächelte beinahe, nicht vor Glück, aus einem geheimnisvollen Grund
– Und glaubst du etwa ich bin weiß?
trotz der hellen Haare und der rosa Haut, in den Mülleimern hinter dem Haus ein Fieber, das sie Fasane nannte, die ich aber nie sehen würde, da ich in Portugal nur dieses Haus kenne, schau, der Großvater, wie er gerupfte Geschöpfe auf einem Rohrstock brät, meine Frau wegen des Rohrstocks empört
– Ein eiserner Spieß
denn dass es ein Spieß ist, ist wichtig, und Eschen und Felsen, an denen ein Wasserrinnsal, ohne die Erde zu erreichen, herunterläuft, ein Blinder verbirgt die Freude im Bart
– Mein Großvater
alles farblos, außer dem verblichenen Lumpen des Lächelns, schräge Palisaden, Fensterchen, durch die keine einzige Sonnenblume, kein Frauenhaarfarn, kein Gott dort weit und breit, denn in einen so engen Raum passten keine Drohungen, von Portugal kenne ich nur diese Wohnung, und zwingt mich ja nicht, mehr kennenzulernen, Musseques, rennende Menschen, jene, die ein Fischkutter in der Bucht versenkt, man packt sie nachts am Kopf, an den Knien, und der Schatten breitet die Arme aus und trägt sie fort, Cristinas Vater hält im Gefängnis von São Paulo ein paar Papiere hoch
– Hier steht alles geschrieben
oder anders gesagt, was er am Vortag hinter dem Ellenbogen geschrieben hat, nicht, was die Gefangenen auf der anderen Seite des Tisches geschrieben haben, du wolltest uns den Kolonialisten übergeben, den Südafrikanern, den Chinesen, den Russen, und schwöre ja nicht, dass du das nicht geschrieben hast, lüge ja nicht, Cristinas Vater erinnert sich an das Kabuff, in das Granaten geworfen wurden, und man zählte die Sekunden vor der Explosion, eins zwei drei vier fünf, die das Jammern und die Gebete zum Schweigen brachte, auch die Stille zum Schweigen brachte, sie durch nichts ersetzte, falls das Nichts durch was auch immer ersetzt werden kann, wenn die Stimmen mich verlassen, bitte ich sie
– Lasst mich nicht allein
und das Geräusch von zerschellendem Geschirr, das wer weiß wer zerschellt hat, meine Mutter rief, dabei war ich nicht schuld daran, die Feuerwehr, ich habe den Nippes nicht zerbrochen, habe nicht das Gas vom Herd aufgedreht, nicht die Gardinen zerrissen, während mein Vater reglos vor dem Schachbrett saß oder einen Bauern bewegte und ihn unentschlossen betrachtete, würde seine Matratze brennen, würden die Stimmen zurückkommen
– Wie geht es dir Cristina?
und ich ruhig, zum Glück geht es mir großartig, im Anschluss an die Granaten wurde das Kabuff aufgeschlossen, und da war nicht einmal viel Blut, freigelegte Knochen, die Haut und Fleisch durchstachen, wie kompliziert wir gemacht sind, wie kommen die Ärzte überhaupt mit uns klar, sie nennen die Knoten und Scheiben Pankreas und Eingeweide, wie denken wir, was passiert mit dem Essen, mehr Leute, mit dem Gewehrkolben über die Knoten und die Scheiben ins Kabuff geschoben, sie versuchten mit den Knien zu verhindern, eingeschlossen zu werden, während Cristinas Vater den Splint aus der Granate zog, und jemand rechts von ihm
– Ist das notwendig?
an den Schreibtisch gelehnt, erbrach die Augen, schau, wie sie mir aus dem Mund herauskommen, wenn sie all diese Knochen, all dieses Haar, all diese Eingeweide, all dies, mach nicht weiter, fass zusammen, wenn sie das ganze Kabuff in Säcke packten, andere Gefangene rieben die Wände und die Decke mit Kreolin ab, wie viele wir in der Kommission der Tränen waren, der vom Nebenbett spähte meine Intimteile aus
– Zeig her
und mein Rücken gebeugt, wir waren zehn, fünfzehn, acht, Angola und die Sonnenblumen und den Hunger retten oder, besser gesagt, meine Mutter auf Knien in der Küche des Postenchefs
– Ist das notwendig?
und ich habe das für Sie getan, Senhora, die Frau des Postenchefs mit dem Löffel
– Bitte um Verzeihung du Diebin
als meine Mutter starb, hat sie mir nicht gedankt, ich frage sie
– Gehen Sie einfach so?
und sie ging einfach so, auf den Boden herunter rutschte sie barfuß vom Brett, ich habe ihre Bluse zurechtgerückt, es hätte wenig gefehlt, und ich hätte sie geküsst, und hätte ich sie geküsst, wer wäre es dann gewesen, ich verstehe, dass sie mich vergessen hat, sie hat sich im Übrigen nie an viel erinnert, gesetzt den Fall, ich würde sie fragen
– Wer war Ihr Vater?
würde sie einen Augenblick lang suchen
– Weiß ich nicht
er hat in der Baumwolle gearbeitet, glaube ich, überall von den Dornen verletzt, er brauchte keine Granate im Kabuff, die Flugzeuge haben ein Jahr vor dem Krieg Cassanje bombardiert, und da war Schluss mit ihm, ich zeigte die Papiere, die ich geschrieben hatte
– Dein Problem ist dass du alles notiert hast
die Gefangenen, die sich mühsam ausdrückten
– Das ist nicht wahr
eifrig bemüht, mich davon zu überzeugen, dass die Wahrheit eine ernste Angelegenheit ist, aber das ist sie nicht, was für ein Betrug, die Flugzeuge verfolgen die Menschen die Buschpfade entlang, in den Pausen zwischen dem Regen, während mein Mann ihn, die Lilie in der Hand, ertrug, was für komische Bräutigame, die Neger, was für Jacken, was für Krawatten, was für ein Benehmen, einmal abgesehen davon, dass sie nach wer weiß was riechen, das man nicht aushalten kann, rauchen sie, haben sie die Zigarettenglut auf der Zunge, sie nehmen die Gabel verkehrt herum in die Hand, schlaf nie mit einem Neger, Tochter, denn dann wirst du auch schwarz, und dieser Geruch geht nicht wieder weg, du bist zufällig weiß geworden, und ich unaufmerksam wegen der Stimmen, die sich in mir überschlagen, wie die Flugzeuge sich in Cassanje überschlugen, bei der Kommission der Tränen empfingen wir keine Menschen, das waren Frauenhaarfarne, die uns töten wollten, indem sie Samen und Blätter zückten, das singende Mädchen ein Frauenhaarfarn, die Offiziere, denen wir die Rangabzeichen abnahmen, Frauenhaarfarne, jene, die im Osten oder in Benguela gegen uns flüsterten oder die vorgaben, uns in Luanda zu helfen, Frauenhaarfarne, der Postenchef zu meiner Mutter, während er mit der kleinen Peitsche gegen sein Bein schlug
– Wenn du nicht schon so alt wärst
oder der vom Nebenbett, schon mit seinem Knüppel im Bauch
– Wirst du mich immer mögen?
und daher mein Vater voller Stimmen, wer von uns zerreißt die Vorhänge, verbrennt die Matratze, zerbricht die Gläser und die Teller, wer von uns in der Kommission der Tränen
– Zieh dich aus
und Spuren von Zigaretten und Seilen auf der Haut, die Gefangenen schworen, ich habe die Portugiesen in den Hinterhalt gelockt, zur Zeit der Kolonie haben sie mir die Backenzähne mit einer Zange rausgezogen, ich habe einen Arm verloren, schauen Sie, ich mit meiner Mutter und den Sonnenblumen in der Erinnerung, Hunderte von Sonnenblumen, die das Vergrößerungsglas der Vergangenheit riesig machte, wo hat man je so viele Blumen gesehen, die gleichzeitig auf mich wiesen
– Zeig her
mich zwangen hinzunehmen, was ich nicht wollte, doch wollte, nicht weiß, ob ich es wollte oder nicht wollte, wie gut, dass du einen Arm verloren hast und man dir die Backenzähne herausgerissen hat, so müssen wir hinterher weniger saubermachen, die Granaten im Kabuff, weil die Flugzeuge nicht verschwinden, meine Mutter auf Knien
– Verzeihung
und die Eukalyptusbäume im Seminar beschimpfen mich
– Schwuchtel
verhindern, dass ich beim Schach gewinne, die Eukalyptusbäume
– Du bist kein Mann
die Eukalyptusbäume
– Es gibt keine Vergebung
und der unendliche Finger Gottes
– Du
der rechts neben mir unterdrückte, auf den Schreibtisch gestützt, einen Schluchzer im Taschentuch
– Du warst doch Priester glaubst du nicht an Gott?
während die Krankenwagen im Rhythmus des Grammophons brannten, das meine Mutter zu tanzen zwang, vom Besitzer der Fabrik, der Schneiderei, des Büros unterstützt
– Die Fußknöchel noch höher meine Süßen
ich beschuldigte die Gefangenen aufgrund der Papiere, die ich schrieb, damit meine Mutter, ich glaube an Gott, und, Ehrenwort, es ist schrecklich zu glauben, sein unendlicher Finger
– Du