Krakentang - Carlos Rasch - E-Book

Krakentang E-Book

Carlos Rasch

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Beschreibung

Haben Sie eine Ahnung, wie man sich vor gut einem halben Jahrhundert die Zukunft vorgestellt hat? Mit diesen wissenschaftlich-fantastischen Erzählungen von Carlos Rasch (1932 bis 2021), einem Science-Fiction-Pionier in der DDR, lässt es sich erahnen, denn die Texte in diesem Buch wurden im Originalton des Erscheinungsjahrs belassen – und das war 1968, übrigens ein Jahr vor der ersten Mondlandung. Und zumindest in einem dieser trotz des großen zeitlichen Abstands immer noch spannend zu lesenden Texte geht es um den Mond – und um ein besonderes Abenteuer dort, wo schon längst Menschen wohnen. In der Titelerzählung „Krakentang“ bekommt es die Besatzung einer Farm mit „Verdammtem, ekelhaftem schwarzem Teufelspack“ zu tun. Gemeint ist eine Krakeninvasion. Was steckt dahinter? Vorerst gibt es keine Antwort auf diese Frage. Ein schweres Eisenbahnunglück bei Bagdad verlangt schnelle Hilfe. Doch eine internationale Kapazität der Transplantationsmedizin und eine Ladung Transplantative sind an Bord einer Unterschallmaschine unterwegs zu einer wissenschaftlichen Konferenz in Paris. In „Rekordflug im Jet-Orkan“ versucht ein mutiger kubanischer Pilot das Unmöglichen: einen Überschallflug mit Unterstützung eines Jet-Bands, um noch rechtzeitig helfen zu können. Bei einer unerklärlichen Explosion im Packeisfeld, wo nach Erdöl gebohrt wird, kommt ein polnischer Ingenieur ums Leben. So beginnt die Erzählung „Polaröl“. Die Aufklärung erweist sich als sehr schwierig. Bis man auf eine geheimnisvolle Formel stößt. Könnte die zur Lösung des Rätsels beitragen? „Die „Astronautic“ meldete sich nicht mehr“, heißt es zu Beginn von „Der Untergang der „Astronautic“. Sie sei bis zum Rand des Sonnensystems vorgedrungen. Ihr letzter Funkspruch stammte aus dem Jahre 2211. Eine Station auf dem Mars hatte ihn aufgefangen. Er enthielt nichts, was auf eine Katastrophe schließen ließ. Doch dann gibt es Hinweise auf unbekannte Peilzeichen … In „Das unirdische Raumschiff“ hat sich die Perspektive geändert: Hier erwarten Angehörige einer anderen Zivilisation den ersten Kontakt mit Menschen von der Erde. Wird er tatsächlich zustandekommen? Und wie wird man dort die Menschen von der Erde aufnehmen? „Die Mondstaubbarriere“ spielt tatsächlich auf dem Mod. Dort ist das „unirdische Raumschiff“ inzwischen gelandet. Doch alle Kosmonauten sind lebensgefährlich erkrankt – an einer Art Sternen-Pest. Wird man sie retten können? Das erweist sich jedoch als schwieriger als gedacht …

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Impressum

Carlos Rasch

Krakentang

Wissenschaftlich-fantastische Erzählungen

978-3-95655-518-3 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1968 im Verlag Neues Leben, Berlin (Band 81 der Reihe „Spannend erzählt“).

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Krakentang

1. Kapitel

Werner Wagenburg verzog ärgerlich sein Gesicht und schimpfte: „Verdammtes, ekelhaftes schwarzes Teufelspack!“

Mit einem Sprung war er am Bullauge, zog die lange Rutenantenne zu sich in die Funkkajüte zurück und schlug dann hastig das runde Fenster mit dem dicken Glas zu.

Fast wäre auch noch diese letzte Sendeantenne abgerissen worden. Draußen vor dem Bullauge pendelte ein langer geschmeidiger Arm hin und her; wenige Augenblicke später waren es schon vier und schließlich ein ganzes Bündel, die sich tastend wanden und bogen. Einer davon lag quer über dem Glas und presste es. Werner Wagenburg konnte deutlich die doppelte Reihe kleiner Saugtrichter an der Unterseite erkennen. „Brrr.“ Er schüttelte sich. Wollte das Biest das Bullauge eindrücken?

Der Funker überlegte, ob er das Bullauge erneut spaltbreit öffnen sollte, um den Kraken dort draußen mit dem heißen Lötkolben zu vertreiben, als der Ponton der Tangfarm unter einem Brecher erbebte und eine Spritzfontäne gegen seine Kajütenwand schäumte. Der Krake verschwand.

Bisher hatte Werner Wagenburg in seiner behäbigen Art die ganze Krakeninvasion immer noch als eine interessante, aber nicht sehr gefährliche Kuriosität angesehen. Er hoffte, dieser Spuk werde, wie schon in den Monaten zuvor, nach wenigen Stunden wieder verschwinden. Aber alle Anzeichen deuteten darauf hin, dass die Farm dieses Mal von dem Phänomen der Krakenwanderung schwerer als die vorangegangenen Male betroffen wurde.

Plötzlich schrillte das LF-Gerät.

Werner Wagenburg schnellte herum. Seine Sinne waren durch den Krakenüberfall so wach, dass ihn dieses unerwartete Läuten hinter seinem Rücken wie ein Peitschenhieb traf.

„Verdammt noch einmal. Mehr ruhig Blut, alter Junge“, redete er sich zu. „Ein Telefon ist noch lange kein Krakerich.“

Aus dem eingebauten Lautsprecher ertönte die Stimme Peter Skagens, des Ersten Offiziers: „Hallo, Werner! Wie steht’s bei dir? Hast du inzwischen eine Verbindung zum Festland herstellen können?“

„Nichts zu machen, Peter! Die schwarze Bande hat sämtliche Antennen demoliert, und ich wette, dass sie auch noch euer Radar klein bekommt. Vorhin habe ich so einen Krakerich auf dem Radarmast Karussell fahren sehen..

„Du hast eine gehörige Portion Humor. Hör auf, mich zu verkohlen. Die Lage ist viel zu ernst“, schimpfte der Erste Offizier. „Das Festland, Werner“, mahnte er. „Du musst eine Verbindung herstellen, egal, zu wem.“

„Ja doch, ja. Die Seefunkstelle auf Teneriffa und auch die auf den Bermudas rufen uns fortwährend. Der Empfang funktioniert, sogar ohne Antennen. Aber Senden, das ist augenblicklich fast unmöglich. Ich versuche es ja schon immerzu. Doch die Kraken erlauben es nicht. Sie passen höllisch auf. Noch nicht einmal ein anständiges SOS brächte ich heraus, wenn es notwendig wäre.“

„Bewahre uns der Himmel davor. Soweit wird es gar nicht erst kommen. - Höre! Du musst eine Antenne fit bekommen. Ich schicke dir einen zweiten Funker zur Hilfe und ein paar Matrosen zum Schutz.“

„Bist du verrückt? Ich werde wie eine Festung belagert. Zu mir kommt niemand durch. Die Biester sitzen schon vor meiner Tür.“

Der Cheffunker auf der Seefunkstelle Teneriffa drehte kopfschüttelnd drei Blatt Papier in seinen Händen hin und her.

„Was es doch alles so gibt“, murmelte er.

Die Meldungen waren innerhalb der letzten eineinhalb Stunden eingegangen. Die Texte stammten alle drei von dem deutschen Sargassofänger „Kelb 2“, der zur Zeit eintausendsechshundert Meilen weit entfernt auf See stand, sich also etwa über den unterseeischen Felsabhängen der Nordatlantischen Schwelle befand.

Das erste Blatt war ein für die Deutsche Farmreederei bestimmtes Funkfernschreiben, das mitten im Satz abbrach:

„Funkstation ,Kelb 2‘ - Sturm im Abflauen. Verarbeitung der Tangstränge des Kelb wegen zu großer Wellenhöhe vorläufig nicht möglich. Infolge Sturm keine Algeninseln und keine Tangstränge. Seit heute morgen wieder Krakentang. Etwa zwanzig Polypen auf Deck angeschwemmt. Ihr Verhalten ist harmlos, aber zunehmend unruhig. Farmleitung rechnet mit Zunahme der …“

„Trägerfrequenz erloschen“, lautete die Anmerkung des diensttuenden Fernschreibers, mit Rotstift eingetragen.

Das zweite Blatt war das Stenogramm einer Bandaufnahme, die etwas später in der Sprechfunkabteilung der Seefunkstelle gemacht worden war. Einer der Funker auf der „Kelb 2“ hatte offenbar unter dem unmittelbaren Eindruck der Ereignisse gesprochen, denn die Sätze hatten mehr den Charakter einer spontanen Schilderung als den eines offiziellen Berichtes:

„Hallo, Teneriffa! Hier ,Kelb 2‘, Station B. Verbindung stehen lassen. Dauerkontakt zum Mitschneiden. Bei uns tun sich nämlich merkwürdige Sachen.“

Dann, nach einer kurzen Pause, teilte er mit: „Eine zweite Gruppe von Kraken ist auf die Farm geschwemmt worden. Sie ist über den ersten Trupp hergefallen. Augenblicklich tobt eine richtige Krakenschlacht auf unseren Decks. Beide Seiten sind dabei erstaunlich intelligent. Die erste Gruppe hat sich zu den Aufbauten zurückgezogen und zur Verteidigung einen Halbkreis gebildet. Ich habe nicht gewusst, dass Kraken so raufsüchtig sind und mit solcher Wut aufeinanderlosgehen. Bisher waren die Biester immer ziemlich harmlos. Da, die erste Gruppe hat Verstärkung erhalten. Das sind die Treddenkampschen Gummikraken.

Hallo, Teneriffa! Wie versteht ihr mich?

Brecher über Brecher überspült die Farm. Also das ist doch die Höhe! Reißen schon wieder solche Biester an meinen Antennenkabeln. Die Kraken haben eine Vorliebe für die Technik, scheint mir. Wo sie das nur herhaben, einfach erstaunlich. Als wenn sie wüssten, wie man eine Funkstation lahmzulegen hat. Vorhin haben sie schon den Peilrahmen abgebrochen und das Kabel zur Fernschreibantenne zerrissen. Wenn sie jetzt auch noch die Sprechfunkverbindung unterbrechen, dann ...“

Wieder war der Kontakt verloren gegangen. Erst in den letzten Minuten hatte sich die A-Station der „Kelb 2“ erneut gemeldet, diesmal mit einem Funkspruch nach dem altbewährten „Di-di-di-da-Verfahren“. Der Mann dort auf der Farm war ein tüchtiger Bursche, der die Zeichengruppen wie ein alter routinierter Pressefunker heruntergehämmert hatte. Er schien es höllisch eilig gehabt zu haben. Und der Inhalt des Textes war auch sehr besorgniserregend. Man hatte ihn diesmal seltsamerweise an das Abrüstungskonsilium gerichtet.

Der Funkspruch war mehrmals unterbrochen worden, sodass man ihn in der Morseabteilung wie ein Puzzlespiel zusammenkleben musste, ehe er in größter Eile und unter Vorrang an das Konsilium weitergeleitet wurde:

„Aktion Krakentang!! Aktion Krakentang! Krakeninvasion hat eingesetzt! Tausende Kopffüßer beherrschen die Situation auf den Freidecks. Krakeninvasion hat eingesetzt!

Aktion Krakentang! Betreten der Decks nicht mehr möglich. Zwischen den drei Pontons der Farm besteht keine Verbindung mehr.

Aktion Krakentang! Bin allein und werde belagert. Habe nur noch über Telefon Kontakt zur Kommandobrücke. Noch immer Sturmdünung. B-Station auf Steuerbordponton ausgefallen. Sämtliche Antennenanlagen zerstört. Kann nur zeitweilig mit Notantenne senden.

Aktion Krakentang! Vorausberechnete und vermutete Krakenkonzentration tritt allmählich ein. Polypen verstehen sich auf das Öffnen von Türen. Sind teilweise in die Gänge geschwemmt worden. Besatzung zieht sich hinter Hauptschotten zurück. Forschergruppe von der Intelligenz der Morrispolypen überrascht. Zeitpunkt für vorbereitete Gegenmaßnahmen noch nicht erreicht. Doktor Marlies van Treddenkamp allein auf Deck. Kann sich als einzige gegen die Kraken behaupten.

Krakeninvasion! Unerwartet kritische Situation. Kommandant fordert zusätzliche Bekämpfungsmittel an. Abwurf per Flugzeug unbedingt erforderlich.“

Ein Glück, dass die auf der Tangfarm zwei Funkstationen haben und nicht allein auf Funkfernschreiber und Funktelefon angewiesen sind, dachte der Cheffunker. Rasch kritzelte er mehrere Sätze auf ein Blatt Papier: „Achtung! Achtung! Allgemeine Warnung der Seefunkstation Teneriffa an den atlantischen Passagier- und Frachtschiffverkehr: Abermals Wanderzüge der Kraken im Bereich der Nordatlantischen Schwelle. Neuerdings angriffslustig. Gegenwärtiger Gefahrenschwerpunkt bei 27 Grad nördlicher Breite und 49 Grad westlicher Länge. - Ende!“

Der Cheffunker steckte das Blatt in eine Hülse, warf sie in die Rohrpost und drückte den Knopf mit der Aufschrift „Hauptsender“.

Dann griff er zum Mikrofon und setzte sich mit dem Marineflughafen auf Madeira in Verbindung. Aber dort wusste man schon Bescheid. Das Konsilium hatte sich bereits eingeschaltet und Befehle erteilt.

Werner Wagenburg hatte soeben zum dritten Mal seine Rutenantenne zum Bullauge herausgesteckt und wieder zwei Sätze in den Äther hämmern können.

Der lange, schwankende Metallstab schien keine Antenne, sondern ein Magnet zu sein. Jedenfalls erzürnte er die Kraken irgendwie. Werner Wagenburg konnte diesen Versuch, sooft er wollte, wiederholen und die Rute hinaushalten, spätestens nach einer Minute angelte irgend so ein Polyp mit seinen Schlangenarmen danach.

Plötzlich fiel das Außenschott dröhnend zu, und gleich darauf war im Gang der feste Tritt mehrerer Matrosenstiefel zu hören. Werner Wagenburg traute seinen Ohren nicht. Er hatte einstweilen nicht damit gerechnet, Hilfe zu bekommen. Jemand schlug mit der Faust gegen die Kajütentür und rief: „Aufmachen, Wachverstärkung!"

In der Eile verhedderte sich Werner Wagenburg mit dem Schlüssel im Schloss. An der Stimme hatte er erkannt, dass Kurtchen, der Funker aus der B-Station, auf dem Gang stand. Peter Skagen hatte Wort gehalten und ihn mit einigen Matrosen als Verstärkung geschickt. Aber wie hatte sich die Gruppe bis zu ihm durchschlagen können?

Endlich sprang die Tür auf, doch der Begrüßungsruf blieb ihm vor Schreck im Halse stecken. Instinktiv war er versucht, zurückzuspringen und die Tür wieder zuzuschlagen. Zwar standen im Gang Kurtchen und die Matrosen, aber gleich hinter ihnen bewegten sich schattenhaft ein paar schwarze Fangarme.

Im letzten Augenblick erkannte der Funker drei weiße Ringe auf den Fangarmen und eine Ziffer auf dem Rumpf. Es war einer der Treddenkampschen Gummikraken. Erleichtert lachte er.

„Der da hat mir einen gehörigen Schuss Angst eingejagt“, gestand er. „Fast hätte ich ihn für echt genommen. Na, das wäre eine tüchtige Blamage geworden. - Wie seid ihr denn durch das Getümmel dort draußen hindurchgekommen?“, fragte er, während Kurtchen und die Matrosen eintraten.

„Marlies van Treddenkamp hat uns hergebracht."

„Wo ist sie denn abgeblieben? Hält sie sich etwa noch draußen auf dem Deck auf?“, erkundigte sich Werner Wagenburg verwundert.

„Sie geht jetzt wieder zurück.“

„Allein? Durch die Krakenhorden? - Das muss ich sehen!"

Werner Wagenburg öffnete hastig die Tür. Fast wäre er über den Gummikraken gestolpert, der sich im Gang postiert hatte. Er drückte das Schott zum Deck auf. Über die niedrige Bordkante der Farm rauschte gerade wieder ein Brecher hinweg, ganze Reihen von Kraken auf die Deckfläche spülend.

Mit raschen Blicken nach rechts und links sicherte sich Werner Wagenburg gegen Überraschungen ab. Dann trat er hinaus. Der nächste Krake war zwanzig bis dreißig Schritt entfernt und würde ihm nicht sofort etwas anhaben können.

Mehrere Meter weiter stand Marlies Treddenkamp. Sie hielt sich an einem Strecktau fest, um von der Sturzsee nicht hinweggeschwemmt zu werden. Marlies hatte einen leichten wasserdichten Schwimmanzug an und nur eine Taucherkappe aufgesetzt. Am Gürtel hingen ein dünner Elektroknüppel und ein malaiischer Flammendolch. Ihr Hauptschutz war jedoch eine seltsame „Leibgarde“: Zwei ihrer Gummipolypen und zwei echte, dressierte Kraken.

Zehn Schritt von ihr entfernt knäulte sich ein ganzer Berg von Polypen in einem unentwirrbaren Kampfgetümmel. Keines der Tiere beachtete sie. Marlies Treddenkamp musterte das Gewimmel.

Ihre Sorglosigkeit war ihm unbegreiflich. Ebenso fand er es von Peter Skagen unverantwortlich, sie in dieser Situation, wo sich alle hinter fest verriegelten Schotten verschanzten, allein an Deck umherspazieren zu lassen.

In diesem Augenblick wandte sie sich um und sah den Funker frei und ungesichert auf dem Deck stehen. Sie schrie durch das Rauschen der Gischtsee und das Fauchen des Windes etwas zu ihm herüber. Werner Wagenburg konnte es nicht genau verstehen. Es klang wie: „Verschwinde schleunigst, du Narr!“ Dabei drohte sie heftig mit der Faust.

Er drohte zurück und machte Armbewegungen, als scheuche er jemanden vor sich her. Wahrscheinlich hatte sie seine Aufforderung verstanden, denn sie ging eilig in Richtung auf den Mittelponton weiter.

Plötzlich fühlte sich Werner Wagenburg am Kragen gepackt und in den Gang gezogen. Es war einer der Matrosen, der ihn zurückzerrte, gerade zur richtigen Zeit, denn eben fauchte wieder eine Spritzsee mit ihrem Schaumschauer an den Aufbauten empor und schwemmte weitere Kraken heran.

Das Außenschott schlug hinter ihnen zu. Der Funker blickte nun durch die handtellergroße Sichtscheibe nach draußen. Marlies Treddenkamp hatte bereits das breite Schwebedeck erreicht, das zwischen Haupt- und Seitenponton eingehängt war. Sie stand bis über die Knöchel im Wasser, das wie ein Gießbach über die Deckkante ins Meer zurückströmte.

Aber zu seinem Entsetzen war sie jetzt von Kraken dicht umringt, die sie stelzig und schwerfällig umkreisten. Er vermochte nicht zu unterscheiden, welche davon zu ihrer „Leibgarde" und welche zu den Angreifern gehörten. Marlies wartete ruhig ab und machte mit der Hand lediglich eigenartig ruckende Gesten. Darauf schoben sich die beiden dressierten Kraken vor, duckten sich zu Boden, streckten ihre acht Fangarme nach allen Seiten aus und ließen sie vibrieren. Offenbar war das eine Art von Krakentelegrafie; denn es dauerte nur wenige Augenblicke, bis der Ring der Kraken wie unter einem Befehl zerfiel und die Tiere nach allen Richtungen auseinanderkrochen.

Nur drei besonders große Polypen, offenbar die bösartigsten, blieben in der Nähe und wechselten erregt fortwährend ihre Farbe. Marlies Treddenkamp beugte sich rasch zu ihren Gummikraken hinab und schaltete die Programmierung um. Sofort fielen sie über die drei Polypen her. Unter den elektrischen Schlägen der Gummikraken zuckten ihre Fangarme noch einige Male, bevor sie in sich zusammensanken und von dem nächsten Brecher über Bord gespült wurden.

Werner Wagenburg wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Der Anblick dieser Szene hatte ihn arg mitgenommen. Er, völlig waffenlos, hätte Marlies Treddenkamp notfalls nicht einmal helfen können und tatenlos zusehen müssen, wenn sie von den Kraken angefallen worden wäre. Sein Vertrauen zu den Gummikraken und zu den dressierten Polypen war nicht sehr groß gewesen.

„Die hat Nerven, was?“, fragte Kurtchen ganz begeistert. Er hatte den Vorgang ebenfalls beobachtet. „Eine tolle Frau! Dass die sich vor diesen Viechern nicht grault.“

„Dabei steigt sie ganz bestimmt auf die Stühle, wenn sie ’ne Maus sehen würde", sagte einer der Matrosen. „Da gehe ich jede Wette ein.“

Werner Wagenburg konnte auch nicht glauben, dass Marlies Treddenkamp keine Angst kannte. Ihre Kaltblütigkeit schien ihm weniger Mut als vielmehr ein Anzeichen sachlicher Nüchternheit und fundierten Wissens zu sein. Wahrscheinlich ging sie schon jahrelang mit solchen Tieren um, hatte sich einfach an ihr eigentümliches Aussehen gewöhnt und war, wie man zu sagen pflegte, auf ihrem Gebiet sattelfest. Die Sicherheit, mit der sie die Krakenkonzentration herbeigeführt hatte und mit der sie sich in dieser kritischen Situation auf der Farm als einzige gegenüber den Kraken zu behaupten vermochte, überzeugte ihn mehr als der Doktortitel von ihrer Tüchtigkeit.

Er hatte sie ebenso wie viele andere hier an Bord der „Kelb 2“ nicht für voll genommen, als sie vor einigen Monaten in der Forschungsgruppe der Ozeanologen auftauchte. Und das nicht nur, weil sie erst sechsundzwanzig Jahre alt war und ganz und gar nicht nach einer Wissenschaftlerin aussah, sondern weil sie sich anfangs wie eine Zirkusdompteuse benahm.

Marlies Treddenkamp verursachte nämlich in der ersten Zeit immer wieder eine beträchtliche Aufregung an Bord, wenn sie in Begleitung ihrer beiden lebenden Wunderkraken auf dem tief liegenden Flutdeck erschien und mit ihnen Dinge tat, die eher etwas mit Dressur, aber nichts mit Wissenschaft zu tun zu haben schienen. Man sagte, die beiden Kraken seien uralt und stammten noch aus dem Marinelabor ihres Vaters. Durch einen operativen Eingriff waren sie imstande, sich längere Zeit außerhalb des Wassers und ohne Wasseratmung zu bewegen.

Überhaupt hatte Werner Wagenburg viele Wochen lang angenommen, dass die Doktor Treddenkamp ihre Stellung und möglicherweise auch ihren Titel nur dem Ruf ihres Vaters verdankte. Aber inzwischen hatte er sich davon überzeugen müssen, dass sie recht gut auf eigenen Füßen zu stehen vermochte.

Jann Huizen van Treddenkamp, ein weltberühmter Hypnometiker und Bioniker, hatte vor zehn Jahren seinem erstklassig eingerichteten Marinelaboratorium in der Delaware Bay, zweihundert Kilometer südlich von New York, plötzlich den Rücken gekehrt und war unter dramatischen Umständen in seine Heimat zurückgekehrt. Wenige Monate später verstarb der Gelehrte überraschend.

Die Zeitungen aller Welt hatten sich damals tagelang in Schlagzeilen übertrumpft, weil gleich nach seinem Tode in den „Wissenschaftlichen Blättern der Universität Utrecht“ einige seiner Aufzeichnungen veröffentlicht worden waren, in denen die sensationelle Voraussage über ausgedehnte Krakenwanderungen im Atlantik enthalten war.

Als vor Jahresfrist die ersten Anzeichen einer Krakenwanderung auch außerhalb der Laichzüge tatsächlich festgestellt wurden, erinnerte man sich wieder des alten Mynheers van Treddenkamp. Seine Tochter, die erst wenige Wochen zuvor promoviert hatte, verließ umgehend die Universität und wurde - niemand vermochte sich das zu erklären - ausgerechnet vom Internationalen Abrüstungskonsilium mit der Aufklärung dieses Phänomens beauftragt.

Das alles hatte Werner Wagenburg erst so nach und nach von seinem Freund Peter Skagen erfahren. Peter Skagen und Marlies Treddenkamp mussten sich schon von früher her kennen, denn als sie sich hier an Bord das erste Mal begegneten, hatten sie sich vor Überraschung eine Weile angestarrt, dann gegenseitig wie verzankte Kinder Fratzen geschnitten, und schließlich waren sie unter viel Gelächter immer an der Reling entlang rund um die Farm spaziert.

Das Wiedersehen hatte beide so in Anspruch genommen, dass Peter Skagen es sogar beinahe vergessen hätte, auf der Kommandobrücke seine Wache zu übernehmen.

Skagens Kameraden, die anderen Offiziere der „Kelb 2“, verstanden nicht, warum ihr Erster ausgerechnet an dieser etwas sonderbaren „Krakendompteuse“, wie man sie bald allenthalben an Bord nannte, einen Narren gefressen hatte. Aber Peter Skagen beantwortete ihr verständnisloses Kopfschütteln oder ihre Neckereien stets mit einem stillen Schmunzeln.

Er hielt auch zu ihr, als sie, unbekümmert wie sie war, die Krakenskandale an Bord verursachte.

Der erste Krakenskandal begann damit, dass die Kajüten am Heck des Mittelpontons, die wegen des Krachens der Hakenkette der Slipbahn gemieden wurden und die fast immer unbewohnt blieben, durch die Matrosen von einem Tag auf den anderen stark gefragt waren und in einer großen Umzugsaktion mit Sack und Pack bezogen wurden. Außerdem meldeten sich plötzlich für die verpönte zweite Hundswache von vier bis sechs Uhr morgens so viele Matrosen und Maate, dass man jeden Posten drei- und fünffach hätte besetzen können.

Ursache dafür war Marlies Treddenkamp, die jeden Morgen eine halbe Stunde vor dem allgemeinen Wecken zur Reling ging, den Bademantel sorgfältig ablegte und dann „völlig ohne“ und nur mit ihrem malaiischen Flammendolch um den Hals, als Waffe gegen Haie, mit einem Kopfsprung ihr Morgenbad nahm; denn die Wassertemperaturen pendelten hier in der Sargassosee im Sommer- wie im Winterhalbjahr ständig um fünfundzwanzig Grad Celsius.

Als sich eines Morgens mehrere Matrosen frech an die Reling stellten, ihr zusahen und ihren Bademantel mit spitzen Fingern hin- und herschoben, parierte sie diese Unverfrorenheit. Sie beendete ihr Bad, verschwand in einem der Tiefdecks und öffnete aus ihrem Laborgepäck eine Kiste. Heimlich setzte sie den ersten Gummikraken zusammen, von dessen Existenz niemand wusste. Diesen postierte sie dann am anderen Morgen auf Deck neben ihrem Bademantel.

Die Matrosen hielten sich in respektvoller Entfernung.

Als sich doch einer zu nähern versuchte, sprang ihm der vermeintliche Krake drohend entgegen.

Man warf ihm Fische hin, um ihn wegzulocken. Aber das Ungeheuer schien zu gut dressiert zu sein und fraß sie nicht.

Als die betreffenden Matrosen schließlich nach einigen Tagen entdeckten, dass sie Opfer einer Täuschung geworden waren und vor einem Gummitier Angst gehabt hatten, waren sie die Blamierten. Noch monatelang mussten sie die Spötteleien ihrer Kameraden ertragen.

Den neugierigen Blicken hinter den runden Scheiben der Bullaugen entzog sich Marlies Treddenkamp einfach durch einen Platzwechsel. Sie nahm ihr Morgenbad fortan nur noch an der Kaiseite der Tangfarm, wo sich lediglich die Ladeanlagen und die Lagerdecks befanden.

Ein anderer Krakenskandal brachte Marlies Treddenkamp einen Verweis des Kommandanten ein.

Sie hatte ein von ihrem Vater entwickeltes „Verständigungssystem“ für Kraken übernommen und war dabei, es zu vervollkommnen. Dazu dachte sie sich für die dressierten Polypen einige Experimente aus.

Einmal hatte sie entweder einen unrichtigen Code angewandt oder einfach die Tiere durch eine falsche und abweichende Behandlung verärgert. Jedenfalls verließen sie eines Morgens zur Frühstückszeit ihr Schlafbecken in einem der Tiefdecks, stelzten durch die Gänge und über die Treppen in den zu dieser Zeit voll besetzten Speisesaal.

Als die Kraken dort unter den Tischen erschienen, die weißen Tafeltücher herunterzogen und unter diesem Behang wie Gespenster umherwandelten, brach, vor allem unter den Technikerinnen der Fabrikabteilungen, eine Panik aus. Sie rannten aus dem Speisesaal und erkletterten in panischem Entsetzen die Rettungsboote.

Matrosen bildeten ein Fangkommando und versuchten, die Kraken mit Stangen aus dem Saal herauszudirigieren. Doch die Tiere nahmen diese Behandlung übel. Sie verteidigten sich und warfen mit Kaffeekannen.

Als die Belästigungen mit den Stangen auch danach nicht aufhörten, gaben die Kraken eine Probe ihrer Muskelkräfte. Sie umarmten einige Maate in milder Freundlichkeit.

Das genügte. Man überließ ihnen den Speisesaal.

Mit der Marmelade, den Eiern, der Butter und dem Quark wussten sie nicht viel anzufangen. Diese Dinge waren nicht nach ihrem Geschmack.

Als Marlies Treddenkamp endlich benachrichtigt war und ihre Schützlinge abholen kam, waren die beiden Kraken einträchtig damit beschäftigt, sich Brötchen und Tomaten von den Tabletts zu angeln.

Werner Wagenburg bekam einen Stoß in die Rippen. Kurtchen schmunzelte ihm zu und sagte: „Funkmaat, träumen Sie nicht! Wie sind Ihre Befehle?“

Der Funker fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen, lachte noch einmal leise bei der Erinnerung an die Treddenkampschen Krakenskandale und drückte dann Kurtchen die Rutenantenne in die Hand.

Die Matrosen und den Gummikraken schickte er auf das Peildeck über seiner Funkkajüte und trug ihnen auf, dort oben Wache zu halten. Alle hoch gelegenen Decks waren im Allgemeinen frei von Kraken. Sie hielten sich auf den großen Flächen des Hauptdecks auf, die von den Brechern der atlantischen Sturmdünung ständig überspült wurden. Nur vereinzelte Exemplare drangen weiter vor, oft von einer Welle auf einen höheren Platz geschwemmt. Sie galt es abzuwehren. Aber die Unruhe unter den Kraken nahm zu. Immer deutlicher zeigte sich, dass es Morrispolypen waren, die die Zerstörung technischer Anlagen verstanden.

Immerhin konnte Werner Wagenburg jetzt durch die Unterstützung Kurtchens und der Matrosen seine nächsten Funksprüche mit weniger langen Unterbrechungen als zuvor an Seefunkradio Teneriffa absetzen.

Zwischendurch rief Peter Skagen wieder an: „Kommst du mit der Sendeleistung ohne die Relaisverbindung über Teneriffa bis zum Konsilium durch?“, erkundigte er sich.

„Ausgeschlossen. Erst nachher, wenn der Anschluss zur Hochantenne wieder dran ist. - Warum fragst du?“

„Nun ja, unser Chef will die Lageberichte künftig verschlüsselt direkt durchgegeben wissen. Er möchte vermeiden, dass die Presse in Westeuropa, Amerika und Afrika durch Dritte informiert und die Krakeninvasion zu einer sensationellen Heckmeckstory verdreht wird. Wir müssten dann auch mehrmals die Wellenlänge wechseln, wegen des Abhörens, nicht wahr?“

„Verschlüsseln? Du lieber Himmel. Das ist eine harte Arbeit. Darauf habe ich schon lange nicht trainiert, und so etwas mache ich nicht gern. Das ist Geheimniskrämerei und riecht immer ein bisschen militant. - Eigentlich hat der Chef aber recht. Die Zeitungen würden ganz bestimmt eine satte Brühe daraus machen. Also gut, ich sage Bescheid, sobald es damit losgehen kann.“

„Ich habe noch eine Frage, Werner. Was sagt Petrus? Fordere doch so bald als möglich einen genauen Wetterbericht für unsere Position, also eine Punktprognose, und dazu ganz unauffällig den tektonischen Tageshinweis an.“

„Wie das Wetter wird, das können wir uns doch an den fünf Fingern abzählen: Der Sturm lässt nach, und spätestens übermorgen haben wir wieder das übliche himmelblaue Wetter und ruhige See. Nur die hohe Dünung wird vermutlich noch anhalten.“

„Schon richtig. Aber Marlies vermutet, dass die besondere Unruhe unter den Tangkraken eventuell auch was mit einem bevorstehenden Seebeben zu tun haben könnte. Darauf ist nämlich noch kein Mensch gekommen, einen solchen Zusammenhang zu sehen. Aber Marlies scheint da eine richtige Nase zu haben. Jedenfalls erinnere ich mich, dass es kurz nach der kleinen Krakeninvasion vor einem Monat in Südamerika in den Anden gegrommelt hat. Vielleicht sind diesmal die Azoren dran.“

„Hoffentlich nicht, denn das ist mir etwas zu nahe. Also gut, ich werde nachher den Wetterbericht und beiläufig auch den tektonischen Tageshinweis anfordern.“

Einer der Matrosen kam zurück.

„So, über uns haben wir jetzt erst einmal Ruhe. Das Peildeck ist frei. Aber lange bleibt das nicht so“, prophezeite er. „Über die Slipanlage und das Flutdeck rücken jetzt besonders große Polypen an. Schätze, die haben Fangarme von neun bis zwölf Meter Länge.“

Der Matrose machte eine Pause und sinnierte dann laut: „Die Treddenkamp hat gesagt, es gibt amerikanische Kanonkraken und atlantische Hochseekraken. Die Kanonkraken haben die Hochseekraken überfallen und führen Krieg gegen sie. Ulkige Ansicht, nicht wahr?“

Er zog sich das Ölzeug aus und streifte den Ärmel seines Sweaters hoch. Ein paar violette Flecke, nur pfenniggroß, zeichneten sich auf der Hand und auf der bloßen Haut des Unterarmes ab. Mürrisch schlenkerte er den Arm hin und her und massierte ihn.

„Ich bin im Eifer des Gefechtes unserem Gummikraken zu nahe gekommen. Da hat er mir aus Versehen auch eins verpasst“, erzählte er. „Ich habe mich gleich hingesetzt. Das ging durch den ganzen Körper. Mir zittern jetzt noch die Beine. Jedenfalls eine tolle Konstruktion, dieses Robotbiest. - Stimmt denn das überhaupt, dass die Dinger nach Entwürfen von der Treddenkamp als Ersatz für Taucher gebaut worden sind? Aus welchem Fach stammt sie denn nun eigentlich? Ist sie Biologin, Kybernetikerin, Ozeanologin, Ichthyologin, Genetikerin oder Physiologin?“, erkundigte er sich. Dabei stotterte er ein wenig, weil er die schwierigen Wörter nicht so glatt auszusprechen vermochte.

„Auf jeden Fall ist sie ein As“, erklärte Kurtchen kategorisch.

2. Kapitel

Jann Huizen van Treddenkamp sah müde in die dunkelrote Glut des Kaminfeuers. Der Mann am Fenster war ihm gleichgültig. Er hatte ihn nie gesehen. Aber es war klar, dass dieser Mann über die letzten Vorgänge in der Delaware Bay bestens informiert war und dass man ihn mit einem festen Auftrag über den Atlantik hierher nach Den Hoorn an der Waddenzee geschickt hatte.

Glaubte man wirklich, ein Treddenkamp werde seine Entscheidung rückgängig machen und den Missbrauch seiner Arbeit im Marinelaboratorium vergessen? Hoffte dieser Mann tatsächlich, eine Antwort nach seinem Geschmack zu bekommen?

Das Geheimnis über die wahre Ursache für die Katastrophe in der Delaware Bay würde man nie erfahren. Vielleicht ahnte der Besucher sie. Bis jetzt hatte Jann Huizen nur unbeweglich in seinem Stuhl am Kamin gesessen und geschwiegen.

„Warum, Mister Treddenkamp, haben Sie sich so abrupt zurückgezogen? Nur Sie werden uns helfen können, das Mysterium des Untergangs der beiden Atom-U-Boote und der Katastrophe im Labor aufzuklären. Die freie Welt braucht Ihre Forschungsergebnisse. Das Assistententeam im Labor kommt ohne Sie viel zu langsam voran. Sie sind der Begründer der Hypnometik. Sie haben sie aus der Bionik entwickelt. Denken Sie an die kritische Position der Welt und an die Unlösbarkeit unzähliger Probleme.“

Der Gelehrte lächelte kaum merklich. „Welche Welt und welche Probleme meinen Sie?“, fragte er, ohne den Blick vom Kaminfeuer zu lösen. „Ich weiß, natürlich meinen Sie die westliche Welt und ihre unlösbaren Probleme. Aber das ist nicht die ganze Welt. Kein Problem ist nur für einen Teil unseres Planeten lösbar, das gibt es nicht. Die Wissenschaft gibt keine Zaubermittel, und die Hypnometik ist keine Wundermedizin. Die Anwendung, die die Marinekommission im Sinn hat, ist Missbrauch. Ich werde diesen Missbrauch nie zulassen, nie!“

„Soll ich das so verstehen, Mister Treddenkamp, dass Sie über Nacht Kommunist geworden sind?“, fragte der Mann irritiert. „Der Kommunismus ist doch für Leute von Kultur unpopulär.“

Unpopulär bei einer Anzahl von eingebildeten Amerikanern und Westeuropäern, dachte der Wissenschaftler. Laut aber wiederholte er: „Ich werde einen Missbrauch der Hypnometik nicht zulassen. Sie können das so verstehen, dass ich mir meiner Verantwortung als Mensch, als Bewohner dieses Planeten, bewusst geworden bin, Mister Trend!“

Dem Fremden schoss Röte ins Gesicht. Aber dann lachte er laut los: „Verantwortung als Mensch, köstlich, als ob die Marinekommission sie nicht auch hätte!“ Doch der kühle Blick des Professors ließ ihn rasch wieder verstummen. Er wusste sofort, dass es falsch gewesen war, so zu reagieren, und er erkannte an der Miene des Wissenschaftlers, dass jener der Kommission diese Verantwortung absprach. Der Besucher zwang sich, ruhig und freundlich weiterzusprechen:

„Es liegt ausschließlich bei Ihnen, Mynheer van Treddenkamp, ob die Welt ihre alte Ganzheit und Größe wiedergewinnt und ob die Menschheit als freie Menschheit in das neue Jahrtausend eintritt“, sagte er.

„Sie wissen gar nicht, was für eine große Wahrheit Sie da soeben ausgesprochen haben.“

„O doch. Die Regierung sichert Ihnen zu, dass Ihre Entdeckung der Frequenzen in Bioströmen und ihre praktische Anwendung im Hypnomesemodulator unter der Aufsicht der UN stehen soll. Sie behält sich allerdings die Kontrolle über die Produktion dieses Gerätes in den Werken des Rates für Nationale Sicherheit vor.“

Wie hinterhältig irreführend doch diese Ratsbezeichnung ist, dachte der Professor. In Wirklichkeit müsste sich diese Institution „Kriegsministerium“ nennen.

Der junge Mann am Fenster setzte seine Belehrungen fort:

„Sie wissen, Mynheer van Treddenkamp: Unsere Regierung strebt als Gesellschaftsform für die Neue Freie Welt eine Synthese aus Wohlfahrt und industrieller Technik an, in der die Wissenschaft führend sein soll. Ihre wissenschaftliche Entdeckung der biofrequenten Ströme erscheint uns in Holland als zu unsicher aufgehoben. Die Grenzen des Ostens sind hier zu nahe. Bei der Hochachtung, die Sie und Ihr Werk in der Öffentlichkeit unseres Landes genießen, würden alle freien Menschen Ihre Rückkehr begrüßen. Wir, Mynheer van Treddenkamp, haben die große Hoffnung, dass Sie uns auch weiterhin vertrauen und Sie unserem Nationalen Forschungsrat die Aufzeichnungen Ihrer Versuchsserien und eine Beschreibung des Intelligenzmodulators übergeben.“

„Junger Mann, Sie machen entschieden zu viele Worte“, unterbrach ihn Jann Huizen van Treddenkamp. Er wurde zusehends zornig. „Ich muss Sie leider enttäuschen. Wenn Sie binnen zehn Sekunden mein Haus nicht verlassen haben, mache ich Sie mit einem einzigen Codewort zum Idioten oder zu einem noch größeren Naivling, als Sie es jetzt schon sind. Glauben Sie nur nicht, ich wäre auf einen solchen Besuch nicht vorbereitet gewesen. Ich habe so etwas erwartet. - Raus!“

Der Besucher sprang erbleichend auf. Seine Hand fuhr unter das Jackett, sank aber sofort zurück. Ihm war, als stehe er bereits unter dem Einfluss eines biofrequenten Befehls. „Sie haben in diesem Haus einen Modulator?“, stammelte er. „Sie können mich doch nicht bestrahlen! Das ist gegen die Menschenrechte. - Wir werden uns den Modulator und Ihre Aufzeichnungen mit Gewalt holen!“, rief er drohend. Krachend schlug die Tür zu.

„Unverschämtheit!“, murmelte Professor Treddenkamp. Aber sein Zorn verflog schnell. Er lachte sogar kurz auf, weil der Mann bei diesem Bluff in panische Angst verfallen war. Nie würde er seinen Hypnomesemodulator auf einen Menschen richten.

Draußen vor dem Haus ertönte plötzlich ein Angstschrei.

Durch das Fenster war zu sehen, wie der Mann in rasendem Lauf den Weg hinab zum Steg rannte und in sein Motorboot sprang. Ihm folgten träge zwei riesige Kraken.

Der Mann schrie um Hilfe, weil er ahnen mochte, dass diese beiden Kraken zwei jener modulierten und landfähigen Tiere waren, die in der Katastrophennacht an der Delaware Bay das Marinelaboratorium verwüstet, die Sperrnetze überklettert, zwei Atom-U-Boote versenkt hatten und dann für immer im freien Ozean verschwunden waren.

Die beiden Kraken jedoch begnügten sich damit, dem Mann einen Schrecken einzujagen. Auf halbem Wege hielten sie inne und stiegen wieder in ihr großes Becken, das mit vorzüglichem Atlantikwasser gefüllt war.

Nach diesem Rausschmiss blieb van Treddenkamp nichts anderes mehr übrig, als die absichtliche Vernichtung seiner Forschungsergebnisse bekannt zu geben und lediglich einige theoretische Grundgedanken in einer Schrift niederzulegen. Er war zwar erst achtundsechzig Jahre alt, aber er ahnte, dass er nur noch kurze Zeit, vielleicht nur noch Monate, zu leben hatte.

Einer der wütenden Kraken hatte ihm in jener Nacht in der Delaware Bay mit seiner mörderischen Umschlingung eine Quetschung beigebracht, sodass seine Leber Risse bekommen hatte. Seitdem ging es ihm gesundheitlich von Woche zu Woche schlechter, und nur durch die Kunst eines Amsterdamer Arztes vermochte er noch zu arbeiten. Die Vergiftung seines Körpers nahm langsam und unmerklich zu.

Jann Huizen van Treddenkamp legte seine Aufzeichnungen zurecht, schaltete seinen Hochfrequenzstift ein und versuchte sich zu konzentrieren.

Die Gedanken kehrten zu jenem Tag vor Jahren zurück, an dem er seine Hypothesen dem Forschungsrat und der Marinekommission vorgetragen hatte und von dem an ihm alle Unterstützung bei seinen Experimenten sicher gewesen war. Wenig später hatte er schon in das riesige und hochmoderne Laboratorium an der Delaware Bay einziehen können.

Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er noch nicht einmal die sechzehnjährige Marlies bemerkte, die von Den Helder über das Molengatt gekommen und in die große Stube getreten war.

Sie leerte seinen Aschbecher und stellte ihm frisch gebrühten Tee hin. Dann setzte sie sich still auf ihren Platz am Fenster. Dort lagen noch von gestern Abend die beiden Bücher. Den „Beebe“ hatte sie schon ausgelesen. Jetzt kamen die Berichte von Piccard dran.

Fünf Minuten später hatte sie alles um sich herum vergessen und fuhr in Gedanken mit Piccards Bathyskaph durch die Tiefen der Ozeane.

Jann Huizen seufzte.

„Zu den klügsten Tieren des Meeres gehören die Wale, die Delfine und die Kraken“, hatte er vor dem Forschungsrat und der Marinekommission gesagt. „Jedes höher organisierte Lebewesen, und sei sein Gehirn nach unseren menschlichen Maßstäben noch so klein, hat eine erhebliche Reserve an brachliegenden Rezeptoren. Eine der größten Reserven weist das Hirn der Kraken auf. Da sie zudem auf die augenblicklich bekannten biofrequenten Ströme am leichtesten reagieren, halte ich sie für Experimente großen Stils am geeignetsten. An ihnen kann die hypnometische Modulation, also die Übertragung sozusagen von gedruckten Schaltungen in den biologischen Bereich, gewissermaßen das Aufprägen auf die Rezeptoren des Hirns, am besten erforscht und weiterentwickelt werden.

Stellen Sie sich vor, meine Herren, dass man auf diese Weise Kraken dazu veranlassen kann, die Ladungen gesunkener Schiffe quasi aus beliebigen Tiefen ohne die Hilfe von Tauchern zu bergen. Immerhin kollidieren jährlich auf der Welt über zweitausend Schiffe. Die Tiere wären in der Lage, bei einer solchen Aufgabe vielleicht sogar Werkzeuge zu verwenden und damit Ladeluken, Schotts und Türen zu öffnen.

Aber auch in anderen Bereichen ließen sich solche Bioneten, also biologische Roboter, einsetzen. Eine einzige Modulation genügt, um sie auf Monate hinaus in Häfen - ohne die Verwendung von Dockanlagen - zur Reinigung der Schiffsrümpfe unter dem Wasser von Algenbewuchs und Muschelbesatz einzusetzen. Bekanntlich müssen die Schiffe trotz Antifouling-Anstrich immer noch alle zwei Jahre aufgedockt werden. Das würde durch meine Entdeckung und ihre Anwendung auf Kraken aber fortfallen.

Weitere Anwendungsmöglichkeiten solcher künstlich mutierten Kraken wären der Großfischfang, die Haibekämpfung und die Sammlung von Messdaten für die ozeanische Forschung in sämtlichen Tiefenzonen der Meere.“

„Ließen sich mutierte Kraken ähnlich wie Delfine zum Minenräumen und zur Zerstörung unterseeischer Kampfanlagen und maritimer Startbasen verwenden?“, erkundigte sich einer der Marineoffiziere aus der Kommission.

„Gewiss, auch das“, hatte er, ein wenig von dieser Frage irritiert, geantwortet. „Ich verstehe Ihre Frage aber nicht. Die allgemeine Abrüstung steht doch auf der Tagesordnung.“

„Natürlich“, hatte man geantwortet. „Wir wollen die Kraken sozusagen nur als unsere ‚Abrüstungsbeauftragten‘ einsetzen.“

Diese Antwort klang ironisch und hätte ihn damals gleich stutzig machen müssen. Aber er war zu sehr auf die Darlegung der praktischen, nutzbringenden Aspekte einer biofrequenten Modulation bedacht gewesen, als dass ihm diese Zwischenfrage hätte verdächtig vorkommen können. Außerdem war er auch darauf angewiesen, einen finanzkräftigen Partner zu finden, um seine Forschungen verwirklichen zu können. Er hätte es sich nicht leisten können, das Interesse der Marinekommission durch unbequeme Fragen zu verscherzen.

„Am Schluss aller hypnometischen Forschungen“, so hatte er der Kommission schließlich erklärt, „steht dann vielleicht schon in einem Jahrhundert die perfekte Anwendung der telemedizinischen Prägung des menschlichen Hirns und seine bessere Ausnutzung durch biofrequente Modulation. Das ganze Bildungswesen auf unserem Planeten, das mit seinen mühsamen konventionellen Methoden eine riesige Menge menschlicher Arbeits- und Schöpferkraft bindet, könnte verändert werden und mit neuen Methoden zu einem hohen Bildungsstand der Menschheit führen. Mit einer einzigen biofrequenten Bestrahlung könnte ein Mensch die Lernarbeit eines ganzen Jahres binnen weniger Stunden mühelos bewältigen.

Dabei haben die streng wissenschaftlichen Verfahren der Hypnometik nicht das geringste mit Hypnose zu tun..

Aber die Marinekommission hatte insgeheim schon damals nichts anderes im Sinn gehabt, als die biofrequente Willensmodulation gerade in dieser Richtung zu entwickeln und sie als eine gewaltige hypnotische Superwaffe von kontinentalen Sendern und von der Höhe der Satelliten aus einzusetzen, um die Welt damit wieder ganz zu beherrschen.

Und das war auch der Grund, weshalb die Marineoffiziere ohne sein Wissen mit biofrequenten Sendern experimentierten. In ihrer Unkenntnis hatten sie dann schließlich das Massaker der Kraken und die Zerstörung des Laboratoriums verursacht.

Als er endlich begriff, welche Pläne es bei ihnen gab, hatte er bei dieser Katastrophe nachgeholfen. Es war besser, nicht um die Sympathie der Marinekommission zu buhlen und das gesamte Laboratorium und die Ergebnisse einer zwölfjährigen Arbeit der Vernichtung preiszugeben, als seine Erkenntnisse verantwortungslosen Händen und Köpfen zu überlassen. Die Entwicklung der Hypnometik würde er dadurch nicht aufhalten, wohl aber so lange verzögern können, bis auf diesem Planeten ein Missbrauch dieser neuen bionischen Wissenschaft nicht mehr möglich sein würde.

Schon zwei Jahre nach der Beratung der Marinekommission hing der erste Modulator funktionsfähig über dem großen Becken des Experimentieraquariums. Die ersten ausgesuchten Kraken wurden beeinflusst und sollten in Schrottsucher verwandelt werden. Die Dosis war jedoch zu stark und die Codierung der Prägefrequenz noch zu ungenau gewesen.

Die Tiere tauchten tagelang mit hartnäckigem Eifer und brachten alles ohne Unterschied vom Grunde des Beckens an die Oberfläche: Steine, Flaschen, Autoreifen, Plastikwürfel, Blechbüchsen, Stangen und Kettenteile.

Als sie nichts mehr fanden, wühlten sie sich durch die Schlamm- und

Sandschicht hindurch und rissen die Kacheln darunter heraus. Alle anderen Instinkte schienen erloschen zu sein. Selbst der natürlichste, der des Fressens, war ausgeschaltet.

Bald waren die Versuchskraken dermaßen erschöpft, dass man sie töten musste.

Nach sechsjähriger angestrengter Forschung hatte man endlich das richtige System der Modulierung für Kraken gefunden. Es war sehr kompliziert. Andere Tiere, zum Beispiel Hunde, vermochte man zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu beeinflussen.

In diesem sechsten Forschungsjahr erschien auch der neu ernannte Beauftragte der Marinekommission für das Delawarelabor, Kapitänleutnant Morris, bei Jann Treddenkamp und teilte ihm mit, dass die Marine von nun an den praktischen Teil des Forschungsprogrammes übernehme und der Professor sich ausschließlich der Grundlagenforschung widmen könne.

Wenige Wochen danach krachten in der Bay die ersten Detonationen, von aufsteigenden Wassersäulen begleitet. Man hatte die ersten Kraken zu Minenräumern moduliert. Dazu waren Hunderte Kraken einer kleineren Sorte eingefangen worden. Während der ersten Versuchsserien gingen bei jeder Detonation Dutzende Kraken zugrunde. Später modulierte die Marine die Tiere geschickter. Ihnen wurden genauere bionische Impulse aufgeprägt, und so vermochten sie bald die Minen zu räumen, ohne dabei getötet zu werden.

Aber das erfuhr Professor Treddenkamp alles erst viel später. Ihm sagte man, die Delaware Bay sei Flottenausbildungsgebiet geworden. Später hieß es, im Zuge der Abrüstung würden hier Minenbestände gesprengt.

Im Verlaufe der Zeit waren die Kraken des Kapitänleutnants Morris für die verschiedensten Spezialaufgaben abgerichtet worden. Man sagte, manche verstünden, Flutventile von Schiffen zu öffnen, andere beschädigten „feindliche“ Hafenanlagen; wieder andere vermochten hydroakustische Erkundungsbojen des „Gegners“ zu entdecken und unschädlich zu machen.

Von all diesen Versuchen erfuhr der Professor nur zufällig. Das Ergebnis unzähliger anderer Versuche der Marine blieb ihm durch die strenge Geheimhaltung unbekannt.

Seine zivile Forschungsgruppe erzielte andere Erfolge. Einen ganzen Sommer lang war das Baden am Idealstrand von Miami völlig ungefährlich. Etwa achtzig Kraken verscheuchten bei Tag und Nacht schon Meilen vor der Küste jeden sich nähernden Haifisch.

Die Schildkrötenfänger von Cap Sable an der Südspitze Floridas und die Austernfischer an der Küste von Alabama erlebten ein Jahr später ihr großes Wunder, als Kraken, von weiß bekittelten Doktoren dirigiert, ihnen wochenlang sagenhafte Fänge verschafften.

Sogar an der Pazifikküste vor Los Angeles bewährten sich die inzwischen schon berühmt gewordenen Kraken des Professors Treddenkamp beim Thunfischfang. Statt in fünf Tagen waren die Laderäume und Gefrieranlagen der Trawler schon nach eineinhalb Tagen überfüllt. Die Mannschaften mussten dreißig Stunden lang ununterbrochen an Deck bleiben und die Fänge verarbeiten, weil die unermüdlichen Kraken, von ihrem künstlich eingeprägten „Instinkt“ angetrieben, sogar des Nachts ihre Beute ablieferten.

In den folgenden Jahren fanden die etwas komplizierteren Versuche für die Dockarbeiten und für die Bergung von Ladegut aus Wracks oder kollidierten Schiffen statt. Dazu mussten spezielle „Werkzeuge“ konstruiert und angefertigt werden, die den physischen Eigenschaften der Kraken angepasst waren.

Während Kapitänleutnant Morris die energischen und einzelgängerischen Kanonkraken der George-Banks im Bereich des Hudsonschelfs bevorzugte, benutzte Professor Treddenkamp die sanftmütigeren und kleineren Hochseekraken, die er sich von einem U-Boot auf dem unterseeischen Höhenrücken der Nordatlantischen Schwelle einfangen ließ.

Aber beide Arbeitsgruppen schickten ihre Kraken, sobald der künstliche Instinkt abgeklungen war, wieder in die Freiheit des Ozeans zurück, da sich die Tiere selten für einen einwandfreien zweiten Versuch eigneten.

Bei all den Tausenden Versuchen hatte man festgestellt, dass der mit einer Biofrequenz auf die Kraken übertragene Drang zu einer mechanischen Tätigkeit nach einigen Wochen oder Monaten wieder verblasste und sich nicht noch einmal hervorrufen ließ. Ein noch nicht ermittelter Abwehrstoff schien die abermalige Einwirkung auf die Rezeptoren der Krakenhirne zu erschweren und die Tiere vor einer erneuten Behandlung zu schützen. Die wenigen zurückbehaltenen Kontrollkraken verhielten sich nach dem Abklingen der biofrequenten Resonanz wieder völlig normal.

Doch nach einiger Zeit machte Professor Treddenkamp eine merkwürdige Beobachtung, die ihn schlimme Dinge befürchten ließ: Seine Hochseekraken zeigten zeitweilig eine besondere Reizbarkeit, verbunden mit einer Art von Wanderneigung.

Zunächst machte sich eine biofrequente Spätresonanz bemerkbar. Die Kontrollkraken begannen plötzlich wieder ihre alte Tätigkeit als Schrotttaucher oder Haifischfänger zu imitieren.

Schon einige Monate später steigerte sich diese Erscheinung. Die Kraken schienen über die ihnen aufgeprägte Funktion als Bioneten hinaus selbstständig eigene Umsicht und Tatkraft zu entwickeln. Freilich weniger in der ihnen lebensfremden Arbeit als Schrotttaucher, sondern hauptsächlich im Bereich ihres eigenen Tiefseelebens. Die Kraken verhielten sich wie in einem Gemeinwesen, bei dem eine gewisse Arbeits- und Aufgabenverteilung festzustellen war. Zum Beispiel wurde der Nachwuchs sehr viel sorgfältiger großgezogen.

Ja, so war das damals gewesen. Und nun saß er weit weg von der Delaware Bay in seiner Heimat und versuchte sich in der Stille seines Landhauses in Den Hoorn an der Waddenzee Rechenschaft zu geben. Professor Treddenkamp richtete sich auf. Er hatte schon wochenlang an seinem theoretischen Forschungsbericht für die „Wissenschaftlichen Blätter der Universität Utrecht“ gearbeitet. Der Sommer war unterdessen auch auf die Watteninseln gekommen. Er hatte es aber kaum bemerkt. Er wusste nicht einmal genau, was Marlies in dieser Zeit getrieben hatte. Sie sich derartig selbst zu überlassen, das war ihm seit dem Tode ihrer Mutter nicht mehr passiert. Jann Treddenkamp hatte trotz einem Übermaß an Arbeit immer genug Zeit für Marlies aufgebracht.

Sie war mit ihren vierzehn Jahren auf ihre Art schon eine Persönlichkeit, die mehr wusste und leistete als manche Altersgefährtin. Die Wunderwelt der Wissenschaft ihres Vaters fesselte sie sehr. Schon drüben, jenseits des Atlantik, in der Delaware Bay, hatte es Professor Treddenkamp durchgesetzt, dass Marlies das Sperrgebiet betreten und in sein Laboratorium kommen durfte. Im spielerischen Umgang mit Kraken und mit Laborgeräten hatte sie bereits mancherlei begriffen, was andere junge Leute erst nach jahrelangem Studium wissen würden.

So überraschte es ihn auch nicht, als er sie bei einem seiner Spaziergänge schlammbespritzt aus dem Wattenmeer zurückkommen sah. Während sie ein kleines achtarmiges Gebilde den Deich hinaufbugsierte, folgte ihr ein gleichaltriger, ebenso schlammbespritzter Junge, der eine Art Funktornister schleppte.

„Das ist Peter Skagen“, sagte sie. „Peter ist in den Ferien hierher gekommen, um Wattennavigation auszuprobieren.“

„Ja, ich will Lotse werden“, erklärte der Junge.

„... und später große Schiffe durch den Suezkanal bringen“, erläuterte Marlies.

Sie waren draußen am Priel gewesen. Professor Treddenkamp erkannte, dass Marlies die Nachbildung eines Kraken in der Hand hatte. Mit einem Blick auf den Tornister reimte er sich gleich einen Vers auf das Unternehmen der beiden zusammen. Er fragte nicht abfällig: Was habt ihr da für eine Spielerei?, sondern er erkundigte sich gleich sachlich: „Wie ist euer Versuch ausgegangen? Lässt sich der Krake funkfernsteuern?“

„Ich muss nur noch eine elektronische Baugruppe auswechseln“, sagte der Junge, Marlies zuvorkommend. „Dann wird es besser funktionieren. Und außerdem ist uns die Flut dazwischengekommen. Wir mussten abbrechen.“

„Ach, gib dir keine Mühe. Die Anfälligkeit automatischer Seeroboter ist schon jetzt erwiesen. Bionetische Arbeitskraken sind deinen technischen Gummikraken überlegen. Sie versorgen sich selber und sind nicht ständig reparaturbedürftig“, stellte Marlies mit Siegermiene fest. „Es hat keinen Zweck, dass wir daran weitermachen."

„Sei du nur still. Auch du wirst eines Tages nicht ohne automatische Kraken auskommen“, prophezeite der Junge.

„Peter hat nicht ganz unrecht, Marlies", mischte sich Professor Treddenkamp in den Meinungsstreit der beiden ein. „Lebende Kraken mögen zum Beispiel nicht das Wasser der Ostsee. Dort würde man robotartige Arbeitsgeräte nötig haben, die durchaus Ähnlichkeit mit Kraken haben können.“

„Also gut“, entschied seine Tochter. „Dann bleibt die Gruppe Tredden-Skagen eben bis zur endgültigen Klärung dieses Problems noch beisammen.“

Professor Treddenkamp lächelte noch über die beiden, als er sich wieder an seinen Bericht setzte und weiterschrieb.

3. Kapitel

Das Atom-U-Boot lag seit Tagen bewegungslos auf dem Grund eines Kanons der George-Banks, kaum zweihundert Kilometer von Boston und dreihundert Kilometer von New York entfernt. Es hatte bei den gegenwärtig laufenden Seemanövern den Gegner darzustellen und sollte als „gefährlicher östlicher Kernwaffenträger“ entdeckt und abgefangen werden. In der Unübersichtlichkeit der unterseeischen Kanons aber war es den Abwehrkräften bisher entgangen. Dabei lag das U-Boot in einer ausgesprochenen Seichtwasserzone, allerdings unter der überhängenden Felswand eines Riffs. Bei hellem Sonnenschein drang ein kräftiger Schimmer des Tageslichtes durch das klare Wasser bis zu dem U-Boot in sechzig Meter Tiefe hinab.

Aber auch ohne diese gute Sicht hätte man an Bord jene seltsame Erscheinung wahrgenommen, die sich in allernächster Nähe abspielte. Zunächst hatte es Alarm gegeben, als auf einem Messschirm eine Kette von ungleichmäßig verteilten Reflexen erschien. Man vermutete ein neues, noch unbekanntes Kampfmittel gegen U-Boote. Doch dann entpuppten sie sich als harmlose Kraken.

Bald verloren sich die Messreflexe am Ausgang des Kanons.

Aber einen Tag später registrierten die Geräte wieder Kraken. Diesmal zogen sie nicht in einem regellosen Haufen über den Meeresboden, sondern eigentümlicherweise in einer kreuzartigen Formation. Im Kommandoturm des Atom-U-Bootes setzte unter den Offizieren ein Rätselraten über die Gründe dieses ungewöhnlichen Verhaltens der Tiere ein. Überraschend schnell fand vor ihren Augen dieses Rätsel seine Auflösung.

Plötzlich huschte der riesige Schatten eines Pottwales herbei und stieß auf die Gruppe hinab, um sich eines der Tiere als seine Beute aus ihrer Mitte herauszuholen. Da schnellten aber von allen Seiten die Kraken heran, spien ihre Tintenwolken aus und hefteten sich als ein einziges hundertarmiges Ungeheuer mit ihren Saugnäpfen an den Wal. In der quirlenden Dunkelwolke des stark getrübten Wassers entspann sich ein kurzer und heftiger Kampf. Der Wal schien schnell zu begreifen, wie aussichtslos die Situation diesmal für ihn war. Schon nach kurzer Gegenwehr zog er es vor, sich diesem mörderischen Ring der Krakenarme durch die Flucht an die Oberfläche zu entziehen.

Die Kraken hatten auf diese Weise, offenbar nicht das erste Mal, gegen ihren ärgsten Feind gesiegt.

Im U-Boot rief diese Beobachtung erhebliches Staunen hervor. Wäre nicht zufällig ein Leutnant des Wissenschaftlichen Sonderkorps der Marine als Berater bei diesem Flottenmanöver an Bord gewesen, dann hätte sicherlich nie ein Bericht über diese unterseeische Episode Professor Treddenkamp erreicht.

Das war das erste Warnzeichen.

Als Professor Treddenkamp diesen Bericht gelesen hatte, wusste er, dass ihm sein ganzes groß angelegtes Forschungsprogramm zu entgleiten drohte. Auch seine Mitarbeiter machten besorgte Gesichter. Die Nachricht von der Walfalle der Kanonkraken stimmte alle bedenklich. Es war klar, dass es sich bei diesen Polypen um frei gelassene ehemalige Versuchstiere handelte. Die Folgen, die daraus erwachsen konnten, waren nicht abzuschätzen.

Besonders gefährlich war der Umstand, dass die Marinegruppe unter dem Befehl von Kapitänleutnant Morris keine Kontrolltiere zur Beobachtung zurückbehalten hatte und man nun über die zu erwartenden Spätwirkungen ihrer zudem noch geheim gehaltenen Modulationen völlig im Dunkeln tappte.

Aber diese Ungewissheit dauerte nicht lange. Dem ersten Warnzeichen folgten rasch weitere.

Schon wenige Tage später berichteten Zeitungen von einem Zwischenfall im Hafen von Newport. Dort drangen in der Nacht mehrere Kraken in einen Kühlleichter mit Gefrierfleisch ein. Durch Verlagerung der Fracht und Öffnen eines Flutventils brachten sie ihn zum Kentern.

Weitere Berichte sprachen von Überfällen durch Kraken auf einen Fischkutter, auf eine Segeljacht und von der Lösung Dutzender Bojen aus ihren Verankerungen, sodass verschiedene Häfen vorübergehend nicht angelaufen werden konnten und selbst die Lotsen irritiert waren. In fast allen Fällen konnte festgestellt werden, dass die Übeltäter Kanonkraken waren.

Die Weltöffentlichkeit, die gerade in diesen Tagen durch eine Kette von Erdbeben und zwei Vulkanausbrüche sowie durch Verstöße gegen die Abrüstungsvereinbarungen besonders erregt war, reagierte auf die Krakenzwischenfälle sehr nervös. Die Marinekommission war genötigt, rasch zu handeln. Sie sah den einzigen Ausweg darin, einigen Hundert Kraken den biofrequenten Befehl zu erteilen, alle ihre Artgenossen, die sich der Küste nähern oder dort leben, zu töten.

Für Professor Treddenkamp war es klar, dass dieser Beschluss unsinnig war und dadurch keineswegs der Ursprung der Gefahr beseitigt wurde. Jetzt begann er sich Vorwürfe zu machen, weil er nur wenig über die Vorgänge im Sektor zwei des Versuchsgeländes, in dem die Marine ihre Experimente abwickelte, wusste.

Noch nie hatte Professor Treddenkamp Einblick in die dortigen Untersuchungsserien bekommen. Er war damals froh gewesen, als man ihm einen großen Teil der Tests für die praktische Nutzanwendung der biofrequenten Modulation abnahm und er sich stärker der Grundlagenforschung zuwenden konnte. Es war nicht zu erwarten, dass man im Sektor zwei überraschende und umwälzende Entdeckungen im Bereich der Hypnometik machen würde. Dazu war die Theorie noch zuwenig ausgearbeitet. Alles steckte noch zu sehr in den Kinderschuhen. Mochte doch die Marine probieren, soviel sie wollte, dabei würde nichts Nennenswertes herauskommen. Die ganze Geheimniskrämerei war einfach lächerlich. Wenn man dort die Absicht haben sollte, Kraken zu Marineinfanteristen oder Kampfschwimmern auszubilden und sie zur Verteidigung des nordamerikanischen Kontinents einzusetzen gedachte - und um so etwas Ähnliches konnte es sich doch nur handeln -, dann sollte man doch dort in Gottes Namen nach Herzenslust experimentieren.

Seitdem aber der Bericht von der Walfalle der Kraken eingegangen war, sah Professor Treddenkamp die auf Hochtouren laufenden Untersuchungen im Sektor zwei in einem ganz anderen Licht.

Eines Morgens entdeckte er in einer internationalen wissenschaftlichen Zeitschrift einen Artikel, der ihn überraschte. Was er las, traf ihn tief. Es klang wie eine Anklage.

Was ging hinter seinem Rücken vor?

Die ausländische Zeitschrift berichtete: „… forciert man neuerdings die hypnometischen Forschungen. Wie verlautet, wird gegenwärtig ein zweites, größeres Laboratorium unter strengster Geheimhaltung an einem unbekannten Ort errichtet, vermutlich in Fort Fox auf dem Coloradoplateau in Arizona. Mit der Inbetriebnahme ist im Herbst zu rechnen. Ziel der forcierten Forschungen ist die Anwendung der biofrequenten Modulation auf höher organisierte Lebewesen, was man schwerlich befürworten kann, weil das letztlich an die Unantastbarkeit des Menschen rührt. Ob Professor Jann Huizen van Treddenkamp nach Fertigstellung des neuen Laboratoriums übersiedelt und die Anlagen in der Delaware Bay ganz der Marine überlässt oder ob er im Gegenteil als Nichtamerikaner für unzuverlässig gehalten und demzufolge überspielt werden soll, wird die Entwicklung auf diesem neuesten Zweig der Bionik schon in den nächsten Jahren zeigen.“

Warum wurde ein neues Laboratorium auf dem Coloradoplateau errichtet? Wollte man dort Bären, Ziegen und Coloradogeier mit biofrequenten Strömen dressieren? Professor Treddenkamp erschienen die Angaben in der Zeitschrift nicht glaubhaft.

Am selben Tage - ob durch Zufall oder durch die absichtliche Manipulation eines Unbekannten, das vermochte Professor Treddenkamp nicht zu ergründen - fiel aus der Institutsrohrpost eine Kapsel mit einem Schriftstück, das eigentlich für den Sektor zwei bestimmt war und das die Aufschrift trug: „Streng geheim!“

Professor Treddenkamp kümmerte sich nicht um diese Aufschrift. Der wissenschaftliche Aufsatz in der Zeitschrift und all die merkwürdigen Ereignisse mit Kraken entlang der Küste in jüngster Zeit erlegten ihm die Pflicht auf, sich Kenntnis von den Arbeiten und Absichten in Sektor zwei zu verschaffen. Und wenn ihm der Zufall nicht diese Arbeitspapiere in die Hände gespielt hätte, dann hätte er sich direkt mit einer offiziellen Anfrage an Kapitänleutnant Morris oder an die Marinekommission wenden müssen, was ihm wahrscheinlich sowieso noch bevorstand.

Das geheime Schriftstück kam von höchster Stelle und war schon vor mehreren Tagen mit einem Kurier eingegangen. Morris hatte es bereits gegengezeichnet.

Je mehr sich der Professor in das Schriftstück vertiefte, um so klarer wurde ihm, was für ein Spiel im Sektor zwei getrieben werden sollte. Professor Treddenkamp sprang mehr als einmal erregt auf und lief in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Das alles war unerhört und unglaublich: Im Sektor zwei erwog man, Experimente mit Biofrequenzen an Menschen vorzunehmen. Man gedachte dazu Freiwillige der Armee und der Marine zu nehmen. Wahrscheinlich machten sich Kapitänleutnant Morris und die anderen Herren vom Wissenschaftlichen Sonderkorps keine Vorstellung davon, um wie viel gewagter eine biofrequente Modulation war, wenn man damit auf das Hirn des Menschen Einfluss nehmen wollte. Frühestens in einigen Jahrzehnten würde die Bionik und speziell ihre hypnometische Grundlagenforschung die Voraussetzungen geschaffen haben, um erste Versuche in dieser Richtung zu machen. Sie würden einer reiflichen Überlegung und Vorbereitung bedürfen.

Auch Professor Treddenkamp war bei seinen Experimenten auf Biofrequenzen gestoßen, die sich auf den Menschen anwenden und militärisch ausnutzen lassen würden. In welchem Umfang und mit welchen Auswirkungen, das vermochte noch nicht einmal er selbst als Begründer der Hypnometik zu sagen. Aber eines wusste er: Eine solche „Nutzanwendung“ seiner Forschungsergebnisse hatte er sich ganz gewiss nie vorgestellt.

„Ich muss mich gegen einen solchen Missbrauch verwahren“, murmelte Professor Treddenkamp.

Nie war er ein weltabgeschiedener Gelehrter gewesen. Immer hatte er die weltweiten Vorgänge verfolgt. Seine Sympathie gehörte den um den Anschluss an die Zivilisation ringenden Völkern in Asien und Afrika. Ihm war klar geworden, dass der Reichtum in den hoch entwickelten Industrienationen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu einem bedeutenden Anteil auf Kosten der Völker in anderen Kontinenten erreicht worden war, die billige Lieferanten von Rohstoffen und Arbeitskräften gewesen waren. Wenn er hier an der Delaware Bay saß, dann nur, weil er von hier aus am besten an das Forschungsmaterial, an die Kraken, herankam.

Nie hatte er vermutet, dass seine neue Wissenschaft, die so abseits der weltumwälzenden Entdeckungen zu liegen schien, das Interesse einer Machtgruppe auf sich ziehen und militärische Verwendung finden könnte. Ihn kränkte es nicht, dass er von dem neuen Laboratorium in Fort Fox nichts wusste und man ihn einfach überging.

Ihn ärgerte und empörte aber der Missbrauch seiner Wissenschaft für militärische Zwecke.

Mit der Zeit war wohl der Augenblick gekommen, da beinahe jede neue Entdeckung in Anbetracht des hohen Standes von Wissenschaft und Technik dazu geeignet war, der Menschheit Untergang oder paradiesischen Nutzen zu bringen, dachte Jann Huizen van Treddenkamp. Somit kommt es für jeden Forscher darauf an, nicht nur eine wissenschaftliche Leistung zu vollbringen, sondern sich auch jeden Tag aufs neue Klarheit über den Gang der Wahrheit in der Welt zu verschaffen, weil sonst seine Entdeckung den Menschen zum Schaden gereicht.

Jann Huizen erinnerte sich einer Legende über Leonardo da Vinci. In da Vincis Tagebuch soll sich eine Notiz befunden haben, die etwa so lautete: „Mailand 1502. Mein großer Plan ist fertig. Es ist die Konstruktion eines Unterwasserbootes. Vielleicht ist noch einiges daran zu berechnen, zu verbessern, zu erproben. Aber ich sitze schon und träume von dem Nutzen, den die Seefahrer durch ein solches Schiff haben könnten. Die furchtbare Gewalt des Sturmes wird ihnen nichts mehr anhaben können. Sie werden ruhig und schnell wie die Fische durch das Wasser gleiten.

Aber da stört mich eine schreckliche Vision: Mein Tauchboot würde sich vortrefflich dazu eignen, unsichtbar an die Galeeren und Kauffahrteischiffe heranzufahren und ihnen tödliche Wunden am Kiel beizubringen und die Rümpfe von der Tiefe her aufzubrechen.

Soll mein Werk missbraucht werden?

Ich zögere nur einen Augenblick. Dann greife ich zu meinem Plan und zerreiße ihn. Ich will den Grund des Meeres von den Schrecken des Krieges frei halten.“

Professor Treddenkamp ging an einen Schrank, entnahm ihm einen Fotoapparat und machte von dem Geheimschreiben mehrere Aufnahmen.

Der Stückgutkatamaran „Bratsk 4“ zog seine Doppelspur über das Meer. Er befand sich auf Heimatkurs. An Bord hatte man schon ausgerechnet, dass in drei Tagen ihr Hafen auf Sachalin erreicht sein müsste. Es würde dieses Mal für die Besatzung eine längere Liegezeit geben, denn die „Bratsk 4“ musste unbedingt gedockt werden und würde deshalb nicht so bald wieder mit neuem Ziel auslaufen. Der Bewuchs von Algen und Muscheln an der Bordwand unterhalb der Wasserlinie war beträchtlich geworden. Das Schiff hatte aus diesem Grunde seine Höchstgeschwindigkeit in den vergangenen Monaten nicht mehr erreichen können, und auch der Treibstoffverbrauch war merklich angestiegen. Der Bewuchs hemmte die Fahrt beachtlich. Seinen letzten Antifouling-Anstrich hatte der Katamaran vor rund zwei Jahren erhalten.

Gegen Mittag änderte das Schiff unvorhergesehen seinen Kurs und steuerte die Küste an. Der Kapitän hatte von der Reederei ein Telegramm erhalten: „Docks besetzt. Laufen Sie Versuchsstation ,Hydro-Test‘ bei Wladiwostok an.“

Was es mit dieser Versuchsstation für eine Bewandtnis hatte, das war in den letzten Monaten unter den Offizieren der sowjetischen Pazifikflotte allmählich bekannt geworden. Es hieß, dort werde eine umfangreiche Krakenzucht betrieben. Gerüchte, wonach diese Kraken für verschiedene Taucharbeiten abgerichtet werden, wurden als Seemannsgarn angesehen. Tatsache aber war, dass diese Station seit einiger Zeit in den Bulletins der verschiedensten Akademien immer wieder genannt und der Fortschritt der Arbeiten auf einem Gebiet, das als hypnometische Bionik bezeichnet wurde, bestätigt wurde.

Die Nachricht vom Kurswechsel machte unter der Besatzung ähnlich einer Sensation ihre Runde. Als die „Bratsk 4“ am Abend in die Krakenbucht einlief, stand mehr als nur die gesamte Freiwache an der Reling. So angestrengt man jedoch auch Ausschau nach Kraken hielt, von denen die Bucht nur so wimmeln sollte, so wenig war von ihnen zu sehen. Auch nicht der kleinste Schatten eines Polypen wurde von den Matrosen im Wasser gesichtet. Enttäuscht musterte man die Gebäude am Ufer, den kleinen Landungssteg, die in der Bucht verteilten Pontons und Bojen. Ungewohnt nahm sich nur das Hunderttausend-Tonnen-Dock aus, zu dem der übliche Hintergrund einer Werft und eines Hafens fehlte. Ein paar Schiffe hatten auf der Reede der Bucht rund um das Dock verteilt Anker geworfen. Aber ihre Besatzungen waren vermutlich an Land, denn an Deck ließ sich niemand sehen.

Neugierig wurde der Mann gemustert, der mit einem Motorboot am Fallreep anlegte und an Bord stieg.

Boris Sledow, Mitarbeiter der Station, war es gewohnt, von den Seeleuten eingehend fixiert zu werden. Seitdem man hier auf der Station zu Großversuchen übergegangen war und täglich zwei Schiffe behandelte, wurde ihre Arbeit allmählich bekannt. Zugleich damit wuchs das Erstaunen über diese seltsame Methode der Rumpfreinigung von Schiffen, was Boris Sledow nur zu natürlich fand. Aus Erfahrung wusste er, dass trotz der Vorträge, die für die Besatzung jedes Schiffes, das diese Bucht anlief, darüber gehalten wurden, in der Handelsflotte die unsinnigsten Darstellungen kursierten.

Zu allem Überfluss war es auch noch Vorschrift, dass er beim Betreten jedes neu angekommenen Schiffes eine Arbeitsschutzbestimmung herunterzubeten hatte, die den legendenhaft aufgebauschten Vorgängen in dieser Bucht sozusagen eine akute Note verlieh. Er seufzte und wandte sich an den Zweiten Offizier der „Bratsk 4“, der zum Fallreep gekommen war, um ihn zum Kapitän zu geleiten.

„Ich bitte Sie zu veranlassen, dass das Fallreep für die Dauer des Aufenthaltes in dieser Bucht eingezogen wird, sämtliche Taue eingeholt sowie die Bullaugen, die Niedergänge und die Schotts geschlossen werden. An der Reling, vor allem bei den Ankerklüsen, sind bewaffnete Posten aufzustellen. Das Baden ist strengstens untersagt. In dieser Bucht befinden sich einige Tausend Polypen. Wir Wissenschaftler haben die Tiere völlig unter Kontrolle. Es handelt sich bei dieser Anordnung lediglich um eine übliche Vorsichtsmaßregel. Die Besatzung wird für die Nacht an Land untergebracht und in ungefähr einer Stunde mit Hubschraubern zum Ufer geflogen. Bitte, sagen Sie mir nun, wo ich den Kapitän aufsuchen kann.“

Zu Anfang der Großversuche hatte ihn die nahezu schockartige Verblüffung, die sich nach diesem Sprüchlein auf den Gesichtern der umstehenden Matrosen zu zeigen pflegte, belustigt. Jetzt quittierte er diese Reaktion mit einem unwilligen Brummen und einer beschwichtigenden Geste. In dieser Situation wäre er für einen derben Zwischenruf aus einer Matrosenkehle, der die Stimmung auflockerte, dankbar gewesen. Aber diesmal blieb er aus.

Stattdessen wurden die ersten schabenden und klopfenden Geräusche der am Rumpf arbeitenden Kraken hörbar. Die letzte Modulation war zu stark ausgefallen, sodass die Tiere gleich nach Ankunft des Schiffes über den Bewuchs herfielen. Den Matrosen musste dieses geisterhafte Klopfen und Schaben unheimlich vorkommen. Sie wandten sich halb zur Seite, hielten die Köpfe schräg und lauschten. Wie alle Menschen der modern entwickelten Welt waren sie Technik in jeder nur denkbaren Dimension gewöhnt. In der hypnometisch praktizierten Bionik aber standen sie einer völlig neuen Kategorie gegenüber, die sich zwangsläufig fremdartig gegen die bisherigen Umwelterscheinungen abheben musste.

„Da sind welche!“, rief plötzlich ein Matrose und deutete senkrecht ins Wasser hinab. Vereinzelt bewegten sich ein paar Krakenarme an der Bordwand. Die Mehrzahl der Tiere war in tieferen Regionen am Werk.

„Die haben ja Werkzeug“, sagte eine andere Stimme erstaunt.

„Bist enttäuscht, wie? Dachtest wohl zuerst, dir winkt ’ne Seejungfrau?“

Die Matrosen lachten, und dann prasselte es Fragen auf Boris Sledow. Er hob abwehrend die Arme und erklärte: „Noch heute Abend wird euch alles genau beschrieben. Lasst mich nun erst einmal zum Kapitän hindurch, Männer, damit die Formalitäten erledigt und ihr an Land gebracht werden könnt.“