Stern von Gea - Carlos Rasch - E-Book

Stern von Gea E-Book

Carlos Rasch

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Beschreibung

Den Abschluss der Raumlotsen-Saga Carlos Raschs bildet ein Episodenroman, dessen Handlung lange nach den ersten drei Bänden auf der Siedlungswelt JUWELA spielt. In der Gesellschaft aus Nachkommen von Erdbewohnern, die in drei verschiedene Gruppen geteilt ist – die einfachen Siedler, über etwas moderne Technologie verfügende Orbitaner und die meist in Tiefschlaf liegenden Raumfahrer von der von Menschen verlassenen Erde – verschärfen sich nach zweihundert Jahren die Gegensätze bis zur offenen Auseinandersetzung. INHALT: Vogelreiter und Flussvolk In Wolken ein Vogelreiter fliegt Der Patriarch des Flussvolkes Ankunft der Sternenleute Bei Salzmachern an der Krautsee Schiffstaufe am Trutzfelsen Trecks in den Wäldern von JUWELA Windgeist in der Morgenstille Auf 100 Tage Wegbegleiter Schlammwühler Und fern die Hohe Kante Versteck im Dickicht Der Uhren Ticken durchstreift die Zeit Hadrian, der Orbitaner Listige Einladung Vogelreiterin mit Luftpost der Legatin Nachricht für Verfolgten Moos drüber Zum Abendmahl ein scheinheiliger Feind Konzert-Quartett für Lichtgeister Köpfe rollen um Mitternacht Reiterin im Regensturm Sorgen um einen Entführten Im Aufwind tanzen die Wirbel Gerechte Hände fangen Verhör zur Ehre und Freiheit Entledigt der Last der Sühne Der Trommeln dunkler Ruf Ehrenvoller Auftrag Inschrift am Felsen Floßfahrt nach Deltrix Den Rio Meridano stromab Zwei Frauen im Übermut Vorbereitungen für Verwirrspiel Fahndung in grünen Gassen Hadrians Trugschluss im Teehof Hadrian im Übermut Odis und Nebi in den Arkaden Stockkampf der Zwillinge Fest am Dreiecks-See Gesänge am Kap der Kapuzler Nebliger Morgen im Schilf Kampfroboter unerwünscht Unter vier Augen im Krähennest Ankunft des Floßes Mythodäa Angriff der Sühnlinge Bäume als Atem der Seelen Nächtlicher Schabernack Stockkampf und Laserblitze Abkommen mit einem Finsterling Landeskunde über JUWELA Siedlungsgebiet der Terraformer Justiz Ordenspelzler Schweber Kaltblutmutanten Wälder Orbitaner Festis Plädoyer für Utopia Fantasie und Antagonismen

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Impressum

Carlos Rasch

Stern von Gea

Raumlotsen Band 4

ISBN 978-3-95655-494-0 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 2011 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Vorwort

Jahrhunderte nach den Abenteuern der Raumlotsen Ben, Cora und Jan auf und nahe dem Erdenball haben Siedler irdischer Herkunft auf JUWELA, einer fernen Welt, Fuß gefasst. Sie leben in ökologischer Waldgesellschaft. Manche sind stolz darauf, direkte Nachfahren von Ben, Cora und Jan zu sein (Band 1-3). Ziel der Siedler ist, JUWELA zum Stützpunkt der Raumflotte zu machen und wieder zur Menschheit Kontakt aufzunehmen. Doch dafür brauchen sie vermutlich 80 Generationen und 2000 Jahre. Sie müssen sich von der Wald- zur Industriegesellschaft entwickeln. 200 Jahren nach Ankunft eines Raumschiffes auf JUWELA stecken sie noch im Mittelalter. Große Nachteile stehen ihnen entgegen: JUWELA ist erzarm! Und das Klima macht ihnen jährlich arg zu schaffen, denn die Tage sind 36 Stunden lang und das Jahr zählt 18 Monate. Daher werden die Sommer 60 Grad heiß. Die Winter erinnern an sibirische Kälte.

Die Siedler ziehen deshalb zweimal jährlich mit Planwagen um. Das festigt ihren Zusammenhalt. Sie haben eine hohe Ethik und Teamgeist und sie werden ein deutlich anderer Humantyp als auf Erden. Die Waldhüterin Enia ist dafür ein Beispiel. Sie erhält daher von ihrer Legatin den Auftrag, per Floß einer Segeljacht entgegenzureisen, auf der als Terraformer Astronauten eine Rundfahrt durch das Land der Siedler unternehmen. Das ist Orbitanern, einer Techniker-Kaste, unerwünscht.

Vogelreiter und Flussvolk

Es ist schön, den brausenden Wind zu spüren, Kindern ins Gesicht zu sehen und ihren Stimmen zu lauschen, in die Ferne zu spähen und ungeduldig den nächsten Tag einer Welt zu erwarten.

Lob eines Sternenwanderers

In Wolken ein Vogelreiter fliegt

Zwischen weißen Wolkentürmen gleitet schwebend eine silberne Halbkugel dahin. Mehrere hundert Meter tiefer wiegen sich die Kronen von Wäldern in den Windwirbeln eines fast schon sommerlich heißen Tages. Die Wipfel gleichen – aus Wolkenhöhe gesehen – Tupfern: Orange, weiß und gelb als Abwehr gegen den grellen Schein von Helizia. Nur bodennahe Baumpartien schimmern grün. Dann ändert sich die Landschaft. Wasseradern verästeln sich zwischen riesigen Schilfflächen zu einem Flussdelta. Es wirkt noch eintöniger als das Baummeer. Und schließlich kräuseln behäbig Meereswellen eine weit ausgedehnte Küstenbucht: Die See der Krautlinge voller schwappender Tangfelder, zwischen denen das Tagesgestirn wie in einem riesigen Spiegel als gleißender Fleck dahineilt als beharrlicher, nicht abzuschüttelnder Begleiter der silbrigen Halbkugel.

In ihr sitzt reglos ein Roboter vor einem Pult und überwacht den Kurs. Der Flug führt von der Dschungelstadt Deltrix mitten im tropischen Tiefland nach Kap Morgenröte, dem südlichsten Zipfel des Landes der Siedler. Siebenhundert Kilometer sind zurückzulegen. Die Flugkuppel ist ein gemütliches Wohnzimmer mit einer im Kreis gebauten inwärts gewölbten Fensterfront. Es enthält, wie zufällig ohne trennende Wände, auch den unscheinbar aussehenden kleinen Leitstand der Flugkuppel mit Diagramm- und Digitalanzeigen, Tastengruppen, wenigen Bildschirmen und einem Joystick. Unter dem Boden verborgen ist die Technik, zum Beispiel für den düsenlosen Antrieb.

In einer Schlafmulde ruht ein Raumfahrer. Tag und Nacht von zusammen sechsunddreißig Stunden auf JUWELA, daran hatte er sich ebenso wenig gewöhnt wie die Siedler, deren Land er gerade überfliegt. Er muss deshalb tagsüber mal ein Weilchen schlafen. Der Flug zum Kap ist dafür eine Gelegenheit. Die Person in der Polstermulde, die eine Arbeitskombination trägt, rekelte sich. Auch in den Roboter kommt Bewegung. Er sagt: »Voraus Vogelreiter. Kritische Situation. Hält Arm vor Kopf.«

Der Raumfahrer springt auf. Unweit erblickt er draußen zwei Großvögel, die unter sich in einem Gurtsitz einen kindlichen Kurier als Zielnavigator tragen. Die Vögel streben, gegen Wind ankämpfend, einem Tafelberg in der Ferne zu. Dort ist ihr Horst. Das Kind späht ab und zu unter seinem Arm kurz hervor, mit dem es seinen Kopf schützt.

»Kind hat Schutzbrille verloren«, sagt der Roboter.

»Ihm tränen die Augen vom Wind«, vermutet der Raumfahrer und überlegt, wie er der in Pelze und Lederkappe gekleideten Gestalt helfen kann. In dieser Flughöhe ist die frühsommerliche Wärme nicht zu spüren, eher der Hauch der Eisfee. Als Vogelreiter sind nur Kinder zwischen zwei bis vier Jahren wegen ihres geringen Gewichtes geeignet, was bei der Länge eines Jahres auf JUWELA einem Alter von vier bis acht Jahren auf Erden entspricht. Unerwartet winkt das Kind. »Wie kann es uns bemerken, wenn es sich die Augen zuhält?«, staunt der Raumfahrer.

»Astronautin Fio erforschte vor hundert Jahren Sprache Großvögel. Schon vergessen?«, erinnert ihn der Roboter an den Erfolg dieser Raumfahrerin aus der Besatzung der Gea Solaris.

»Du meinst, seine Piepmätze haben es ihm gezwitschert, dass wir uns nähern? – Sprechfunk aktivieren!«

»Hier Roboter Monochron. Schildere Notlage?«, fordert der Roboter den Kinderkurier auf und verändert mit kurzem Handgriff eine Innenfläche der Kuppel zum Bildschirm von 200 Zoll. Dort ist nun groß zu sehen, was voraus als Vogelgespann klein den Himmel durchquert. Die Lederkappe des Kinderkuriers enthält Kopfhörer und Mikrofon. Außen ist eine solche Kappe mit Solarindikatoren für die Stromversorgung überzogen. Seine Kappe schillert daher.

»He, Robbi. Brauch ein Taschentuch«, verlangt das Kind. »Die Augen tropfen mir wie eine Gießkanne. Wir sackten in ein Luftloch. Ein Seil schrammte dabei meinen Kopf, und futsch war die Schutzbrille. – Ich bin Ingo Fabrizio!«

»Hier Astor«, schaltet sich der Raumfahrer ein. »Lass mich überlegen, ob ich helfen kann.«

»Irdling Astor? Herr der metallenen Maschinen und der Ewigkraft im Stern von Gea?«, nennt Ingo in grenzenloser Bewunderung die Gea Solaris, fast seine Notlage vergessend. Trotz der Annäherung der Flugkuppel setzt das Vogelgespann seinen Kurs fort. Es ist an solche gelegentlichen Begegnungen mit Flugkuppeln der fünf Astronauten gewöhnt, die das Entwicklungsprogramm der Siedler unterstützend beraten.

»Was nutzen mir Maschinen der Gea Solaris? Was ich jetzt brauche, ist ein langer Arm für das Taschentuch«, stellt Astor fest.

»Macht nichts. Fliege weiter«, sagt Ingo enttäuscht.

»Langsam, langsam. Ich denke noch nach«, erklärt Astor. Es erfreut ihn zwar, von einem Kind selbst in solch harter Situation überschwänglich als Chefingenieur der Astronauten erkannt zu werden, aber wohl ist ihm dabei, genau genommen, nicht.

»Frage Robbi. Der hat bestimmt einen Vorschlag«, schöpft der Vogelkurier wieder Hoffnung.

»Das Bürschchen kennt sich aus mit Robotern«, murmelt Astor erfreut. »Wahrscheinlich ist er Sohn eines von mir ausgebildeten Orbitaners.« Er geht von der durchsichtigen Kuppelwand zum Roboter am Leitstand. Der Roboter hat tatsächlich einen Vorschlag als Diagramm auf einem Monitor parat: Eine abgeänderte Flugroute für das Vogelgespann. Sie ist zwar ein Umweg, doch die Zahlen aus Rückenwind, Wegstrecke und Kraftaufwand bedeuten, dass das Ziel auf diese Art besser zu erreichen ist. Astor wirft einen Blick darauf und kehrt zur durchsichtigen Kuppelwand zurück, denn das Vogelpaar mit Kind ist wegen eines Wolkenturms außer Sicht geraten. Astor geht die Scheibenfront der Kuppel ab und sucht nach ihm zwischen den Wolken, die Augen mit der Hand abschirmend. Man überfliegt gerade die Küstenlinie.

»He, Sternenmann! Kein Vorschlag?« Das Kind ist ungeduldig.

»Robbi hat eine Idee und ich habe sogar drei«, antwortet Astor. »Was willst du zuerst hören, Ingo?«

»Deine Vorschläge, Erdgeborener, weil Robbi sicherlich nur Zahlenreihen aufsagt«, seufzt Ingo. »Ich gehe erst dann zur Schule, wenn ich für meine Vögel zu schwer geworden bin.«

»Ich weiß. Also höre: Entweder mein fliegendes Haus wirft Schatten auf dich, damit es nicht so grell für deine Augen ist. Oder ich ziehe an einer Leine eine Helmbrille von mir und ein Taschentuch hinter meiner Flugkuppel her, bis du das Ende der Leine ergreifst. Pass auf, dass deine Vögel nicht danach schnappen.«

Ingo lacht. »Sie können Helmbrillen von Futter unterscheiden.« Vögel und Kind verlassen unweit der Flugkuppel das dampfige Brodeln einer Haufenwolke und werden wieder sichtbar.

»Drittens könntest du deine Vögel zum Meer herablenken und dicht über den Wellen abspringen. Meine Flugkuppel ist dann zur Stelle, und ich ziehe dich aus dem Wasser«, bietet Astor an.

»Was sollen meine beiden Flugfreunde von mir denken, wenn ich abspringe?«, lehnt Ingo ab. Stolz fügte er hinzu: »Und außerdem habe ich einen Vorfahren auf Erden: Es ist der Raumlotse Jan! Das hat die Gen-Bank vom Raumschiff meiner Mutter mitgeteilt, damals als ich geboren wurde.«

»Dein Stolz freut mich. Doch diesmal schlucke ihn herunter, Ingo. – Robbi Monochron hat eine Idee ohne Zahlen«, besänftigt der Astronaut das Kind. »Er meint, du solltest nicht direkt auf den Tafelberg zufliegen, sondern mit kleinem Umweg im Windschatten der Küste zum Horst auf dem Tafelberg fliegen.«

»Ein weiter Bogen, aber das mache ich«, stimmt Ingo zu.

Sie nähern sich der Schauerschürze einer Quellwolke. Ingo hält seitwärts einen Wimpel an kurzem Stock weggestreckt und gibt seinen Vögeln damit die neue Richtung an, wie das der Roboter vorschlug. Die Großvögel ändern den Kurs. Der Raumfahrer nimmt einen Behälter, steckt eine Schutzbrille hinein, fügt Taschentücher, aber auch Naschereien hinzu. Monochron steuert derweil die Kuppel vor das Vogelpaar. Astor knüpft den Behälter an eine dünne Leine und lässt ihn aus einer Öffnung gleiten. Der Junge klinkt den Behälter aus und hakt ihn bei sich am Gürtel fest.

»Ist ‘ne große Sause, deine Hilfe. Top, Sternenmann!«, ruft Ingo.

»Gute Landung. Ich komme dich morgen im Horst auf dem Tafelberg am Hafen besuchen«, kündigt Astor ihm über Sprechfunk an.

Ehe sich Astors Sicht von Wolken erneut verschleiert, sieht er den beiden Vögeln mit ihrem Navigator noch einen Moment lang nach. Dann tritt er zur Seite und geht zu einem Spiegel. Dort winkt er sich zu. »Hallo, du armseliger Antagonist. Das war miserabel gemacht«, sagt er und schneidet sich eine Fratze. »Mit der Übermacht von Roboter und Flugkuppel war das keine Glanzleistung als Hilfe für ein Kind, das im gefährlichen Einsatz als Wolkenkurier unterwegs in eisiger Höhen ist«, kritisiert er sich und droht seinem Spiegelbild. »Dreckskerl, wenn du wieder in den Kaltschlaf fliehst und einfach einen Zeitsprung über hundert Jahre hinweg tust. Bist ein Verräter, lässt all die Leute dort unten in dem primitiven elenden Mittelalter zurück. Schäme dich.« Astor senkt bedrückt den Kopf und wendet sich vom Spiegel ab.

Der Roboter Monochron beachtet die Grimassen nicht, die sein Herr sich schneidet. Er kennt es schon, dass diese Lebenden, die in durchsichtigen Halbkugeln unter silberner Kuppeln jeder für sich von Ort zu Ort und von Aufgabe zu Aufgabe fliegen, solche Anwandlungen haben. Es hängt mit ihrer Verlassenheit zusammen. Zwar können sich die Raumfahrer überall im Land über große Entfernungen hinweg jederzeit auf ihren Monitoren sehen und sprechen, aber sie sind dennoch einsam.

Der Roboter greift in die Depression Astors ein und projiziert ihm eine zweimastige Segeljacht als Hologramm über die Schlafmulde. Das Schiff eilt mit vollen Segeln über das Meer. Es ist Astors jüngste technische Großtat und krasser Gegensatz zum derzeitigen mittelalterlichen Entwicklungsstand der menschlichen Siedlergesellschaft auf dem Planeten JUWELA. Der Anblick des Seglers richtet Astor seelisch wieder auf. Er legt dem Roboter eine Hand wie einem Kameraden auf die Schulter und atmet tief durch. »Meine neue Segeljacht ist wundervoll. Danke, Robbi. Ich bin wieder in Ordnung. – Du kannst landen.«

Die Flugkuppel durcheilt eine Lücke zwischen gewittrigen Wolkentürmen über der Krautsee mit Kurs auf einen Trutzfelsen, der die Einfahrt zu einem kleinen Hafen schützt. Ein kurzer Kai wird erkennbar. Gegen den Trutzfelsen brandet ein Wellenschlag nach dem anderen an. Drei plumpe Frachtsegler – Daus oder Dschunken – halten wie Spielzeugschiffchen mit geflickten Segeln Kurs auf die Einfahrt. Die Flugkuppel verlangsamt ihr Tempo und geht zum Sinkflug über, um auf dem Kai des kleinen Hafens noch vor der Ankunft der Frachtsegler zu landen.

Der Patriarch des Flussvolkes

Am wellenbrechenden Trutzfelsen einer Hafeneinfahrt laufen drei bauchige Holzschiffe ohne Ladung ein, die schon beim Anflug von Astors Flugkuppel winzig aus Wolkenhöhe auf dem Meer zu sehen waren, nämlich zwei Stall- und ein Trecksegler. Die Stallboote haben zwar Masten mit geflickten Segeln, sind aber ohne Decksaufbauten. Nur eine wuchtige Balkenreling und eine Viehrampe inwärts zum Unterdeck kennzeichnen diesen simplen Schiffstyp, der für die Treckzeiten im Frühjahr und Herbst benötigt wird. Das Rioboot hingegen hat Aufbauten für Kajüten. Die Mannschaften werden aktiv, und die Segel fallen bei allen drei Schiffen fast zugleich. Die Schiffe driften mit letztem Schwung zum Kai und legen an.

Der schmale Kai hat nur eine Breite von dreißig Metern, begrenzt von Felswänden, die zu einem Berg ohne Gipfel, einem Tafelberg, aufstreben. Der Eingang der Kuppel mit kurzfüßiger, dicker Grundplatte voller technischen Einrichtungen befindet sich in Schulterhöhe. Er ist geöffnet. Darin erscheint Astor. Im dicken Basissockel der transparenten Grundplatte treiben geruhsam blinkend verschiedenfarbige Lichter als Anzeichen ständiger Start- und Flugbereitschaft wie ein langsam drehendes Karussell rundum. Raumfahrer Astor, in weißer Bordkombination mit breit schillerndem Energiegürtel, blickt zum Geschehen am Kai. Der Flugkörper steht im Schatten der Felswand.

Es ist Frühjahr und somit Treckzeit zur Reise nach Norden. Die Siedler und Farmer aller Dörfer verlassen das heiße Tiefland und ziehen alljährlich ins Hochland, teils mit Planwagen, teils über den Hauptstrom des Landes mit Frachtenseglern. Auf dem Kai ist Ladegut gestapelt als Klafter von Regenumhängen aus der Haut von Seeglocken, Kisten, Säcken, Heuballen in Netzen, Fässern, auch lebende Tiere in Pferchen. All das soll mit den Familien von Farmern über 1500 Kilometer hinweg den Rio Meridano stromauf zur großen Steilkante befördert werden, statt mühsam mit Planwagen auf Waldwegen. Diese Wanderungen erfolgen auf dem Planeten JUWELA wegen jahreszeitlich starker Klimaunterschiede, denn die Temperaturen steigen während des Sommers im Tropendschungel des Tieflandes auf fünfzig Grad Hitze südlich der Hohen Kante und fallen während des Winters im Hochland nördlich der Steilwand auf sechzig Grad Frost.

Noch während der Vertäuungen der Lastensegler verlässt ein alter, aber noch rüstiger Mann den Trecksegler. Er geht gemessen auf die Flugkuppel zu. Wind zaust an seinem Haar. Diese Gestalt ist gebeugt und hager, die Kleidung wegen der tropischen Wärme kurzhosig und kurzärmlig. Den alten Mann umflattert ein faltenreicher, dunkelroter Umhang mit gelber Prunkborte. In der linken Hand trägt er einen langen, verschnörkelten Zepterstab. Astor geht ihm die wenigen Stufen seiner Gangway herunter entgegen.

»Sohn Irdiens! Meine Freude ist groß, dich zu sehen«, sagt Kerkles und mustert den Raumfahrer. »Du bist Astor. In früher Jugend sah ich Bilder aller zwanzig Frauen und Männer aus dem Stern von Gea. Ich habe sie mir eingeprägt. Aber nur wenige von euch Sternenleuten sind mir in all meinen Lebensjahren begegnet. Du auch nicht.« Sie reichen sich die Hände. Astors Anblick wirkt gegenüber der nahezu biblischen Figur des Patriarchen trotz des schillernden, breiten Energiegürtels fahl und fade so in weißem auf Zweckmäßigkeit bedachtem Borddress.

»Der Wind sei mit dir«, grüßt Astor. »Du bist Kerkles aus fünfter Generation nach Ankunft unserer Gea Solaris und mit 120 Jahren der Patriarch des Flussvolkes. Nie kreuzten sich unsere Wege. Ich hoffe sehr, dass du nicht gleich morgen wieder zurück nach Norden segelst«, sagt Astor. Die Bezeichnung Patriarch bedeutet, dass Kerkles trotz hohen aber durchaus üblichen Alters Anführer des Flussvolkes ist in einem Patriarchat, in seiner Autorität gleichzusetzen der Legatin für das Hochland in ihrem Matriarchat.

»Was spricht dafür, zu bleiben?«, fragt Kerkles.

»Du wirst hier Carlo de Sinio, den Kommandanten des Raumschiffes, und noch zwei meiner Kameraden treffen. Sie kommen aus dem Kaltschlaf. Eine Fähre bringt sie morgen aus dem Orbit. Tritt ein in mein Kuppelhaus, ehe uns die Hitze zu Klippfisch dörrt«, fordert Astor ihn auf. Kerkles macht bei der Nachricht über die bevorstehende Ankunft von Raumfahrern unwillkürlich einen Schritt zurück. Dann fasst er sich wieder und folgt der Einladung die wenigen Stufen aufwärts zum Eingang der Flugkuppel.

Drinnen in der Flugkuppel nehmen beide abseits von Steuerkonsole und Bildschirmen auf schon abgenutzten, gepolsterten Sesseln Platz, die, drehbar, ein industrielles Ambiente haben im Gegensatz zu Ausstattungen in klotzigem Rohholz bei den Farmern und Flussleuten. Der Roboter Monochron hantiert im Hintergrund in der Küchennische. Die Kuppelwand ist durchweg nicht mehr eine glasklare, sondern eine himmelblau eingetrübte Fensterfront.

»Bisher begegnete ich nur zwei Sternenleuten. Ich habe die Langlebigkeit stets gelobt, die uns angeboren wurde, obwohl ein Leben hier auf JUWELA viele harte Stunden hat«, sagt Kerkles. »Heute lobe ich sie mehr denn je, denn nun lerne ich gegen Lebensende gleich vier Sternenleute kennen, also dich und die drei Kaltschläfer, die morgen hier eintreffen auf dem Kap-Plateau mit dem Kinderdorf für den Vogelhorst. Meine Bootsmänner werden Farmer an Bord nehmen, um sie den Meridano hinauf zur Hohen Kante zu bringen. Aber zuerst, so mein Entschluss jetzt, bleiben wir, um deine Gefährten aus dem Stern von Gea zu begrüßen.«

Roboter Monochron bringt Tassen und Tee. Nachdem Kerkles und Astor schweigend ein paar Schlückchen trinken, sagt Astor: »Seit zehn Jahren bin ich hier auf JUWELA unterwegs gewesen wie schon drei Mal zu früheren Zeiten. Nun heißt es für mich wieder, in den Kaltschlaf zu sinken. Meine letzte Aufgabe ist zuvor hier im Hafen zu erfüllen. Dazu möchte ich deinen Rat.«

»Lass hören«, sagt der Alte, bemüht, seine Bestürzung wegen des anstehenden Kaltschlafes Astors hinter Hüsteln zu verbergen.

»In Deltrix entstand nach Bauplänen von mir ein Segelschiff, wie es dir und dem Flussvolk noch unbekannt ist«, erklärt Astor stolz. »Es hat einen schlanken Rumpf und segelt schnell. Dieses Schiff hat zwei Masten. Es kann aber auch ohne Wind rasch fahren, denn es hat im Rumpf eine Quelle aus Ewigkraft.«

»Aha, Metalltechnik und pfiffiges Wissen«, sagt Kerkles.

»Richtig. Das Schiff kann Segel wie von Geisterhand setzen und wieder reffen. Schiffe dieser Art nennt man auf der Erde Jacht«, berichtet Astor seinem Besucher. »Meine Gefährten nun, die morgen mit einer Sternenfähre eintreffen, wollen mit der Jacht den Rio Meridano bis fast an seinen Anfang bereisen.«

»Das wird mein Flussvolk freuen«, lobt Kerkles. »Soso, Jacht. Jagt das Schiff den Wind oder der Wind die Jacht?«, will der Patriarch wissen und blinzelt Astor dabei listig zu.

Astor lacht herzlich, dann fragt er: »Gibt es in deinem Flussvolk vier Leute, die geschickt genug sind, mit so einem ganz und gar anderem Schiff umzugehen?«, fragt Astor.

Kerkles dreht seine Tasse in den Händen, überlegt und sagt: »All jene meiner Leute, die den Rio Meridano verlassen, um über die Krautsee hierher zum Südkap unseres Landes zu steuern, gehören zu den Besten. Wer vom Flussvolk diesen Kai dort draußen betritt, ist erfahren und tüchtig. Wir können sie hier an Ort und Stelle aussuchen. Ich rufe zwei Frauen und zwei Männer herbei: Eine Windseherin als Meteorologin – wie ihr Sternenleute das nennt –, eine Riffspäherin als Lotsin, einen Mann fürs Steuerrad als Nautiker und einen Segelnäher.«

Beide leeren ihre Tassen. Kerkles steht auf und tritt hinaus auf die oberste Stufe. Sofort erfasst der Seewind seinen Umhang und lässt ihn wallen. Kerkles ruft seinen Leuten auf dem Kai Namen zu: »Windi Kriket! Roda Felsling! Lirio Zuweil! Ole Sandgelb! Zu mir in das Haus der Wolken. Sternenreisender Astor erwartet euch!«

Als Kerkles wieder eintritt, sich setzt und auf die Gerufenen wartet, sagt Astor: »Der neue schnelle Segler hat noch keinen Namen. Ich möchte, dass du die Jacht taufst. Zwei Roboter steuern sie derzeit, aber nur noch für ein paar Stunden. Sie wird gleich nach der Taufe deinem Flussvolk gehören«

Kerkles ist hoch erfreut. Er sagt: »Die Taufe wird der Glanz meines Lebensabends sein.«

»Die Wahl des Namens sei dir überlassen«, bekundet Astor. Das Hologramm des Seglers mit zwei Masten erscheint erneut über der Schlafmulde.

Kerkles Miene erglänzt noch mehr. Der Anblick verschlägt ihm die Sprache. Schließlich huscht seine Hand schwungvoll durch die Luft. Dabei sagt er: »Unsere Riosegler sind plump im Vergleich zu diesem schlanken Rumpf unter vollen Segeln. Sie bauschen sich wie Schwingen eines großen Vogels. Lass uns darauf einen kräftigen Schluck von den Quellen des Rio Meridano nehmen. Ich werde das neue Schiff Schwan von Gea taufen!«, verkündet er spontan.

»Eine gute Wahl, dieser Name«, sagt Astor und schnippt nach dem Roboter Monochron. Der bringt Gläser sowie Quellwasser des großen Hauptstroms der Siedler.

Zum gleichen Moment erscheinen die vier Leute vom Flussvolk, die Kerkles gerufen hat, vor dem offenen Eingang der Flugkuppel. Sie verharren unentschlossen, weshalb sie erst nur als Brustbild am Eingang zu sehen sind mit dem Trecksegler am Kai im Sichtausschnitt des Hintergrundes. Kerkles und Astor stehen auf. Der Patriarch stampft mit seinem Zepterstab viermal auf den Boden und winkt seine Leute einen nach dem anderen in die Flugkuppel. Dabei ruft er erneut ihre Namen wie bei einer Zeremonie, Pausen dazwischen. Die Aufgerufenen kommen einzeln und auf unterschiedliche Weise herein: »Lirio Zuweil als navigatorischer Kursmann! – Ole Sandgelb als Segelnäher! – Windi Kriket als wetterkundige Windseherin! – Roda Felsling als Riffspäherin!«

Charakteristisch für die Genannten ist nicht nur ihre abgewetzte Kleidung, sondern auch ihr olympischer Körperbau. Sie zögern je nach Temperament angesichts von Roboter und Steuerpult, die Flugkuppel zu betreten: Sie sind scheu oder ungeniert, ehrfürchtig oder misstrauisch. Ihrer Kleidung nach könnte man sie für Piraten halten, nicht die neue Besatzung der Jacht in ihnen erkennen.

»Morgen bringen zwei Eisenkerle ein herrliches Schiff zu uns. Sie verlassen das Schiff. Stattdessen sollt ihr seine Besatzung sein. So will es euer Patriarch, und so will ich es, der Sternenmann«, erklärt Astor schließlich feierlich jeweils mit Hand- und Schulterschlag: »Seid mir willkommen, Roda Felsling, Windi Kriket, Ole Sandgelb und Lirio Zuweil. – Frauen und Männer aus dem Stern von Gea werden eure Reisenden sein zu einer Rundfahrt beim Frühjahrstreck durch die Wälder auf dem Meridano.«

»Lasst uns nun einen Krug Quellwasser des Rio Meridano darauf leeren«,sagt Kerkles. Die Karaffe kreist. Jeder sagt dazu einige Worte. Astors Roboter reicht keine Gläser, sondern Holztassen.

»Im Namen der Sterne.«

»Für JUWELA.«

»Im Dienste des Kometen über unseren Wäldern.« (Kerkles)

»Langes Leben all unseren Siedlern.« (Astor)

»Im Namen der Hohen Kante.« (Nationalsymbol der Siedler)

»Der Wind sei mit uns.«

»Wenn die Reisenden, die aus dem Kaltschlaf kommen, mit uns segeln auf dem breiten Rücken des Rio Meridano, werden sie dann dazu kräftig genug sein?«, will Kerkles besorgt von Astor wissen.

»Das neue Segelschiff hat Geräte an Bord, die ihnen helfen, alle Kraft zurück zu gewinnen. Auch ich brauchte anfangs Hilfe nach meinem letzten Kaltschlaf vor zehn Jahren. Sieh mich an! Welchen Eindruck mache ich heute auf dich?«, fragt Astor.

»Du bist stark wie ein Trutzfelsen«, bestätigte Kerkles und lacht. Alle außer Monochron verlassen die geparkte Flugkuppel. Sie gehen über den Kai zum Trutzfelsen, wo die Flussleute im Schatten und vor Seewind geschützt an Feuerstellen das Mittagessen austeilen. Auch Astor bekommt eine Holzschüssel überreicht.

Ankunft der Sternenleute

Die Horstmeisterin Minka Sommerwind und der kindliche Vogelkurier Ingo Holla – barfüßig und schmutzig – beobachten von einer Felsenkammer aus mit Astor, dem Astronauten und ehemaligen Ingenieur des Raumschiffes Gea Solaris, die Ankunft eines Shuttles auf dem Tafelberg des Kapfelsens. Sie spähen dabei in Kopfhöhe durch einen waagerechten, zinnenähnlichen Felsenspalt. Ingo steht dazu auf einem Hocker. Ein kreuzförmiger Flugkörper sinkt lautlos im senkrechten Abstieg auf das Plateau und landet ähnlich Astors Flugkuppel und dem Flautenantrieb der Segeljacht durch Manipulation von Schwerkraft, also ohne Feuerstrahl und Donner eines Düsentriebwerks. Das Antischwerkraftfeld erzeugt allerdings unter der Fähre Luftwirbel. Dabei werden Staub, Vogelfedern, Steinchen, Moosbatzen, Blätter und ähnliche Kleinteile so wie bei den Staubteufeln, die als Mini-Twister über Stoppelfelder wandern, verstrudelt. Sie sausen 30 bis 50 Meter im Kreis als kegelförmige Schmutzfontäne gen Himmel, wo sie Höhenwind ergreift und zerstreut. Je näher das Kreuz dem Boden kommt, sinkt es nicht nur um so langsamer herab, sondern um so mehr Partikel durchsetzen den Wirbel und machen ihn untransparent.

»Ich habe immer noch nicht begriffen, weshalb ein felsenschweres Ding wie das Flugkreuz ohne Schwingenschlag fliegen kann«, sagt Minka Sommerwind zu Astor, die dem Astronauten schon mehrfach begegnet ist. »Sogar unsere Kuriervögel haben zuweilen Mühe, zu fliegen, wo sie doch viel leichter sind. Erkläre es mir noch mal.«

»Das Shuttle hat insgesamt eine Kreuzgröße von etwa dreißig Metern«, kommt der Astronaut ihrer Aufforderung nach, wohl wissend, dass sie diese Frage als Horstmutter nur wegen des kindlichen Kuriernavigators stellt. »Die Halbkugeln zu fünf Metern im Durchmesser an den Kreuzenden sind nicht nur Lastkammern, sondern sie enthalten auch Ewigenergie, die das Gleichgewicht automatisch ausbalanciert. Die große Halbkugel in der Mitte des Flugkreuzes hat Platz für Piloten, Passagiere und für den Hauptantrieb. Der arbeitet wie ein Magnetfeld, nämlich anziehend oder abweisend. Das Shuttle kommt aus dem Sternenfeld wie ein Komet mit einer Geschwindigkeit von mindestens dreißigtausend Kilometern je Stunde herabgeschossen und würde auf die Lufthülle von JUWELA wie auf einen Felsen knallen. Dann wäre es platt und würde in glühende Teile zerfallen. Deshalb wird mit Antischwerkraft abgebremst, je nachdem wie dick der Brei aus Luft ist, in den so ein Flugkreuz eintaucht. Es kommt dabei wie eine große Spinne an einem fast unsichtbaren Seil, anfangs schnell, als ob es sich auf eine Beute stürzt, und zuletzt in vorsichtiger Annäherung, senkrecht aus dem Zenit herab, natürlich angepasst an die Planetendrehung von etwa zwanzig Kilometern in der Sekunde. Allerdings bringen die Oberflächen von Kreuz und Halbkugeln erhebliche Kältegrade aus dem Weltraum mit.«

»Wirklich! Es schneit dicke Flocken um die große Kreuzspinne, vermischt mit Regen!«, tut Ingo seine Wahrnehmungen kund. »Er ist noch nicht ganz unten, dieser Kreuzvogel ohne Schwingen. Seine ganze Haut wird weiß von Eis und Reif, als ob ihn der Hauch der Eisfee klirrend verzaubert hat!« Ingo ist begeistert. »Sogar Nebel bildet sich!«

»Nach ein paar Minuten ist das alles wieder verschwunden«, versichert Astor dem Jungen.

»Was bringt es diesmal für die Dörfer und Trecks mit, außer den Kaltschläfern, meine ich?«, will Minka Sommerwind wissen.

»Ersatzteile für Handys, neue Ferngläser, Landkarten, natürlich Medikamente und Impfstoffe, transportable Solarmodule, ein paar Kleingeneratoren für die Windmühlen, die den Sender unseres Funknetzes in Serpentina und die Laboratorien der Orbitaner in Akademus mit elektrischem Strom versorgen sollen, auch Ersatzteile für die Flugkuppeln und Schweber, beispielsweise für Monitore, und schließlich ein paar Vermessungsgeräte für Bauarbeiten an zukünftigen Fernstraßen und starken, sturmfesten neuen Gebäuden«, zählte Astor auf. Er las es von einem flachen Display ab, das er aus der Tasche seines Anzuges zog. »Und wie immer nimmt das Shuttle aber auch wieder etwas mit, etwa dicke Flaschen mit gepresstem Sauerstoff für meine Kameraden zum Atmen im Kaltschlaf, sowie kleinere Mengen von allerlei Rohstoffen wie Metalle, dann noch Wasser und Nahrung für jeden, der den Stern von Gea mal besuchen muss, um Roboter in ihren kleinen Werkstätten und Labors zu überprüfen«, schloss er seine Information an seine beiden Zuhörer ab.

»Wir können diese Schutzgrotte jetzt verlassen«, sagt Minka. Die Gruppe geht durch einen kurzen Felsgang raus. Es ist Nachmittag mit durchmischtem Wetter und subtropisch warm.

Noch beim Flockenwirbel, aber vor Auflösung des Raureifs am Rumpf des Kreuzes zerrinnt die Wand des Shuttles an einer zuvor nicht erkennbaren Stelle der großen Halbkugel zu einer Öffnung. Eine Treppe entfaltet sich wie ein geneigter Scherenarm. Die Orbitanerin Astra Azimut aus siebenter Generation nach Ankunft der Gea Solaris kommt im langen Kleid zuerst die Stufen herunter. Sie war zu einem Arbeitsbesuch im Orbit, um Astronomie zu studieren. Danach erscheinen drei Raumfahrer und betreten den Landeplatz, darunter eine Frau. Während die gespenstisch mageren und bleichen Astronauten weder für Minka noch für Astor ungewohnt sind, ist der kindliche Vogelreiter Ingo Holla erstaunt, denn er sieht Menschen, die erst kürzlich aus dem Kaltschlaf geweckt wurden, zum ersten Mal in seinem Leben. Die Sternenleute taumeln und stolpern wegen Gleichgewichtsproblemen als vorübergehende Folge des Kaltschlafes und der Erweckungsprozedur. Sie sind mit silbernen Stützanzügen bekleidet, die lange Hosenbeine und Ärmel mit Wulstringen haben. Diese Anzüge enthalten motorische Funktionen zur Ergänzung der menschlichen Muskelanstrengungen.

Astor hat das Erstaunen Ingos über die gebrechliche Erscheinung der Astronauten bemerkt. »Nach langem Kaltschlaf haben meine Kameraden schwache Arme und Beine«, erläutert er dem kindlichen Vogelkurier. »Sie müssen solche Anzüge noch einige Wochen lang als Stütze tragen. Als ich vor zehn Jahren hier eintraf, war ich auch schwach, bleich und genauso angezogen.«

Ingo beobachtet das merkwürdige Verhalten der Astronauten. Die beiden Männer breiten die Arme wie Flügel aus, als seien sie Vögel, die sich dem Wind entgegenstellen und die prüfen, ob man in ihm fliegen kann. Die Frau aber dreht sich tänzelnd im Kreis wie ein Ordenspelzler, der zuviel Krugbaumsaft getrunken hat.

Astra Azimut ist zur Seite getreten und sieht sich auf dem Horstplateau um. Sie sieht gelangweilt aus.

»Das sind ihre Glücksgefühle, wieder wach zu sein in einer Welt mit lebendigen Menschen, mit Pflanzen, Wind und Tieren«, erklärt die Orbitanerin dem Jungen abgewandt, als spräche sie zum Wind.

»Was tatest du vor zehn Jahren, als du herkamst, Astor?«, fragt Ingo den Ingenieur.

»Habe ich vergessen«, murmelt Astor, verlegen ausweichend.

»Ich weiß es noch«, sagt Minka. »Warmer Regen prasselte auf dich herab. Du legtest dich der Länge nach selig in den Schlamm. Dann schafftest du es aber nicht, von allein wieder auf die Füße zu kommen. Man musste dir helfen«, erinnert sie sich.

»Wir Vogellenker machen bei Regen manchmal auch Schlammwühlen«, urteilt Ingo verständnisvoll.

»Darin könnt ihr sogar den Schlammwühlern aus dem Sumpfwald noch was vormachen«, bestätigt die Horstmeisterin ironisch.

Die Astronauten an der Fähre haben inzwischen ihren ersten Freiheitsrausch mit Sonne, Wind und Düften überstanden. Sie schwanken zum Rande des Horstes und steigen mühsam ein paar Stufen zu einer mit einem starken Geländer umgrenzten Stelle hoch, von der aus man einen weiten Blick auf Meer und Kap hat. Diese Stelle ist traditionell die Empfangsklippe für Ankömmlinge aus dem Orbit. Die Orbitanerin Astra Azimut, gefolgt von Astor, Horstmeisterin und Ingo schließen sich den Astronauten an und gehen ebenfalls zur Begrüßungsklippe. Die Orbitanerin ist mit zurückhaltender Eleganz gekleidet, soweit das den mittelalterlichen Umständen nach für sie als Akademikerin machbar ist. Das verleiht ihr einen Hauch von Arroganz, Kälte und Unnahbarkeit. Aber Ingo zögert mehr aus Respekt vor den Astronauten heranzutreten, weiß er doch, dass einer der beiden Sternenmänner der Kommandant des Sterns von Gea sein muss.

Astor schiebt ihn näher und stellt ihn vor. »Das ist mein neuer Freund Ingo«, sagt er. »Ich traf ihn gestern mit meiner Flugkuppel hoch über der Krautsee. Er hatte gerade ein Problem, sozusagen einen kleinen Havariefall.«

»Dann sollten wir zusammenhalten«, kommentierte de Sinio und blinzelt Ingo zu. »Wir Sternenleute haben es nämlich ab und zu auch mit Problemen und kleinen Havarien zu tun.«

Während Astra Azimut Nase rümpfend auf den barfüßigen Jungen mit seinen schmutzigen Beinen herabsieht, spitzt die Astronautin Fiorella ihre Lippen und flötet dem Kind etwas in der Ausdrucksweise der großen Kuriervögel zu. Da Ingo täglich mit den Großvögeln kommuniziert, antwortet er in gleicher Weise. Erst dann wird ihm bewusst, dass es ungewöhnlich ist, wenn eine Sternenfrau die Sprache der Großvögel beherrscht. Ihn durchzuckt ein unglaublicher Gedanke:

»Du bist Fiorella!«, ruft er begeistert. »Du hast vor 100 Jahren die Sprache der Großvögel erforscht.« Ingo stellt sich zu ihr. Verstohlen schiebt er zutraulich seine Hand in ihre, als sei sie seine lang vertraute und von einer weiten Reise wieder heimgekehrte große Schwester.

Fiorella wuschelt ihm glücklich durchs Haar und ruft fassungslos: »Er wirft einen Schatten! Dieses ist kein Traum im kalten Schlaf!« Sie stößt de Sinio an, umarmt Wolfram, zweiter Astronaut, und zieht Ingos Hände hoch, ihm die Finger küssend. Um das Kind auf den Arm zu nehmen, ist sie vom Kaltschlaf trotz der unterstützenden Kraft ihres Wulstanzuges noch zu schwach. »Nichts ist vergessen von meiner Forschung damals. Wie wundervoll!«

»Ingo ist dir untreu geworden«, scherzt Wolfram zu Astor. »Du musst ihn nun an Fio abtreten.« Dann stutzt Wolfram: »Was habt ihr miteinander eben geflötet und gepfiffen, du und der Junge?«

»Wenn du vor 100 Jahren auch die Sprache der Kuriervögel gelernt hättest, Wolfram, wüsstest du, mit welchen Fragen und Antworten wir uns eben begrüßt haben«, kontert Fiorella fröhlich.

Auf dem Tafelberg, der sowohl dem Pendelverkehr zum Orbit als auch dem Kurierdienst mit Großvögeln dient, hat man sich auf solche regelmäßige Ladungen und Starts des Shuttles eingestellt. Um die Großvögel und deren kindliche Kuriere vor eventuellen Komplikationen bei Landungen von Raumfähren zu schützen, wird der Horst vorübergehend stets mit einer Flugübung zu einem benachbarten Farmtal geräumt.

Ingo zupft Fiorella am Arm und weist in den Himmel. Vom Tal der Farmen kehrt eine Staffel Großvögel mit ihren kindlichen Navigatoren zurück. Sie schweben hintereinander ein. Sobald alle gelandet sind, nickt die Horstmeisterin Ingo zu. Der zieht einen Kamm aus der Tasche, streicht damit seine Haare glatt und verbeugt sich vor den Gästen: »Die Sternenleute mögen mir zu den Sitzstangen unserer Vögel folgen. Ich bitte, nicht die Hand zur Begrüßung von Kindern auszustrecken, weil das die Vögel als Bedrohung missdeuten. Sie picken dann nach euren Armen«, sagt Ingo.

Die Kinder der heimgekehrten Staffel sind inzwischen aus ihren Sitzgondeln gesprungen und schirren die Vögel ab. Die sind so groß wie Strauße. Während die Erwachsenen einen Rundgang von Vogelpaar zu Vogelpaar machen, beschäftigen sich die Kinder bei ihren Vögeln mit Gefiederpflege. Dazu versprühen sie mit Quasten Wasser. Sie scheuern die Sitzstangen oder ziehen Lederhandschuhe an, um den Vögeln Salat vor die Schnäbel zu halten. Manche reiben ihnen auch die hornigen Beine mit Schabekraut ab oder vergraben im Sand vor den Sitzstangen Körner, Würmer und Käfer, damit die Vögel danach scharren, was für sie appetitanregend ist.

Ingo Holla führt die Raumfahrer zur ersten Sitzstange. »Kuriernavigator Domino! Hier treten vom Sternenvolk die uns allen sehr bekannte Fiorella Falkone, dann der Herr des Sterns von Gea, Carlo de Sinio, und auch der bleiche Kaltschläfer Wolfram zu dir.« Astor und Astra lässt er unerwähnt, und die Horstmutter Minka Sommerwind sowieso, weil allen Horstkindern gut bekannt.

»Wird der bleiche Kaltschläfer Wolfram noch in der Lage sein, nach dem Rundgang aus eigener Kraft das Feldbett in der Gästehöhle zu erreichen?«, raunt Fiorella ihrem Kameraden amüsiert zu, als sie sieht, wie der wegen Muskelkater eine Wade massiert.

»Wenn mich ein leichtfüßiges Kind führen würde so wie dich, wäre ich auch in Hochstimmung«, stöhnt Wolfram. »Die Schwerkraft scheint sprunghaft anzusteigen. Am liebsten würde ich bleicher Kaltschläfer auf dem Bauch kriechen«, sagt er, auf ihren Scherz eingehend, in gespieltem Selbstmitleid. »Wir sollten besser in die Leichtigkeit des Orbits zurückkehren«, verlangt er, meint das aber nicht wirklich so.

Carlo de Sinio hebt den Arm, um Aufmerksamkeit zu finden. Die Kinder halten in ihren Tätigkeiten inne und wenden sich ihm zu. »Mädchen und Jungen: Fiorella, Wolfram und ich freuen uns, hier bei euch auf dem Kapfelsen endlich wieder einmal den festen Boden des Planeten JUWELA zu betreten. Im ganzen Land genießen Kinder wie ihr besonderes Ansehen, weil ihr eine Aufgabe habt, die Mut und Geschick erfordert. Vor allem eure Eltern, die euch eigentlich sehr gern bei sich hätten, sind stolz auf euch«, sagt er. »Oft müsst ihr fliegen, sogar bei Sturm oder in der Nacht, weil hier die Raumfähre landet und Ersatzteile oder Medikamente bringt. Diese Dinge müssen dorthin befördert werden, wo man sie schon dringend erwartet. Deshalb seid ihr immer die ersten, die wir Sternenwanderer nach langem Kaltschlaf besuchen. Vor allem sind wir deshalb gern hier, weil ihr, wenn ihr Tag für Tag als Kuriere durch die Wolken reist, uns, den Sternenwanderern, am nächsten seid. Es ist schön, aus dem Kaltschlaf erwacht zu sein! Es ist schön, den Wind brausen zu hören, eure Gesichter zu sehen, das Gefieder eurer großen Vögel zu betrachten, euren Worten und Stimmen zu lauschen, den Blick in die Ferne zu richten; und es ist schön, ungeduldig den nächsten Tag zu erwarten.«

Bei Salzmachern an der Krautsee

Astors Flugkuppel sinkt die letzten Meter auf den schmalen Strand. Er besteht eher aus Geröll denn aus Sand. Landwärts statt Dünen nur Klippen. Die Kuppelwand zerfließt an einer Stelle zu einem Eingang, aus dem sich Stufen schieben. De Sinio, Fiorella und Wolfram verlassen die Kuppel in silbernen Stützanzügen. Antriebsingenieur Astor, schon lange nicht mehr mit seinem Fachgebiet befasst, sondern mit Terraformung und Zivilisationssaufbau, begleitet sie in Tropenkleidung. Für die drei Raumfahrer, die aus dem Kaltschlaf gekommen sind, beginnt das Training, mit dem sie ihre Körper kräftigen. Sie bedürfen ihrer Stützanzüge noch etliche Wochen.

Am Wassersaum mit schmalem Streifen faustgroßen Gerölls erwartet sie Kerkles, der Patriarch des Flussvolkes. Damit die Anstrengung einer steinigen Wanderung die Raumfahrer aus dem Orbit nicht überfordert, hat er vorsorglich drei Sänften mitgebracht, getragen von sechs Ordenspelzlern. Kerkles umweht ein faltenreicher, diesmal weißer Umhang mit roter Prunkborte. In der linken Hand trägt er seinen langen, schnörklig geschnitzten Zepterstab.

Von der untersten Stufe wendet sich de Sinio wieder Fiorella und Wolfram zu, noch außer Hörweite von Kerkles, und sagt: »Behandelt ihn nicht als fünfte Generation unserer treuen Siedler der ersten Generation. Kerkles ist kein Abklatsch seiner Vorfahren in vitro von vor zweihundert Jahren, als wir hier eintrafen und die Genbank aktivierten.«

Die Ordenspelzler weichen vor den silbrig gewulsteten Raumfahrern zurück. Der Patriarch ist trotz seines Alters ähnlich dem kindlichen Vogelkurier Ingo Holla in den ersten Augenblicken befangen angesichts der Kompetenz von Raumfahrern, die erdgeboren und quasi die Gründer der menschlichen Gesellschaft auf JUWELA sind. Andere Raumfahrer kennt er, aber diese drei, darunter der Kommandant des Raumschiffes, die sieht er erstmals. Er steht wie festgenagelt auf dem Geröllsaum. Landesübliche Grußformeln bleiben ihm im Halse stecken. Kerkles gelingt schließlich dennoch eine weise, philosophische Begrüßung. Er umklammert seinen mannshohen, verschnörkelten Stab, hebt seine rechte Hand, deutet in einer weiten, raumgreifenden Armbewegung auf Brandung, Geröll und Klippen ringsum und sagt: »Nichts ist beständig, nur der Wechsel. Ihr habt über den Abgrund des Alls Wandel nach JUWELA gebracht. Hört (Pause), schweigt (Pause) und seht (Pause)! Die See, das Land und der Tag begrüßen euch, die ihr auf der Brücke des Kaltschlafes von einem Ufer der Zeit zum anderen geht!«

»Der Kaltschlaf war für uns voller Unruhe wegen des ungewissen Schicksals, das Frauen und Männer inzwischen auf JUWELA nahmen«, sagt de Sinio. Sie gehen aufeinander zu und umarmen sich.

Wie von Kerkles angeraten, schweigen die Raumfahrer und betrachten Meer und Strand. Das Wasser dampft als warme Strömung aus dem Delta des Rio Meridano. Darin schwappt auf breiter Dünung großblättriger Tang unter Nebelwallungen auf und ab. Wellen zerfließen am Ufer. Aus dem Tanggeflecht summjubelt es leise langgezogen ab und an wie von Mundharmonikas.

»Seejungfrauen?«, flüstert Wolfram und grinst verlegen wegen seiner abwegigen Vermutung. Plötzlich löst sich aus dem Tang hüfthoch ein glockenförmiger Klumpen wie ein Krake ohne Arme. Er wird auf einer Welle zum Ufer gespült. Von dort schwankt er mühsam auf Fransen des Glockenrandes wie ein Tausendfüßler mit Buckel zu einer mit trockenem Tang gefüllten Mulde. Dort wühlt er sich ein.

»Ah, eine Seeglocke«, sagt Wolfram in dunkler Erinnerung. Einzelheiten seiner Forschungen einer zurückliegenden Wachzeit fallen ihm wieder ein. Wolfram resümiert im Selbstgespräch: »Metamorphose ... als Fortpflanzung der großen Postvögel ... Warum wusste ich es nicht gleich? ... Hat der Kaltschlaf diesmal meinem Kopf geschadet?«

De Sinio und Fiorella geben ihm Gelegenheit, sich zu erinnern. Sie äußern sich nicht zu seiner Frage, die zuträfe, falls sich sein Gedächtnis nicht noch bessert. Das Summjubeln in der nahen Nebelbank auf der Krautsee hält an. Wenig später reitet erneut eine Seeglocke, teils eingetaucht, teils wie ein Luftkissenfahrzeug, auf einer Welle heran.

Die Raumfahrer nehmen ihre Wanderung auf, meiden aber noch die Sänften. Die Ordenspelzler tragen sie den Menschen nach. Die Flugkuppel Astors, vom Roboter Monochrom gesteuert, folgt ihnen niedrig schwebend. Eine Brise bewegt Rankenstränge, die auf den Klippen wie Bärte wachsen statt Moos. Zugleich damit schweben zwei wild lebende Kuriervögel heran. Sie streichen über das Ufer. Neue Töne mischen sich in die Geräusche von Wind und Brandung: Es jaukt und quietscht eigenartig zwischen den Felsen.

Schon nach weiteren Schritten veranlasst Wolfram eine Erinnerung, näher an die Klippen heranzugehen. Dann sieht er plötzlich, was er ahnungsvoll gesucht hat: Ein faltiges Häuflein knisternder Haut! Wortlos hebt er sie hoch und hält sie seinen Kameraden hin. Sie hat Ähnlichkeit mit den armlosen Kraken und mit den Umhängen, die die Siedler bei Regen tragen.

»Aha«, sagt Wolfram. »Häutung einer Seeglocke! ... Man sammelt sie als Regenumhänge. Richtig? ... Sie werden schwungvoll gehandelt.« Die Kameraden nicken. Sie wandern auf dem Geröllstreifen zwischen Dünenklippen und Meer weiter. Mal ferner, mal näher, ist immer wieder aus den Tanghaufen zwischen den Klippen ein seltsames Jauken und Quietschen zu hören. Die beiden wildlebenden Postvögel kreuzen suchend der Gruppe voraus über dem Ufer, als würden sie von diesen Rufen angezogen. Kerkles und die Astronauten bleiben stehen und warten. Die Ordenspelzler setzen die Sänften ab und hocken sich hin.

»Großvögel legen Eier in den Tang ... warme Strömung ... daraus werden Kaulquappen«, haspelt Wolfram wie auswendig gelernt, heiser vor Aufregung. Er merkt, wie sein Wissen zurückkehrt und zählt die Entwicklungsschritte der Metamorphose an den Fingern ab, ohne die Reihenfolge der Zahlen auszusprechen. Er kommt auf zehn. Nur diese letzte Zahl nennt er. »Aus ihnen werden nicht Frösche, sondern Seeglocken ... Das Ufer zieht sie unwiderstehlich an .... Sie kriechen in Tanghaufen ... Dort häuten sie sich ... Küken erscheinen ... Großvögel tragen sie zu den Bergen in Horste ... Und zehntens: Sie ziehen sie groß.«

Fiorella umarmt den Biologen: »Wieder klar im Kopf! Kein Schaden vom Kaltschlaf«, ruft sie und beendet damit das Schweigen ihrer Prozession. Auch de Sinio und Astor beglückwünschen ihn.

»Dann will ich euch besonders willkommen heißen, in dreifacher Hinsicht«, sagt Kerkles. »Im Namen von Land und Meer! Im Namen meines Flussvolkes und nicht zuletzt im Namen allen Wissens um die Schöpfung!« Kerkles lehnt seine Stirn an die des Biologen und wiederholt diese Geste auch bei Fiorella und de Sinio. »Macht zu allem, was wir als Siedler tun, bei eurer Rundreise ein paar Handgriffe ihrer Arbeit. Werdet dadurch ein Herz und eine Seele mit uns Siedlern hier auf JUWELA.«

»So geschehe es«, verspricht de Sinio. »Und nun zur Saline.«

Die kurze Wanderung erfolgt auf einer Landzunge, die auf drei Seiten vom Meer umgeben ist. Auf der Spitze der Landzunge befinden sich Flachbecken einer Meersalzsaline, ein großer, ausgehöhlter Wohnfelsen für Arbeiter und eine kleine Chemieanlage aus einem Gewirr von Rohren und aufrecht stehenden Metallzylindern. Die Raumfahrer – außer Astor – stöhnen trotz ihrer Stützanzüge bald vor Anstrengung und sind nun froh, in die drei Sänften einsteigen zu können. Die Ordenspelzler schaukeln sie darin auf dem Saum zwischen Dünenklippen und Wasser weiter zur Saline. An den flatternden Vorhängen ist zu erkennen, wie lebhaft der Seewind ist und den Insassen Kühlung verschafft. Die Flugkuppel folgt ihnen weiterhin in geringer Entfernung und niedriger Höhe.

Unweit rotieren Tretkäfige als hölzerne Schöpfwerke oder gießen baumlange Stangen mit einem Kübel am kurzen Ende Meerwasser zum Verdunsten in Flachbecken, um so Salz für die Siedler zu gewinnen. Außerdem hantieren zwischen den Turmzylindern einer Chemieanlage mehrere Roboter. Die Anlage entzieht dem Meer im Wasser gelöste Rohstoffe in kleinen Mengen, darunter sogar Edelmetalle, die im Orbit an Bord des Raumschiffes für kleine Stückzahlen von Geräten in den Roboterwerkstätten gebraucht werden.

Kerkles und Astor gehen neben der Sänfte de Sinios zu Fuß über das Strandgeröll. »Wozu dienen die geheimnisvollen Silbertürme?«, will Kerkles von Astor wissen.

»In der Lake der Saline sind seltene Substanzen enthalten, die erforderlich sind, wenn man beispielsweise Handys und Solartafeln bauen oder Roboter reparieren will. Sie heißen unter anderem Selen, Magnesium, Nickel und Titan. Auch die Flugkuppeln, Schweber und die Fähre benötigen solche Substanzen in winzigen Portionen«, erklärt Astor.

»Sind diese Silbertürme leicht zu beschädigen?«, fragt Kerkles.

Astor stutzt. »Jegliche Apparatur ist leicht zu beschädigen, wenn man sie mit Unverstand behandelt«, sagt er. »Warum fragst du?«

»Ich bin besorgt. Wie ich hörte, sind auf der Mörderinsel im Rio Meridano Sühnlinge ausgebrochen. Das Gerücht besagt, sie sind unterwegs zu diesen Silbertürmen«, gibt Kerkles Auskunft.

Astor runzelt die Stirn. »Wieso sollten Sühnlinge zornig auf die Silbertürme sein?«

»Es wird getuschelt, ihr Sternenleute treibt ein unehrliches Spiel mit uns Siedlern. Man fordert von euch, von JUWELA künftig fernzubleiben, heißt es in Gerüchten«, erhielt er Antwort.

Astor lacht dazu nur. »Das ist bloß Stimmungsmache unzufriedener Leute, die immer alles besser wissen wollen. Das kenne ich von der Erde: Was einer für richtig hält, ist anderen unerwünscht.«

»Einige Orbitaner wollen euch die Zügel aus der Hand nehmen«, schwört Kerkles. »Sie finden Unterstützung bei Frauen und Männern, denen manches, was ihr Erdgeborenen tut, unheimlich vorkommt, etwa diese Zauberei in den Silbertürmen.«

Inzwischen wird auch de Sinio auf das Gespräch aufmerksam. Er beugt sich aus der Sänfte. »Stimmungsmache gegen uns Raumfahrer? Das nehme ich ernst. Die Silbertürme sind entscheidend für die Mission, die wir zu erfüllen haben.«

Astor beschwichtigt ihn: »Das bekäme ihnen schlecht. Die Visiers, unsere Kampfroboter ...«

De Sinio unterbricht ihn: »Was für Gerüchte?«

»Eines besagt, ihr wollt wieder zur Erde fliegen«, bekennt Kerkles.

»Aussichtslos. Zu weit der Weg zurück«, sagt de Sinio.

»Manch böse Worte gibt es, wenn es um Erz und Eisen geht«, führt Kerkles die Aufzählung fort. »Angeblich ist auf unserer Welt hier davon viel vorhanden, aber ihr Sternenleute lasst nicht zu, damit unser Leben zu erleichtern, sagt man.«

»Es ist wirklich wenig Erz auf dieser Welt vorhanden«, beteuert de Sinio. »Man findet nur im alten Meteorkrater auf dem Alpha-Kontinent gegenüber unserer großen Siedlungsinsel große Mengen davon. Nicht wir zwingen die Siedler dazu, mittelalterlich das Holz der Wälder als Rohstoff zu nutzen, sondern es ist hier leider der Lauf der Dinge bis zu dem Tag, wenn später einmal der Meteorkrater von Siedlern erreicht werden kann.«

Kerkles: »Das ist es nicht, was ich meine. Das Problem sind einige Orbitaner, die euch Sternenleute vertreiben wollen.«

»Wenn es so ist, dann müssen wir was dagegen tun«, sagt de Sinio. – »Aber jetzt sind wir angekommen. Was ist aus den Anfängen der Saline inzwischen geworden?«

Zwanzig versammelte Salinos erwarten die Besucher, bekleidet nur von Schurz und Stofffetzen als Umhang gegen Sonnenbrand unter riesigen, Schatten werfenden Sombreros, die an einem Hüftgürtel gegen Wind verzurrt sind. Die Hälfte von ihnen trägt auch nasse, kühlende Gras- und Tanggeflechte gegen die Hitze, die trotz des Seewindes spürbar steigt. Sie sind keine Sklaven, auch wenn es so aussieht. Die Arbeiter halten hier nur aus, weil Salz für die ganze Bevölkerung der Siedler unentbehrlich ist. Sie bleiben auch in der Heißzeit des Sommers auf der Landzunge und nehmen nicht an den Trecks teil. Tags hausen sie in Grotten. Sie verrichten ihre Arbeit in kühler Nacht beim Fackelschein getrockneter Tanghaufen.

Astors Flugkuppel landet nahe auf dem Geröllstrand. In der Rumpfwand zerrinnt der Eingang. Darin nimmt der Roboter Monochron Aufstellung. De Sinio, Wolfram und Fiorella verlassen ihre Sänften und gehen auf die Arbeiter zu. Sie haben jeder eine Anzahl Päckchen in den Händen.

»Langes Leben«, grüßt de Sinio die Salinos und zeigt auf Kerkles. »Patriarch Kerkles gab uns Kaltschläfern den Rat: Helft ab und zu bei allem, was Siedler so tun. Dann werdet ihr mit dem neuen Volk der Menschheit hier auf JUWELA ein Herz und eine Seele sein. – Damit wollen wir bei euch beginnen. Gebt uns Hacken und lasst heute mal uns das Salz aufbrechen und die Treträder bewegen.«

Die Salinos sind weniger respektvoll als Ingo, der kindliche Kurier, und Kerkles. Einer ruft gutmütig: »Schon nach fünf Minuten werdet ihr Blasen an Hand und Füßen haben, so schwach und bleich seht ihr aus.«

Ein andere gibt ihnen seine Schaufel: »Macht einen Versuch.«

»Aber nicht zu lange«, rät ein Dritter und gibt seine Hacke.

»Es ist schon heiß. Am Tag sind wir lieber in den Grotten«, erläutert ein Vierter.

»Wir arbeiten vorwiegend nachts, wenn’s kühl ist«, erwähnt ein Letzter, seinen Huckkorb überreichend.

»Deswegen ein kleines Geschenk von uns für jeden von euch, nämlich hauchdünne Glitzerdecken aus den Silbertürmen dort drüben«, sagt Fiorella. Sie entfaltet eine davon und führt vor, wie man sie als Poncho – den Kopf in der Mitte durchsteckend – umhängt mit einem Gürtel oder Strick um die Hüften. »Am Tag bei Sonne tragt den Silberglanz nach außen. In der Nacht, wenn die Eisfee gegen morgen über euch in den Wolken vorbeizieht, wendet dagegen den Goldglanz nach außen.« Die Raumfahrer verteilen die winzigen Päckchen, ehe sie die Werkzeuge schultern und mit der Arbeit beginnen. Die Beschenkten probieren indessen skeptisch die hauchdünnen, knisternden und unzerreißbaren Glanzdecken aus.

Auch Kerkles versucht neben Fiorella, schon trockenes aufgebrochenes Salz in eine Hucke zu schaufeln. Der gutmütige Spötter bei der Begrüßung behält recht. Zuerst stellt Kerkles die Arbeit ein, aber nicht seines Alters wegen, sondern aus Höflichkeit Fiorella gegenüber. Er hat nicht damit gerechnet, dass die Sternenleute seinen Rat spornstreichs verwirklichen. Der Patriarch hat seinen Rat für die Zukunft gemeint nach Wochen der Kräftigung und fühlt sich nun schuldig, die Sternenleute in eine Blamage geführt zu haben. Nach ihm hört auch Fiorella bald auf und gibt ihre Schaufel zurück. Salz brennt in ihrer aufgescheuerten Haut. Sie lutscht das Salz von einer Blase an der Hand, die sich gebildet hat, und wischt sich den Schweiß von der Stirn. Einige Salinos spenden ihr trotz der frühen Aufgabe Beifall.

Fiorella setzt sich zu den Salinos, die es schon geschafft haben, die knisternden Geschenke mit der Silberschicht nach außen um den Körper zu ziehen. Sie deutet zum Himmel: »Ich war lange Zeit dort oben, ungefähr einhundert Jahre. Ich kann euch nichts erzählen. Aber ihr habt derweil viel erlebt. Berichtet mir davon und füllt die Lücke meiner verschlafenen Jahre.«

»Einige von uns waren als Kinder Vogelflieger hier auf dem Horst vom Tafelberg«, kommt einer der Leute ihrer Aufforderung nach. »Als die Dörfer größer und das Salz Land auf, Land ab knapp wurde, kamen sie hierher zur Landzunge und halfen den wenigen Salinos, die es damals erst gab. Diese Unterstützung war besonders zur Heißzeit im Sommer wichtig, denn im Sommer, wenn alle Trecks im Hochland sind, entsteht hier im heißesten Süden das Salz am schnellsten ...«

Im Flachbecken nebenan schwingen de Sinio und Wolfram weiterhin schwungvoll Hacke und Pieke. Doch ihr Arbeitstempo wird bald auch langsamer. Sie geben schließlich ebenfalls auf und ringen um Luft. Die Salinos stocken in ihrem eben erst angefangenen Bericht für Fiorella, sind verständnisvoll, spenden auch den beiden Männern Beifall und leeren Süßwasser zur Linderung der Hitze aus Krügen über ihnen aus. Zwei Salinos fächeln ihnen mit Sombreros Wind zu.