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Carlos Rasch zeichnet in episodenhaften Abenteuergeschichten eine nicht zu ferne Zukunft: den Raumfahreralltag im Sonnensystem, Bedrohungen aus der Tiefe des Alls, die Dinge, welche unsere Nachkommen bewegen könnten. Während die Science Fiction die Leser meist von der Erde weg in den Kosmos entführt, geht dieser Buchband in sechs Geschichten über RAUMLOTSEN den umgekehrten Weg: Sie erzählen mit »Und ringsum nur die Sterne« von der Erkundung des Trümmergürtels zwischen Mars und Jupiter, in »Vandalus« von treuer Kameradschaft bei einer Mission am Rande des Sonnensystems, und in »Diamanten von Pupurgrazia« über die Beschaffung seltener Rohstoffe mit Hilfe von Mutanten. In den drei Geschichten »Verlobung im Orbit«, »Raumschlepper HERKULES« und »Absturz beim Prüfungsflug« treten die menschlichen Probleme erdnaher Raumfahrt in den Vordergrund. Die Hauptakteure sind ein Dreigestirn: Der legendäre Altraumfahrer Ben, die Raumfahrtpsychologin Cora und der Kadett der Raumflotte Jan! Im Verlaufe des abenteuerlichen Geschehens in „Orbitale Balance“ bekommt es der Jungastronaut Jan mit einem geheimnisvollen Mann namens Puppmann zu tun. Verwilderte Roboter, die ihn für ein Gerät halten, das zu reparieren ist, machen ihm in »Hotel für Fabrikate« zu schaffen. Ferner setzen ihm Raumpiraten zu. Astronauten machen auch Urlaub, natürlich auf Erden. Doch selbst dort bleiben sie nicht von Abenteuern verschont. Als Cora sich auf einer Meeresfarm in der Karibik bräunt, muss sie aus heiterem Himmel eine Invasion von Kraken abwehren. In »Aktion Meteoritenstopp« ist der Raketenfriedhof Umfeld für die beiden Handlungsorte Raumfahrtmuseum und dem Raumschiff der Piraten »Stern von Magreb« als Plätze der Versöhnung eines uralten über 2000 Jahre anhaltenden Völkerstreites. Das geschieht während eines unplanmäßigen Meteorfalls, bei dem zum Erstaunen der Menschheit der legendäre und hochverehrte Altraumfahrer Ben die Fronten wechselt, um Raumpiraten beizustehen, die Gold aus Mondbergwerken zur Erde schmuggeln. Was steckt hinter dieser Fahnenflucht gerade bei Bens letztem Einsatz im Auftrag der Raumflotte vor Ausmusterung ins Rentenalter? In „Daheim auf Erden“ erleben die drei Raumlotsen weitere Abenteuer auf der Erde, im Orbit, auf Merkur und Mond - und sogar in einer fernen Zukunft, in der es die Menschheit nicht mehr gibt. Den Abschluss der Raumlotsen-Saga bildet ein Episodenroman.
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Seitenzahl: 1650
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Carlos Rasch
Raumlotsen
ISBN 978-3-96521-065-3 (E-Book)
Die Druckausgaben „Zurück zum Erdenball“ und „Orbitale Balance“ erschienen erstmals 2009, „Daheim auf Erden“ 2010 und „Stern von Gea“ 2011 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2020 EDITION digitalPekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Wenn Abendrot Sternenschein entflammt
über den dunklen Hügeln der Erde,
beugt, sonderbar umspielt vom Licht,
unter aufquellender Träne sich,
zur Erde der Astronaut
und küsst zum Abschied sie.
Tagebuch der Astronautin Cora
Die gesamte Besatzung hatte sich in der Kommandozentrale des Raumschiffes versammelt. Auf den Gesichtern lag ein Ausdruck gespannter Erwartung, denn der erste Höhepunkt ihrer Mission stand bevor: Das Eintreffen im Operationsgebiet der Asteroidenjäger! Als letzter betrat Kommandant Axel Kerulen, ein kräftiger, mittelgroßer Mann, den Raum. Gewohnheitsmäßig warf er einen prüfenden Blick auf die Kontrollinstrumente am automatischen Astro-Piloten, Pilotron genannt. Der Flug verlief planmäßig. Auch die Radarkonsole zeigte keine beunruhigenden Tänzchen mit Kurven und wechselnden Diagrammen. »Unser Raumschiff hat seine Einsatzposition erreicht«, sagte er zu Norbert Franken an der Funkkonsole. »Sende unser Rufzeichen und stelle Kontakt zur Leitrakete her.«
Norbert richtete sich in seinem Konturensessel auf. Seine Finger huschten über die Tastatur, um die gewünschte Verbindung herzustellen. Er wusste, dass außen am Raumschiff nun eine Antenne ausgefahren wurde. Sie kreiste langsam und suchte ihr Ziel: Die Leitrakete AJ-401, die, für menschliche Maßstäbe unendlich weit weg, fern in eiskalten, schweigenden Abgründen des dunklen Universums hing. Aus dem Kreis der wartenden Besatzung hatten sich inzwischen auch der Ingenieur für die Düsenaggregate und der Navigator gelöst, um ihre Plätze am Triebwerkspult und am Navigationsschirm einzunehmen. Die leisen Gespräche verstummten. Stille breitete sich in der Kommandozentrale aus. Auf dem Monitor interpretierte die Elektronik den Kontakt. Ein heller Punkt wanderte vom Rand zur Bildmitte. Dann verdeutlichte die Apparatur den Punkt zu einem Raumschiffsymbol mit den Buchstaben AJ-401. Eine Stimme wurde hörbar, schwach, aber bald deutlicher. Auf dem Monitor ordneten sich die Farben zu einem Gesicht.
»Hier Leitrakete der vierten kosmischen Flottille!«, sagte der Mann. Er schmunzelte. »Ich dachte, ihr Narren von der Wimmelwelt Erde habt es verschlafen, euch in unsere Suchgruppe einzugliedern. Erwartet haben wir euch bereits vor 72 Stunden.«
Axel Kerulen ignorierte diese ironische Kritik, denn es handelte sich bei einer Reise von der Erde zum Mars und über dessen Bahn hinaus nicht um den Linienflug einer Mondfähre, die nach Fahrplan flog. Es war ein gefährlicher Bereich des Alls, in dem man sich befand, wo oft wegen Meteoritenschwärmen zeitraubende Abweichungen vom Kurs in Kauf genommen werden mussten. Er hielt sich an seine Rolle als Kommandant und fragte in offiziellem Tonfall: »Hier AJ-408. Ich möchte dem Kommodore unser Eintreffen im Operationsgebiet mitteilen und den Statusbericht geben.«
»Steht neben mir. Ich übergebe.«
Das Gesicht auf dem Monitor wechselte zu einem Mann mit eisgrauem, kurzem Haar. Schweigsam musterte der die Frauen und Männer hinter und neben Axel Kerulen. Der meldete ihm: »Alle wohlauf und gut trainiert. Schiff einsatzbereit. Technisch keine Probleme. Funkwarnfeuer für Asteroiden und Ausrüstungen zur Vernichtung von Meteoriten an Bord, Kommodore.«
»Wieso Schiff? Das Wort Raumkreuzer scheint neuerdings verpönt zu sein. Wessen Idee war denn auf der Erde die Umbenennung unseres Verbandes von Raumkreuzern zu Asteroidenjägern?«, fragte der Befehlshaber. »Sicherlich irgendwelche Klugschnäbel, die das den Leuten vom Kosmischen Rat eingeredet haben.«
»Taktische Sprachregelung zur Kostenbegründung, Kommodore. Raumkreuzer heißen jetzt nur noch jene Raumschiffe, welche die Solarkraftwerke in der Erdumlaufbahn vor Meteoriten schützen.«
»Aha. Reden wir später noch mal über dieses Thema. Zurück zu den Dienstvorschriften.«
»Wir sind Ihrem Kommando für 19 Monate unterstellt. Nahrung und Energie für die Triebwerke sind, wie vorgeschrieben, in dreifacher Menge gebunkert. Unsere Geschwindigkeit beträgt, auf die Sonne bezogen, derzeit 45 Kilometer pro Sekunde. Anschließend übermittle ich Ihnen unsere Besatzungsliste. Sie werden auf ihr bewährte Leute finden, die bereits mehrmals im All eingesetzt waren.«
Der Kommandant machte eine kurze Pause. Er drehte sich nach seinen Leuten um und nickte ihnen aufmunternd zu, bevor er wieder den Kommodore auf dem Bildschirm ansah. »Vier meiner Frauen und Männer möchte ich Ihnen aber gleich vorstellen, nämlich unsere Neulinge, die zum ersten Mal in ihrem Leben Irdien verlassen haben. Es sind dies die Chemikerin Filitra Goma aus dem südamerikanischen Kulturbereich, der Informatiker Rai Raipur aus dem indischen Kulturbereich, der Japaner Kioto Yokohata aus dem fernöstlichen Kulturbereich, Pilot unseres Kolibri-Shuttles, und der Mathematiker Oulu Nikeria aus dem zentralafrikanischen Kulturkreis. Diese jungen Raumfahrer sehen mit Ungeduld ihrem Einsatz im Trümmergürtel entgegen. Jüngster Aspekt unserer Mission hier auf Mars-Vorposten ist es auch noch, das Herannahen der Strahlungsfront des Crabnebels – nach den Asteroiden die zweitgrößte Gefahr für die Menschheit – zu messen. Diese neue Order dazu für den ganzen Suchverband habe ich, gesiegelt, mitgebracht. Ich hoffe, wir haben bald mal eine Annäherung auf kurze Distanz, damit ich Ihnen, Kommodore, dieses Siegel persönlich übergeben kann.«
Die vier Genannten waren vorgetreten. Die Nennung der beiden Hauptgefahren für die Menschheit bewirkte, dass sie sich alle in ihrer Haltung unwillkürlich strafften, denn ihnen war bewusst, dass man auch anderswo im solaren Raum, etwa durch den Bau eines Observatoriums auf Merkur zur Direktbeobachtung der Sonne, heldenhafte Anstrengungen unternahm, um Vorbereitungen zum Eintreffen jener gefährlichen Front harter kosmischer Strahlung als Folge einer Supernova zu treffen, deren Ausbruch vor rund tausend Jahren in China am Himmel beobachtet worden war.
»Allzeit heiße Düsen«, sagte der Kommodore zur Begrüßung der im Operationsbereich eingetroffenen Mannschaft mit standesgemäßem Raumfahrergruß.
»Allzeit. Allzeit. Allzeit«, erwiderten die Frauen und Männer um Axel Kerulen. Einigen von ihnen war bei der Grußfloskel ein Schauer über den Rücken gelaufen, weil es für jeden Raumfahrer das Todesurteil war, falls das Gegenteil eintreten sollte und die Düsen bei einer Zündung kalt bleiben würden.
»Ich heiße euch Astronauten von AJ-408 im Operationsgebiet Mars-Vorposten herzlich willkommen. Möge jeder seelisch und körperlich unversehrt von hier eines Tages wieder zur Erde heimkehren. Ihr wisst alle, auf was ihr euch eingelassen habt, nämlich: Wenn uns hier etwas zustößt, sind wir auf uns allein angewiesen. Der Trümmergürtel zwischen Mars und Jupiter ist grundsätzlich schwieriger für die Navigation als die Region zwischen den Parkbahnen auf Erdumlauf mit ihren Raumstationen und Solarkraftwerken. Wir erfüllen hier im All fern von unserer Heimatwelt eine wichtige Aufgabe zur Sicherung der Flugrouten. Indem wir im Bereich der Meteoritenströme zwischen Mars und Jupiter das All nach Trümmern eines vor undenklichen Zeiten geborstenen Planeten durchsuchen, um sie zu registrieren, helfen wir, die schlimmste aller Gefahren für die Menschheit zu mindern. Unsere Aufgabe ist, Asteroiden, Felsbrocken und Trümmer aufzuspüren und mit Bahnberechnungen auf Jahrhunderte im Voraus zu katalogisieren. Daraus gewinnen wir Gewissheit, welche eines Tages Kurs auf die Erde einschlagen. Aber wir machen damit auch den Trümmergürtel für jene Raumschiffe passierbar, die Stargates zu künftigen Siedlerwelten transportieren. Wir haben eine Suchkette gebildet. Der Abstand von Raumschiff zu Raumschiff beträgt etwa zwei Millionen Kilometer. AJ-408 wird AJ-417 auf der äußersten, erdfernsten Position ablösen.«
Damit war die Begrüßung vorbei. Es wurden noch praktische Hinweise zwischen den beiden Besatzungen ausgetauscht. Dann schaltete Norbert den Kontakt ab. Die Buchstaben AJ-401 mit dem Raumschiffsymbol auf dem Monitor der Funkkonsole erloschen. Die Richtantenne wurde wieder eingezogen. Man reduzierte die Geschwindigkeit des Raumschiffes um 60 Prozent als Angleichung an die Suchgruppe. Während der Kommandant mit dem Navigator Ben und dem Triebwerksingenieur die Kursänderung einleitete, ging Filitra, die Freizeit hatte, zum Gemeinschaftsraum. Eine Verstrebung der Konstruktion, die ihn durchzog, war geschickt als Marmorsäule gestaltet. Ein Hauch von Meer und Salz aus der Klimaanlage durchwehte ihn und bewegte die Blätter echter Kübelpflanzen. Natürlich hielten sich bei Freizeit alle gern in diesem Raum auf, denn die nur sechs Kubikmeter großen Kabinen mit dem Schubfach der Schlafbox waren beklemmend eng.
Filitra setzte sich an den Konzertflügel, der aber, genau genommen, gar nicht existierte, sondern aus Gründen der Gewichtseinsparung nur die Illusion eines solchen Musikinstrumentes darstellte. Filitra spielte das »Largo Andalusio« von Bartoll Lysandros. Als Freizeitpianistin stellte sie keine Ausnahme dar, denn an Bord spielte fast jeder ein Instrument, bevorzugt ein kleines, das nicht nur virtuell, sondern tatsächlich gehandhabt werden konnte.
Bald nach ihr betraten noch die Geschwister Norbert und Sagitta, sie die Ärztin und er der Funker an Bord, den Gemeinschaftsraum. Ihr Lieblingsplatz war die antike Säule, an die sie sich lehnten. Die schlanke Säule weitete die Dimension des Raumes und ließ ihn größer erscheinen, als er es wirklich war. Wenn Norbert so mit verschränkten Armen dort bei Sagitta stand, vermeinte Filitra, er blicke enttäuscht vergeblich durch die Hülle des Raumschiffes in den Glanz der Sterne, auf der Suche nach dem blauen Erdball. Filitra machte sich über das Geschwisterpaar so ihre Gedanken. Zum Beispiel war ihr aufgefallen, dass beide im Umgang mit anderen lebhaft und gesprächig, aber miteinander gedankenverloren, schweigsam waren. Sie verfügten wohl über eine sensitive Begabung, denn sie konnten, wie Filitra meinte, Stimmungen an Bord erkennen und besser darauf eingehen als alle anderen.
Miteinander verstanden sie sich deshalb fast wortlos. Auch jetzt waren sie wieder in diese Eigenart verfallen: Ein gerauntes Wort hier, ein Blick oder eine Bewegung der Hand dort genügten, damit sie sich verstanden. Sagitta sagte grade zu Norbert: »Ich wüsste gern, warum Raumfahrer die Erde oft als Wimmelwelt bezeichnen? Vorhin bei der Ankunft im Operationsgebiet geschah das wieder.«
»Liebevoll oder verächtlich gemeint?«, wollte Norbert wissen.
»Beides«, sagte sie. »Ob bald auch wir so?«
»Also formt uns das All mit Stille und Einsamkeit«, setzte er fort.
»Werden wir bei Heimkehr menschenscheu sein?«, überlegte sie.
»Oder krank vor Sehnsucht nach Irdien?«, ergänzte er.
»Hat uns niemand vorhergesagt.«
»Blauer Erdball wärmt mehr als heiße Sonne.«
»Ist eben Heimat.«
»Hört auf«, sagte Filitra und lachte. Dabei stieß sie die beiden kameradschaftlich an. »Eure Sätze werden immer kürzer. Gleich sprecht ihr nur noch in Silben miteinander oder verwandelt euch in Augensprecher, unterstrichen von Schnaufzeichen und veränderten Nasenwinkeln«, scherzte sie. »Aber ich habe eine andere Frage an Norbert, sozusagen als lernbegieriger Neuling. Ihr habt wenigstens schon Erfahrung durch Dienst auf Mondfähren. Ich aber erhielt gleich einen Fernflug verpasst.«
»Lass hören«, sagte Norbert und zwinkerte Sagitta zu, als wolle er damit sagen: Fili ist zwar eine geschwätzige Elster, die viel Worte um eine Sache macht, aber wir mögen sie trotzdem. Sie hat sogar unsere sensitive Eigenart bemerkt.
»Nach dem Kontakt zur Leitrakete hast du an deiner Funkkonsole ein vorbereitetes Datenpaket ausgelöst. Was ging da weg?«
»Ich habe unsere Nabelschnur versorgt. Es sind im Datenpaket Informationen für den Operativstab der Raumflotte auf Irdien via Marsstation enthalten. Dazu die Koordinaten unserer Position jetzt. Das hilft den Relaissatelliten, den Richtstrahl mit Raumpost für uns präziser unserem Bahnverlauf nachzuführen. Außerdem können uns dadurch Nachschubraketen besser zugeleitet werden.«
»Alles klar: Nahrungsmittel, Wasser, Energie, Sauerstoff und Ersatzteile, um allen nur erdenklichen Notfällen vorzubeugen und unsere Vorräte möglichst immer auf dem gleichen Stand zu halten. Du kannst ja doch reden wie ein Wasserfall«, spöttelte Filitra.
»Notfälle? Macht dir der Trümmergürtel Angst?«, konterte er.
»Jeder auf Erden weiß, dass das All lebensfeindlich ist, erst recht bei Flügen in den Trümmergürtel«, sagte Filitra. »Andererseits ist es ringsum leer, selbst hier im Gürtel, nach menschlichen Maßstäben, meine ich. Überall nur ferne Sterne. Wo ist da die Gefahr? Ich wette, wir werden trotz modernster Messmittel monatelang suchen müssen, ehe wir einen Asteroidenprotz mit heikler Flugbahn finden, der ein Funkwarnfeuer bekommen muss, weil er vielleicht in 500 Jahren mal dem Erdball bedenklich nahe kommt.«
Inzwischen waren weitere Besatzungsangehörige in den Freizeitraum gekommen und hatten sich zu ihnen gestellt. Ihre Unterhaltung weitete sich zu einem allgemeinen Disput darüber aus, wann man die erste Begegnung mit einem »Reigen der Bröckel«, wie es Sagitta ausdrückte, haben würde. Während die Erde jährlich nur einige Male einen Meteoritenschwarm durchquerte wie etwa das Partikelband der Leoniden regelmäßig im November oder der Perseiden im August, mussten Asteroidenjäger häufiger damit rechnen. Das würde dann mit heftigen Flugmanövern verbunden sein, um solchen »Reigen der Bröckel« auszuweichen statt auf die Laserkanonen zu vertrauen.
Kioto Yokohata, der Pilot der kleinen Erkundungsrakete, hielt die Wette. Er vermutete, dass man schon bald einen Meteoritenschwarm aufspürte, samt einem »Protz« darin, also einen gehörigen Brocken als Zentrum. Aus seinem Blick sprühte Tatendrang. Man sah es ihm an, dass er sich am liebsten sofort in kosmische Abenteuer gestürzt hätte.
»Du scheinst mir früher zu viel virtuelle Abenteuer dieser Art auf deinem Kinder-PC in Gang gesetzt zu haben«, neckte Norbert ihn und handelte sich dafür von Kioto einen schrägen Blick ein.
»Vielleicht entdeckt das Radar schon in den nächsten Minuten ein paar solcher Brocken, die auf uns zutaumeln«, bemerkte er. »Ist doch nicht unmöglich. Oder?« Kioto richtete diese Frage an Ben.
Filitra erschauerte unwillkürlich bei dieser Vorstellung, obwohl sie die große Reichweite des Radars mit entsprechend großer Vorwarnzeit und auch die Wendigkeit ihres Raumschiffes samt beachtlicher Laser-Abwehr kannte. Ben flog zum zweiten Mal mit auf Jagd nach Asteroiden. Seit vor acht Jahren sein bester Freund Solano vermutlich durch ein solches Felsstück zusammen mit den Leuten einer Forschungsgruppe verscholl, stellte er sich in den Dienst der Weltraumsicherung.
»Wir werden nicht lange warten müssen«, sagte er. »Schließlich zirkulieren viele Millionen Gesteinsbrocken um die Sonne, große und kleine, die Mehrzahl von ihnen, wie ihr wisst, in diesem Gürtel zwischen Mars und Jupiter. Das Wechselspiel von Zusammenstößen unter ihnen und den Anziehungskräften der Planeten löst eine gewisse Anzahl davon heraus und lässt sie in Erdnähe trudeln.«
»Wenn ich bedenke, dass es schätzungsweise 30 000 Asteroiden gibt und davon erst 8 000 gefunden und mit Funkwarnsendern bestückt wurden, weiß ich nicht, wie das jemals zu schaffen ist, alle aufzuspüren«, sagte Kioto. »Da wird so manches Stargate schon hier am Anfang seines Transportes zu künftigen Siedlungswelten in Trümmer gehen.«
»Zumindest entdecken wir Asteroidenjäger mit unseren Raumschiffen schon fast jede Woche einen von ihnen«, erinnerte Ben. Er erhob sich von der Lehne des Sessels, auf der er bis jetzt gesessen hatte, um mit ausgebreiteten Armen simpel darzustellen, wie die Kette der Raumschiffe, die nach Asteroiden suchte, vorging. »Das gibt dann stets ein tüchtiges Feuerwerk unter den Sternen, wenn die Laser mit ihrer Arbeit beginnen und wir uns einen Weg freischießen zu einem Protz durch seinen Hofstaat aus Meteoriten, um ein Funkfeuer darauf abzusetzen.«
Drei Gongschläge hallten durch das Raumschiff. Alle schlüpften in Sicherheitsanzüge und eilten auf ihre Posten. Wenn auch die automatischen Anlagen an Bord alles Wesentliche regulierten, so musste doch der Mensch Befehle auslösen und die technischen Anlagen überwachen. Für Kioto Yokohata bedeuteten die Gongschläge, sich in das Regelzentrum des Gravitationskonverters zu begeben. Eine seiner Aufgaben war es nämlich, für künstliche Schwere zu sorgen und dieses Feld nur abzuschalten, wenn man sich in der Nähe von Trümmerschwärmen befand, um sie nicht auf das Raumschiff zu lenken. In der übrigen Zeit war es für die Besatzung recht angenehm, sich unter normaler Schwerkraft bewegen zu können. Das war bei längeren Missionen durchs All für die Gesundheit der Raumfahrer wichtig. Früher, bei veralteten Raumschiffen, wurde statt Schwerkraft die billiger erzeugbare Fliehkraft verwendet, indem die Raumschiffe hantelartig oder radähnlich gemächlich um eine Achse rotierten. Dann aber hatte man herausgefunden, wie Schwerkraft oder in Umkehrung auch Antischwerkraft zumindest lokal erzeugt werden konnte.
Als der Steuerraum und alle anderen Positionen im Raumschiff besetzt waren, teilte der Kommandant über Bordfunk mit: »Achtung Bahnkorrektur! Das dauert zwanzig Minuten. Wir steuern uns dabei auf die 520. Kreiskoordinate der Sonne ein. Sobald das geschafft ist, befinden wir uns in der Nähe von AJ-417. AJ-417 fliegt derzeit noch 130 000 Kilometer von uns entfernt.«
Die Frauen und Männer vertieften sich an ihren Monitoren in Zahlen, Kurven und Diagramme, die mit der Kursänderung auftauchten und sie über verschiedene technische und navigatorische Vorgänge informierten. Das U-förmige Pult des Pilotrons befand sich im Zentrum des Steuerraums. Außer den Monitoren gab es dort Skalen, Tasten und Kontroll-Lämpchen für den Fall, dass manuelle Eingriffe erforderlich werden sollten. Vor Konzentration wurde es in der Steuerzentrale still. Rastlos folgte die Elektronik ihren Parametern. Mit wispernder Beständigkeit summte die Klimaanlage. Die Beleuchtung verringerte sich. Natürlich war auch das Helicon, das den Laserbeschuss von Meteoriten steuerte, falls jene in Erscheinung traten und ihre Bahn kreuzten, eingeschaltet.
Auf dem großen Sichtschirm verfolgte Axel Kerulen, wie das Kursmanöver verlief. Das All blickte sozusagen von dort her in seiner ganzen schwarzen Unendlichkeit in das Raumschiff hinein. In der Tiefe dieses Abgrundes schwebten gestochen scharf Fünkchen Myriaden ferner Sterne, als seien sie ein zur Ewigkeit erstarrter Schleier: Ein Trugbild, wie jeder wusste, denn keiner dieser Himmelskörper stand an der Stelle, an der er leuchtete. Sie hatten sich alle schon fortbewegt zu unbekannten Positionen, denn ihr Licht war Jahrhunderte, gar Jahrtausende unterwegs gewesen. Die Sternenbilder entsprachen nicht mehr der Wirklichkeit.
Nach einer Weile signalisierte ein Klingen als Warnton im ganzen Raumschiff, dass die Kursänderung begann. Ein prickelndes Vibrieren breitete sich vom Haupttriebwerk über Rumpf und Spanten überall hin aus. Mit dem Heck voran bremste sich AJ-408 in sein Operationsgebiet hinein. Kleine Steuerdüsen an Bug und Heck änderten die Lage des großen Flugkörpers. Allmählich schwenkte dabei die starre, unbewegliche Sternenwelt herum. Die hellen, gut sichtbaren Sterne im Vordergrund, die bisher am unteren Rand des Sichtausschnittes gestanden hatten, verschoben sich zur Mitte, während jene aus der Mitte zum oberen Rand glitten und dort verschwanden. Sobald diese Bewegung aufhörte, waren bereits wieder Zehntausende Kilometer zurückgelegt.
»Messwerte bisher alle klar.« – »Parameter eingehalten.« – «Schwenkung vorgabeidentisch«, lauteten einige der kurzen Statusmeldungen.
Rai Raipur vom Radarpult teilte mit: »Partikel von 20 auf 27 pro Kubikkilometer erhöht, Tendenz steigend.« Aus diesem Hinweis ging hervor, dass der kosmische Staub, also Mikrometeorite, etwas zugenommen hatte. Bedenklich war das nicht. 27 Zusammenstöße des Raumschiffes mit solchen Winzlingen rauten, wenn sie aufprallten, höchstens die Oberfläche des Rumpfes auf. Gelegentlich mochte darunter ein größeres Teilchen ähnlich einem Kiesel oder einem faustgroßen Stein sein, das dann aber geortet und vom Helicon mit Laserschüssen verdampft wurde, ehe es das Raumschiff mit explosionsartigem Einschlag beschädigen konnte.
Ein zweites helles Klingen zeigte allen das Ende der Kursänderung an. »Raumschiff auf den 520. Kreis eingesteuert. Neuer Kurs liegt an«, meldete der Navigator Ben.
Axel Kerulen hatte der Besatzung jedoch ein Ereignis verschwiegen, obwohl es logischerweise eintreten musste. Er wollte testen, wie seine Mannschaft reagierte. Nach wenigen Minuten nämlich würde das Radar voraus einen unregistrierten Körper wahrnehmen und einen Alarm auslösen. Gespannt wartete der Kommandant auf diesen Augenblick. Vor allem wollte er bei den vier Neulingen erfahren, ob sie erschrecken würden. Und schon schrillte der Alarm.
Ben als Navigator wusste natürlich Bescheid. Auf seiner Sternkarte zeichnete sich das schwache Band der Milchstraße deutlicher ab, als man es von der Erde aus sah. Für ihn waren helle Sterne wie die Wega in der Leier oder der Atair im Adler, die Sirrah im Andromeda, der Scheat in Pegasus und Fomalhaut im Sternbild des südlichen Fischs sozusagen vertraute Eckpfeiler des Universums, die ihm stets signalisierten, in welcher Richtung das Raumschiff flog oder in welcher Position es sich befand. Der fremde Stern, der da plötzlich aufging, als erblühe im All eine Nova, beunruhigte ihn ebenso wenig wie die schrille Warnung vor einer Annäherung. Alle schnallten sich an, stülpten die Helme ihrer Sicherheitsanzüge über den Kopf und ließen sie am Kragenwulst hermetisch einrasten.
Der Kommandant beobachtete seine Leute in der Steuerzentrale. Rai Raipur wehrte sich gegen den Schreck. Seine Augen verengten sich unwillkürlich zu schmalen Schlitzen. Er riss seinen Blick vom großen Bildschirm und richtete ihn auf seine Instrumentenkonsole. Die Skala des Radars zeigte eine Entfernung von 2 100 Kilometer zu einem Objekt an. »Was geht jetzt los, Intra?«, murmelte er im Selbstgespräch mit einem Gesicht in seiner Erinnerung von daheim auf Erden, in dem es große, langbewimperte Augen, glatt nach hinten gekämmtes schwarzes Haar zu brauner Haut und zierlicher Gestalt in weitem Gewand seiner indischen Heimat gab. Rai verbannte dieses innere Bild gleich wieder und teilte die gemessene Entfernung zu dem Objekt allen laut mit. Die Distanz dorthin verringerte sich je Sekunde um etwa einen Kilometer, denn man lag mit ihm fast auf gleichem Kurs.
Oulu Nikeria, der Mathematiker, schnellte auf seinem Drehsessel herum. Vorgebeugt sitzend, beide Hände fest auf die Armlehnen gepresst, wartete er angespannt auf Befehle des Kommandanten. Doch der blieb gelassen. – Am Triebwerkspult zuckten beim Alarm zwei Hände zum Terminal, abwartend, ob die Düsen automatisch zum Ausweichmanöver ansprangen. Ingenieur Salamah El Durham war bereit, notfalls manuell Schub auszulösen, obwohl er wusste, dass das Pilotron schon längst innerhalb eines Sekundenbruchteils eine Entscheidung getroffen hatte. Verdrossen bemerkte er, dass er seine Gurte nicht eingeklinkt hatte für den Fall der Abschaltung der Schwerkraft an Bord. Verstohlen holte er das Versäumnis nach und hoffte, dass der Kommandant diese Nachlässigkeit nicht bemerkt hatte.
»Entspannt euch«, sagte Kerulen. »Das registrierte Objekt ist natürlich AJ-417. In Kürze sind wir mit ihm gleichauf.« Mit seinen Beobachtungen im Moment vermeintlicher Gefahr war er zufrieden. Keiner war nervös geworden. Niemand hatte im ersten Schreck unüberlegt gehandelt. ›Ich kann mich auf meine Mannschaft verlassen‹, dachte Kerulen. Irgendwie kam es ihm aber auch kindisch vor, dass er sie bei dieser Gelegenheit auf die Probe gestellt hatte.
* * *
Filitra hatte nach dem Einschwenken in das Einsatzgebiet ihre winzige Kajüte aufgesucht. Sie stellte nichts weiter als eine Zelle dar, mal hier oder mal dort in die Konstruktion des Raumschiffes einbezogen, wo gerade ein freier Winkel ohne Rohre oder Vorratstanks Gelegenheit für eine Schlafbox bot. Schlafen wollte sie jetzt allerdings nicht. Sie gedachte vielmehr, noch schnell Briefe an Eltern, Bruder, Schwester und Freunde schreiben, und zwar richtige, echte Briefe, nicht nur elektronische Piepser. Der Zeitpunkt war günstig, diese Briefe mit dem Raumschiff, das abgelöst wurde, heimwärts transportieren zu lassen. Sie würden zwar lange unterwegs sein. Doch das wurde aufgewogen durch die Echtheit der Handschrift wie zu früheren Zeiten, als Post auf Erden noch in Umschlägen von einem Ort zum anderen unterwegs war.
Besonders ihre Eltern stellten sich den Trümmergürtel, so wie viele Menschen auf Erden auch, als ein Malstrom vor, in dem AJ-408 wie in einer Gerölllawine einher trieb. Das war Unsinn. Die Materie im Trümmergürtel konzentrierte zwar im Vergleich mit der Leere des Sonnensystems die Masse eines früheren Planeten auf einen ringartigen Streifen, aber da sie auf einen Kranz riesiger Ausdehnung verteilt war, konnte Filitra nun aus eigener Anschauung von vor Ort durch so einen Brief deren Befürchtungen zerstreuen. Filitra Goma liebte die Gewohnheiten früherer Jahrhunderte, zu denen es auch gehörte, mal ein echtes Buch in die Hand zu nehmen, das aus trockenen, raschelnden Blättern von Papier zusammengeheftet worden war. Vater und Mutter der Brasilianerin wohnten in einem Haus nahe der Wasserfälle des Iguassús. Ein solcher Brief oder ein solches Buch waren etwas, das zu leben schien und fassbare Substanz hatte, weil sie nicht so flüchtig waren wie eine E-Mail oder wie eine elektronische Animation. Deshalb fügte sie den Briefen auch Bilder ihrer Schlafbox und des Raumes mit der antiken Säule oder des Hauptganges des Raumschiffes hinzu, wie sie ihn entlang zum Steuerraum ging und dort hantierte. Dabei trug sie wie alle an Bord immer eine Atemmaske mit einer Sauerstoffpatrone am Gürtel. Sobald über Bordfunk mitgeteilt wurde, dass man Sichtkontakt zu AJ-417 habe, schloss Filitra ihre Post und übergab sie Professor Mirsanow, dem wissenschaftlichen Leiter, denn der würde mit Kioto, Oulu und Ben bei der abzulösenden Besatzung einen kurzen Besuch machen.
Bei Norbert an der Funkkonsole trafen Datenschübe vom anderen Raumschiff ein: Die Fluginformationen der letzten Monate und wissenschaftliche Berichte wurden übertragen, um die Arbeit von AJ-417 fortzusetzen, denn in den ereignislosen Zeiten zwischen dem Aufspüren von Asteroiden wurden in der Flottille die verschiedensten astronomischen Sondierungen betrieben. In der Mannschaft von Alexander Kerulen war dafür Professor Timofei Mirsanow als Spezialist für kosmische Strahlung zuständig, denn auf Erden hatte die Sorge über die nahende Strahlungsfront aus dem Sternbild Stier, der Crabnebel, angesichts der schwachen Ozonschicht der Erde, die sich noch immer nicht genügend regeneriert hatte, zugenommen. Der Sichtkontakt mit dem freien Auge durch eines der wenigen Bullaugen in der Bordwand bestand eigentlich nur darin, die Positionslampen ein ganzes Stück entfernt und gelegentlich einen matten Widerschein der winzigen Sonne auf der Rumpfwölbung des anderen Raumschiffes zu sehen. Sie flogen im Abstand von mehreren Kilometern nebeneinander her.
Indessen machte im Katapultraum Kioto Yokohata sein Shuttle startklar, um damit zu AJ-417 zu fliegen. Kioto freute sich, endlich Gelegenheit zu einer kleinen Tour mit seinem Shuttle zu bekommen. Er konnte es kaum erwarten, wieder mal das Vibrieren des Antriebes zu spüren. Schon betraten seine Fluggäste, umhüllt von Raumanzügen, die Katapultkammer und zwängten sich durch den Einstieg auf ihre Plätze. Mirsanow hatte das verschnürte Bündel mit den Kuverts derjenigen in der Hand, die so wie Filitra persönlich geschriebene Briefe heimwärts schicken wollten. Oulu hielt einen großen Behälter mit frischem Obst aus den Gewächshäusern des Mars als Besonderheit für die andere Besatzung fest, denn die hatte sicherlich schon lange nur Konservenobst gegessen. Und Navigator Ben achtete darauf, keine der Blumen zu knicken, die er als Strauß der anderen Besatzung mit besten Wünschen für eine glückliche Heimreise überreichen wollte. Sagitta hatte sie extra für diesen Tag großgezogen und zum Blühen gebracht.
Surrend saugten Pumpen die kostbare Luft aus der Katapultkammer. Ein Rest davon entwich wie ein Seufzer, sobald das Tor aufging. Die Feuchtigkeit darin kondensierte für einen Moment zu einem Hauch feiner Eiskristalle, der aber gleich wieder im Vakuum des Alls verflog. Die Startlampe ging an und glomm rubinrot.
»Das Katapult beschleunigt mit zwei Gravos«, erinnerte Kioto seine Begleitung. Der Hinweis galt vor allem dem Professor, weil Kioto nicht sicher sein konnte, dass der diesem Umstand genügend Beachtung schenkte. »Unsere Körper werden für einen Moment etwa drei Zentner wiegen«, verdeutlichte Kioto. »Holen Sie sich also keine blutige Nase an Ihrem Helmvisier, Professor.«
»Schon klar. Habe verstanden: Wir Wissenschaftler gelten im Alltag, egal ob auf Erden oder hier an Bord, noch immer als schusselig. Danke für den Hinweis«, beschwichtigte Mirsanow. »Mit dem Katapultstoß wird das Shuttle auf Sicherheitsabstand zum Raumschiff gebracht, ehe es sein Triebwerk zündet«, resümierte er. »Richtig? Im Moment also kein Elfenbeinturm. Unterlasse es aber, Achterbahnen zu fliegen. Das vertrage ich nicht so gut«, sagte er und lachte.
»Hauptsache, Sagittas Blumen überstehen den Flug«, murmelte Ben.
»Achtung. Es geht los«, sagte der Japaner.
Der Professor schloss die Augen und atmete nur flach. Und sofort presste ihn eine Riesenfaust in den Sessel. Er konnte nicht einmal den kleinen Finger rühren. Sein Kopf lag im Helm wie von einer Zange umspannt. Die Situation eines Starts oder auch einer Bremsung ärgerte ihn immer wieder wegen dieser Hilflosigkeit, auch wenn sie nur kurz andauerte. Sobald sich der Druck auf Brust und Glieder wieder verflüchtigte, öffnete Mirsanow die Augen. Die Kabine war dunkel. Unter der Schwerelosigkeit waren die Arme mit dem Briefbündel bestrebt, ein eigenes Leben zu führen. Über dem Kanzelglas glitzerten stechend scharfe Fünkchen unzähliger Sterne. Wenigstens glomm die Skalenbeleuchtung warm und vertraut. Das Shuttle eilte dem Raumschiff voraus und schwenkte allmählich über unergründliche Tiefen hinweg auf sein Ziel ein.
»Hier Kolibri, hier Shuttle. Katapultstart ordnungsgemäß verlaufen. Bin auf Drift zum Ziel. Bitte Leitstrahl«, war Kiotos Stimme im Helmfunk zu hören.
»Hier AJ-417. Leitstrahl läuft. Kleine Kursdifferenz.«
»Erkannt. Ich korrigiere.« Eine Weile gingen so knappe Worte zwischen Shuttle und Raumschiff hin und her. Schließlich sagte Kioto: »Annäherung. Flankenschleuse im Visier. Abstand hundert. Darf ich einrasten?«
»Andocken gestattet.«
Vom Shuttle fiel das Licht des Bugscheinwerfers auf einen massigen Rumpf. Ein leichter Stoß rüttelte am Shuttle. Man war angelangt. Die Ankömmlinge entledigten sich der Raumanzüge. Die Luke zur Schleuse schwang auf und man trat hinüber. Begrüßungen erklangen wie »Langes Leben!«, »Gruß unserer Erde!«, »Allzeit heiße Düsen!« und »Wem die Sonne blinkt, geht Irdien nicht verloren!«
Im Gemeinschaftsraum von AJ-417 wartete die Mannschaft schon auf ihre Gäste. Sie war festlich gekleidet und machte den Eindruck einer Geburtstagsgesellschaft. Mit frenetischer Begeisterung wurden die Blumen und das Obst entgegengenommen. Vor allem die Astronautinnen machten aus ihren Gefühlen kein Geheimnis und gingen jedem Dufthauch und jeder Farbnuance genau nach, manchmal sogar mit zu viel Pathos, wie Navigator Ben meinte und das Oulu zuraunte. Das Öffnen der Pakete mit dem Obst wurde, halb aus Spaß, halb aus echter Wertschätzung, regelrecht zelebriert. »Arme Teufel«, wisperte Oulu Navigator Ben zurück. »Ob es uns nach einem Jahr hier im Trümmergürtel vor Sehnsucht nach Daheim ebenso ergeht und wir auch so närrisch sind vor Freude über Obst und Blumen, sobald wir abgelöst werden?«
Jemand hob die Schale mit Erdbeeren und schrie: »Frühling!« Eine Astronautin ergriff Tomaten und rief: »Sommer!« Ein rotbäckiger Apfel wurde präsentiert mit dem Ruf: »Herbst!« Eine Kakipflaume machte die Runde: »Vivat Brasilien!« Über den Köpfen schwankte eine Weintraube: »Andalusien, Olé«. Bananen dekorierten eine Schulter: »Aus meinem Land! Es lebe mein Mittelamerika!«
»Habt ihr keinen Schmetterling mitgebracht, einen lebenden?«, fragte plötzlich in einem stillen Moment geradezu schüchtern eine Astronautin. »Ich möchte einen Schmetterling flattern sehen.«
»Und habt ihr keine Weizenähre mitgebracht?«, fragte ein Mann. »Ich würde zu gern eine Ähre zwischen den Fingern fühlen und sie zerreiben. Nein, habt ihr nicht dran gedacht? Macht nichts. Leute. Holt Gläser und Weinflaschen. Lasst uns feiern.«
»Astronauten!«, machte sich der Kommandant bemerkbar, sobald die Tafel hergerichtet worden war. Energisch wischte er mit der Hand durch die Luft. »Für uns ist nun die Stunde des Kurswechsels zur Erde nahe. Oder tut es jemanden leid, den Trümmergürtel hinter sich zu lassen?«
»Niemals!«, schrie die Besatzung.
»Habt ihr eure Mission hier im Gürtel nicht gern erfüllt?«
»Immer!«, tönte es ihm entgegen.
»Übertreibung. Ihr wart mehr als einmal nahe dran, zu meutern.«
»Lügner!«, skandierten die Frauen und Männer und lachten.
»Damit unsere Besucher kein falsches Bild von uns bekommen, möchte ich sagen: In den zurückliegenden vielen Monaten hat es wohl keinen unter uns gegeben, der nicht mindestens einmal von der Schwärze und Leere rings um uns im All deprimiert war und sich nichts sehnlicher wünschte, als möglichst schnell wieder auf Erden zu sein, unter blauem Himmel und weißen Wolken auf einer grünen Wiese zu liegen und in den goldenen Strahlen der Sonne zu baden; dem Rauschen von Bäumen im Wind zuzuhören und dem Gesang von Vögeln. Aber wir sahen auch diese taumelnden, dunklen Riesen durchs All rasen mit der Macht, die Menschheit auszulöschen, falls sie jemals Kurs auf die Erde nehmen und mit ihr kollidieren würden. Das verlieh uns den Willen, durchzuhalten und hier weiterzumachen bis zum heutigen Tage, sie wenigstens zu vermessen, wenn wir sie schon nicht zerstören können, und ihre Bahnen zu berechnen und zu katalogisieren. Danke, ihr Frauen und Männer meiner Mannschaft. Danke, dass wir zusammengehalten haben in schweren sowohl wie in erfolgreichen Tagen. Ich erhebe mein Glas: Möge uns die Heimkehr auch noch gelingen!«
»Heimkehr. Heimkehr. Heimkehr«, murmelte man gerührt und wischte sich hier und dort die feuchten Augen wieder trocken.
»Eines möchte ich noch zum Schluss mitteilen: Unser Kamerad Henry Lorcester, Doktor der Physik, hat sich entschlossen, nicht heimzukehren ...«
»Oho! Hört, hört«, murmelte jemand in der Besatzung.
»... sondern zur Mannschaft, die unseren Platz im Trümmergürtel einnimmt, überzuwechseln. Als er davon hörte, dass Professor Mirsanow hier als Gast rechts an meiner Seite den speziellen Auftrag hat, sich mit der ähnlich großen Gefahr für die Menschheit, wie es die Asteroiden sind, nämlich der Strahlungsfront des Crabnebels, zu befassen, dachte er ein paar Tage darüber nach und entschloss sich dann, umzusteigen und weiterzumachen ...«
* * *
Henry Lorcester war mit der Kajüte, die man ihm an Bord von AJ-408 zugewiesen hatte, zufrieden. Sie war doppelt so groß wie die kleinen Kammern der anderen Mannschaft, denn man hatte ihm, um ihm den doppelt so langen Aufenthalt für seine Arbeit im Trümmergürtel zu erleichtern, seine Kajüte in einem der kleineren Laderäume, der für Gesteinsproben vorgesehen und noch leer war, eingerichtet.
Henry hatte sich die Zeit gemerkt, an dem seine bisherigen Kameraden zur Heimkehr durchstarten würden. Er ließ die Panzerplatte vor einem winzigen Bullauge seiner Kajüte außen am Rumpf zur Seite gleiten, um ins All zu spähen. In wenigen Augenblicken war es soweit. Der Zeitpunkt, es sich noch anders zu überlegen und doch heimwärts zu reisen, war vorbei. Er sah AJ-417 nicht dort draußen im All, aber er würde den Flammenschein der Düsen beobachten können. Pünktlich zur vorgesehenen Zeit flammte ein Dutzend Kilometer entfernt das Triebwerk von AJ-417 auf. Bald verlor sich auch dieser Lichtpunkt einer kleinen, begrenzten Welt, die lange Monate sein Halt und sein Schutz gewesen war mit vertrauten Kameradinnen und Kameraden, in der Unendlichkeit.
»Ade, ihr Lieben«, murmelte Henry und zog den Vorhang vor das Bullauge. »Jetzt zieht AJ-408 mit mir seine Bahn. Ich bin gespannt, welches das größere Abenteuer werden wird: Forschung betreiben oder Asteroiden reiten?« – Er ahnte nicht, dass Ereignisse letzterer Art bald eine Rolle spielen würden.
Ben Brigsen, der Navigator, machte Dienst im Steuerraum von AJ-408. Nur Kioto stand, schon im Raumanzug, neben ihm am Pilotron. Das Raumschiff driftete in einem großen, trümmerfreien Teil des Alls. Da war an Bord von AJ-408 Forschungsarbeit oder Training angesagt. Zum Beispiel stand für Filitra ein Übungsflug mit einem der beiden Raumgleiter unter Kiotos Aufsicht auf dem Programm. »Sie kam also frisch vom Schulschiff«, vergewisserte sich Kioto noch einmal und beobachtete Filitra über einen der Monitore, wie sie in der Katapultkammer ihren Raumanzug überprüfte.
»Genau darauf musst du dich einstellen beim Training mit ihr. Sie hat kaum Erfahrung im freien Fall um die Erde und Nachweise für nur drei oder vier Probeflüge mit Raumschlitten oder Frachtbuggis im Pendelverkehr zwischen Raumstationen auf Erdumlauf«, merkte Ben an. »Du kannst dich nicht darauf verlassen, dass sie alles richtig macht, wenn sie das Shuttle vom Katapult aus startet.«
»Wie kann man solche Neulinge in den Trümmergürtel schicken«, empörte sich Kioto. »Werden wir uns in jeder Situation auf sie verlassen können?«
»Die Raumfahrtpsychologen haben ihr den Segen für diese Mission gegeben. Also ist sie tüchtig.«
»Was die Psychologen für raumtauglich halten, ist eine Sache«, erwiderte Kioto. »Wie sich jemand auf einem Fernflug bewährt und tatsächlich den Aufgaben gewachsen ist, steht auf anderem Papier.«
»Backe kleinere Brötchen. Du bist wie sie auch ein Neuling hier so weit weg von der Erde.«
»Mein Vertrauen muss sie jedenfalls erst noch gewinnen«, sagte er listig. »Schließlich geht es um einen meiner Raumgleiter.«
Ben horchte auf. »Ach so, darauf willst du hinaus. Ich merke schon: Du möchtest dir einen Spaß mit ihr machen und unbedingt eine Raumtaufe für sie inszenieren. Sag das doch gleich.«
»Richtig«, strahlte Kioto.
»Raumtaufe? Vorsicht. Was du vorhast, könnte zu Schwierigkeiten führen«, warnte der Navigator.
»Was soll uns bei dem bisschen russisch Roulett mit Steuerdüsen zustoßen? Wir müssen doch wissen, ob sie bei Schwierigkeiten in Panik verfällt oder nicht.« Damit verließ er den Steuerraum.
Filitra war inzwischen in den Raumgleiter eingestiegen und hatte sich auf dem Pilotensitz angeschnallt. Über den Helmfunk meldete sie: »Katapult überprüft. Raumanzug geschlossen. Kabinendruck normal. Alle Anzeigen auf grün.«
»Sitzbereitschaft«, bestätigte der Navigator Ben und lächelte ihr über den Monitor aufmunternd zu. »Kioto ist unterwegs zu dir.«
»Ich wäre lieber mit Henry geflogen. Der ist kein Neuling wie Kioto. Ist das denn korrekt, zwei Neulinge wie ihn und mich auf einen Trainingsflug zu schicken?«, gab Filitra zu bedenken. »Wozu überhaupt Begleitung? Das hier ist doch ein eigenständiger Flug. Oder?«
»Soll ich in den Dienstvorschriften nachsehen?«
»Nein, nein, schon gut.«
Auch Kioto betrat nun die Katapultkammer ein und zwängte sich in den zweiten Raumgleiter. »Denk daran: Unmittelbar nach dem Abschuss nichts unternehmen. Erst abwarten, bis der Sicherheitsabstand zum Raumschiff erreicht ist«, ermahnte Kioto sie nochmals.
Filitra nickte, soweit das im Raumhelm überhaupt möglich war, empfand aber diesen Hinweis als höchst überflüssig. »Verstanden«, sagte sie ärgerlich. Das Abschusscountdown lief an. Bei Null wuchtete das Katapult den Raumgleiter hinaus mitten durch die kleine Wolke aus Eiskristallen, die sich auch diesmal beim Entweichen eines Schwalls Restluft bildete.
»Gut abgekommen«, registrierte Ben über Sprechfunk. »Normale, trudelfreie Drift. Guter Anfang«, lobte er. Kurz danach folgte ihr Kioto mit einem zweiten Raumgleiter.
Mehrere Meilen entfernt, absolvierte Filitra dann bald ihr Flugprogramm mit verschiedenen Kursmanövern, Beschleunigungen und Bremsungen im Umkehrschub. Doch plötzlich, bei der vorletzten Übung, geriet der Raumgleiter in kreiselnde Bewegung. Inzwischen war auch Norbert in den Steuerraum gekommen. »Was spielt sich denn dort draußen ab! Ist das normal?«, fragte er.
»Eine Raumtaufe«, gab ihm Ben Bescheid. Beide achteten sie besonders auf den Helmfunk.
»Hilfe, Kioto«, hörten sie Filitra belustigt sagen. »Ist was mit dem Universum passiert? Es rotiert so eigenartig«, spottete sie. »Aha, ich merke schon, da liegt der Hase im Pfeffer: Eine von den Steuerdüsen läuft durch. Was sagt mein versierter Begleiter dazu?«, fragte sie gelassen Kioto. »Wie kann ich das Universum wieder zum Stillstand bringen?«
»Nimm dir einen großen Schraubenschlüssel, steige aus und schlage kräftig auf die widerspenstige Düse ein«, sagte Kioto ebenso scherzhaft.
»Ich könnte aus der Steuerdüse gegenüber Schub geben, um die Rotation zu beenden?«
»Unnötige Verschwendung von Treibstoff«, erwiderte Kioto.
»Ganz wie du meinst«, fügte sich Filitra. »Ich tu es trotzdem.«
»He, Fräuleinchen«, blendete sich Ben in das Gespräch ein. »Die Übung, die du da gerade machst, steht nicht auf dem Flugplan. Was ist los? Du verdirbst mir die gute Laune, Filitra.«
»Guck weg, falls dir schwindlig wird«, antwortete sie.
Ben blickte verdutzt, so dass Norbert über ihre kleine unbekümmerte Frechheit schmunzelte. Die Rotation des Raumgleiters kam zum Stillstand. »Defekt an Düse fünf«, meldete sie dem Raumschiff für das elektronische Logbuch. »Ich steige aus und überprüfe.«
»Genehmigt«, sagte Ben. »Sicherheitsleine ausnahmsweise mal nicht verwenden, sonst wickelst du dich am Raumgleiter auf wie an einem Marterpfahl, falls die störrische Steuerdüse überraschend zu eigenem Leben erwacht«, riet er.
»Verstanden: Ausstieg ohne Sicherheitsleine.» Sie schloss ihr Helmvisier und evakuierte die Luft der Kabine zurück in den Vorratsbehälter. Dann glitt der Ausstieg auf und Filitra hangelte sich hinaus. Der Funker löste eine Leuchtkapsel an AJ-408 aus, die die Szene aus einiger Entfernung erhellte. Zwei der kleinen Steuerdüsen arbeiteten mit ihrer Kraft entgegengesetzt zur anderen.
»Als ich vor Jahren als Kadett bei so einer Übung aussteigen musste, blieb mir die Spucke weg«, sagte Ben über den Helmfunk zu Filitra, um ihr ein Gefühl von solidarischer Begleitung und beruhigender Beaufsichtigung zu geben. »Es war ein verflixt unangenehmes Gefühl, so frei ohne Sicherheitsleine zwischen Mond und Erde im Nichts zu hängen«, gestand er.
»Ich bin schwindelfrei. Wenn meine Bewerbung zur Astronautin nicht angenommen worden wäre, hätte ich es als Hochseilartistin versucht«, ulkte Filitra, fügte dann aber sachlich hinzu: »Im Mondumlauf auf einer Schulplattform mussten wir so einen Ausstieg mehr als zehnmal üben.«
Eine Weile hantierte sie mit den üblichen bedächtigen Bewegungen, die für Leute, vom prall gefüllten Raumanzug etwas behinderte, typisch war. Norbert startete eine zweite Leuchtkapsel. Kurz darauf passierte es: Filitra hatte die defekte Düse in Ordnung gebracht. Erwartungsgemäß erlosch sie, während die andere darauf verzögert reagierte, ehe auch sie ihren Schub einstellte. Der Raumgleiter taumelte darauf in leichten Schwüngen dahin. Filitra beeilte sich, zum Einstieg zurückzukehren. Dort wechselte sie unbedacht ihr Werkzeug von einer in die andere Hand, und schon versetzte ihr der Raumgleiter einen leichten Stoß, der genügte, sie wegtreiben zu lassen. Sie verwandelte sich in plötzlicher Panik zu einer zappelnden Gliederpuppe, die hilflos nach einem festen Halt suchte und vollends die Kontrolle über sich verlor.
Navigator Ben im Steuerraum wagte nicht, sich vorzustellen, was der Kommandant zu diesem Vorfall sagen würde, sobald er Meldung darüber bekam. Kioto seinerseits wurde nun tätig und übernahm die Fernsteuerung des führungslosen Raumgleiters, um ihn zu stabilisieren. Dann folgte er mit seinem Flugkörper Filitra, um sie einzufangen. Auch Norbert an der Funkkonsole wurde aktiv.
»Fili! Fili! Hörst du mich? Achte auf meine Worte«, sagte er mit leiser, gleichmäßiger Stimme. »Mädel, langsam, langsam. Überlege: Es ist absolut nichts passiert, was fürchterlich wäre. Erinnere dich an die Regeln für Raumnot: Immer die Ruhe bewahren.«
Auch Ben beteiligte sich: »Wie bei der Ausbildung auf der Schulplattform befindest du dich nur im freien Fall. Dir ist nichts im Wege. Kioto folgt dir dicht auf. Wir haben dich keinen Moment aus den Augen verloren.«
»Ich schieße erneut eine Leuchtkapsel ab«, setzte der Funker die Beruhigung fort. »Ich mache dir einen Vorschlag: Du hörst jetzt auf mit deiner komischen Morgengymnastik. Einverstanden? Zieh Arme und Beine langsam an den Körper. Mach eine Kugel aus dir. Dann kommt erst einmal eine Pause. – Richtig so. Gut gemacht«, lobte Norbert. »Nun streckst du dich wieder vorsichtig zu einem schlanken, langen Pfeil. Dabei balancierst du deinen Schwerpunkt aus. Wenn du das mehrmals gemacht hast, Kugel und Pfeil, liegst du ruhig wie ein Brett auf deiner Bahn durch den Kosmos.«
»Du rast zwar wie ein Geschoss davon. Wir können dich jetzt nicht mehr sehen. Nur Kiotos Raumgleiter ist von uns aus noch zu erkennen«, informierte Ben sie wahrheitsgemäß. »Aber wir haben den Peilsender deines Raumanzuges auf dem Messschirm. Such dir jetzt einen hellen Stern als Fixierpunkt. Kioto nimmt dich gleich an Bord und bringt dich zu deinem Raumgleiter zurück. Zum Mittagstisch bist du wieder bei uns allen.« Er schaltete den Helmfunk ab.
Norbert sagte: »Ärgerlich, dieser Zwischenfall, Ben. War das nötig, eine solche Art von Raumtaufe mit ihr zu veranstalten?«
»Nun tu nicht so, als ob das nicht in der Raumflotte üblich wäre, Neulingen eine Raumtaufe zu verpassen«, verteidigte Ben sich und Kioto. »Sie im Trümmergürtel bestanden zu haben, damit kann sie sich später überall rühmen.«
»Da hat sie nun was davon.«
»Immerhin hat sie den Defekt an der Düse gemeistert. Über ihre Zappelei in der Schrecksekunde kann man hinwegsehen. Das ist uns schon allen passiert.«
»Ich kann nur hoffen, dass Kerulen auch so großzügig darüber hinwegsieht, wenn Kioto aus Langeweile Scheinschäden inszeniert.«
Ben schwieg schuldbewusst. Er dachte einen Moment sogar daran, den Vorfall zu vertuschen, ihn gar nachträglich als absichtliche Übung hinzustellen, sah aber ein, dass er damit nicht durchkommen würde, denn Raumnotübungen anzusetzen, oblag allein dem Kommandanten. Ben fühlte sich plötzlich wie aus dem Wasser gezogen. Erleichtert hörte er im Sprechfunk bald ein entspanntes Lachen von Filitra. Sie hatte wieder den Pilotensitz ihres Gleiters eingenommen.
Kioto sagte zu ihr: »Es macht Spaß, Cowboy zu spielen und dich mit einem Lasso einzufangen. Könnten wir das gleich noch einmal probieren?«
»Nur in umgekehrter Rollenverteilung«, sagte sie schlagfertig.
»Dann lassen wir es lieber sein. Du bist mir zu ungeübt im Lassowurf. Für deinen Schraubenschlüssel, den du verloren hast, werden wir nun wohl eine Verlustmeldung schreiben müssen.«
»Richtig. Seine Registriernummer kommt in den Katalog für Minimüll. Er sinkt vielleicht auf einen Protz, wo ihn in ferner Zeit ein Astro-Archäologe erstaunt als rätselhaftes Fundstück aufhebt.«
»Das Ding wird wohl eher in die Sonne stürzen«, meinte Kioto.
»Schade, dass er nicht in der Erdatmosphäre verglühen wird. Dann würde ihn ein Liebespaar als Sternschnuppe sehen und als Glückszeichen für sich verbuchen«, sagte Filitra träumerisch.
Als die beiden Raumgleiter eine Stunde später wieder in die Katapultkammer glitten, hatte sich der Zwischenfall schon im Raumschiff herumgesprochen. Henry begegnete Filitra zuerst.
»Gratuliere zur Raumtaufe«, sagte er ehrlichen Herzens.
Filitra stutzte. Ihr Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte. Bisher hatte sie keinen Moment lang angenommen, Opfer einer Raumtaufe gewesen zu sein. Nun aber schien ihr, dass sie sich blamiert hatte. Wahrscheinlich hatte die Mehrzahl der Besatzung vor dem großen Sichtschirm im Steuerraum gestanden und zugesehen. Filitra warf sich zornig den schlappen Raumanzug über die Schulter und ließ Henry stehen. Sie eilte in den Steuerraum.
»Wer hat mir das eingebrockt?«, herrschte sie Funker und Navigator an. »Ist auch egal. Ihr steckt sowieso alle unter einer Decke!«, schrie sie und versetzte beiden heftige Ohrfeigen. Dann verließ sie die Steuerzentrale gleich wieder.
»Undank ist der Welten Lohn«, murmelte Norbert.
Vor dem Steuerraum stieß Filitra fast mit Axel Kerulen zusammen. Der Kommandant musterte sie. »Dicke Luft?«, fragte er.
»Beim Übungsflug mit dem Raumgleiter gab es eine Düsenstörung«, meldete ihm der Navigator.
»Echt oder simuliert?«, wollte Kerulen wissen und sah dabei die Brasilianerin an.
Filitra spürte, wie er ihr die Gelegenheit zur offiziellen Beschwerde geben wollte, falls die Düsenstörung eine unangemessen Angelegenheit gewesen sein sollte. Zugleich begriff sie, dass die Raumtaufe ursprünglich nur aus dem Düsendefekt bestanden hatte und dann eskaliert war. In dem Fall mussten Brigsen und Yokohata mit einem strengen Verweis des Kommandanten rechnen. Sie war schon versucht, ihre Schadenfreude auszukosten und ihm ausführlich dazu Meldung zu machen. Aber dann wäre sie mit der Raumtaufe in den Augen der ganzen Besatzung durchgefallen.
»Echt oder simuliert?«, fragte Kerulen noch einmal.
»Echt, Señor Kommandante«, sagte sie mit aufgesetzter Munterkeit. »Bin einfach nur ausgerutscht.«
»Ehrlich? Dann muss ich es wohl glauben.«
»Ich geriet in freien Fall und kam ins Trudeln. Sozusagen fünf Minuten Gymnastik im Formationsflug mit Kiotos Raumgleiter hinter mir. Aber nun bin ich ja wieder wohlbehalten hier.«
Ein paar kaum merkliche Falten von Heiterkeit entstanden an den Augenwinkeln von Axel Kerulen. ›Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter‹, dachte er und wandte sich seinen Aufgaben zu. »In Ordnung. Erledigt«, sagt er.
Filitra wechselte mit Ben und Norbert schnell einen Blick, ehe sie ihrer Kajüte zustrebte. Zur Abendzeit saß sie, nicht mehr nachtragend, mit Kioto und Ben bereits wieder einträchtig um einen Tisch in der Freizeitmesse. Sie spielten Bridge und tranken Wein.
Norbert Franken saß allein im Steuerraum auf Wache. Zwar steuerte der Bordcomputer über den Pilotron das Raumschiff. Sollten aber Programmabweichungen auftreten, waren menschliche Entscheidungen erforderlich. Nach dem Stand der Zeiger war es bald Mitternacht. Norbert betrachtete die Grafik galaktischer Zeiten, die der Monitor seiner Funkkonsole ihm gerade präsentierte. Eine galaktische Sekunde dehnte sich neun Jahre aus, und ein galaktischer Tag bestand sogar aus 218 Erdenjahren. Ein galaktisches Jahr setzte sich aus 230 Millionen irdischen Jahren zusammen. Diese Werte ergaben sich aus der Unterteilung der Zeit, die bei einem Umlauf des Sonnensystems um das Zentrum der Milchstraße verging. Forschungen hatten ergeben, dass es mit seinen Planeten bisher fünfzehn Runden im Spiralnebel der Milchstraße vollzogen hatte und sich nun im sechzehnten galaktischen Jahr befand.
›In was für gewaltige zeitliche Dimensionen menschliches Tun doch eingebettet ist‹, dachte Norbert. ›Ob Gott, falls es ihn gab, eine solche Eintagsfliege wie die Menschheit überhaupt beachtete? Was musste sie, um dem Schöpfer aufzufallen, vollbringen?‹
Philosophen sprachen bei der Gelegenheit immer über die Humanisierung von Zeit und Raum, die die Menschheit im kosmischen Umfeldes Irdiens zu leisten habe. Ein menschliches Leben verstrich bei solchen zeitlichen Dimensionen im Handumdrehen. »Um Zeit und Raum zu humanisieren, werden wir Irdischen unsere Lebenserwartung Frau um Frau und Mann für Mann vervielfachen müssen, weil sonst eine solch gewaltige Aufgabe nicht zu schaffen ist«, murmelte Norbert. Das majestätische Universum dort draußen, das er in aller Muße auf dem großen Sichtschirm betrachten konnte, forderte ihn zu solchen Überlegungen heraus. »Und wenn die Strahlungsfront des Crabnebels das Sonnensystem durchrast oder ein Asteroid auf der Erde einschlägt, dann kommen wir kosmischen Eintagsfliegen sowieso nicht mehr dazu, Zeit und Raum zu humanisieren«, flüsterte der Astronaut. Und dennoch: Was Menschen trotz ihres begrenzten Lebens doch so alles an bewundernswerten Dingen zu vollbringen vermochten!
Norbert hätte gern noch weiter darüber nachgedacht und vieles von dem aufgezählt, was Menschen leisteten. Doch die Zeiger der Borduhr gingen weiter und weiter. Nur noch Minuten fehlten bis Mitternacht. Gleich würde es 0.00 Uhr sein. Auch die galaktische Zeit würde Punkt Mitternacht einen winzigen Schritt weitergehen. Für Norbert war dieser Moment von erhabener Großartigkeit. Es war ein hehres Gefühl, wenn man sagen konnte: Ich, ein Mensch, habe wieder eine galaktische Sekunde gelebt. Für den Funker bedeutete dieser Sprung des galaktischen Sekundenzeichens aber auch, dass er das Peilsignal, das die Flottille gemeinsam ausstrahlte, unter anderem für astronomische Aufzeichnungen, die auf der Erde davon gemacht wurden, senden musste. Zugleich schickten Richtantennen dieses Signal ebenso in bestimmte Regionen der Milchstraße, denn vielleicht war die Energie des Suchverbandes groß genug, um von einer anderen, fernen Zivilisation bemerkt zu werden.
Norbert überprüfte die Funkkonsole. Die entsprechenden Angaben über Frequenzen, Zeitintervalle, Signalstärke, Signalrichtungen, Modulation und anderes mehr übermittelte ihm der Bordcomputer als Zeichen seiner Bereitschaft für diese Routine gerade auf den Monitor. Die letzten Sekunden zählte der Funker mit lautloser Lippenbewegung mit: Vier, drei, zwei, eins und null! Im selben Moment zuckte sowohl der Sekundenzeiger der galaktischen Uhr als auch der Stundenzeiger der Borduhr mit der Weltzeit einen Strich weiter. Norbert lauschte in den Äther. Das Signal der Leitrakete war synchron zu den eigenen Signalen zu hören. Er machte einen entsprechenden Eintrag in das Bordtagebuch.
Die weitere Zeit der Wache am Pilotron verbracht Norbert damit, den Kosmos nach anderem Funkverkehr abzuhören. Er lockerte seinen Sicherheitsanzug, vor allem am Hals. Irgendwo weit weg zirpten Signale eines Funkwarnfeuers, das man, wie die Kennung ihm verriet, schon vor über zehn Jahren auf einem Asteroiden stationiert hatte. Dann vernahm er zwitschernde Laute. Es waren die typischen Zeichen einer gefunkten Raumpost, diesmal an die Besatzung eines Raumschleppers nahe dem Mars gerichtet. Eine weitere solche Sendung galt den Kosmonauten einer Forschungsplattform, die Jupiter zur Beobachtung seiner Monde acht, neun und elf umkreiste, weil die sich seltsamerweise entgegensetzt den anderen Monden und Planeten im Sonnensystem um ihre Achsen drehten.
Wenn Norbert so wahllos die Frequenzen der Raumflotte abhörte, verflog die quälende Einsamkeit, die er bei diesem Flug mehr als bei anderen Einsätzen empfand. Am kosmischen Funkverkehr merkte er, wie lebhaft die Tätigkeit der Menschen im All seit den weit zurückliegenden Jahren des ersten Satelliten und der ersten Raumstation inzwischen schon geworden war. Es fanden Dutzende von Unternehmungen zugleich statt. Der Mensch hatte angefangen, diese reglose Dämmerung des Alls mit seinem eigenen geheimnisvollen Tun zu durchweben. Norbert war stolz darauf, zu jenen zu gehören, die das nähere und weitere Umfeld des Erdenballes in Raumschiffen durchkreuzten.
Dann traf per Richtstrahl die tägliche Nachrichtensendung von der Erde für AJ-408 und die Flottille ein. Der Bordcomputer leitete sie der Datenbank zu, wo sie jeder für sich individuell abrufen konnte, wann es ihm passte. Sie war sehr umfassend und ausführlich mit Neuigkeiten aus aller Welt versehen. Der Funker hörte in einen Abschnitt hinein. Dort hieß es gerade: »... beschloss der Rat für Weltbauten, die Meerenge der Behringstraße zwischen Alaska und Sibirien zu untertunneln. Nach großen Weltbauvorhaben um die Jahrtausendwende wie dem Tunnel unter dem Ärmelkanal, der Brücke über den Großen Belt zwischen Schweden und Dänemark und dem Tunnel von Gibraltar nach Afrika ist das neue Bauvorhaben eine weitere Großtat der Ingenieure, die notwendig wird, um den ständig wachsenden Güter- und Personenverkehr zwischen Eurasien und Amerika auch noch auf andere Weise zu bewältigen als nur durch See- und Luftfahrt. Das um so mehr, als Sibirien in letzten Jahrzehnten ebenso wie Alaska aus dem Orbit mit Energie von Solarkraftwerken versorgt wurde und daher viele neue Orte entstanden mit wachsender wirtschaftlicher Bedeutung.«
Norbert hörte den Funkverkehr der Flottille ab: »... einen Meteorit eingefangen. Er ist etwa so groß wie ein Fußball, nur nicht so rund. Wie es aussieht, ist er chemisch interessant zusammengesetzt. Es wird sich lohnen, ihn im Labor zu untersuchen. Ich komme zurück.« Das musste die Stimme des Piloten aus einem Raumgleiter sein, der zum benachbart fliegenden Asteroidenjäger gehörte.
Norbert aktivierte den automatischen Suchlauf für Nebenbereiche. Bei 2010 Megahertz stockte das Gerät. Ein Routinesignal war zu vernehmen, das dort nicht hingehörte. Es fiel nur leise aus, was auf einen weiten Abstand oder auf eine geschwächte Quelle schließen ließ. Häufiger Empfangsschwund erschwerte es, das Signal zu identifizieren. Norbert brauchte mehrere Minuten, um fehlende Teile aus der Datenbank zu ergänzen. Das Signal ähnelte dem Peilzeichen, das die Flottille eben erst synchron ausgestrahlt hatte. Sollte sich der Bordcomputer eines der Raumschiffe des Verbandes so in der Zeit geirrt haben, dass er nachhinkte? Außerdem war es die falsche Frequenz.
Der Funker versuchte, die Signale lauter und deutlicher zu hören. Vergeblich. Sie blieben statt dessen ganz aus. Sollten die aufgefangenen Zeichen ein Funkecho der eigenen Sendung gewesen sein? Wovon waren sie dann reflektiert worden? Und was hatte dieses Echo auf eine falsche Frequenz geworfen? ›Merkwürdig‹, dachte er. ›Ich habe bei meiner Ausbildung zum Astronauten nie gehört, dass es im All das Phänomen der Frequenzwandlung gibt. Eine derartige Erscheinung wäre doch schon längst bemerkt worden, wenn es sie gäbe.‹ Er fand für seine zufällige Beobachtung keine Erklärung.
Norbert dachte darüber nach und durchsuchte die Datenbank nach einschlägigen Vermerken. Die Zeit verstrich und überschritt auch den Moment, an dem er von El Durham, dem Triebwerksingenieur, hätte abgelöst werden müssen. Der Funker vertiefte sich erneut in das Phänomen des Funkechos. Bald danach schreckte er auf. Salamah El Durham kam verspätet zum Dienst.
»Na, etwas nicht in Ordnung?«, fragte er und gähnte herzhaft. »Deine Peilsendung um Mitternacht ist doch schon längst vorüber. An deiner Stelle hätte ich mich längst in die Koje gelegt.«
»Wie kann ich das, wenn du mich nicht pünktlich ablöst?«
»Habe verschlafen. Du warst ja hier. Dir macht die Steuerwache offenbar Spaß. Mir nicht. Nichts weiter als Alltag im All. Der Bordcomputer passt auf und regelt sowieso alles an Bord. Was habe ich da hier vor den Monitoren verloren? Ich frage mich ohnehin, warum man überhaupt noch bemannte Raumfahrt betreibt. Auch die Katalogisierung des Trümmergürtels sollte man automatischen Sonden überlassen. Warum Menschenleben in Gefahr bringen?«
Fast hätte Norbert geantwortet: Es geht um die Humanisierung von Zeit und Raum, was immer das auch sein mochte! Er merkte aber noch rechtzeitig, wie unangebracht hochtrabend so eine philosophische Bemerkung zu diesem Zeitpunkt war. Was ihn ärgerte, war die Gleichgültigkeit, mit der El Durham seine Trödelei rechtfertigte. Norbert schüttelte unwillig seinen Kopf. Ihm war diese Haltung unbegreiflich. Er schrieb sie erst einmal dem Umstand eines unterbrochenen Schlafes bei El Durham zu. Trotzdem sagte er: »Ich hätte nicht gedacht, dass es an Bord jemanden gibt, der eine so nachlässige Auffassung von seinen Pflichten hat.«
»Rede nicht so geschwollen«, sagte El Durham und übernahm die Wache am Pilotron.
»Man muss sich aufeinander verlassen können«, murmelte Norbert. ›Wer weiß, welche Ansichten der Araber zu anderen Aufgaben und Aufträgen entwickelt, wenn seine Wurstigkeit noch zunimmt?‹, dachte er, als er seiner Schlafbox zustrebte. Oder war diese Tendenz eine Art Raumkrankheit, eine Gemütsverfassung, bei der Leere, Kälte und Unendlichkeit zu immer mehr Gleichmut führten? ›Falls dem so ist, hätte ich ihn nicht sich selbst überlassen dürfen‹, machte Norbert sich Vorwürfe. Ob man dem Kommandanten Hinweise geben sollte? »Nein, noch nicht«, entschied er.
Um 4.00 Uhr löste der Afrikaner Oulu Nikeria, Mathematiker, den Araber ab. Alles war in Ordnung. Nichts war vorgefallen. El Durham verließ eilig den Steuerraum, als hetzten ihn Furien und als sei ihm der fortwährende Anblick der Milchstraße unerträglich. Oulu blickte ihm besorgt nach. Eine Weile danach tauchte auf dem Radarschirm ein Pünktchen auf. Eine rote Unterstreichung blinkte darunter auf als Zeichen des Bordcomputers, mit dem der die Aufmerksamkeit der Steuerwache auf ein Trümmerstück lenkte. Das bedeutete, dass zwar keine Kollisionsgefahr bestand, aber doch ein naher Vorbeiflug stattfand. Einen Alarm auszulösen, war daher nicht erforderlich. Oulu, dessen Konzentration schon etwas nachgelassen hatte, war sofort wieder hellwach. Ein einzelnes, kleines Radarobjekt war zwar noch kein Grund, beunruhigt zu sein. Es konnte aber im Trümmergürtel der Vorläufer eines Trümmerhagels, gar mit einem Asteroiden als Zentrum, sein. Also hieß es, wachsam zu bleiben. Falls sich das Objekt nicht als Vorläufer eines Schwarmes erwies, war zu entscheiden, ob man es zu Untersuchungen an Bord holte, weil daraus weitere Hinweise für die Astronomie über Herkunft, Entstehung, Entwicklung und Lebensdauer des Sonnensystems oder über Rohstoffvorkommen im Trümmergürtel, die auf Erden rar geworden waren, erwuchsen.
Als Entfernung waren auf dem Monitor etwa 2 000 Kilometer verzeichnet. Das Objekt war vermutlich nur faustgroß, sonst wäre es schon früher in größerem Abstand registriert worden. Es zog etwa in die gleiche Richtung durchs All, wie das Raumschiff, nur etwas langsamer. AJ-408 legte derzeit ein Tempo von 16 Kilometern pro Sekunde zurück, der Meteorit geringfügig weniger, nämlich 15,3 Kilometer. Diese Differenz bedeutete, dass man ihn in ungefähr 47 Minuten eingeholt haben würde. Oulu weckte den Kommandanten und verständigte ihn von der Ortung. Mochte er entscheiden, ob man etwas unternahm oder nicht. »Wir sollten den Brocken fürs Labor hereinholen; wäre eine gute Flugübung. Kioto als Pilot des Shuttles wird sonst noch vor lauter Langeweile zu einem Rollmops«, schlug Oulu vor.
»Denke ich auch«, sagte Kerulen schmunzelnd über den Rollmops. »Normalerweise genügt es in einem solchen Fall, drei Leute dafür hier an Bord und einen im Raumgleiter auf die Beine zu bringen«, überlegte er laut. »Aber Übung macht den Meister. Ehe sich eine allgemeine Schläfrigkeit an Bord verbreitet, ist ein richtiger Radaralarm durchaus zweckmäßig«, entschied er.
Überall in den Bettboxen rollten sich die Schläfer hervor, rappelten sich hoch und schlüpften in die griffbereiten Sicherheitsanzüge. Zugleich änderte der Kommandant etwas den Kurs. Das Pilotron reagierte augenblicklich. Kaum dass das schrille Klingeln verstummte, ertönten die drei Gongschläge, die jeden an seinen Posten in der Steuerzentrale, im Reaktorraum oder an die Laserprojektoren riefen, gefolgt vom Signal für eine Bahnänderung. Der Abstand zum Radarobjekt war auf 43 Minuten Flugzeit gesunken. Über Bordfunk teilte der Kommandant allen mit, was der Grund für den Radaralarm war, dass aber keine Kollisionsgefahr vorlag. »Wir brauchen alle noch unsere Nerven, falls es mal ernst wird«, bemerkte er zu Oulu. Obwohl der Kommandant kein Freund von Ansprachen war, sagte er per Bordfunk einige ermunternde Worte.
»Kameraden! Astronauten! Das Radar hat den ersten Meteoriten aufgespürt. Er ist nur klein. Wir könnten ihn unbeachtet lassen. Aber ich habe trotzdem Kurs darauf genommen. Wem eine Mütze voll Schlaf lieber ist, kann gern wieder in seine Bettbox zurückkehren. Es sieht nicht so aus, als ob der Meteorit Vorläufer eines großen Schwarms ist. Aber als erster Schritt, uns auf harsche Begegnungen hier im Trümmergürtel einzuspielen, wäre diese Übung eine gute Gelegenheit. Unser Ziel fliegt jetzt etwa 1 800 Kilometer vor uns her. In 41 Minuten sind wir mit ihm auf gleicher Höhe, nur ein Dutzend Kilometer voneinander entfernt. Ich hoffe, dass er Auftakt zu einer Serie von Begegnungen für uns wird, bei der wir alle unsere verpackten Funkwarnfeuer hervorholen und auf Asteroiden aussetzen können zum Wohle der Menschheit gegen die Einschlagsgefahr von Schwergewichten auf der Erde. Allzeit heiße Düsen!«
Salamah El Durham hatte sich unwillig seines Schlafsackes entledigt, als die Mobilisierungssignale ertönten und ihn weckten. Nach der Ansprache des Kommandanten schlüpfte er aber in den Schlafsack zurück und rollte sich zusammen: »Affentheater«, murmelte er. »Auf mich müsst ihr verzichten, wo ich schon mal die Wahl habe und kein Muss dahinter steht. Und überhaupt, selbst wenn es ein Protz wäre, ist es doch völlig egal, denn der schlägt entweder nie auf der Erde ein oder erst in hunderttausend Jahren. Wirklich alles Affentheater«, wiederholte er im Selbstgespräch. »Ohne mich. Kismet.«
Im Steuerraum winkte Kommandant Kerulen den Shuttle-Piloten zu sich und erteilte ihm den Startauftrag. »Copilot nach eigener Wahl«, erlaubte er ihm. Der Japaner entschied sich für jemanden, der sonst einem Laserprojektor zugeteilt war. Dieser Einsatz war für jenen eine der seltenen Gelegenheiten, auch mal im Raumgleiter mitzufliegen. Zusammen eilten sie in die Katapultkammer.
Sagitta, Bordärztin, kam beim Rundgang zu allen im Raumschiff verteilten Einsatzpositionen zuletzt in den Steuerraum und hielt Kioto einen Moment am Ärmel fest: »Ich habe Recht gehabt«, sagte sie. »Wir hatten gewettet. Wisst ihr noch, was ich meine?«
Ben erinnert sich. »Na klar. Das war, als wir vor einigen Tagen im Operationsgebiet eintrafen und dann im Gemeinschaftsraum zusammenkamen. Wir stellten Vermutungen über den Zeitpunkt der ersten Begegnung mit einem Meteoriten auf«, sagte er.
»Kioto tippte auf eine Begegnung in wenigen Wochen. Und du, Sagitta, hast gewettet, dass es nur wenige Tage dauert«, erinnerte sich auch Filitera.
»Zufall, wenn es sich so ergibt. Sagitta trifft sonst selten den Kern einer Sache«, neckte Kioto seine Bordkameradin und strebte dann der Katapultkammer zu.
»Leute! Ich hielt es für richtig, den ersten Meteorit, dem wir begegnen, nicht einfach passieren zu lassen«, sagte Kerulen. »Kioto startet. Er soll ihn einfangen, denn dann haben wir sozusagen ein Maskottchen. Wenn wir diesen Erstling greifbar und sichtbar als harmlosen Burschen als Andenken für unsere Mission immer vor Augen haben, verliert der Trümmergürtel vielleicht seinen Schrecken für uns. Gebt ihm einen Platz an der Säule im Gemeinschaftsraum. Ich weiß, es klingt wie steinzeitlicher Aberglaube und passt überhaupt nicht zur technisch determinierten Geisteshaltung von Astronauten. Aber es ist rührend von unseren frühesten Vorfahren, wenn sie Dinge der Natur anbeteten und sie dadurch günstig für sich zu stimmen versuchten. Das ahme ich als Würdigung unserer frühen Vorfahren nach. Es macht mir nichts aus, wenn jemand unter euch den Mundwinkel deswegen herabzieht, aber ich hoffe, dass uns die Mächte des Alls durch die Aufbewahrung eines Meteoriten freundlich gesonnen bleiben.«
»Prima. Bravo. – Völlig in Ordnung. – Wie romantisch. – Lieber einen Schamanen als Kommandant statt eines eisernen Regenten. – Bin schon gespannt auf den Brocken. – Ist vielleicht eine Schönheit«, erhielt Kerulen von allen Seiten erheiterte Zustimmung. »Der Abstand zum Radarobjekt ist auf 30 Minuten zusammengeschrumpft«, teilte Norbert mit.
»Da! Es geht los«, rief Filitra und sprang impulsiv auf, um besser sehen zu können, hielt aber erschrocken inne, weil man sie amüsiert ansah. Schnell setzte sie sich wieder. Über den Rand des Bildschirmes schob sich nämlich der helle Umriss des Shuttles. Es war eben vom Katapult gestartet. Der Radarreflex des Meteoriten dagegen stand nur schwach erkennbar im All, weiterhin markiert durch einen blinkenden Pfeil neben ihm. Verstohlen blickte Filitra zu Henry hinüber. ›Ob er mich wegen meines unbeherrschten Aufspringens albern fand?‹, fragte sie sich. Sie war mit Herzklopfen zur Steuerzentrale geeilt. Wie würde die erste Begegnung im Trümmergürtel mit einem solchen kosmischen Geschoss ausgehen? Sicherlich harmlos, denn sonst hätte der Kommandant nicht schon empfohlen, den Brocken als Maskottchen zu verwenden.
»Abstand zum Radarobjekt auf 19 Minuten verringert«, teilte Norbert mit.
»Erzähl uns was«, forderte Kerulen den Shuttle-Piloten auf und erinnerte ihn damit daran, dass jede Handlung außerhalb des Raumschiffes mündlich zu dokumentieren war. Bei unerwarteten Vorfällen, die Unterstützung erforderten, erwiesen sich Protokollangaben immer als nützlich. Der helle Radarumriss des Raumgleiters wanderte langsam in Richtung der blinkenden Markierung.
»Noch keinen Sichtkontakt. Fliege nach Radarortung. Drei Kilometer Abstand. Alle Funktionen an Bord auf Grün. Mache den Greifer bereit und fahre ihn aus. Schalte Scheinwerfer ein. Immer noch kein Sichtkontakt. Offenbar tatsächlich ein kleiner Brocken. Setze Leuchtkapsel aus. Aha. Da ist er. Sieht näher aus, als er ist. Rotiert mit leichtem Drall. Nähe täuscht. Seine Form noch undeutlich. Schiebe mich langsam heran. Er kommt nun aber doch auf dem letzten Stückchen überraschend schnell näher. Gebe mehr Bremsschub. Bin längsseits bei ihm. Schwenke Greifer aus. Berühre ihn. Hab ihn gepackt. Kehre um und komme zurück. War keine aufregende Sache. Ende der Aktion.«
Auch das Raumschiff musste sein Tempo etwas abbremsen. Es würde sonst das Shuttle samt Meteorit überholen. Das Triebwerk zündete zu einem kurzen Hemmschub. Das künstliche bordeigene Schwerefeld reagierte synchron dazu. Die Abbremsung war kaum zu spüren. Nur eine Spur von sanfter Gewalt in Richtung auf die Stirnseite des Steuerraums war für wenige Momente bemerkbar.
»Wäre spaßig, wenn der Meteorit zufälligerweise die Form eines Faustkeiles hätte«, sagte Henry, »ich meine wegen des steinzeitlichen Aberglaubens unseres Kommandanten.«
»Fehlt uns nur noch der Neandertaler dazu«, scherzte Ben.
»Vielleicht haben die Zauberkräfte des Alls Kioto in einen Neandertaler verwandelt, und er steigt in Kürze tief gebückt als zottig gekleideter Alter aus, nur mit einem Fell behängt«, trieb Sagitta die Absurdität auf die Spitze. Die Bordärztin schätzte den psychologischen Trick Kerulens, hatte diese mythisch geartete Aktion immerhin doch eine entspannende Wirkung, die, aus ihrer medizinischen Sicht, von unschätzbarem Wert war in einer Gemeinschaft, deren Leben eintönig wirkte und die auf engstem Raum in einer lebensfeindlichen Umgebung existieren musste.
Filitra lachte: »Ein japanischer Neandertaler. Zu eigenartig, diese Vorstellung.« Unvermittelt hörte sie auf, zu lachen und errötete. ›Schon wieder benehme ich mich albern‹, dachte sie ärgerlich.
»Wäre das der Fall, dann sollten wir Kioto erst gar nicht aussteigen lassen, sondern ihn mit seinem Faustkeil auf Jagd schicken, damit er uns vorführt, wie man einen großen Bären erlegt«, erspürte Sagitta sensitiv Filitras Situation und lenkte von ihr ab in Anspielung auf das Sternbild gleichen Namens. Dabei dachte sie: ›Eigentlich auch für mich peinlich, denn besonders feinsinnig war auch meine Bemerkung nicht. Aber sei es drum, weil sich Filitra bei Henry ins rechte Licht setzen möchte, ihr das aber andauernd misslingt. Ich muss dieser Sache eine praktische Wendung geben, überlegte sie. Aber welche?‹
»Nicht den Großen und nicht den Kleinen Bären erlegen, vielleicht den Skorpion«, setzte Ben die naiven Scherze fort. »Ich finde sonst nicht mehr den Polarstern am Himmel, um den richtigen Kurs als Navigator zu steuern, wenn der Große Bär erlegt wird.« Er erntete damit sogar Gelächter.
»Ich habe eine Idee«, sagte Sagitta. »Falls der Meteorit Ähnlichkeit mit einem Faustkeil haben sollte, bin ich dafür, heute Abend zu Ehren unseres ersten Erfolges so etwas wie ein Höhlenfest der Steinzeitmenschen zu veranstalten«, schlug sie vor, nachdem sie zuvor einen Blick der Verständigung mit Norbert gewechselt hatte.
Begeistert stimmte man ihr zu: »Machen wir!«, »Eine faszinierende Vorstellung!«, »Großartig«, »Je kindischer, um so besser!«, »Fasching unterm Sternengraus. Jawohl«, stimmte sogar Professor Mirsanow zu, der bisher in vornehmer Zurückhaltung geschwiegen hatte. Der Vorschlag begeisterte einmütig, hatten doch die Möglichkeiten der Unterhaltung und Zerstreuung auf einem Raumschiff trotz voller Datenbank über Malerei, Musik und andere künstlerische Bereiche ihre Grenzen. Ein solches »Höhlenfest« hingegen forderte den eigenen Ideenreichtum und die eigene Aktivität heraus. Es bot die Möglichkeit, mal in andere Rollen zu schlüpfen und nur in Naivität zu schwelgen, statt immer in intellektueller Hybris von Dienst und Forschung angespannt zu sein. Man begann sogleich, Einzelheiten zu besprechen. Sagitta war zufrieden.
Kioto hatte über Helmfunk mitverfolgt, was man diskutierte. »He! Ihr da in der Steuerzentrale! Ihr werdet es nicht glauben, aber ich habe den Brocken inzwischen aus der Ladebox und aus dem Greifer zu mir in die Kabine heraufgeangelt: Er hat tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Faustkeil! Ich meine natürlich nicht, dass er wirklich ein archäologisches Fundstück ist. Das wäre Unsinn. Aber die Form einer steinzeitlichen Faustwaffe hat er, schwärzlich und mit Quarzstreifen durchsetzt, keilförmig.«
Er löste damit erneut großes Hallo aus. »Kommt alle mit!«, rief Ben. »Auf zur Katapultkammer. Empfangen wir Kioto und sehen wir uns den Faustkeil an!«
»Wo ist eigentlich El Durham?«, fragte der Kommandant und sah sich irritiert um.
»Ich habe ihn bei meinem Rundgang gleich nach dem großen Wecken nirgendwo gesehen«, erinnerte sich Sagitta.
»Er hat mich von der Wache im Steuerraum abgelöst, aber verspätet«, berichtete Norbert.
»Wahrscheinlich schläft er wie ein Murmeltier und hat vom großen Wecken nichts bemerkt«, vermutete Filitra.
»Mir fiel in letzter Zeit auf, dass er seine Aufgaben hier an Bord nicht mehr ernst nimmt«, bemerkte Ben. »Es könnte sein, dass ihn eines der Weltraumsyndrome, der Fatalismus, quält.«
Mirsanow erbot sich, gleich bei ihm nachzusehen.