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Eigentlich waren auch diese Geschichten aus Band 2 der Tetralogie „Raumlotsen“ ein Stoff fürs TV. 1973 hatte das DDR-Fernsehen Carlos Rasch, der als Pionier der Science Fiction in der Republik galt und gilt, mehrere Folgen seiner geplanten 13-teiligen Serie „Raumlotsen“ übertragen, die aber dann wegen ihres zu hohen Aufwandes dann doch nicht realisiert wurden. Der Stoff und die Texte waren aber nun einmal geschrieben. Und so nutzte Rasch die nicht in Serienfolgen umgesetzten Drehbücher zum einen für verschiedene Erzählungen und zum anderen für die zwischen 2009 und 2011 im Projekte-Verlag Halle (Saale) veröffentlichte, gleichnamige Ausgabe in vier Bänden. Carlos Rasch entführt seine Leserinnen und Leser in episodenhaften Abenteuergeschichten in eine nicht allzu ferne Zukunft – und nicht wie sonst nicht selten üblich, gleich Hunderte von Jahren von der Gegenwart und viele, viele Lichtjahre von der Erde entfernt. Und so erlebt man den vielfältigen Raumfahreralltag nachvollziehbar mit. Für einen besseren Einstieg in die utopische Handlung sorgt auch ein astronautisches Dreigestirn: Der legendäre Altraumfahrer Ben, die Raumfahrtpsychologin Cora und der Kadett der Raumflotte Jan. Sie treten in allen vier Bänden der „Raumlotsen“ auf. Ihnen passiert im Verlaufe der Geschichten so manches: So bekommt es zum Beispiel Jungastronaut Jan in „Hotel für Fabrikate“ mit verwilderten Robotern zu tun, die ihn für ein Gerät halten, das zu reparieren ist – was für eine hübsche Idee. Apropos Roboter: Alle vier Bände seiner „Raumlotsen“ hatte Rasch statt eines Nachwortes mit einem „Plädoyer für Utopia“ versehen, in dem der Autor unter den Unter-Überschriften „Mein Freund, der Roboter“ / „Fluch und Segen der Technik, personifiziert + gespiegelt“ unter anderem schrieb: An erster Stelle der Themen in der Science Fiction steht die Raumfahrt. Die zweite Stelle nehmen Geschichten ein, in denen Roboter alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Der Mensch muss sich ihrer erwehren. Das kann heikel ausgehen, ehe er wieder Herr der Lage wird. Der Roboter ist, literarisch gesehen, die Personifizierung der Technik. Schon in der Gegenwart ist der Pilot eines Kampfjets imstande, sprachgesteuert in Luftkämpfe live einzugreifen. Er stürzt sich sozusagen mit seinem Freund, einem metallenen Vogel, zwischen den Wolken in eine Auseinandersetzung um Leben und Tod und erteilt ihm mündliche Befehle, denn auch blitzschnelle Handbewegungen an Armaturen sind zu langsam bei Luftkämpfen in der realen Welt.
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Seitenzahl: 406
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Carlos Rasch
Orbitale Balance
Raumlotsen Band 2
ISBN 978-3-95655-490-2 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 2009 im Projekte-Verlag Cornelius GmbH, Halle.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2010 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Vergangenes hängt nicht mehr von uns ab. Doch das Heute und die Zukunft, das kann ein jeder mitbestimmen.
Ehrenkodex der Raumflotte
Die breite Frachtluke des Buggys schwang auf und gewährte einen weiten Ausblick über den Erdball und auf die umliegenden Parkbahnen im Orbit. Jans dick umwulstete und luftgeblähte Gestalt im unförmigen Raumanzug schwebte reglos im Rahmen der Luke, während er dem hurtigen Tanz nah und fern vorübergleitender Flugobjekte auf ihren Park- oder Wechselbahnen zuschaute.
»Träumst du?«, herrschte ihn Stüreplan, der ewig schlecht gelaunte Lademeister der Raumstation NORDLICHT, an. Er hockte auf dem Lenkschemel am primitiven Gestell mit wenigen Kontroll- und Steuereinrichtungen seines Frachtbuggys, wie sie für solche Pendler zwischen den Raumstationen und Mondfähren genügten.
»Ja. Du bist wahrscheinlich nicht zum Träumen imstande!« Jan drehte sich bei dieser Antwort nicht einmal zu ihm um, weil sowieso nicht zu sehen war, wie Stüreplan sich hinter dem Helmvisier wahrscheinlich über diese Antwort ärgerte. Jan spähte weiter über den schwarzen Abgrund des erdnahen Alls hinweg zum majestätischen Anblick des Erdballs. Sie verständigten sich beide über den Helmfunk. Die zylinderförmige Buggykonstruktion mit seinem Miniaturantrieb vorn und hinten gondelte tagseitig etwa vierhundert Kilometer hoch über die Erde hinweg. Auf dem hellen Hintergrund von Wolkenspiralen wirkte Jans Gestalt im Raumanzug pummelig, ähnlich einer dicklichen Gummipuppe.
Ein verächtliches Schnaufen fauchte im Helmfunk. »Erwartest du, dass ich dich auf den Lenkschemel lasse, du Träumer mit dem neugebackenen A-Patent für Raumlotsen?«, stichelte Stüreplan.
»Wenn wir nochmals drei Stunden in Abrufposition warten müssen, wirst du froh sein, wenn ich dich mal ablöse«, sagte Jan. Die Anspielung des Lademeisters auf seine neue Pilotenlizenz überhörte er geflissentlich. »Du schläfst schon jetzt ein. Wenn du nicht angeschnallt wärst, würdest du vor Müdigkeit vom Lenkschemel fallen«, reizte er Stüreplan. Er war auf den Lademeister von NORDLICHT nicht gut zu sprechen, weil der ihm kürzlich durch eine Unachtsamkeit fast den Prüfungsflug zum A-Patent als Raumlotse verpatzt hätte. Stüreplan geriet in Bewegung. Ihm rappelte ein Schimpfwort über die Lippen. Er hatte einen Verweis wegen Beeinträchtigung des Prüfungsfluges einstecken müssen.
Jan war an einem Sicherheitsseil angeklinkt. Es straffte sich, als Stüreplan danach griff und kräftig zog. Seine Skaphanderhand packte Jan und schob ihn zwischen die Sicherungsnetze des kleinen Laderaums, die Fracht umspannten. Dann schloss er die Ladeluke. Die kleine Lastrakete war luftleer und somit auch schallfrei. Andernfalls hätten ihnen beiden von der Wucht des Zuschlagens die Ohren gedröhnt. »Es ist verboten, während des Fluges die Frachtluke zu öffnen«, schnauzte Argo Stüreplan seinen Passagier an. »Hat man dir das nicht beigebracht? Ich habe keine Lust, schon wieder wegen dir Rotzlöffel einen Rüffel zu bekommen.«
Es war nicht Jans Naturell, sich ausdauernd mit jemandem zu zanken, zumal der Lademeister in diesem Fall die Vorschriften auf seiner Seite hatte. Es war richtig: Auch in der Warteposition hatten die Ladeklappen verriegelt zu bleiben. Außerdem war Argo Stüreplan in der Raumflotte bereits als Grobian bekannt. Also schwieg Jan diesmal und entzog sich ohne Widerworte den Fangnetzen. Er hatte Order, mit dem Buggy zum Raumkreuzer BUMERANG überzusetzen und als Vertreter der Raumlotsen einen Testflug mitzumachen. Die BUMERANG schwebte neben der Raumschiffwerft. Die Stunden, die er dazu mit dem Griesgram verbringen musste, ließen sich angesichts der exquisiten Aussicht, an Bord eines nagelneuen, hochmodernen Raumkreuzers zu gelangen und dabei abschließend auch endlich, wie von ihm heiß ersehnt, Mondstaub an den Sohlen zu haben, verschmerzen. ›Wozu sich also einer Banalität wegen an ihm reiben?‹, dachte Jan. »Ich kann nichts dafür, dass wir so lange warten müssen, ehe du mich wieder abliefern kannst«, sagte er deshalb nur.
»Ich auch nicht«, raunzte Stüreplan barsch und schnallte sich mit einer Gemächlichkeit auf dem Lenkschemel an, die nichts mehr von der eben noch gezeigten Fixigkeit ahnen ließ.
»NORDLICHT unterkreuzt uns«, sagte Jan und versuchte, die große radartige Raumstation, etwa fünf Kilometer entfernt, durch ein Bullauge genauer zu erspähen. Vergeblich. »Von der Ladeklappe aus hätte ich sie mir besser ansehen können.«
»Was ist schon an ihr dran? Nur Kriechlinge von der Erde sind von ihrem Anblick wie hypnotisiert«, sagte der Lademeister überheblich und in zynischer Anspielung im Jargon der Raumfahrer auf jeden, der als normaler Sterblicher den luftleeren Raum außerhalb der Atmosphäre noch nicht aus eigener Anschauung erlebt hatte. Er wollte damit andeuten, dass Jan trotz seiner eben erst abgeschlossenen Ausbildung in der Raumflotte mit seiner noch geringen Erfahrung kaum besser dran sei als solche »Kriechlinge«.
Argo Stüreplan gehörte zur Stammbesatzung von NORDLICHT und war nur vorübergehend zur Raumschiffwerft für Flüge mit Buggys abgestellt worden, weil NORDLICHT für ein paar Wochen als Umsteigebahnhof im Flugverkehr zwischen Mond und Erde geschlossen worden war. Der Hoteltrakt, ein Ringteil als Aufenthaltsort für An- und Abreisende, wurde modernisiert. Man wechselte dazu einfach einen ganzen Ringausschnitt. Deshalb hatten zur Zeit nur Raummonteure dort etwas zu tun. Der überwiegende Teil der Stammbesatzung war auf Erdurlaub geschickt oder auf andere Raumstationen im Erdumlauf verteilt worden.
So war Jan mit der Order, an Bord der BUMERANG gebracht zu werden, Stüreplan nur zufällig erneut nach seinem rasanten Prüfungsflug zum Pilotenzertifikat begegnet. Der Raumkreuzer würde nach dem Testflug Solarkraftwerke im Erdumlauf bewachen und vor Meteoriten schützen. Etwa zweitausend Tonnen solcher Brocken, von der Größe eines Sandkorns bis zu großen Steinen oder Schlacken, bombardierten täglich die Erde, ohne Schaden anzurichten, denn sie verglühten in der Atmosphäre. Durchschlügen sie aber die großen Solarflächen orbitaler Energiesammler, richteten sie Verheerungen an.
Trotz ihres gespannten Verhältnisses hatte es Stüreplan vorerst toleriert, dass Jan die Ladeluke ihres Buggys entriegelte und aufschwingen ließ, um einen besseren Rundumblick auf Hurtig-Sterne zu bekommen, die unter oder über ihnen vorbeizogen. Vor allem wollte Jan sehen, wie weit die Einfügung eines neuen Hotelsegmentes in den Stationsring von NORDLICHT gediehen war. Jan hatte noch nie Gelegenheit gehabt, ein solches Austauschmanöver als Zaungast aus einer benachbarten Überholbahn zu beobachten und würde voraussichtlich auch nicht so bald wieder eine solche Möglichkeit dazu bekommen. Als frisch ausgebildeter Lotse nahm er das Recht auf Wissbegierde für sich in Anspruch, selbst wenn dazu Vorschriften vernachlässigt wurden. Er traute sich genug Urteilsvermögen zu, um zu wissen, wann er Ermessensspielraum hatte und wann nicht. Jans Pech, ausgerechnet von Stüreplan zur BUMERANG befördert zu werden. Dem Blick aus der Ladeluke war nun Genüge getan nach Stüreplans Ansicht.
Von einem anderen Bullauge erlangte Jan doch noch über tiefe Schründe hinweg für ein paar Momente Sicht auf NORDLICHT. Unwillkürlich wischte er mit dem Handschuh über das Glas seines Helmes, um besser sehen zu können. Die Raumstation verschwand gerade wieder hinter der großen Wölbung des nahen Erdballs. »Ich glaube, NORDLICHT taumelt«, sagte er erstaunt.
»Du taumelst auch, mein Junge«, brummte Stüreplan und widmete sich weiter ungerührt der Fußballsendung einer Fernsehstation in Skandinavien. Dann aber richtete er sich kerzengrade auf und machte heftige Gesten, um Jan zu bedeuten, er möge seinen Helmfunk umschalten.
»Hier Raumkreuzer TOMAHAWK«, hörten sie eine Männerstimme. »He, NORDLICHT, was ist bei euch los? Ihr eiert wie das Wagenrad eines alten Ochsenkarrens. Ein Anblick zum Fürchten.« Der Raumkreuzer war ein schon zernarbtes Fluggerät, das unsichtbar irgendwo hoch über ihnen als Meteorabwehr für die großen Auffangflächen der Solarkraftwerke postiert war. »Studiert ihr eine Zirkusnummer im orbitalen Kunstflug ein?«, spottete der Mann.
»Notruf! Notruf! Ausfall Trimmsystem. Taumelschwankung und Rotationszuwachs auf NORDLICHT. Bruchgefahr. Wir sind die Letzten an Bord. Uns exmittieren Roboter mit Gewalt. Ende!«
Jan erschrak und pfiff vielsagend. »Da brennt Suppe an«, murmelte er. »Cora ist dort an Bord.«
Er und Stüreplan starrten sich im matten Licht der Kontrolllampen auf dem Lenkpult an. »Du bist grün im Gesicht«, stellte Stüreplan fest. »Man sagt, diese Cora ist eine gute Raumlotsin. Muss wohl eine heikle Angelegenheit sein solch ein Sektionsaustausch bei einer Ringstation, wenn sogar sie dabei ist.«
Unerwartet kam eine Anweisung für sie. Sie lautete: »An alle. Achtung Code Raumstation außer Kontrolle. Achtung Buggy fünf auf Warteposition. Order Bergungsaktion. Machen Sie ein Dreiwinkelmanöver über Parkbahn siebenundzwanzig zur Parkbahn zwölf und suchen Sie dort nach Personen außenbords.«
»Wie geht das? Auf Kapriolen verstehe ich mich nicht. Ich bin nur Lademeister«, stotterte Stüreplan.
»Übergeben Sie die Ausführung Ihrem Fluggast. Er ist Raumlotse. Haltet Kontakt zur TOMAHAWK. Sie ortet Treibende und leitet euch dort hin. Ihr seid NORDLICHT von allen Flugkörpern im Erdumlauf am nächsten. Vorsicht wegen der Robotereskorte dort.«
War es die Art, wie der Lademeister ihn überrascht, ja sogar achtungsvoll anstarrte; war es die Vorstellung darüber, wie die Raumstation in Kürze zerbrechen könnte; oder war es die plötzliche Aufgabenstellung eines schwierigen Bahnwechsels erst zu einer niedrigen und schnelleren Flughöhe und dann zurück zu einer langsameren in größerer Höhe; so oder so: Jan hatte das Gefühl, als bleibe ihm die Luft weg. »Verrückt! Mit einem Buggy einen Dreiwinkelsprung? Das ist, als ob man mit einer Teekerze als Motor einen Waschkessel auf dem Mond landen soll«, murmelte Jan.
»Wahrhaftig. Ein Buggy ist kein Abfangjäger«, brummte auch Stüreplan, der aus einer Generation vor der globalen Abrüstung stammte und daher noch eine Erinnerung an militärische Flugkörper hatte. »Na, dann zeige mal, was ein Raumlotse wie du so leisten kann, du Springinsfeld. He du! Bist du versteinert?«
Jan hatte zwar schon auf dem Lenkschemel Platz genommen, saß aber steif darauf, konzentriert nachdenkend. Cora war in Gefahr! In seinem Kopf überstürzten sich Abschätzungen von Berechnungen. Ähnlich einem schnellen Simultanspiel im Schach rief er sich Positionen und Tangentenstrategien in Erinnerung mit den dazugehörigen Geschwindigkeiten von sehr unterschiedlichem Ausmaß. Die Geschwindigkeiten ergaben sich je nach Bahnwechsel von allein. Er musste sie richtig vorausplanen, wenn er, wie hier an Bord des Buggys, keinen leistungsfähigen Bordrechner zur Verfügung hatte. Diese Flugoperation, Dreiwinkelsprung genannt, war nämlich in Wahrheit ein Vorgang mit mehr als nur drei Parametern. ›Wie gut, dass Altlotse Ben mit mir Navigation als Kopfrechnen bis zum Erbrechen geübt hat‹, dachte Jan.
Der Lademeister versetzte ihm von der Seite her einen aufmunternden Stoß. »Na los, du Kiekindiewelt, fang an«, forderte er Jan auf. »Von meinem Alter her kommen mir alle Leute unter vierzig Jahre noch blutjung vor«, fügte er entschuldigend hinzu. »Aber hau uns bloß nicht in die Pfanne. Mit einem Buggy ohne Schutzschild solltest du der Obergrenze der Atmosphäre nicht zu nahe kommen. Sonst erwischt uns harte Strahlung. Ihr Raumlotsen seid nämlich berüchtigt für tollkühne Eskapaden.«
»Als ob das in diesem Fall von mir abhängt. Ich komme nicht umhin, ein Risiko einzugehen«, sagte Jan. »Verschwinde erst einmal ganz nach hinten zwischen die Stapel und Zurrnetze auf den Notsitz. Du machst mich nervös.« Widerspruchslos fügte sich Argo Stüreplan dieser Anweisung.
»Achtung! Gleich ist es soweit«, informierte Cora die Raummonteure, die außen auf der Bordwand auf ihren Einsatz warteten, über den Helmfunk. Sie stand vor einem Pult und wartete darauf, dass der Bordrechner NaRi die Rotation der Raumstation NORDLICHT circa siebenhundert Kilometer über der Erdoberfläche zum Stillstand brachte. Dazu wurden Minidüsen am Radkranz aktiviert, mit denen sonst die Fliehkraft im Ring als Ersatz für Schwerkraft reguliert wurde. Diese Fliehkraft ersetzte die Schwerkraft an Bord, aus medizinischen Gründen aber nur als Halbschwere. Die radförmige Station wirbelte im Normalfall bei einem Durchmesser von dreihundert Metern in sechsundfünfzig Sekunden um ihre Achse. Nur die Nabe mit den Kopplungsstutzen stand still. Nun aber musste die Rotation vorübergehend beendet werden, denn es galt, ein werftneues Stück gegen ein altes aus dem Radkranz auszutauschen. Das war eine Arbeit von Stunden. Dazu befand sich nur ein Expertenteam in der Station. Besatzung und Reisende vom und zum Mond hatten diesen »Umsteigebahnhof« im All verlassen.
»Jetzt!«, rief Cora. »Fliehkraft Null. Rotation gestoppt.« Es lief alles wie am Schnürchen. Nirgendwo mehr ein Kilo Gewicht. Das Abbremsen der Rotation und dazu die Neuverteilung von Ballastwasser als Ausgleich gegen Unwucht unterschiedlicher Massen in der Ringkonstruktion bewältigte Rechner NaRi störungsfrei.
Draußen am Radkranz löste sich das Segment, welches verschrottet und entfernt werden sollte, langsam aus dem Ringrumpf. Ein Raumschlepper spannte vorsichtig mit kurzem Düsenstoß die Seile, um dann kräftiger zu ziehen und in Richtung des Großen Echofisches, eines Raketenfriedhofs weit außerhalb der Parkbahnen, davonzufliegen. Ein anderer Raumschlepper bugsierte das neue Ringsegment herbei. Er manövrierte sich mit kurzen Fackelstößen tastend an NORDLICHT heran. Die Raummonteure stapften mit ihren Magnetsohlen und eingehakten Sicherheitsleinen an den Kanten der Lücke hin und her und bereiteten die Einpassung des neuen Stückes vor. Alle Vorgänge verliefen ordnungsgemäß. Der Bugsierer klinkte endlich seine Transportmasse aus, ließ sie die restlichen Meter allein driften, drehte ab und entfernte sich. Seine Arbeit war getan. Die Monteure sicherten das Segment, das später bei Normalrotation zweihundert Tonnen wiegen würde statt vierhundert wie auf der Erde. Sie passten einige Bolzen ein. Alle anderen Verschraubungen kamen später dran, denn der Kommandant von NORDLICHT, Gorm Grimmlund, ordnete erst einmal eine Pause an nach diesem mehrstündigen Einsatz.
»Das Gröbste liegt hinter euch. Stärkt euch erst mal. Schleust euch zu einem Mittagessen ein«, sagte er im Helmfunk. »Wir erreichen gleich die Nachtseite von Irdien. Da ist es besser, wenn ihr alle in der Station seid.« Die Minidüsen am Radkranz zündeten und versetzten die Radstation nach und nach schonend in eine kaum merklich ansteigende Rotation. Erst wenn sie wieder aus dem Nachtschatten schwang, würde man die neue Sektion endgültig verankern. Die reguläre Rotation von sechsundfünfzig Sekunden pro Umdrehung sollte erst erreicht werden, wenn das Segment vollständig verschraubt und druckfest abgedichtet war.
Während Cora im Kontrollraum von NORDLICHT blieb, suchten alle anderen die Mannschaftsmesse auf. Auch Grimmlund setzte sich zu den Monteuren. Die Stimmung war gut. Die einen besorgten sich ein Mittagessen, die anderen nur ein kräftiges Frühstück, je nachdem, wie hungrig sie waren.
»Der Raumschlepper hat das Segment zehn Sekunden zu früh ausgeklinkt«, behauptete einer der Monteure. »Es wäre fast über den Radkranz hinweggedriftet.«
»Mir ist das Seil gerissen, als ich es schon am Haken hatte«, berichtete ein anderer. Lebhaft tauschten sie so ihre Meinung über die zurückliegenden Stunden aus.
»Es hat doch hoffentlich draußen niemand ein Werkzeug fallengelassen«, fragte Grimmlund mehr im Scherz als im Ernst. Verlorene Schraubenschlüssel, die entschwebten, mussten ohnehin sofort wieder eingefangen werden, ehe sie die Erde im freien Fall umkreisten und womöglich mit einem der Hurtig-Sterne zusammenprallten. Das war Ehrensache für die Raummonteure.
Ehe jemand ebenso im Scherz darauf antworten konnte, erschien das Gesicht Coras auf dem kleinen Schirm des Bordinfos an der Wand. »Kommandant! NaRi erhöht die Rotation unvorschriftsmäßig. Alle Düsen am Radkranz sind eben auf Dauerlauf gezündet worden«, berichtete sie erschrocken. »Wir werden nach einer Stunde schon in zweiundzwanzig Sekunden eine Umdrehung um unsere Achse machen und damit dann volle Erdschwere erreicht haben. NaRi verweigert meine Befehle, die Treibstoffzufuhr zu den Düsen zu sperren oder den elektrischen Strom zu den Ballastpumpen zu blockieren. Soll ich den Bordrechner mit dem Hauptschalter lahm legen? Dazu brauche ich Ihre ausdrückliche Anweisung, Chef.«
»Allmächtiges Universum! Nein! Kein Blackout!«, rief Grimmlund. »Wir sind nicht in der Lage, anstelle von NaRi eigenhändig die Totalkontrolle über die NORDLICHT zu übernehmen.« Hastig entschwebte er der Kantine, um in den Kontrollraum zu eilen und dort den NanoRechner zu überprüfen. Die Monteure an den Tischen sahen sich besorgt an. Sie spürten, dass sich etwas Ungewöhnliches anbahnte.
Ihre Blicke wendeten sich wie auf Kommando den Garderobenhaken zu. Dort waren ihre Raumanzüge griffbereit aufgehängt. Eine Merkwürdigkeit wurde dort erkennbar: Die Helme, die die Männer unter ihren Anzügen auf dem Boden mit der Scheitelrundung nach unten entlang der Wand abgelegt hatten, begannen wie auf einem richtigen Schiff bei Seegang auf dem Meer von einer Seite zur anderen hin- und herzurollen. Das war zwar ein leises, aber ein unheimliches Geräusch. Es bedeutete: Die Raumstation geriet ins Taumeln. Nur zwei oder drei der Monteure blieben kaltblütig und kauten ruhig zu Ende.
Erneut leuchtete der Bildschirm des Bordinfos an der Wand der Kantine auf. Diesmal war es der Kommandant: »Alle herhören! Der Rechner signalisiert in Teilbereich seines Programms Error. Unter anderem ist die Auswuchtung betroffen. Das flexible Ballastsystem ist also gestört. NORDLICHT fängt zu torkeln an. Die Schwünge werden größer und die Phasen kürzer. In einer Stunde haben wir einen unhaltbaren Zustand. Deshalb befehle ich, die Raumanzüge sofort wieder anzulegen und Notpositionen überall an Bord zu besetzen. Die Lotsin und ich versuchen die Situation mit oder auch ohne den Bordrechner NaRi unter Kontrolle zu bekommen.«
Schnell griffen die Männer des Montageteams zu ihren Raumanzügen, legten sie an und verließen die Kantine. Überall in den Gängen klapperten eilig die Magnetsohlen über den Fußboden.
* * *
»Was ist Ursache dieser plötzliche Rotationssteigerung?«, fragte Kommandant Grimmlund den leitenden Ingenieur des Montageteams, Deluso, als er den Kontrollraum von NORDLICHT betrat.
»Offenbar kommt NaRi nicht mit der Balance der Station klar. Das Ballastwasser wird von ihm falsch auf den Radkranz verteilt«, analysierte Deluso.
»Ich habe NaRi das Gewicht des neuen Ringteils eingegeben. Seitdem gibt es Probleme«, sagte Cora. »Unverständlich, warum der Bordrechner Unwuchten nicht ausgleicht.«
»Lasst uns nachdenken«, sagte Grimmlund. »Was läuft falsch?«
»NaRis Programm verlangt, vom Stillstand wieder auf normale Rotation zu gelangen, also Halbschwere herzustellen. Allem voran soll er dazu Unwuchten durch Ballastregulierung ausgleichen und erst dann durch Rotation Fliehkraft von halber Erdschwere erzeugen«, überlegte Deluso laut. »Das Gewicht der neuen Sektion ist offenbar von der Werft falsch angegeben worden. Wiegen kann NaRi die neue Sektion nicht. Was bleibt ihm übrig, als zwischen Taumeln und Rotation zu lavieren. Diesem Kunststück an Optimierung ist er nicht gewachsen.«
»Ich befürchte, NaRi versucht erst einmal nur mit der Rotationskomponente zum Ziel zu kommen«, sagte der Kommandant.
Cora griff diesen Gedanken auf und meinte: »Und dabei verhaspelt sich NaRi ständig. Vielleicht fehlt ihm eine Formel oder ein Teil davon. Falls die Unwucht zunimmt, wird NaRi die Rotation weiter über das normale Maß hinaus steigern.« Im Kopf überschlug sie ihre Rechnung. »Menschen halten bei körperlicher Arbeit höchstens die eineinhalbfache, die Konstruktion die vier- oder fünffache Erdschwere aus, mehr nicht.«
»Einige Monteure müssen sofort wieder auf die Außenwand hinaus und soviel Bolzen wie möglich einsetzen, sonst fliegt uns die neue Sektion aus der Verankerung«, sagte der Kommandant. Er nickte Deluso sein Einverständnis zu, damit der die entsprechenden Befehle gab.
»Wir müssen den Operativstab informieren«, erinnerte Cora den Kommandanten.
Grimmlund holte tief Luft, ehe er zustimmte: »Ja, dringend«, bestätigte er. Sobald dieser Kontakt hergestellt war, wurde das Gesicht von Admiral Äkers Krutbroken auf dem Bildschirm sichtbar. »Flipp«, sagte Grimmlund und sprach seinen Vorgesetzten mit seinem Spitznamen an, denn sie hatten früher gemeinsam mehrere Raumfahrtmissionen bewältigt. »Flipp: Auch die zuverlässigste Technik ist nicht immer zuverlässig. Diesmal habe ich den Schwarzen Peter gezogen. Wir haben nach der Auswechslung der Hotelsektion eine Unwucht zu verzeichnen. NORDLICHT schickt sich gerade an, auf Taumelkurs zu gehen. Der Bordrechner gleicht aus, so gut er kann, hat aber eine Störung: Er ist dabei, die Radstation in eine Zentrifuge zu verwandeln. Irgendwie ist uns der Sektionsaustausch misslungen. Die Trimmung mit dem Wasserballast ist chaotisch. Balanceprobleme treten auf, demnächst mit extremen Rumpfspannungen im Gefolge. Ich befürchte, dass die Station zerbrechen wird.«
Krutbroken runzelte die Stirn. »Wann wird eure Situation kritisch?«, fragte er.
»Für Menschen in etwa siebzig Minuten, für die Konstruktion in drei, vier Stunden.«
»Was gedenkst du zu tun?«
»Ich lasse NaRi total abschalten, falls er sich das gefallen lässt. Er könnte die Roboter anweisen, Abschaltungen zu unterbinden. Ich behalte die Monteure und Ingenieure so lange wie möglich an Bord, um die Störung im Trimmsystem zu beseitigen und um die neue Sektion mit soviel Bolzen wie möglich zu verschränken, damit sie nicht ausbricht und wegdriftet.«
»Falls Rotation und Fliehkraft schneller zunehmen als ihr arbeiten könnt, was dann?«
Der Kommandant schwieg einige Augenblicke. Er rang um die Antwort. »Flipp! Dann muss ich NORDLICHT wahrscheinlich aufgeben«, sagte er bedauernd. Sie redeten beide immer hastiger »Bei doppelter Erdschwere setzen die ersten Kontrastspannungen mit Bruchgefahr in der Konstruktion ein. Spätestens bei vierfacher Fliehkraft am Radradius ist Himmelfahrt.«
»Anders gesagt: Du wirst deutlich früher evakuieren müssen.«
»Die Sicherheit der Monteure geht vor Rettung der Station«, bestätigte Grimmlund.
»Versteht sich. Ich lasse euch von Driftern, Buggys und Skootern umzingeln, um Leute, die in freien Fall geraten, aufzulesen. Beim ersten Riss in der Rumpfwand verlassen alle die Station. Inzwischen werde ich Spezialisten zusammenrufen, besonders, um mit ihnen die Errorfunktion NaRis zu erörtern. Vielleicht kommen sie dem Programmfehler NaRis auf die Spur. Du bekommst dann sofort Bescheid. Wenn es sich vermeiden lässt, die Raumstation zu verlieren, sollten wir das auch tun.«
»Gewiss«, sagte Grimmlund. »Wirst du Code Raumstation außer Kontrolle als Vorauswarnung im gesamten Orbit verhängen?«
»Ja, ich muss. Der Taumelkurs zwingt mich dazu. Selbst wenn ihr wieder alles hinkriegt, ist für die Operation Raumstation außer Kontrolle ein Zeitvorsprung unerlässlich, sonst geht sie ins Leere. Den Alarm abblasen, dass kann man dann immer noch.«
Im erdnahen Kosmos wurde daraufhin vom Operativstab Gefahrenpriorität verkündet. Das bedeutete Stopp aller Starts auf den Raumflugbasen der Erde und die Räumung der benachbarten Parkbahnen von NORDLICHT. Auch die Mondfähren mussten nun in mindestens zwanzigtausend Kilometer Entfernung auf eine Warteposition einschwenken. Die Raumkreuzer, die Solarkraftwerke vor Meteoren schützten, gruppieren sich um, denn falls NORDLICHT zerbrechen sollte, würden sie versuchen, möglichst viele der Konstruktionstrümmer zu eliminieren, bevor der Weltraum zwischen Erde und Mond davon übersät wurde. Raumschlepper machten sich bereit, eventuell große Segmente einzufangen.
Über Helmfunk meldete sich einer der Raummonteure bei seinem leitenden Ingenieur: »Chef! Wir können die Innenverschraubungen für die neue Sektion nicht anbringen. Wir kommen in sie nicht rein. NaRi hält in den angrenzenden Abschnitten der Raumstation die Schotten blockiert«, berichtete er.
»Verdammt«, brummte Deluso. »Versucht es über die Notluken.«
»In Raumanzügen? Dafür sind sie zu eng.«
»Weiß ich. Uns bleibt aber nichts anderes übrig.«
»Also gut. Wir entschlaffen unsere Raumanzüge für Momente und versuchen in zwanzig Sekunden durch die Engstellen zu flutschen. Wenn wir durch sind, drehen wir den Lufthahn wieder auf.«
»Brauchbare Idee, einverstanden. Macht schnell, sonst schickt euch NaRi Roboter auf den Hals. Und die gestatten euch bestimmt nicht, in der Gefahrenzone der neuen Sektion zu verbleiben.«
»Sobald wir die Sektionsverschraubungen eingesetzt haben, wird NaRi keinen Anlass haben, uns zu verscheuchen.«
»Ihr habt maximal sechzig Minuten Zeit«, sagte Deluso im Helmfunk. »Falls wir bis dahin nicht Herr der Lage sind und NaRis Errorfunktion noch nicht beseitigt ist, heißt das, dass ihr dann aufhören und wahrscheinlich die Station verlassen müsst.«
»Die Absicht Grimmlunds, dann zu evakuieren, mag zwar den Vorschriften entsprechen, aber ich würde länger um die Raumstation kämpfen. Ich glaube, sie hält noch bis zu fünf Gravos Fliehkraft aus«, antwortete ihm einer der Monteure.
»Aber eure Arme und Beine werden euch bleischwer. Also keine Diskussion«, sagte Deluso dazu, obwohl auch ihm ein zu früher Rückzug von der Raumstation nicht gefiel. Er war aber zuversichtlich, in dieser einen noch verbleibenden Stunde eine Lösung zu finden, damit NORDLICHT nicht zur Zentrifuge wurde und sich nicht in ihre Bestandteile auflöste. ›Notfalls‹, so dachte er, ›kann man es in einem Akt der Verzweiflung wagen, die Treibstoffleitung zu den kleinen Steuerdüsen außen am Radkranz, die die Rotation regulierten, zu unterbrechen.‹ Aber das konnte er natürlich als leitender Ingenieur nicht laut äußern und schon gar nicht einem der Raummonteure befehlen. Dem musste erst der Chef der Raumstation zustimmen.
Die zwanzig Minuten, die Äkers Krutbroken im Operativstab auf der Erde für die Beratungen mit Spezialisten über Konferenzfernschaltungen rund um den Globus, wo auch immer sie gerade verstreut sein mochten, angesetzt hatte, waren inzwischen vergangen. Die Rotation der Raumstation hatte fühlbar zugenommen. Sie spürten alle, wie sie schwerer und schwerer wurden. Endlich, nach dreißig Minuten, wurde das Gesicht des Admirals wieder auf dem Bildschirm des Leitstandes der Raumstation sichtbar. »Meine Spezialisten haben drei Lösungen anzubieten, Gorm«, sagte er hastig.
»Und die wären?«, fragte Kommandant Grimmlund.
»Erstens: Ihr wartet, bis die Fliehkräfte die Risikospannung fast erreicht haben, also etwa zweifache Erdschwere. Dann schaltet ihr auf ein totales Blackout. Damit wäre auch NaRi samt den Pumpen für die Balance und den fehlgesteuerten Triebwerken am Radkranz mattgesetzt. Was dann noch an Unwucht auftritt, ist wahrscheinlich vertretbar und für so trainierte Leute, wie es die Monteure sind, auszuhalten. Ihr könnt dann weitermachen bei der Pannenbehebung und euch dabei Zeit lassen.«
Gorm Grimmlund starrte in konzentrierter Anstrengung ein paar Augenblicke vor sich hin und dachte nach. Irgendwie war er von einem solchen simplen, improvisierten Ratschlag aus dem illustren Kreis von Experten enttäuscht. Aber vielleicht zogen sie ja noch einen raffinierten Profi-Trumpf aus dem Ärmel.
»Abgelehnt«, sagte der Kommandant. »Die neue Sektion würde dann statt zweihundert bereits dreihundert Tonnen wiegen. Wir können aber bis dahin nur die Hälfte der Bolzen einsetzen, ehe niemand mehr den Arm heben kann vor erhöhter Fliehkraft. Kurz danach würden diese Bolzen brechen. Dann wird die neue Sektion hinausgeschleudert. Sobald sie weg ist, geht es mit der Unwucht und dem Taumelkurs erst richtig los. Nein, das geht nicht. Deine Spezialisten in Ehren. Tut mir leid. Zieht Altlotsen Ben hinzu. Den hast du bestimmt nicht im Expertenteam, sonst wäre diese Empfehlung unterblieben.«
»Wie du meinst. Du hast dort oben das Kommando. Es sollte auch nur eine Erwägung sein. Hier die zweite Variante: Sie knüpft dort an, wo du eben aufgehört hast: Ihr lasst die neue Sektion einfach sausen und löst zugleich das gegenüberliegende Segment im Ring, den Mannschaftstrakt. Dann habt ihr im Wesentlichen das Gleichgewicht wieder hergestellt. Beide Segmente driften dann zwar weg, bleiben aber jedes für sich heile Stücke, die nicht so schnell in Richtung Erde abschwenken. Raumschlepper können sie einfangen.«
»Idiotisch. Das Bolzenziehen dauert zu lang. Soll dieses das Ass aus dem Ärmel gewesen sein?«, spottete Grimmlund. »Ich wende mich am besten an die Kinderspartakiade der Erfinder, um etwas wirklich Kluges für meine Notlage zu erfahren.« Der Kommandant wusste, dass sein Zynismus über die Intelligenz der Experten des Operativstabes bald in den Medien rings um die Welt zitiert werden würde und zu den unterschiedlichsten Kommentaren führen könnte. Man würde sogar Grimmlunds Fähigkeiten als Kommandant anzweifeln. Aber das hielt ihn nicht davon ab, seiner Unzufriedenheit Ausdruck zu geben. »Viel Spaß an dem Feuerwerk, wenn die Trümmer von NORDLICHT in der Erdatmosphäre verglühen. Das gibt ein Schauspiel für mehrere Milliarden an Steuergroschen.«
»Sei nicht verbittert. Verbitterung heißt resignieren und nicht handeln«, erinnerte ihn Krutbroken. »Aber Astronauten geben nicht auf. Wir sind immer auf der Seite derjenigen, die handeln wollen.«
»Weiter. Schnell. Aber keine philosophische Diskussion über Verbitterung«, drängte Grimmlund.
»Behalte die Robbis auf deiner Rechnung. Sie machen von einem bestimmten Punkt an nicht mehr mit«, erinnerte Krutbroken. »Das ist so sicher, wie der Polarstern die Verlängerung der Hinterachse des Großen Wagens ist. Ihre Grundregel um Fürsorge und Schutz für Menschen wird wohl früher als uns lieb ist wirksam werden.«
»Ich weiß, ich weiß: Sobald nach elektronischer Logik unsere Sicherheit als lebende Menschen nicht mehr gewährleistet ist oder sie unsere Handlungen als tollkühn einstufen, packen sie uns beim Kragen und transportieren uns nachdrücklichst zu NOVA ORBIT, ZENITA, GALAKSOS, NORDLICHT, AD ASTRA oder KOORDINATUS sowie ELLIPSOS. Das meint auch Cora aus der Ben-Fraktion.«
»Also hier der dritte Vorschlag: Wir zirpen euch ein Datenpaket hoch, an dem gerade fieberhaft gearbeitet wird. Das speist ihr den Robotern ein. Zwar verringert es nicht das Sicherheitspotenzial, denn das ist unantastbar integriert. Aber es befähigt die Roboter je nach Lage, selbstständig ohne euch entweder das Verschrauben der neuen Sektion zu beenden oder die Sektion gegenüber herauszulösen. Das Datenpaket enthält vor allem Konstruktionsangaben, damit die Roboter auch genau jeden Bolzen und jede Schraube, soweit erforderlich, stellvertretend für uns und unter den schwierigsten Umständen ausfindig machen können.«
»Macht fix«, stimmte Grimmlund zu. »Aber bringt die Robbis nicht in die Rolle von Buridans Esel.«
»Was, um Himmels Willen, meinst du denn damit?«, wurde diesmal der Admiral ungehalten.
»In einer alten Tierfabel wird erzählt, dass einem Mann namens Buridan sein Esel verhungerte, weil er ihn an einem Seil gleich weit entfernt zwischen zwei Heuhaufen angepflockt hatte. Das Tier konnte sich nicht entschließen, von welchem der beiden Haufen es fressen sollte. Den Robotern könnte es ähnlich ergehen, weil das Entfernen von Menschen ebenso wie ihr Verweilen in den Roboteroptimierungen gleichwertig ausfallen könnten.«
»Bewahre mich mein Schutzengel vor einem solchen Albtraum einer Pattsituation«, stöhnte Krutbroken. »Also, Gorm, sprich mit Deluso und macht euch an die Arbeit, so oder so. Es ist ganz und gar deine Entscheidung. Wir hier unten im Operativstab tüfteln derweil an allen Möglichkeiten weiter, mit denen wir euch helfen können. Das braucht nun mal seine Zeit. Der Teufel steckt bekanntlich im Detail.«
Sie nickten einander zu mit dem Blick von Leuten, die aus langjähriger Verantwortung und Erfahrung immer wieder feststellen, wie selten es ideale Lösungen für ein Problem gab. Das mindeste, was sie dabei von den Computern in den zurückliegenden Jahrhunderten gelernt hatten, war, den einen Vorteil gegen einen anderen solange abzuwägen, bis die Nachteile so klein wie möglich ausfielen. Es galt in erster Linie, Menschenleben zu schützen, was leicht gesagt war und auch in diesem Fall wieder einmal so und so betrachtet werden konnte.
Die Zeit verstrich. Die Monteure, überall in der Raumstation verteilt, arbeiteten hart. Es ging zu langsam voran. Die Raumanzüge verlangsamten alle Bewegungen. Grimmlunds Blick ruhte nur kurz einmal auf den schmalen Schultern Coras. Die modifizierte Software mit den Konstruktionsdetails der Station war inzwischen durch einen Datenschub von der Erde übermittelt und von ihr auf die Roboter transponiert worden.
Der Kommandant gab sich einen Ruck und befahl, schwer atmend, über den Helmfunk: »Männer! Unsere Frist ist abgelaufen. Arme und Beine erlahmen. Unser Gewicht im Radkranz hat sich inzwischen nahezu verdoppelt. Ihr wisst, was das bedeutet. Und ihr wisst auch, was nun zu tun ist. Ich erteile hiermit den ausdrücklichen Befehl, NORDLICHT aufzugeben und zu räumen! Wir lassen die Roboter allein weiterarbeiten. Uns am nächsten ist ein Buggy. Er hat einen Dreiwinkelsprung gemacht und nimmt uns an Bord, um uns in Sicherheit zu bringen.«
Kurz nach dieser Weisung fanden sich als Abordnung nur drei Männer an der Hauptschleuse ein. Deluso war unter ihnen. »Wo sind die anderen?«, fragte Grimmlund.
Deluso sagte entschlossen: »Wir bleiben alle. Noch zu früh, um aufzugeben. Es ist ungewiss, ob Roboter die Situation allein meistern können. Deren Schwäche ist ihr Perfektionismus. Sobald ein Bit oder ein Buchstabe fehlt in einer Anweisung, richten sie sich, wie man zu sagen pflegt, auf den Polarstern aus und erstarren. – Hier sind wir kaum dreißig Personen. Wir müssen Erfolg haben. Versagen wir oder lassen uns einfach evakuieren, geraten Hunderte, wenn nicht gar Tausende Personen überall auf den Kreisbahnen durch die Trümmer von NORDLICHT in Gefahr, und zwar die Leute auf den anderen Raumstationen, die Besatzungen der Raumkreuzer, die Arbeiter der Raumschiffwerft, die Kontrolltrupps bei den Solarkraftwerken ...«
»Hör auf! Das habe ich alles schon zur Genüge mit dem Operativstab erörtert«, schnitt ihm Grimmlund das Wort ab. »Ich weiß selbst, was nahe der Erde so alles stationiert ist und dass auch schon ohne die Trümmer von NORDLICHT genug Raumschrott herumschwirrt. Du brauchst es mir nicht aufzuzählen. Es kann sein, dass die Roboter allein Herr der Lage werden und dass man auch NaRi durch Ferndiagnose hilft, seine Über- oder Unterfunktionen zu kompensieren. Lasst uns hier verschwinden, und zwar sofort. Fangt hier jetzt keine lange, haarspalterische Debatte an. Paradox. Grotesk«, fauchte Grimmlund und schlug erbost sein Helmvisier zu. »Klare Order: Alle raus aus der Station!«
»Wenn wir uns evakuieren, schieben wir die Gefahr nur anderen zu«, sagte einer der Monteure.
Grimmlund schob das Helmvisier wieder hoch: »Befehl ist Befehl. Raus, raus, raus.«
»Wir ignorieren deinen Befehl«, blieb Deluso unnachgiebig. »Wer wagt, der gewinnt.«
»Zweifelhaft, ob euer Heldentod ein Gewinn für irgend jemanden ist«, sagte Grimmlund sarkastisch.
»Für uns dreißig Raummonteure hat ein letzter Versuch bei allem Risiko, das es dabei gibt, durchaus noch Hand und Fuß«, beharrte Deluso.
»Ich habe etwas Besseres zu tun, als zu diskutieren«, sagte Grimmlund. »Verschwindet mit unseren stationseigenen Skootern und Raumschlitten von Bord. Ihre seid nur Ingenieure und Monteure, keine Wunderknaben.«
»Wir können nicht auf dich verzichten«, sagte Deluso. »Dir fällt sogar die schwierigste Aufgabe zu.«
»Die interessiert mich nicht. Meine Geduld ist gleich zu Ende«, polterte der Kommandant.
»Dann eben nicht«, sagte Deluso. »Kommt, Leute, wir gehen wieder an die Arbeit. Gorm, du bekommst Bescheid, sobald du mit der Stammbesatzung zurückkommen kannst.«
»Halt! Will wissen, was ihr unternehmt«, verlangte Grimmlund.
»Wir haben uns inzwischen über die ganz Raumstation verteilt, wo die Handhebelpumpen für das Balancesystem angebracht sind. Wir werden eben mit Muskelkraft so lange pumpen, bis alles ausgetrimmt ist«, erläuterte Deluso. »Damit die Roboter uns nicht dort wegholen, werden wir die Schotten verkeilen. Wir sitzen dann zwar in der Mausefalle, aber darauf kommt es in dieser Situation auch schon nicht mehr an.«
»Vorsintflutlich, Pumperei per Hand, ehe ihr das schafft ...«
»Du unterschätzt uns!«, rief einer der Monteure, der sich bereits wieder von der Hauptschleuse weg zu den Handpumpen auf den Weg begeben hatte, von der Gangkrümmung des Rades her.
»Die Handpumpen sind nur dazu da, eine partielle Kleinreparatur im ganz gewöhnlichen Alltag an Bord ...«, protestierte Grimmlund. »Eher schöpft man ein Wasserfass mit einem Sieb aus!«
»Warte es ab«, sagte Deluso. »Ich wette, NaRi bemerkt den Muskeleinsatz und lässt daraufhin von seiner Rotationssteigerung ab.«
»Und was hätte ich bei der Aktion zu tun?«, fragte Grimmlund.
»Wir brauchen jemanden, der uns über Funk ansagt, wie viel Liter jeweils von welcher Pumpe in die eine oder in die andere Richtung gedrückt werden müssen, beziehungsweise es umrechnet, wie viel Pumpenschläge das jeweils sind«, erläuterte Deluso. »Am zentralen Kontrollpult muss jemand wie du sitzen, der Befehlsautorität gegenüber den Robotern hat. Du bist hier an Bord die Alphaorder.«
Cora war aus der Steuerzentrale hinzukommen, um sich auch zu evakuieren, erfasste aber schnell, dass eben eine andere Vereinbarung getroffen wurde. »Da bin ich mit dabei. Wo ist mein Platz?«, fragte sie. »Stellt euch auf den Kopf, aber die Handpumpe in der C-Speiche, das ist mein Platz«, erklärte Cora.
»Dein Pech, wenn du es nicht besser haben willst«, ermunterte sie Deluso.
»Alles verrückt, absolut verrückt«, sagte Grimmlund. »Hm, aber vielleicht käme man doch um den Verlust dieser Raumstation«, sagte er. Ihm kam in den Sinn, wie zu Beginn der Raumfahrt die Kosmonauten der ersten russischen Raumstation immer wieder mit Pannen zu kämpfen hatten und wie durch zähen Einsatz erreicht wurde, dass deren Station eine mehrfach längere Lebensdauer erlangte, als ursprünglich konzipiert. Deshalb erklärte er: »Abgemacht. Dieses Himmelfahrtskommando will ich erleben!«
Deluso und Grimmlund gingen die wenigen Schritte, die Raum zwischen ihnen war, aufeinander zu und drückten sich kurz die Hand, ehe sie nach verschiedenen Seiten an ihre Aufgaben eilten.
Aus einer Schachtöffnung hangelte sich ein Raummonteur hervor. »Mit mir solltet ihr nicht rechnen bei diesem Irrsinn!«, rief er. »Ich verschwinde von Bord. Es wird höchste Zeit dafür.«
Doch als Deluso und Cora in der einen Richtung um eine Gangecke bogen und Grimmlund in entgegengesetzter Richtung um eine andere, kamen ihnen schon die Roboter entgegen, um sie zu eskortieren. Auch über Helmfunk teilten die Männer des Montageteams aus allen Teilen der Raumstation mit, dass Roboter ihnen den Weg zu den Handpumpen versperrten. ›Wir haben zuviel Zeit mit der Diskussion verschwendet‹, dachte Deluso bedauernd und ließ sich von den Robotern wieder zur Hauptschleuse in der Achsenzone am Nabenteller zum Abtransport hinwegführen. Das Sicherheitspotenzial, das den elektronischen Gesellen als erstes und wichtigstes Gebot befahl, immer erst unmittelbar bedrohtes Menschenleben zu schützen, war in Funktion getreten. ›Da kann man nichts machen‹, dachte er bekümmert.
Das Training im Simulator mit allerlei Ausnahmesituationen bis zum Überdruss zahlte sich nun aus. Auch Dreiwinkelsprünge mit Buggys und Driftern waren darunter gewesen. Jan registrierte, dass er wie ein Uhrwerk funktionierte. Er schwenkte den Buggy grob geschätzt in die neue Flugrichtung und sagte: »Zielwinkel liegt an. Voller Schub. Laufzeit viereinhalb Minuten. Los!«
Beschleunigung presste sie in die Sitze. Der kleine Lasttransporter bremste sich, wie von der Leitstelle befohlen, auf eine niedrige, aber schnellere Parkbahn ein und sank dabei um über hundert Kilometer tiefer auf den Erdball zu. Stüreplan hockte, von seinem Raumanzug umhüllt und in die leeren Frachtnetze verkrallt, wie ein wasserköpfiges Fabelwesen im Hintergrund. Er lachte in einer merkwürdig kollernden Art. »Der Ritt gefällt mir, Springinsfeld!«, dröhnte seine Stimme im Helmfunk. »Die Eskapaden mit dir fangen an, mir Spaß zu machen! Hehopp! Es gibt was zu erleben!«
Jan stellte Kontakt zum Raumkreuzer TOMAHAWK her und erbat Unterstützung für Bahnkorrekturen. »Warteposition aufgegeben. Ersuche um Positionsverfolgung. Dreiwinkelsprung exakt genug eingeleitet?«
»Rasant, rasant«, antwortet eine ferne Stimme. »Mehr oder weniger scheint die Richtung zu stimmen, die ihr da mit eurer kleinen Stückguttruhe kapriolenreich eingeschlagen habt. Eigentlich sogar brillant. Genauer kann ich es erst in ein paar Minuten sagen, wie perfekt ihr auf Kurs liegt … Wirklich bravourös. Weiter so. Höre gerade, dass ihr höchstens die Bahn der Sammelplattform für Mondmetall kreuzt. Ihr erhaltet Bescheid, falls ihr dem Ding zu nahe kommt.«
Jan konzentrierte sich auf die Begegnung mit der Sammelplattform für Erzbrocken vom Mond. Die Anlage tauchte gerade einige Meilen weiter aus dem Schatten der Erde, schlagartig sichtbar.
»Wir kommen gut an ihr vorbei«, taxierte Stüreplan seinem Augenschein nach. Das bedeutete nach kosmischen Maßstäben einen Vorbeiflug im Abstand von mehreren Meilen. »Diesem Hexenbesen, den wir hier reiten, kann dabei überhaupt nichts passieren.«
Genau so schnell, wie die Plattform in ihrem Blickfeld erschienen war, verschwand sie auch wieder. Das unterstrich, was für ein hohes Tempo beide Flugkörper zu einander hatten, typisch für tiefe Parkbahnen. Bald danach wurde ihnen von der TOMAHAWK Zeitpunkt, Dauer und Richtung für die nächste aktive Flugphase angesagt. Jan richtete den Buggy entsprechend neu aus.
»Und du meinst, dass wir tatsächlich die Monteure, die wir einsammeln sollen, genau auf dem Punkt finden, der nun angesteuert wird?«, fragte Stüreplan. Für ihn war Navigation auf erdnahen Parkbahnen, schon seit jeher Grund zur Verwunderung. Rechnerische Exaktheit mit Dingen wie Startfenster, Bahntangenten, Brenndauer und andere Elemente der Himmelsmechanik faszinierten ihn immer wieder, erst recht, wenn Flugbewegungen so weiträumig wie in diesem Fall abliefen.
Ihm wurde erneut bewusst, dass im Orbit niemand einen Flugkörper nur mit subjektiven Wahrnehmungen steuern konnte. Allerdings bei den kurzen Strecken, die er als Lademeister gelegentlich zwischen benachbart parkenden Raumflugkörpern zu bewältigen hatte, genügte es, nach Einschätzung zu manövrieren.
Nach weiteren Bahnkorrekturen erreichten sie die erdferne, langsame Parkbahn zwölf, denn die TOMAHAWK teilte ihnen endlich mit: »Bestens, Stückguttruhe. Los, bergt die Leute. Und dann verschwindet zur Raumschiffwerft. Macht das Schussfeld für uns frei. NORDLICHT tut es nicht mehr lange. Eure Position liegt jetzt mitten in dem voraussichtlichen Streukegel der Trümmer.«
Jan und Stüreplan spähten angestrengt umher. Endlich erkannten sie an der Randwölbung des Erdballs in seiner Aureole die Raumstation NORDLICHT und – schon etwas näher über den Abgründen – die Positionslampen mehrerer Drifter, besetzt von Personen in Begleitung von Robotern. Als die Drifter längsseits trieben, stießen sich die Skaphandergestalten ab, schwebten im freien Fall heran und kletterten herein. Der kleine Laderaum füllte sich. Es wurde eng. Zuletzt traf Deluso ein.
»Ladeklappe schließen«, ordnete er an.
»Und was wird aus Robotern und Raumschlitten?«
»Die Robbis kehren damit nach NORDLICHT zurück. Wenn möglich, wollen wir ihnen dabei zuvorkommen, denn wir können sie nicht gebrauchen für das, was wir vorhaben«, informierte Deluso den Lademeister und Jan. »Der Buggy ist schneller. Rasch zurück nach NORDLICHT.«
Jan begriff sofort, was beabsichtigt war. Unter einem der Helme bemerkte er Cora. »Ihr kapituliert also nicht?«, fragte er.
»Schon wieder steckst du im schlimmsten Getümmel. Du solltest doch schon an Bord der BUMERANG sein?«
»Auf dem Weg dorthin ist mir leider diese torkelnde Raumstation in die Quere gekommen«, erwiderte Jan. »Wenn ich mich weiter verspäte, wird die BUMERANG wohl ohne mich zu ihrem Testflug starten.«
Ehe Cora darauf etwas entgegnen konnte, rief Stüreplan: »Wo ist Grimmlund? Er fehlt!«
»Auf NORDLICHT geblieben. Wie er das geschafft hat, nicht von Robotern eskortiert zu werden, ist mir rätselhaft«, berichtete Deluso. »Er wollte NORDLICHT aufgeben. Aber im letzten Moment vor Eingreifen der Roboter haben wir uns noch mit ihm darauf verständigt, nicht zu evakuieren. Grimmlund rechnet also wahrscheinlich damit, dass wir die Roboter täuschen und ohne sie zur Raumstation zurückkehren.«
»Kein Problem«, schätzte Cora ein. »Die driften weiter. Von ihrem Standpunkt aus sind wir gerettet, weil, wie sie meinen, dieser Buggy uns schneller als ihre Drifter zu anderen Raumstationen in Sicherheit bringt. Sie haben uns auf ihrer Prioritätenliste abgehakt. Als nächstes sorgen sie für sich selbst. Es genügt ihnen, wenn sie dabei unbeschädigt bleiben, auch wenn sie erst in zwei oder drei Wochen irgendwo ankommen.«
»Hört sich zwar dümmlich an, dass wir bei ihnen abgehakt sind, aber ich befürchte, dass wir sie bald wieder im Nacken haben«, stellte Deluso fest.
»Zurück nach NORDLICHT«, sagte Jan, richtete die Schubachse des Transporters aus und zündete erneut den Antrieb.
Während Jan, der die taumelnde Raumstation bei dem Dreiwinkelsprung überholt hatte, den Buggy zu einer Position steuerte, auf der es in Kürze erneut zu einer Begegnung mit NORDLICHT kommen musste, setzte Deluso Kommandant Grimmlund von der Rückkehr des Montageteams in Kenntnis.
»Fabelhaft. Unsere Chancen, die Raumstation zu erhalten, stehen wieder gut«, sagte Grimmlund im Helmfunk. »Drei oder vier Roboter sind noch an Bord. Wie können wir vermeiden, dass NaRi euch diese Exemplare nicht auch noch auf den Hals schickt?«
»Ich frage Cora«, sagte Deluso.
»Erteilen Sie NaRi eine Scheinorder«, riet Cora dem Kommandanten, »zum Beispiel den Auftrag, im neuen Hotelsegment vorübergehend als Gewichtsausgleich zu verharren, bis die Auswuchtung mit Ballastwasser erfolgreich ist und der Taumelkurs aufgehört hat.«
»Verstehe: In der Rolle von Gewichten sind sie dort sozusagen für eine Weile festgenagelt«, lobte Grimmlund.
Bald danach taumelte NORDLICHT auf den Buggy zu. Sie näherten sich der Station auf Sprungweite. Der Buggy schwebte über der Achsennabe mit den Andockstutzen und der Eingangsschleuse. Die Taumelbewegung von NORDLICHT ließ die Radachse wie eine schiefe Leier schwerfällig nach verschiedenen Richtungen pendeln und immer wieder überraschend ausschwingen.
»Bei einer solchen lebhaften Nutation kann auch der beste Pilot nicht ankoppeln«, sagte Deluso besorgt. »Selbst wenn wir springen, wird wohl jeder Zweite von uns sein Ziel verfehlen. Was dann?«
»Trotzdem, ich versuche anzukoppeln«, sagte Jan und senkte den Buggy Zentimeter um Zentimeter dem Kopplungsstutzen entgegen.
»Lass es sein, wir verschwenden nur Zeit«, riet Deluso.
»Kollision!«, schrie da auch schon der Lademeister warnend. »Festhalten!« Ein Stoß streifte den Buggy und schüttelte sie kräftig durcheinander. Jeder krallte sich irgendwo an den Zurrnetzen fest.
»Verfehlt«, schnaufte Jan ärgerlich und murmelte einen derben Fluch. »Es hat tatsächlich keinen Zweck, anzukoppeln.« Er musste einsehen, dass ein solcher Versuch unter den gegebenen Umständen zum Scheitern verurteilt war.
»Ich springe zuerst«, legte Deluso fest.
»Moment. Ich habe darin mehr Übung«, sagte Stüreplan. »Früher in jungen Jahren noch vor der allgemeinen großen Abrüstung, war ich mal als Düsenspringer in der Space Force«, gestand er.
Sie starrten ihn alle verblüfft an. »Düsenspringer«, wiederholte Cora gedehnt. »Solche Leute hatten damals, soviel ich weiß, keinen guten Ruf. Das war doch eine berüchtigte Sondereinheit bei der Space Force, als trotz Abrüstung versucht wurde, Erkundungssatelliten insgeheim von Kampfspringern sabotieren zu lassen.«
»Ah, wusste ich doch, dass ihr mir das nachtragt. Guckt nicht so entgeistert. Hätte ich den Mund halten sollen?«, fragte Stüreplan säuerlich. »Steht alles in meinen Akten. Ich bin deswegen ein Untermensch, der nur Lademeister werden durfte«, äußerte er.
›Er war also ein Landsknecht‹, dachte auch Jan. ›Das erklärt manche seiner Eigenheiten und weshalb er ein Grobian ist: Seelisch immer in Abwehrhaltung. Sicherlich leidet er unter seiner geächteten Vergangenheit.‹ Doch für Jan lag das alles schon zu weit zurück. Die Gegenwart zählte. Jetzt war eine dringende Aufgabe zu lösen, bei der jede Fähigkeit willkommen war, erst recht die eines Düsenspringers.
»Na, wenn schon. Vorbei und geschenkt«, sagte da auch schon Cora versöhnlich.
»Mache einen Schnellkursus mit uns«, hakte Jan sofort ein. »Ich hoffe, ich darf dein erster Lehrling sein.« Er wusste zwar, dass der Lademeister nicht wirklich erst noch einen Schnellkursus mit ihnen allen machen konnte. Die Umstände erlaubten es nicht, das im wahrsten Sinn des Wortes zu tun. Es ging darum, dem Lademeister zu signalisieren, dass er akzeptiert und gebraucht wurde.
»Ein guter Vorschlag zum richtigen Zeitpunkt«, unterstützte ihn auch Deluso. »Mach es uns vor, wie man vermeiden kann, dass der Andockstutzen jemandem von uns mit seiner Schlenkerei die Hüfte zerschmettert.« Dabei spähte er abschätzend durch ein Bullauge. Der Stups von vorhin hatte den Buggy ein Stück von der Raumstation weggestoßen. Das war gerade der richtige Abstand zum Springen. Stüreplan gab Hinweise, wie man sich am Stutzen der Radnabe festhaken konnte, zugleich aber den ersten scharfen Ruck milderte, bevor man sich dann an den Stutzen heranzog. Die Monteure besaßen alle auch eine Rückstoßpistole, mit der sie schon ihren Anflug auf den Nabenteller entsprechend dosieren konnten. Sie lösten sich von den Zurrnetzen. Der schwache Punkt an dieser Aktion war, wie schnell hintereinander sie springen und übersetzen konnten, beziehungsweise wie viel Augenmaß man dabei brauchte, um die schlenkernde Nabe mit dem eigenen Flugschwung in Einklang bringen konnte.
»So, und jetzt mache ich es euch vor«, beendete der Lademeister seine Einweisungen. »Verfehlt den Stutzen vor allem nicht so weit, dass ihr den Speichen der Radkonstruktion zu nahe kommt«, warnte er. »Dann los!«
Stüreplan trat auf den Rand der Ladeklappe des Buggys. Dann ging er in die Kniebeuge und federte sich im passenden Moment in den Abgrund, balancierte seinen Körper im Flug aus, drehte sich mit den Füßen voran zum Nabenteller und feuerte schließlich mehrmals auslotend vom Schwerpunkt des Körpers nahe der Hüfte seine Rückstoßpistole abbremsend ab, ehe er eine Seilschlinge über den Fangstutzen streifte und dann sicher auf der Nabe landete. Er veranlasste die Schleuse, sich zu öffnen, zog sich hinein und wartete auf den nächsten Springer.
Jan zögerte nicht und versuchte den Sprung als nächster. Auch er bremste sich hinreichend geschickt an die taumelnde Nabe heran. Seine Seilschlaufe verfehlte zwar zunächst den Andockstutzen. Doch im nächsten Versuch verfing sie sich wunschgemäß. In rascher Folge kamen auch die nächsten Männer herangeschwebt. Am weitesten verfehlte Cora die Nabe. Es gelang ihr aber, auszuweichen und ihre Magnetsohlen an die Außenwand der Stationsachse anzuklicken. Von dort aus brauchte sie nur zehn Schritte zu machen, um an den Rand des Nabentellers und schließlich auch in die Schleuse zu gelangen. Zwei Raummonteure verfehlten ihren Zielpunkt beträchtlich, rutschten mit dem Rücken über das Rad und fielen trudelnd ins All. Mit Panik hatten sie aber kein Problem, denn sie kompensierten den Fall natürlich mit ihrer Rückstoßpistole, kehrten zurück und probierten es erneut, die Station zu entern. Sie klatschten, verunsichert, zwar auch im zweiten Versuch noch wie nasse Säcke gegen die Stahlwand der Achse, aber die Hände von Kameraden griffen zu und hielten sie fest. Die Luftfüllung der Raumanzüge trug zudem dazu bei, dass ein solcher ungeschickter Anprall gemildert wurde.
Dann verteilten sie sich überall in der Raumstation, um mit Handpumpen Unwuchten im Gewicht des Radkranzes auszugleichen. Das würde NaRi veranlassen, die Rotation der Raumstation wieder zu verringern, so dass weder die neue Hotelsektion noch der Mannschaftstrakt zur Rettung der Station geopfert werden brauchten.
Der Pumpenschwengel ging hin und her, hin und her, hin und her. Es mussten schon über tausend Pumpenschläge sein, die er gemacht hatte. In den ersten Stunden hatte er den Hebel nahezu ununterbrochen bewegen müssen, um einen bescheidenen Beitrag zum Ausgleich der Mengenverteilung und zur Verringerung der Unwucht zu leisten. Erst nach, wie ihm schien, endlosen Zeit traten die ersten Pausen ein. Die Anweisungen Grimmlunds über Helmfunk tröpfelten nur noch: Hundert Liter über Rohr D, zweihundert Liter über Rohr F, siebenhundert Liter über Leitung B, achtzig Liter über Leitung A.
Zwischendurch teilte Grimmlund auch mit: »Die Roboter, die euch hinaus in den Weltraum eskortierten, sind wieder zurück und kommen durch eine Luke im Mittelstück der Stationsachse an Bord. Dort sind die Nutationen nur gering. Schlauer Akt.«
»Und weiter?«, fragte Deluso im Helmfunk. »Wie verteilt NaRi sie hier an Bord?«
»Moment ... Ja, es funktioniert: Sie begeben sich zum Unwuchtausgleich in die neu eingefügte Hotelsektion«, erhielt er Bescheid.
»Also weiter, Leute: Packt es an! Es lohnt sich, Blasen an den Händen zu bekommen«, rief Deluso.
›Die BUMERANG ist längst abgeflogen‹, dachte Jan betrübt. ›Ob es genügt hätte, Delusos Männer von den Raumschlitten einzusammeln und sie wieder zur Station zurückzubringen und dann, wie vorgesehen, die BUMERANG anzusteuern?‹ Müßig, sich solche Frage zu stellen, denn er war mitten drin in einer Aktion, von der sich erst hinterher herausstellen würde, ob sie tollkühn war oder sinnvoll. Müde pumpte Jan weiter. Es war einsam, isoliert von allen anderen in einer kleinen Kammer. Die Zeit verging, und die Muskeln der Schultern schmerzten. Hartnäckig ignorierte er sie, wiederholte monoton die Anweisungen, sobald sie ihm galten, und bewegte dann wieder den Schwengel hin und her. Die Mengen, die zu verteilen waren, wurden schließlich geringer, betrugen nur noch dreißig, höchstens fünfzig Liter. Die Pausen nahmen zu.
Cora nutzte eine Pause und wechselte durch einen Schacht aus der Nachbarschaft zu Jan. »Was kann man gegen Blasen an den Händen tun?«, fragte sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.
»Was ich immer schon wissen wollte: Wie bist du zu dem Entschluss gekommen, Astronautin zu werden?«, fragte Jan sie.
»Ist lange her. Ich war damals noch ein verflixt junges Ding«, erzählte Cora. »Vater war auf einer Meeresfarm vor der polnischen Ostseeküste tätig. Durch den Klimawechsel und den Anstieg der Jahresmitteltemperatur verschoben sich die Vegetationszonen um fünfhundert Kilometer nach Norden. Die Sahelzone schaffte den Sprung über das Mittelmeer. Adriatische Gebiete versteppten. In Südschweden wuchsen Palmen, und die Ostsee war wärmer geworden, so dass man dort sogar Sargassotang aus der Karibik und aus dem Golfstrom für Meeresfarmen ansiedeln konnte.
An der Küste gegenüber der Meeresfarm, auf der Vater tätig war, gab es einen Ort, in dem die Mitarbeiter der Farm, also auch meine Eltern, lebten. Ich interessierte mich zunächst nur ganz allgemein für Astronomie, weil es an meiner Schule eine Arbeitsgemeinschaft dafür gab. Besonderes Ereignis war, als unser Lehrer einen jungen Raumfahrer zu einem Vortrag einlud. Er hieß, höre und staune, Ben Brigsen. Wir Mädchen und Jungen aus der Schulsternwarte hingen an seinen Lippen und waren auf jedes Wort gespannt, das er zu uns sagte. Er verstand seine Arbeit so lebhaft zu schildern, dass dieser Vortrag sicherlich der Anstoß zu einem Berufswunsch war, der etwas mit der Raumfahrt zu tun hatte. Anschließend an den Vortrag fand eine Diskussion statt. Ich meldete mich zuerst und erwähnte, dass der helle Schein der Meeresfarm nachts der Arbeitsgemeinschaft Astronomie die Beobachtungen des Firmamentes erschwere. Ben Brigsen konnte natürlich nicht veranlassen, dass die Meeresfarm ihre Position wegen einer Schülergruppe änderte, sagte aber, man müsste das Fernrohr ein Stück die Küste entlang zu Dünenhügeln schaffen, um von dort aus, ungestört von vielen hellen Lampen, Beobachtungen anzustellen. Ben blieb noch zwei Tage im Ort, um die Meeresfarm zu besichtigen und um auch noch an anderen Schulen seinen Vortrag zu halten.
Am nächsten Tag abends holte ich mir das Fernrohr der Schulsternwarte, legte es in einen Kinderwagen und wanderte zu diesem Hügelgelände an der Küste. Ich hatte mir auch eine Kamera für das Fernrohr besorgt und wollte in der nachfolgenden Nacht eine Aufnahme vom Pferdekopfnebel im Orion machen, einer Staubwolke vor der Milchstraße. Da das aber nicht gleich gelang, blieb ich auch noch den folgenden Tag und die anschließende Nacht dort, um diese Aufnahmen zu wiederholen. Meine Eltern vermissten mich und meldeten mein Verschwinden der Polizei. Irgendwie hatte auch Ben davon erfahren, denn er ging mich suchen. Weil er sich erinnerte, was ich über das störende Licht der Stadt und der Meeresfarm gesagt hatte, ahnte er, wo ich zu finden sein könnte.
Wie ich also so nachts am Fernrohr auf meinem Hügel abseits von Stadt und Meeresfarm saß, kam eine Gestalt den Strand entlang gewandert, nur gegen den Wellensaum am Strand noch geradeso zu bemerken. Nahe meinem Beobachtungshügel lenkte der nächtliche Wanderer seine Schritt vom Strand. Kurz darauf hörte ich es im Gehölz knacken. Der Wanderer kam zielstrebig den Hügel herauf. Zehn Schritte von mir entfernt blieb er stehen, sah sich um und sagte einfach: Hallo, Cora. Ein bisschen steil, diese sandige Düne für einen Kinderwagen mit einem schweren Fernrohr darin!
Ich fühlte, wie ich rot wurde, wohl wegen des Kinderwagens. ›Wird er mir ins Gewissen reden, von wegen Schuleigentum ungefragt benutzt? Würde er verlangen, dass ich meine Beobachtungen abbreche?‹, dachte ich. Im matten Licht einer Taschenlampe machte ich weiter Notizen über meine Beobachtungen am Fernrohr, als sei es normal, dabei so nebenher mit einem unverhofft nachts des Weges kommenden Wanderer zu plaudern.
»Bist du zufrieden mit der Sicht heute Nacht in den Himmel? Stört dich der Widerschein der Farm auf See hier weniger?«
Ich war erleichtert, keinen Vorwurf in seiner Stimme zu hören.
»Du hast ja noch nicht einmal ein Zelt«, rief er erstaunt, nachdem er sich gründlich umgesehen hatte. Er zog eine Thermosflasche hervor und füllte mir Tee ein. »Recht praktisch, so ein Freiluftobservatorium. Lass sehen, auf welchen Stern du das Fernrohr eingestellt hast.«
Ich trat wortlos zur Seite und machte ihm Platz.
»Ah, sagte er, du hast die Wega im Visier. Warum das?«
»Wir reisen doch dorthin!«
»Wir? Ist das nicht etwas zu weit weg von der Erde?«
»Nur sechsundzwanzig Lichtjahre.«
»Hm, du wünschst dir also, an Bord eines solchen Raumschiffes zu gehen, das dazu geeignet wäre, diese riesige Entfernung bis zur Wega zu überwinden?«
»Nein. Wir alle fliegen dorthin, Erdball und Sonnensystem streben auf die Leier im Sommerdreieck hin. Wusstest du das nicht?«
»Doch, doch. Nur glaubte ich nicht, dass du eine so große Vorstellungskraft hast, um in diesen gewaltigen Dimensionen zu denken. Wann werden wir dort bei der Wega ankommen?«