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Bei der dünnsten Stelle des Meeresbodens unter dem Südatlantik gegenüber der afrikanischen Küste rütteln um das Jahr 2450 immer wieder Seebeben am Erdmantel. Sie beunruhigen ein Team junger Leute, die einen automatisch arbeitenden Flotationskomplex unweit ihres Standortes zur Gewinnung seltener Rohstoffe aus dem Meerwasser überwachen. Eine Algenfarm wird von diesem bebenartigen Rütteln ebenfalls beeinträchtigt. Auch die Wissenschaftler an den Universitäten in den afrikanischen Metropolen sind von diesem Novum eines quasi im Gleichschritt auftretenden atlantischen Epizentrums alarmiert. Die Lage wird bedrohlich, als radioaktive Strömungen aus dem Bereich dieses Epizentrums auftreten, die von Rissen des Erdmantels über einer gerade neu entstehenden Magmakammer herrühren könnten. Einige Akademiker glauben unter Sorgenfalten sogar, dass diese Seebeben von einem vor Jahrhunderten verunglückten Atom-U-Boot herrühren oder etwas mit heimlich entsorgten verbrauchten Reaktorbrennstäben zu tun haben. Um Klarheit über solchen Atommüll zu erlangen einigt man sich, eine Zeitverspiegelung vorzunehmen, bei der eine Chrononautin sozusagen als unerkannt lebende Späherin einige Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit reisen wird. Carlos Rasch, Autor mehrerer utopischer Bücher, lässt diesmal seine Geschichte statt weit draußen im All auf unserer Erde spielen nach dem Motto: Die Zukunft der Menschheit wird auf Erden realisiert und nicht im All! - Auch sind Zukunftsromane keine prophetischen Voraussagen von neunmalklugen Leuten. Hellseher gibt es nicht. Niemand kennt die Zukunft. Utopien sind sozusagen nur eine Spielart der Gegenwartsliteratur, in der jetzt lebende Autoren für heutige Leser gegenwärtigen Erkenntnissen entsprechen. Utopien können nur heutige Hoffnungen und Wünsche oder auch Befürchtungen in literarischen, abenteuerlichen Denkmodellen widerspiegeln. Dazu gehen sie von Wahrscheinlichkeiten nahe gesicherter Erkenntnisse aus. „Magma am Himmel erschien seit seiner Veröffentlichung 1975 im Verlag Neues Leben in der Reihe "Spannend erzählt" in rund 100 000 Exemplaren. Es ist Raschs drittes Buch. Ihm voraus ging sein Erstling „Asteroidenjäger", der auch verfilmt wurde. An zweiter Stelle ist als Rückgriff vor 5000 Jahren in die menschliche Geschichte der Roman "Der blaue Planet" zu nennen.
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Seitenzahl: 423
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Carlos Rasch
Magma am Himmel
Wissenschaftlich-phantastischer Roman
ISBN 978-3-86394-286-1 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1975 beim Verlag Neues Leben, Berlin.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Es kann nur der ein erfolgreicher Wissenschaftler sein, der auch Phantasie und genug Vorstellungskraft besitzt.
Schon lange war es Nacht. Aus den Wolken sickerte schwaches Licht. Der warme Wind raubte vom Meer den blanken Glanz der Wellen und streute ihn bis tief ins Land.
Sie standen im Freien vor ihrem Haus und lauschten. Keines der Fenster war erleuchtet. Das große dunkle Gebäude war das einzige auf Meilen entlang der Küste. Nur das leise Rauschen des Wellenschlages drang vom Strand herüber. Es ließ das eintönige Zirpen der Zikaden noch deutlicher werden.
Doch das war es nicht, worauf sie lauschten.
Abermals schwebte dieser eigenartige Summton aus den Hügeln heran. Zuerst kaum hörbar, schwoll das dunkle, melodische Vibrieren rasch an, aber nur so lange, bis es kaum lauter als das Rauschen des Meeres und das Zirpen der Zikaden war, um dann langsam zu verwehen.
Aus einer anderen Richtung drang ein schnarrendes Knirschen herüber, ein Laut, der von keinem Tier stammte. Er gehörte nicht in dieses Land mit seiner afrikanischen Tier- und Pflanzenwelt. Bestenfalls passte er in eine vergangene Zeit, als vor hundert Jahren die Strahlungsfront im Kosmos vorüber zog und Klimaschwankungen mit lang anhaltenden Stürmen auf der Erde auslöste.
Eine kurze Pause entstand, bevor aus der nahen Dschungelinsel eine Kette von Paukenschlägen wie ein unterirdisches Donnergrollen ertönte. Schnell erstarb dieser Wirbel wieder.
Mehrere Minuten vergingen, in denen nichts geschah. Dann nahm fern eine Trommel ohne Regel und Rhythmus ihr hartnäckiges Pochen auf. Dieses Trommeln pflanzte sich fort, kam näher und verrieselte erst dort, wo sie alle den Palmenhain wussten.
Zufällig wandte Ge Nil den Kopf zum Meer. Deshalb sah er, wie eine Segeljacht lautlos durch die Brandung trieb und den Steg erreichte. Während ein Mann das Tuch reffte und das Boot festmachte, kam ein anderer auf das dunkle Haus zu. Sie erhielten aus der Nachbarschaft vom Makrogen der Fischer Besuch.
"Kaik Hans und sein Bruder kommen", sagte Ge Nil.
Niemand achtete auf seine Ankündigung. Tuo Ibso, Lira Barro, Odetta Morro, Gru Kilmag, Parola Kiss, Rededa Dess, Ari Bomm, Sema Sommer und Sofio Lenn, sie alle standen vor dem Haus in der Nacht und warteten auf das nächste ferne Summen, den nächsten kratzigen Glockenton, auf Paukenschlag und Trommelwirbel.
Kaik Hans stapfte durch den Sand, durchquerte die Dünen und bekam endlich festen, mit Gras bewachsenen Boden unter die Füße.
"Langes Leben", sagte er zur Begrüßung. "Ihr seid alle draußen?", fragte er erstaunt. "Was treibt ihr für merkwürdige Dinge? Nacht für Nacht hört man neuerdings aus eurer Gegend Lärm. Ihr weckt mit eurem Trommeln sogar die Leute in Lu-A-Randa und in Mos-A-Dreles auf", versuchte er zu scherzen.
"Wir trommeln nicht", sagte Lira Barro.
"Ihr nicht? Wer denn dann?" Kaik Hans war verblüfft. "Die Delphs sagen doch, ihr macht ein Experiment. Sie haben den Krach bis hinaus aufs Meer gehört."
"Die Delphs mögen kluge Wesen sein, aber ihr Reich ist das Wasser. Vom Land verstehen sie nicht viel. Wir jedenfalls machen keine Versuche", sagte Gru Kilmag.
"Na eben, das dachte ich mir auch", gab Kaik Hans zu. "Wozu solltet ihr trommeln? Ihr habt gewiss genug Arbeit im Tiefbunker bei der Bebenwarte und mit dem Tiefseewerk im Mendele-Graben dort draußen im Atlantik."
Wieder drang das Summen durch den warmen Wind der Nacht. Und dann sprang ein kurzes Klirren zu den Wolken hinauf.
"Manchmal harft es so beim ersten Morgenrot", erklärte Odetta Moro leise. "Es hängt mit der Vibration zusammen, die entsteht, wenn abgekühlte windstille Luftmassen über einem weiten flachen Land von den ersten Strahlen der Sonne getroffen werden. Aber diese Geräusche hier haben damit nichts zu tun, denn noch ist es nicht kühl; und bis zum Morgen sind es noch ein paar Stunden."
Sie horchten auf den Nachhall dieses Harfens, das in dem Singen der Zikaden weiterzuleben schien.
"Es ist geisterhaft", murmelte Parola Kiss.
"Nun ja, es wirkt unheimlich", gestand der Besucher. "Aber Geister aus dem uralten Afrika werden es doch wohl nicht sein", fügte er hinzu und schmunzelte spöttisch.
"Natürlich nicht", brummte Ari Bomm ärgerlich, weil selbstverständlich niemand an Geister glaubte. Geister gehörten ins Mittelalter, nicht aber in die Epoche des dritten Sternenzeitalters.
"Na also! Dann habt ihr wahrscheinlich schon festgestellt, was da so in der Nacht herumtrommelt", sagte Kaik Hans und blickte sie neugierig der Reihe nach an.
"Noch nicht." Sema Sommer war es, die diesmal geantwortet hatte, aber nur ungern.
Auf dem Gesicht des Besuchers entstand ein verwunderter Ausdruck. Sie merkten alle, wie er über ihre Unschlüssigkeit erstaunt war.
"Ich weiß, was du sagen willst, Kaik Hans, nämlich: Prüft nach, was da vorgeht!" sagte Rededa Dess. "Wir haben nachgesehen, aber ohne Ergebnis. Wir waren in den beiden letzten Tagen früh am Morgen immer unterwegs, um hinter das Geheimnis der Trommeln zu kommen. In den ersten Nächten haben uns die Trommeln nicht so sehr gestört. Wir schliefen fest. Erst als der eine oder der andere von uns wach wurde, fingen wir an, uns Gedanken zu machen. Und dann haben wir nachgesehen."
"Na und? Wie sieht das Ergebnis aus?" Kaik Hans wollte gelassen wirken. Aber die Frage war ihm zu schnell entschlüpft. Sie verriet seine wachsende Spannung an dem rätselhaften Vorgang dort draußen in der Nacht.
"Wir fanden nur Spuren, viele Spuren, kreuz und quer, bis zu zwei Kilometer von unserem Haus entfernt zwischen den Hügeln, an der Dschungelinsel und im Palmenhain. Sogar auf den Dünen vor unserer Terrasse, auf dem Strand bis hin zum Wasser. Dort verschwanden die Spuren", berichtete Sofio Lenn nüchtern.
"Oder sie führten vielleicht auch aus dem Meer heraus", sagte Gru Kilmag mit einem versteckten Lächeln.
Unwillkürlich wandte Kaik Hans den Kopf und spähte prüfend zum Steg, um zu sehen, ob die Segeljacht noch wohlvertäut war. Sie bemerkten es und lachten darüber: Parola, Rededa und auch Tuo Ibso. Kaik Hans verübelte es ihnen nicht und stimmte selbst mit ein.
"Töne von Pauken, Trommeln und Gongs haben für gewöhnlich keine Füße, mit denen sie Spuren hinterlassen können", sagte er.
"Nein, das haben sie nicht", pflichtete ihm Lira Barro bei.
Plötzlich huschten zwei kleine langarmige schwarze Gestalten geduckt heran und sprangen auf die Arme von Lira Barro und Sofio Lenn. Sie quietschten leise und aufgeregt. Der Gast erschrak und trat unwillkürlich zurück. Es waren aber nur die beiden Gibbons Aka Aki und Aki Ol. Sie waren eines der Affenpärchen aus dem Reservat der nahen Dschungelinsel, mit denen die Gruppe sich angefreundet hatte. Die fremden Geräusche in der Nacht hatten die beiden Tiere ängstlich gemacht und sie von den Schlafbäumen zu ihren großen Beschützern flüchten lassen.
"Sagtest du: Gong?", fragte Rededa Dess plötzlich. "Wie kommst du auf Gong?" Ein Verdacht regte sich in ihr.
"Ich meine nicht dieses Harfen, sondern einen anderen Ton, einen Summton. Es klingt, als würde ein riesiger Gong geschlagen, so einer von mindestens zwei Metern Durchmesser", sagte Kaik Hans.
"Er hat recht", stimmte ihm Odetta zu. "Auf den Gedanken sind wir noch nicht gekommen. Es hilft uns aber auch nicht, das Rätsel zu lösen."
"Welcher Mensch macht denn so etwas und schleppt riesige Gongs, Kesselpauken und Trommeln durch die Nacht, nur um sie hier oder dort anzuschlagen", protestierte Ari Bomm.
"Wieso müssen es Menschen sein?", fragte Kaik Hans. "Wenn die Spuren bis zum Strand ans Wasser führen, dann kann man den Delphs glauben. Sie haben mir signalisiert: Ein Experiment findet statt, und Technos sind unterwegs!"
Ihr Gespräch verstummte, denn sie hatten undeutlich den schattenhaften Umriss einer Gestalt wahrgenommen, die durch die Dünen stapfte. Gleich danach rollte wieder ein Trommelwirbel durch die Nacht. All dieses Trommeln, Harfen, Summen, Rasseln und Klirren war zu ertragen, nicht aber die dumpfen Paukenschläge, die zwar selten erklangen, dann aber um so mächtiger hallten und mit einem scharfen reißenden Geräusch verbunden waren, das an den Nerven zerrte.
"Technos? Ach, meinst du?", fragte Parola.
Sofio Lenn schüttelte den Kopf. "Den Spuren im Sand oder im Gras kann man es nur schlecht ansehen, ob sie von Menschen oder von Technos stammen. Von den Gibbons sind sie jedenfalls nicht; die wollen selbst ihre Nachtruhe haben", sagte er und kraulte Aki Ol das Fell. "Jedenfalls sind wir nicht darin geübt, Spuren zu lesen. Und selbst wenn es Technos wären, müssten doch Menschen damit zu tun haben. Ohne Weisung vollführt kein Techno einen solch seltsamen Lärm in der Nacht."
"Hört zu!", sagte Sema Sommer entschlossen. "Jetzt gehe ich nachsehen und nicht erst früh im ersten Tageslicht, wenn die Trommeln schon wieder aufgehört haben."
"Ich begleite dich", bot ihr Tuo Ibso an. "Lass uns zu Fuß gehen. Man kann dann besser beobachten."
Odetta wisperte mit Ari Bomm. "Wir wollen die Sache auch mit auskundschaften", gab sie dann bekannt. "Aber Ari und ich nehmen einen Schweber. Mit dem stoßen wir sofort bis zur Dschungelinsel durch."
"Bravo! Gut so", spornte Kaik Hans ihren Eifer an.
"Nehmt mich mit", bat Rededa. "Gespenster zu jagen, das würde mir auch Spaß machen. Im Schweber werden uns die vielfüßigen Töne sicherlich nichts anhaben können", spottete sie.
Während fünf von ihnen zu Fuß oder im Schweber in der Nacht verschwanden, setzten sich alle anderen auf die Stufen, die zum Portal des Hauses hinaufführten.
Aus der Richtung, in die der Schweber geglitten war, zersprang bald etwas mit einem tiefen Glockenton. Die Geräusche erklangen jedoch weiter. Der stetige warme Luftstrom von See her wurde frischer, hörte dann aber ganz auf. Bei der Dschungelinsel stieß das Scheinwerferlicht des Schwebers torkelnd hin und her, als hätten sie dort ein bewegliches Objekt im Strahl, das gejagt wurde.
"Wo ist eigentlich Asko?", fragte Ge Nil. "Schläft er etwa trotz all unserer Aufregung?"
"Wir haben ihn schon mehrere Tage lang nicht gesehen", antwortete Lira.
"Er hat Nachtdienst unten im Bunker an den Messpulten der Bebenwarte", sagte Parola.
"Stimmt", bestätigte Tuo Ibso. "Er bat darum, gleich zehn Tage lang hintereinander für den Nachtdienst eingesetzt zu werden. Ich habe es ihm erlaubt, weil er irgendeine besondere Erscheinung, die hauptsächlich nachts auftritt, an den Seismographen studieren will. Er meinte, unsere Universität in Mos-A-Dreles könnte das interessieren."
"Mag er es ruhig noch einmal zehn Tage lang tun!", rief Lira. "Um so besser für uns. Ich jedenfalls bin auf den Nachtdienst in der Messbasis nicht versessen. Mir liegt die Arbeit im Mendele-Tief im Flotationswerk mehr. In der Messbasis kann man immer nur Zeigerausschläge, Schlängelkurven auf den Schirmen und Computertabellen sehen."
"Das dachte ich mir fast schon, dass du beim Dienst in der Messbasis kaum auf die Werte achtest. Wenn die dünnste Stelle des Meeresbodens über dem Magma der Tiefe aufbricht, würdest du das sicherlich erst bemerken, wenn die tektonischen Stoßwellen schon die Küste erreicht haben", sagte Gru Kilmag.
"Das wird kaum geschehen", verteidigte sich Lira. "Wieso sollte es gerade in meinen Dienst fallen, dass das atlantische Epizentrum aufbricht. Etwa alle zwei Tage bebt es dort ein wenig, und dann ist alles wieder still. Unser Studienmakrogen wird dort nie eine Eruption registrieren, selbst wenn wir noch zwanzig oder dreißig Jahre diese Aufgabe, die Bebenwarte zu betreuen, behalten sollten. Die Erde ist schon zu alt, um noch neue Vulkane entstehen zu lassen."
Sie sprangen plötzlich von den Stufen auf und reckten die Hälse. Eine Serie gedämpfter Gongschläge ertönte. Deutlich war ein Rhythmus herauszuhören. Er klang nicht so, als würde ein Notsignal gegeben, sondern eher so, als mache das Gongen großen Spaß. Mit dem siebenten oder achten Schlag drang eine Stimme zu ihnen durch, vielleicht aus vierhundert Meter Entfernung. Das war Sema Sommer. Sie rief: "He-e-e-e-e-jooo h-e-e! Es sind Techno-o-os!" Und dann gongte sie wieder ein paar Mal kräftig.
"Also doch Technos. Da besteht keine Gefahr", stellte Parola aufatmend fest.
"Doch! Die Roboter müssen einen Schaden haben, und das ist nicht ungefährlich", widersprach Gru Kilmag.
"Ach nein, es ist nichts zu befürchten", meinte Ge Nil gleichmütig. Er hatte schon lange nichts mehr in dieser Nacht gesagt. "Die Technos scheinen nur einen Scherz auszuführen, den irgendjemand mit uns treibt."
Er setzte sich in Richtung der Gongschläge in Bewegung, um Sema Sommer entgegenzugehen. Die anderen folgten ihm. Dann aber fiel ein berstender Paukenschlag mit einem grässlichen Unterton zerfetzenden Reißens über sie her, bei dem ihre Schritte gleich wieder stockten. Nahe der Dschungelinsel schossen die Scheinwerfer des Schwebers abermals wie bei einer Hetzjagd hin und her. Plötzlich erloschen sie.
Die Zikaden hatten für einen Augenblick ihren Eifer vergessen. Erst als alles wieder ruhig war, zirpten ein paar weiter, denen das Heer der anderen sofort folgte.
Lira und Parola kehrten zu den Stufen des Hauses zurück. Auch die Männer hatten keine Lust mehr, durch die Nacht zum Gong zu stolpern. Nur Aka Aki und Aki Ol schwangen plötzlich ihre bepelzten spinnenartigen Affenarme, sprangen zu Boden und liefen weg. Sie hatten vertraute Geräusche gehört.
Bald danach erschienen Sema Sommer und Tuo Ibso aus dieser Richtung. Die beiden Gibbons waren ihnen entgegengelaufen. Auch der Schweber mit Odetta, Rededa und Ari Bomm kam zurück. Aber alle umringten erst einmal Sema Sommer.
"Erzähle", verlangte Kaik Hans ungeduldig.
Sema Sommer lächelte. "Das wird keine lange und auch keine abenteuerliche Geschichte", sagte sie. "Tuo Ibso und ich gingen leise und vorsichtig von hier fort. Tuo Ibso bog hier und dort ein paar Zweige zur Seite, und wir verharrten alle Augenblicke, um zu lauschen. Es war alles ruhig. Wir mochten ungefähr zweihundert Schritte gegangen sein und verschnauften erst einmal wieder, und zwar dort, wo ein Stück der alten verwitterten Landstraße aus Asphalt noch zu sehen ist, die es hier vor über hundert Jahren gegeben haben muss, bevor die Gravoschweber allgemein im Bodenverkehr benutzt wurden. Ich fand eine Mulde und kniete mich hinein, auch Tuo Ibso verbarg sich. Wir beobachteten die Umgebung. Die Straße war gut zu überblicken. Wir hatten Glück und wurden auf keine Geduldsprobe gestellt. Buchstäblich vor unseren Augen trat auf der gegenüberliegenden Seite der alten Straße eine Gestalt aus dem Unterholz. Sie ging aufrecht und unternahm keinerlei Anstrengungen, sich irgendwie zu verstecken. Man konnte die Umrisse der Figur gegen den aufgehellten Nachthimmel gut erkennen. Den Gang dieser Gestalt kannte ich. Es war eindeutig ein Techno, sicherlich sogar einer der unsrigen. Tuo Ibso kam zu mir und duckte sich neben mich. Er flüsterte: 'Nicht ansprechen! Abwarten!' – Erzähle du jetzt weiter!", forderte Sema Sommer ihren Begleiter auf.
"Der Roboter hatte keine Eile", sagte Tuo Ibso. "Im Gegenteil. Er stellt sich mitten auf die alte Straße und trat dabei das lange dürre Gras nieder, das aus den Rissen der Fahrbahn wächst. Dort wartete er. Wir erkannten etwas in seinem Greifer, das ein Kästchen sein mochte. Deutlich war das allerdings nicht zu sehen. Aber auf keinen Fall war es eine Trommel oder eine Kesselpauke. Schon ein paar Augenblicke später marschierten gleich drei Technos im Gleichschritt auf der alten Straße heran. Sie stellten sich neben dem ersten auf. So ging das weiter. Mal schlug sich einer aus dieser Richtung durch das Gebüsch, mal einer aus der anderen. Alle nahmen sie ordentlich Aufstellung. Ich überlegte gerade, ob wir uns bemerkbar machen und die Gesellschaft vor uns fragen sollten, was diese Roboterversammlung so mitten in der Nacht zu bedeuten habe, als plötzlich sechs von ihnen wie auf ein unhörbares Kommando aktiviert wurden und nach verschiedenen Seiten auseinander liefen. Zwei bewegten sich in unsere Richtung, machten aber einen Bogen um uns, ehe sie verschwanden, denn selbstverständlich hatten sie uns längst registriert. Ihre Schritte wurden schnell leiser. Das Zirpen der Zikaden überdeckte sie bald. Aus der Reihe der übrigen Roboter machte einer drei Schritte auf uns zu und sagte: 'Herr und Herrin! Erschreckt nicht. Achtung! In fünf Sekunden erfolgt Gongschlag aus Richtung Nordost achtzehn Grad, Entfernung zweihundertvierunddreißig Meter. Nachfolgend Trommelwirbel über Sechserkette von Ost nach West'."
"Wir rappelten uns auf und klopften Laub und Grashalme von unserer Kleidung ab", setzte Sema Sommer den Bericht fort. "'Danke!', sagte ich zu dem Techno. 'Was habt ihr hier für eine Aufgabe?'
'Ein Experiment', sagte der Techno.
'Wer gibt die Anweisungen dazu?'
'Unbekannt. Eintreffen über Funk.'
'Woher?'
'Moho-Pult, Herrin.'
'Moho-Pult?'
'Moho-Pult richtig, Herrin.'
'Und was für Anweisungen sind das?'
'Standortwechsel mit Lautsprecherbox. Zielpunkt jedes Mal woanders.'
'Und was dann?'
'Dann Tonabstrahlung. Danach zurück zur alten Straße. Warten.'"
"Inzwischen hatte, wie vom Roboter angekündigt, der Gong geschlagen", erzählte Tuo Ibso. "Jetzt, wo wir näher am Ausgangspunkt dieses Tones waren, summte er kräftiger und länger in den Ohren. Ehe uns die Richtung, aus der er kam, verloren ging, ließen wir die Roboter stehen und überquerten die alte Asphaltstraße. Wir brauchten nicht mehr vorsichtig zu sein, denn das Geheimnis, das uns in den letzten Nächten umgeben hatte, war schon halb gelüftet. Die Technos, die diese seltsamen Nachtkonzerte unter einer unbekannten Regie veranstalteten, waren harmlos. Ich weiß gar nicht, warum wir uns ein bisschen gefürchtet hatten..."
"Wir liefen schnell, und wir hörten einmal auch fremde Schritte in der Nähe. Es war sicherlich wieder einer der Technos. Wir achteten nicht auf ihn, ebenso wie wir auch nicht mehr auf das Trommeln der Kette von Robotern achteten, jener sechs, die wir gesehen hatten, als sie aktiviert wurden und losgingen. Da der Gongton immer vom gleichen Punkt im Gelände ausging, ebenso wie auch die Paukenschläge immer nur vom Dschungelrand ertönten, erwarteten wir eine weitere Entdeckung. Was das sein würde, das konnte ich mir nicht vorstellen. Wir strebten dem Hügel mit dem kahlen Baobab zu. Plötzlich lichtete sich das Gewölk noch mehr. Über uns rissen die Wolken auf, und der Widerschein des noch tief am Horizont stehenden Mondes fiel auf die Landschaft. Der Hügel lag deutlich vor uns. An einem der Äste des gewaltigen Baumes hing etwas, das groß und rund war und im Mondlicht in einem matten, ganz schwachen Glühen schimmerte. Es starrte uns von dort oben wie ein riesiges schläfriges Auge an. Das war die Gongscheibe. Nur halb so groß wie der Gong stand daneben ein Techno, seltsam anzusehen in seiner Unbeweglichkeit. Der Techno hielt schlagbereit einen wuchtigen Filzhammer an einem meterlangen Stiel empor. Dieses Bild war voll düsterer märchenhafter Schönheit, die aus einer fernen alten Zeit zu stammen schien. Selbst der Techno störte hierbei nicht. Er wirkte wie ein altes Standbild."
"Sema Sommer hielt mich fest und sagte: 'Lass uns warten, bis er gongt. Ich muss das einmal sehen, ehe wir diesem Spuk ein Ende machen. Es ist wie ein Zauber, der auf dieser Szene liegt.' Als dann der Schlag erfolgte, bekam ich eine Gänsehaut. Die Vibration des Tons prickelte bis ins Mark. Es kribbelte auf meiner Haut, überall am ganzen Körper, so als stünde sie unter einem Stromstoß. Auch als der Ton längst verhallt war, brummte mir immer noch das Ohr. Sema Sommer lief zum Baobab, suchte im Gras einen Knüppel und wickelte ihre Jacke um ihn herum. Damit schlug sie ein paar Mal mit großem Vergnügen auf den riesigen Gong."
"Der gewaltige Filzhammer war wohl nichts für dich? Mit dem wärst du vielleicht umgefallen, nicht wahr?", fragte Sofio Lenn und lachte.
Tuo Ibso nickte und antwortete für Sema Sommer. "Ihre Kraft war nicht so groß wie die des Technos. Der Gong kam von ihren Hieben kaum zum Schwingen. Und dann rief sie. Ihr habt sie ja gehört. Auf dem Rückweg erzählte sie mir, dass jemand von uns vor einem Monat erwähnt habe, er verreise für zwei Tage, um eine Rarität, einen großen Gong zu besorgen. Mir hat Sema jedoch nicht verraten, wer derjenige war."
"Ich werde euch das Rätsel lösen helfen!", rief Sema Sommer vergnügt. "Kommt mit! Nehmt die Schweber! Wir fahren in die unterirdische Messbasis. Am Mohorovicic-Komplex werden wir mehr erfahren."
In dem großen Haus und in seiner Umgebung gingen die Lichter an. Es hüllte sich in einen strahlenden Glanz ein, der verkündete, wie erleichtert all seine Bewohner waren, weil die Fragen, die sie beschäftigten, nun beantwortet werden sollten. Sie liefen durcheinander und gruppierten sich dann lärmend um Odetta, Rededa und Ari Bomm, um zu hören, wie jene auf etwas Jagd gemacht hatten, das schließlich nur ein harmloser Roboter gewesen war.
Als die Schweber herangeschaukelt kamen, bestiegen sie die Fahrzeuge in bunten Gruppen, fuhren ein Stück durch die Nacht bis hinüber zum Tunneleingang und steuerten in die Kasematten der Messbasis.
Überrascht hielt Ge Nil den ersten Schweber an der Einfahrt an. Auf dem Felsblock neben dem Tunneleingang stand Asko. Dabei wäre sein Platz unten vor den Pulten der Messbasis gewesen.
"Fahrt zu", sagte Asko ruhig. "Ihr seid auf der richtigen Fährte. Ich komme gleich nach und erkläre euch alles."
"Hast du etwas mit den Trommelgespenstern zu tun?", fragte Lira.
Asko bestätigte es. "War euch mein Experiment in den letzten Nächten sehr lästig?", wollte er wissen.
"Es hat uns Nerven gekostet."
"Verrückter Gespenstermacher."
"Das wirst du büßen!"
"Was ist das für ein komisches Experiment?"
"Wann können wir uns den Gong und die Kesselpauke ansehen?"
So riefen sie durcheinander, bevor sich die Schweber wieder in Bewegung setzten und im Tunneleingang verschwanden.
Die Messbasis empfing sie wie immer mit dem leisen Summen der Geräte. Lautlos glitten Aufzeichner über die Seismogramme, schlugen ab und zu aus und erzeugten Zacken. Der gewaltige Körper des Erdballs kam nie zur Ruhe. Fortwährend fanden Beben statt, die ihre Erschütterungen durch die Kruste und durch die anderen Schichten des Planeten schickten. Die meisten Pulte standen im abgedunkelten Bereich der Basis. Nur der Computerblock mit seinen Antwortschirmen und das Hauptpult, das man nach einem Erdbebenforscher eines früheren Jahrhunderts, Mohorovicic, benannt hatte, waren beleuchtet. Hier beim Moho-Pult liefen die Messergebnisse vom zentralen Teil des Atlantiks ein, denn dort gab es eine dünne Stelle im Meeresboden über dem Magma der Tiefe. Sie wurde ständig streng kontrolliert, weil es in ihr schon seit mehreren Generationen rumorte. Glücklicherweise war die Erdkruste an dieser Stelle bisher nie aufgebrochen. Aber die Wissenschaftler ließen sich nicht täuschen. Die Universität von Mos-A-Dreles, einer Stadt an der Westküste Afrikas, setzte schon seit mehreren Generationen ein Makrogen, also eine der vielen Wohn- und Lerngemeinschaften von Studenten, zur Überwachung dieser Meeresregionen ein. Seit drei Jahren waren das die jungen Frauen und Männer, die in dieser Nacht vor dem Haus gestanden und in die Dunkelheit gelauscht hatten.
Die Messbasis umgab sie zwar wie immer mit dem leisen Summen der Geräte und gedämpftem Licht, aber Tuo Ibso und Gru Kilmag bemerkten sofort, dass der Computer die doppelte Aktivität entwickelte als sonst. Sie sahen sich besorgt an und schickten prüfende Blicke zu den Pultreihen der Messkomplexe. Doch dort gab es keine Anzeichen für einen steigenden Bebenzyklus.
"Seid mal alle ganz still", forderte Odetta sie plötzlich auf.
Ihre lebhafte Unterhaltung verstummte.
Und da hörten sie leise einige Trommeln und eine Harfe hinter der Tür eines angrenzenden Raumes. Ari Bomm stürzte auf sie zu und stieß sie auf. Verdutzt blieb er stehen und betrachtete die seltsame Szene. Seine Gefährten standen dicht hinter ihm und reckten neugierig die Hälse. Sie sahen mehrere Technos, um die Musikinstrumente verteilt waren, vor allem Trommeln jeder Art. Von der Decke hingen Mikrofone. Ab und zu leuchtete an einer Befehlstafel ein farbiges Licht auf. Dann trommelte, blies, rasselte, harfte oder klirrte einer der Technos mit einem der Instrumente.
"Asko kommt!", rief Kaik Hans, der Besucher aus dem Nachbarmakrogen der Fischer.
Sie drehten sich alle um. Ihre Blicke waren skeptisch und ratlos auf Asko gerichtet, Nur Sema Sommer blinzelte ihm amüsiert zu. Asko, der während seiner Wache am Moho-Pult eigentlich die Messbasis nicht verlassen sollte, spürte, dass sie eine Erklärung von ihm erwarteten.
"Aha, ihr habt das Orchester schon entdeckt", sagte er und blickte auf die offen stehende Tür zum Nebenraum. Er stoppte mit einem Tastendruck die Anweisungen des Computers an die Technos und schloss die Tür wieder. Dann musterte er sie alle ein paar Augenblicke lang, bevor er tief Luft holte und zu sprechen anfing.
"Wir aus unserem Makrogen benehmen uns fast wie Ameisen", sagte er, "wie Ameisen, die einen riesigen Bau haben und die darin und darauf herumkrabbeln. Wir tun emsig all das, was wir zu tun gelernt haben, ohne viel nachzudenken. Wir erledigen einfach, was die Studiengruppen vor uns auch schon getan haben; aber dieses Ablesen von Tabellen und Vergleichen der Analysen und tektonischen Tageshinweise des Computers ist doch nicht das, was man ein richtiges Forschungsstudium nennt, wie es andere Gruppen betreiben. Wir erledigen unsere Aufgabe, weil natürlich auch wir nicht wollen, dass uns die dünnste Stelle des Meeresbodens eines Tages überrascht und unter der Menschheit an den Ufern des Atlantiks Unheil anrichtet. Wir sehen ein, dass irgendjemand, in diesem Fall wir, diese dünnste Stelle überwachen muss. Die Erde ist die Heimstatt des Menschen im Kosmos. Woanders gibt es im All weit und breit keine Geborgenheit für uns. Es wäre schrecklich, wenn die Erdkruste an ihrer dünnsten Stelle bräche und große Teile unserer Welt vernichtet würden. Aber seit Jahrtausenden rotiert dieser Planet, ohne dass diese dünnste Stelle zerborsten wäre. Was sollte es für einen Grund geben, dass dies in unserem oder im nächsten Jahrhundert geschieht? Die Besorgnis der Wissenschaftler muss noch andere Ursachen haben. Es scheint ein Geheimnis dahinter zu stecken. Wir erledigen gern unsere Pflicht, gewiss. Aber ich möchte mehr wissen. Die Kurven und Zacken der Seismogramme erzählen mir noch nicht genug. Ich kann so wie ihr darin lesen, als sei es ein Buch. Wir errechnen genau, welche Spannungslinien in welchen Schichten die Erdkruste durchziehen. Unser Verstand wertet alles aus, was die Messungen uns signalisieren oder was von Computern für uns übersetzt wird. Der Planet spricht mit uns. Das ist schon wichtig. Doch reicht das aus? Es muss noch eine andere Bewandtnis mit unserer Messbasis und der dünnsten Stelle des Meeresbodens im Atlantik haben, vermute ich. Die Universität von Mos-A-Dreles verschweigt uns wahrscheinlich etwas."
Asko machte eine Pause und setzte sich auf eine Sessellehne. Sie kamen näher, vielleicht ein wenig ungeduldig, aber doch bereit, ihm zuzuhören.
"Vielleicht habe ich euch mit dem Trommeln in der Nacht gestört. Ihr könntet es für einen Streich halten und ärgerlich auf mich sein. Eigentlich hatte ich dem Computer in einer Laune auch nur befohlen, die Messungen des Moho-Pultes nicht nur in Kurven umzusetzen, sondern auch in Musik. Von der ersten Probe war ich selbst überrascht. Ich verbrachte eine ganze Nacht damit, und schließlich wurde ein Experiment von längerer Dauer daraus. In jeder Nacht werden nun die gespeicherten Messdaten eines ganzen Jahrzehntes, vielfach beschleunigt, als Trommelsignale abgespielt. Dazu postiert der Computer die Technos draußen in der Nacht so, wie die Bebenwellen auf der Planetenoberfläche entlanglaufen. Dabei stellt das Gebiet um unser Haus herum im verkleinerten Maßstab die Oberfläche der Erdkugel dar."
"Und vermittelt dir dieses Verfahren tatsächlich Erkenntnisse? Ist es nicht nur ein Chaos von Geräuschen?", fragte Gru Kilmag interessiert. Er ahnte schon, was Asko antworten würde.
"Es ist kein Chaos, und es sind eigentlich auch nicht Erkenntnisse im buchstäblichen Sinne des Wortes. Ich saß anfangs auf dem Felsen neben dem Tunneleingang und horchte einfach in die Nacht. Zuerst wirkte es natürlich sinnlos, dieses Trommeln, Schnarren und Surren. Langsam gewöhnte ich mich an diese Tonkulisse. Sie fing an, mich auf geheimnisvolle Weise zu erfassen, und verriet mir schließlich auf ungewöhnlich lebendige und eindrucksvolle Art, was in der Erdkruste wirklich passiert, wie es zwischen dem Gefüge der Kontinentalschollen und den Basaltblöcken der Gebirge knistert, wie Spannungen in der Erdkruste summen und harfen, wie sie wandern. Hin und wieder reißt dieses Gefüge mit paukentonartigem Bersten, und zwar immer an derselben Stelle. Ich sitze nur da und lausche. Jetzt sind mir die Trommelsignale fast schon so vertraut wie die Kurven der Seismogramme. Die Beben sind nicht nur Tabellen, sondern sie ziehen wie eine Gefahr heran, gegen die man sich wehren muss, wenn man ihr nicht ausgeliefert sein will."
"Das ist doch alles völlig unwissenschaftlich", polterte Ari Bomm los. "Wir sind als Mathematiker, Geologen, Hydrologen und Tektoniker hier, um zu kontrollieren. Die Wissenschaft braucht Zahlen, braucht Messungen und nicht Geräusche. Schlagzeuger oder Mystiker sind keine Wissenschaftler."
"Halt", griff Gru Kilmag ein. "Askos Methode ist zwar ungewöhnlich", gab er zu. "Aber sie ist voller Phantasie. Er sollte seinen Versuch weiterführen. Mich interessiert das Endergebnis. Es kann nichts schaden, wenn die sachlichen Fakten wie Kurven und Zahlen, Diagramme und Mittelwerte über das Bebenzentrum im Atlantik noch durch etwas Erlebtes wie das Getrommel in der Nacht ergänzt werden. Wir wollen doch nicht nur registrierende Wissenschaft betreiben, denn das können wir einem Computer überlassen. Wir wollen weitere Erkenntnisse erwerben, gegebenenfalls auch durch Phonogramme. Asko will doch die Zahlen und Messungen nicht abschaffen, sondern nur den Sinnen und Empfindungen erschließen und sie dadurch ergänzen und vergleichen."
"Die Delphs jedenfalls sind begeistert von diesem Experiment", sagte Kaik Hans. "Sie verstehen sehr viel von solchen Schallbildern. In den letzten Nächten sind sie in großen Schwärmen vor euren Küstenabschnitt geschwommen, um die Trommeln zu hören."
"Was hat eigentlich der Gong zu bedeuten?", fragte Rededa gespannt.
"Er stellt die Gravitationswellen dar, die den Kosmos vom Zentrum der Milchstraße her durchwandern, das Sonnensystem erreichen und die Spannungen in der Erdkruste ebenfalls beeinflussen. Der Gong war zu groß, um ihn durch den Tunnel in die Messbasis zu den anderen Instrumenten zu schaffen. Da habe ich ihn einfach auf den Hügel mit dem kahlen Baobab gestellt", antwortete Asko.
"Seltsamerweise habe ich in all den Nächten nicht vor dem Gong, sondern vor der Kesselpauke Angst bekommen", gestand Parola.
"Ich ebenfalls", sagte Asko. "Immer, wenn sie durch die Nacht tönt, erfasst mich eine unbegreifliche Unruhe. Ihr Dröhnen scheint mir etwas Ungeheuerliches anzudeuten, das uns von der dünnsten Stelle der Erdkruste im Atlantik droht. Dort wartet etwas darauf, seinen Feuerschlund aufzureißen und das Magma in den Himmel zu schleudern. Die Messungen erzählen das nicht, aber die Trommeln."
"Gehen wir wieder hinauf und hören zu!", schlug Gru Kilmag vor und öffnete die Tür. Sie bestiegen erneut die Schweber und verließen den bebensicheren gewaltigen Betonklotz des Messbunkers durch den steil ansteigenden Tunnel der Zufahrt.
In dieser Nacht standen sie noch lange um den Felsen am Tunneleingang und lauschten auf das Gespräch der Trommeln mit dem Gong und der Kesselpauke. Sie spürten manchmal deutlich die Gefahr, die ihrem strahlenden Haus unter der Lichtglocke der Lampen und der erhellten Fenster von den Trommelschlägen drohte. In den folgenden Nächten verstanden sie die Sprache der vertonten Seismogramme noch besser. Diese Art der Übermittlung von Messserien machte ihnen so viel Spaß, dass Asko verschiedene Teile des Experiments an den nachfolgenden Tagen wiederholen und erklären musste.
Aber am Tage, darin waren sie sich alle bald einig, blieb das Trommeln seltsamerweise nur ein leeres Gedröhn. Hatten die Tonkombinationen des Moho-Computers nachts für die Zukunft dunkle Ahnungen heraufbeschworen, machte der Tag sie zu simplen Geräuschen, vor denen höchstens die Vögel erschreckt davonflogen.
Asko wurde auf dem Portalturm des Luftschiffhafens von Mos-A-Dreles von Rededa und Gru Kilmag verabschiedet. Er flog nach Kili-N-Airobi quer über den Kontinent hinweg, um in den Archiven der Universität für Afrikanische Geschichte Nachforschungen über Seebeben im Atlantik zu früheren Zeiten anzustellen. Vielleicht fand er dort eine Erklärung für die steigende Zahl der Beben in letzter Zeit. Eine bestimmte Ahnung trieb ihn dazu.
Rededa und Gru Kilmag standen mit ihm auf dem breiten ausgeschwenkten Ankersteg des Turms hoch über den Parkbäumen, Wegen, Springbrunnen und Blumenbeeten des Flughafens.
"Nun können wir wieder ungestört schlafen. Keiner muss befürchten, nachts von Trommeln geweckt zu werden, solange Asko verreist ist", sagte Rededa und zwinkerte Gru Kilmag verstohlen zu.
"Und die Technos können sich endlich wieder einmal gründlich überprüfen. Sie brauchen nicht mehr ungeölt oder mit Sand in den Gelenken bei Dunkelheit von Hügel zu Hügel zu rennen", ergänzte Gru Kilmag deshalb schnell.
"Hoffentlich kommst du in Kili-N-Airobi nicht auf die Idee, Trommelexperimente zu machen und Chroniken durch Computer vertonen zu lassen", sagte Rededa zu Asko.
"Machen wir uns darauf gefasst, dass man ihn deswegen samt einer Beschwerde zu uns zurückschicken wird", äußerte Gru Kilmag amüsiert. "Kili-N-Airobi ist eine große Stadt mit vielen Einwohnern, die nicht so abgelegen hausen, wie wir das wegen der Seismogramme tun müssen. Es würde unangenehm werden, wenn ein paar tausend Leute bei diesen Kompositionen nicht schlafen können", warnte er Asko mit gespieltem Spott.
Asko lächelte. Sie neckten ihn, also kreideten sie ihm die nächtlichen Ruhestörungen nicht an. Schließlich gaben die letzten Bebenprognosen des Computers Anlass zur Besorgnis. Sie bestärkten Askos Vermutungen.
Immer mehr Passagiere gingen an ihnen vorbei und betraten das Luftschiff. Bis zum Abflug waren es nur noch wenige Minuten. Eine junge Frau streifte die Gruppe mit einem aufmerksamen Blick. Asko sah ihr kurz nach. Sie hatte unter den vielen großen schlanken Menschen eine auffallend kleine, zierliche Figur. Fast hätte er sie noch für ein Mädchen gehalten. Aber warum ging sie ohne Begleitung, und warum sah sie so ernst aus? Immer, wenn Asko jemanden allein gehen sah, irritierte ihn das, denn für gewöhnlich sah man junge Menschen in fröhlichen Gruppen beisammen, so lebhaft und stets zu Scherzen aufgelegt, wie sie es daheim in der eigenen Gruppe meist waren.
"Und vergiss nicht: An Professor Sirju musst du dich wenden, wenn du Zugang zu den Archiven über die Zeit vor dem hundertjährigen Strahlungssturm bekommen willst", ermahnte ihn Rededa noch einmal. "Sirju stammt übrigens aus deiner Heimat, aus Alaska", fügte sie hinzu.
Das Signal zum Schließen des Einstiegs ertönte. "Langes Leben", sagten sie zum Abschied. Dann betrat Asko als letzter Fluggast das Luftschiff.
Er schlenderte, während das Luftschiff unmerklich vom Portalturm ablegte und langsam aufstieg, eine Weile durch die behaglich eingerichteten Räume des Passagiertraktes. Die meisten Reisenden standen an den langen Fensterfronten und genossen es, schwanengleich in nur einhundertfünfzig Meter Höhe das Stadtgebiet zu verlassen und über das weite Land zu gleiten. Asko riskierte auch einen Blick, obwohl für ihn die große Stadt aus der Vogelperspektive nicht reizvoll war. Die Bewegung der Verkehrsströme war kaum zu erkennen. Sie krochen träge dahin oder schienen sogar erstarrt zu sein. Die Besonderheiten der verschiedenen afrikanischen Landschaften, die das Luftschiff in den nächsten Stunden überqueren würde, interessierten ihn da schon mehr.
Asko wollte gerade zum Speisesaal gehen, um nachzusehen, ob es noch möglich sei, das versäumte Frühstück nachzuholen, als er sie wieder sah. Sie hatte ihr Straßenkostüm gegen ein leichtes bauschiges Kleid vertauscht und saß auf einem Barhocker. Aber dieser Hocker stand nicht an der Bar, sondern hinter einer Pflanzengruppe. Von dort aus hatte sie gute Sicht nach mehreren Richtungen, ohne selbst aufzufallen. Als Asko aus dem Foyer zurückkehrte, ging er zwischen den Tischen des Cafés hindurch, dicht an ihrem Platz vorbei, zu den Menschen an der Fensterfront. Von dort aus musterte er sie. Sie wirkte in dem Kleid noch zierlicher als vorhin im Straßenkostüm auf dem Passagiersteg des Portalturmes. Auf den Knien hielt sie ein kleines Zeichenbrett. Ihr Stift eilte hin und her.
Plötzlich hob sie den Kopf, blickte ihn einen Augenblick prüfend an und sagte leichthin: "Hallo!"
Unwillkürlich trat Asko näher. "Hallo", antwortete er, unsicher, ob sie tatsächlich ihn gemeint hatte. "Langes Leben", murmelte er gewohnheitsmäßig.
"Sie gehören bestimmt einem Makrogen an", stellte sie fest und zeichnete dabei weiter.
"Ja, das haben Sie richtig geraten", sagte er verblüfft. "Woher wissen Sie das?"
"Man sieht es Ihnen an. Wenn Angehörige eines Makrogens allein reisen, fühlen sie sich immer erst einmal wie verloren."
"Ich und verloren? Keinesfalls!", protestierte er, stockte dann aber, weil ihm bewusst wurde, dass sie doch richtig beobachtet hatte. "Nun, gewiss", gab er zu, "ein kleines Gefühl der Fremdheit ist bei mir jetzt tatsächlich vorhanden. – Aber ich denke, dass das mit Ihrer Hilfe in einer Stunde schon ganz anders sein wird", sagte er kühn. Dabei spürte er deutlich, dass er sich Hals über Kopf in eine Situation stürzte, der er vielleicht nicht gewachsen war.
Sie lächelte und hielt ihm schweigend ihr kleines Zeichenbrett hin. Er war noch so weit von ihr entfernt, dass er sich nach vorn beugen musste, um es mit ausgestrecktem Arm zu erreichen. Das kam ihm linkisch vor, und er war ärgerlich über sich. Dieses Unbehagen nahm noch zu, als er die Skizze betrachtete: Ein junger Mann stand unschlüssig im Foyer des Luftschiffes und sah fast schon verdrossen vor sich hin. Man erkannte es auf den ersten Blick, dass er sich fremd und einsam fühlte, wie jemand, der eben von guten Freunden allein gelassen worden war und sie lange nicht mehr sehen würde. Seine Haltung war leicht versteift.
Die zierliche junge Frau rutschte von ihrem Barhocker herunter und nahm ihm das Zeichenbrettchen aus der Hand. Mit ein paar Strichen vollendete sie die Skizze. Das Profil der gezeichneten Person entstand in wenigen Sekunden unter ihrem Stift. Da erkannte Asko, was er geahnt hatte: Er selbst war es, den sie dargestellt hatte!
"Würden Sie nun bitte drunterschreiben, wer Sie sind?", bat sie.
Asko nickte benommen und strichelte seinen Namen unten auf den Rand der Zeichenfläche.
"Sind Sie etwa eine Karikaturistin?", fragte er argwöhnisch.
"Wieso?", wollte sie erschrocken wissen. "Ist meine Darstellung so schlecht geraten, dass Sie sich entstellt fühlen? Karikaturisten machen sich über die Schwächen ihrer Mitmenschen lustig. Mir liegt eine solche Haltung fern", verteidigte sie sich. "Im Gegenteil: Ich will all das erfassen, was es Liebenswertes und Herzliches zwischen uns Menschen gibt."
Zu ihrer Rechtfertigung berührte sie einen winzigen Stift an der Seite des Zeichenbrettchens und schob ihn entlang der Randskala. Die Speicheranlage des Brettchens gab Dutzende von Skizzen frei. Sie erschienen langsam nacheinander auf der Fläche, so als blättere man einen Block durch. Eine Fülle wunderbarer kleiner Begebenheiten zog dabei an Asko vorüber. Nirgends entdeckte er eine Darstellung, die einen Menschen karikierte. Die Zartheit mancher Zeichnungen war verblüffend. Asko war erleichtert.
"Verzeihung", sagte er. "Meine Frage war unüberlegt. Sie sind talentiert. Bestimmt werden Sie eine große Künstlerin, falls Sie das nicht schon sind."
Gleich lächelte sie wieder. "Ich bin keine Künstlerin", sagte sie, "studiere Psychologie, Hauptfach Symbio-Technik. Ich bin Tri Quang", stellte sie sich vor.
"Symbio-Technik? Eine Spezialistin dafür fehlt uns in unserer Gruppe noch", sagte er. "Kommen Sie uns bald besuchen; vielleicht gefällt es Ihnen bei uns." Er nannte ihr die Anschrift. "Aber es geht meist hoch her, damit wir nicht merken, wie abgeschieden wir wohnen."
Tri Quang sah ihn einen Augenblick an. "Beides stört mich nicht", sagte sie. "Hauptsache, man mag mich. Eigentlich wollte ich mich schon seit einem Jahr einer makrogenen Gruppe anschließen. Es ist aber nicht einfach, Anschluss zu finden. Herzlichen Dank für die Einladung."
Sie zupfte an seinem Ärmel, gewissermaßen als Aufforderung, sie zu begleiten und ihr Gesellschaft zu leisten. Asko und Tri Quang gingen an der Fensterfront hinter den Rücken der vielen Menschen auf und ab, die plaudernd beisammen standen und dabei die Landschaft betrachteten, die unter ihnen vorüberzog. Noch zeigte das Gelände Narben von den Schäden, die die Temperaturschwankungen der Klima-Kataklysmen während des hundertjährigen Strahlungssturmes hinterlassen hatten.
"Es ist schade, wenn Sie Ihren Platz dort hinter der Pflanzengruppe verlassen", sagte Asko und deutete auf den Barhocker. "Ich will nicht schuld daran sein, wenn Ihnen Motive zu neuen Skizzen entgehen. Ich verstehe nur nicht, was Zeichnen mit Psychologie zu tun hat."
Tri Quang erklärte es ihm. "Solche Skizzen sind nur ein Hilfsmittel, mich in der psychologischen Beurteilung von Menschen und Situationen zu schulen", sagte sie. "Wenn man etwas zeichnet, ist man einfach gezwungen, schärfer zu beobachten, weil sich sonst das Charakteristische eines Menschen in einer bestimmten Situation mit dem Stift nicht darstellen lässt. Die deutlichsten Eindrücke habe ich immer, wie das natürlicherweise bei jedem Menschen der Fall ist, in der ersten halben Stunde nach dem Eintritt in einen neuen, noch unbekannten Bereich. Diese halbe Stunde ist nun vorbei. Sie brauchen sich also keine Vorwürfe zu machen, Asko, wenn ich meinen Hocker aufgebe. Ich habe ein paar Skizzen eingefangen. Das genügt mir für heute. Damit bin ich jetzt ziemlich genau über das Stimmungsklima der Passagiere hier an Bord orientiert. Mehr wollte die Psychologin in mir nicht erreichen", sagte sie und lachte. "Von einem gewissen Punkt an sträubt sich nämlich mein Gefühl, die Menschen um mich herum bis ins letzte zu analysieren, denn dann würden sie sich in Objekte verwandeln, die man wie Puppen in die eine oder andere Kategorie einstuft. Doch nun lassen Sie uns von etwas anderem reden", schlug sie vor.
"Ich wüsste nur noch gern eines: Sehe ich wirklich so aus, als könnte ich mich unter fremden Menschen nicht allein zurechtfinden?", fragte Asko.
"Einen solchen Komplex brauchen Sie sich erst gar nicht einzubilden." Sie winkte ab. "Ihre Neigung zur Unsicherheit ist vermutlich nur kurz. Sie sind nicht der Typ, der imstande wäre, einen ganzen Flug lang nur scheu in der Kajüte zu sitzen und niemanden anzusprechen. So wie mit mir wären sie auch bald mit anderen Fahrgästen mitten in der schönsten Unterhaltung gewesen."
Asko wollte nicht aufdringlich wirken. Vor einer Psychologiestudentin mit dem Hauptfach Symbio-Technik hatte er die allergrößte Hochachtung. Es wäre sicherlich richtig, sich jetzt von ihr zu verabschieden, dachte er. Aber sie übte mit ihrer Zierlichkeit eine solche Anziehungskraft auf ihn aus, dass er am liebsten bis zum Reiseziel ihre Gesellschaft gesucht hätte. Möglichst leichthin fragte er sie deshalb: "Wo steigen Sie aus?"
"Auf halbem Wege, in Kib-E-Ombo am Kongo. In ungefähr zwei Stunden sind wir dort. Fast jedes Jahr um diese Zeit treffe ich mich mit meinem Bruder. Unsere Mutter ist dort gegen Ende der hundertjährigen Klimaschwankungen umgekommen. Wir besuchen ihr Grab."
Asko sah verlegen zur Seite. Es war also nichts mit seinem stillen Wunsch, Tri Quang noch ein paar Stunden länger in der Nähe zu wissen. Wie ärgerlich auch, dass er mit seiner Frage etwas Trauriges in ihrem Leben berührt hatte. Deswegen also war sie in dieser ernsten Stimmung an Bord gekommen.
Von weit hinten aus dem langen Promenadengang tönten Gesang von Männerstimmen und Gitarrenspiel gedämpft bis zu ihnen. Die Leute an den Aussichtsplätzen in ihrer Nähe drehten sich sofort neugierig danach um. Nur Asko vermied das und sah verstohlen auf Tri Quang. Für sie schien ihm diese laute Fröhlichkeit dort am Ende des Ganges jetzt fehl am Platze zu sein. Er hätte Verständnis dafür gehabt, wenn sie in einen ruhigeren Teil des Luftschiffes gehen würde.
Tri Quang reagierte ganz anders. Sie horchte auch auf und sagte: "Das müssen die trampenden Raumfahrer sein, die ich vorhin schon mal gesehen habe." Sie lief auf die Musik zu, und Asko folgte ihr.
Trampende Raumfahrer stellten nichts Ungewöhnliches dar. Jedermann wusste, dass es Kosmonauten auf Erdurlaub häufig zum Bedürfnis wurde, Kontinente in allen Richtungen zu durchwandern. Das taten sie meist zu Fuß und entlang den Küsten der Erdteile. Es gab wohl kaum einen Raumfahrer, der nach mehrjährigem Flug durchs All nicht froh war, seinen Fuß auf die kugelrunde blaue Oase setzen zu können, die wie ein Juwel die Sonne umkreiste und Sicherheit und Geborgenheit versprach. Eine solche Gruppe von Männern war es, die hier an Bord des Luftschiffes zur afrikanischen Ostküste flogen, vielleicht um die besonders abwechslungsreiche und romantische vierhundert Kilometer lange Küstenlinie von Dar-S-Alamba nach Moa-M-Basa entlangzuziehen. Wenn man das Leben in freier Natur so sehr liebte und genoss, wie es Raumfahrer taten, dann konnte man für diese vierhundert Kilometer einen großen Teil seines Erdurlaubes, nämlich zwei bis drei Monate, verbrauchen. Sie wanderten in Gruppen und hatten es offenbar auch hier an Bord des Luftschiffes gern, wenn sich viele Menschen um sie scharten. In ihrer Stimmung waren sie mit jedem sofort auf du und du. Ihre Geselligkeit wirkte ansteckend. Kein Wunder also, wenn sie schon nach wenigen Minuten eine Psychologiestudentin wie Tri Quang magisch anzogen.
Tri Quang stand nicht einfach nur irgendwie im Kreis um die Raumfahrer herum. Die Kosmonauten sangen raue Raumfahrtballaden, und Tri Quang, die die meisten davon kannte, setzte sich zu ihnen und sang mit. Andere Leute aus dem Umkreis begannen Unterhaltungen mit zwei der Raumfahrer, manche tanzten zu den Liedern und improvisierten choreographische Bewegungen. Stewardessen verteilten Eis und Getränke.
Asko klatschte Beifall, als ein Lied zu Ende war, und dachte gerade daran, von den Zuschauern zu den Akteuren überzuwechseln, um wieder mehr in die Nähe Tri Quangs zu kommen, als ihn jemand ansprach. Es war ein Angehöriger der Besatzung des Luftschiffes.
"Ich habe eine Bitte", sagte der Mann, dessen Alter sich nur schwer schätzen ließ, der aber vermutlich zwanzig Jahre älter als Asko war. Sie gingen beide aus dem Kreis der Zuschauer und Zuhörer heraus und stellten sich einige Schritte abseits.
"Sie befinden sich an Bord eines Luftschiffes, das von einem Makrogen betreut wird", erklärte der Mann. "Es ist unser ständiges Heim. Da wir Gesellschaft und Gäste lieben, fliegen wir für einen Teil des Jahres keine Fracht, sondern auf Passagierlinien; gegenwärtig auf der Route Mos-A-Dreles/Dar-S-Alamba. Nun sind uns ein paar Messgeräte heute und in den Tagen zuvor ausgefallen, mit denen wir die Ballonets, also die Traggaskammern, und die Navigation überwachen. Wir müssten das Luftschiff eigentlich aus dem Liniendienst herausnehmen und zu einer Werft bringen. Wie unser Bordcomputer der Passagieridentifikation entnehmen konnte, sind Sie Fachmann auf dem Gebiet der Messelektronik. Wären Sie bereit, uns zu helfen und ein paar Reparaturen und Justierungen vorzunehmen?"
Asko warf über die Köpfe der Menschen hinweg einen raschen bedauernden Blick zu Tri Quang. Sie war so in Anspruch genommen von der Fröhlichkeit, dass sie es nicht bemerken würde, wenn er fortging. Langsam nickte Asko und seufzte.
"Gern, selbstverständlich", sagte er. "Zeigen Sie mir die Geräte. Und ich werde dann versuchen, ihre Funktionsweise zu ermitteln und die Defekte zu finden."
"Danke", sagte der Mann erleichtert. "Ich wusste, dass Sie uns helfen werden. Wenn wir Reisende aus makrogenen Wohngemeinschaften ansprechen, haben sie uns bisher immer geholfen. Und der Bordcomputer gab an, dass Sie einem Makrogen angehören."
So war es fast immer, wenn jemand aus Askos Gruppe auf Fahrt ging. Sobald aus irgendwelchen Anzeichen ersichtlich wurde, dass man Angehöriger eines Makrogens war, fand man schnell zu anderen Makrogens Kontakt, und sei es, dass man, wie in diesem Fall, um Hilfe gebeten wurde. Ebenso war das sicherlich auch der Grund dafür, dass Tri Quang mit ihm gleich ins Gespräch gekommen war.
Asko dachte nach. Gehörte auch sie einem Makrogen an? Er entdeckte, dass es sein heimlicher Wunsch war, Tri Quang für sein eigenes Makrogen zu gewinnen. Er war fest davon überzeugt, dass Tri Quang ausgezeichnet mit seiner Gruppe harmonieren würde, und außerdem brauchten sie unbedingt eine Psychologin dieser Fachrichtung.
Der Mann aus dem Luftschiffmakrogen neben ihm erklärte etwas. Sie gingen auf ein Schott zu. Es trug die Aufschrift: "Achtung! Technische Anlagen! Nur für Bordpersonal zugänglich!"
"Das Werftnetz ist für Luftschiffe dieser neuen Art immer noch sehr dünn", sagte der Mann. "Wir hätten dreitausend Kilometer fliegen müssen, um das nächste Dock zu erreichen, und zwar entweder nach Coa-N-Akry oder nach Pret-O-Ria. Zwar hätten wir auch einfach in Kib-E-Ombo vor Anker gehen können, um zu warten, bis ein Techno vom Service geschickt worden wäre. Aber die sind so überlastet, dass wir uns gern selbst helfen oder unter Passagieren nach Hilfe umsehen. Wir möchten es unbedingt vermeiden, dass auf unserer Route von Mos-A-Dreles nach Dar-S-Alamba Fahrplanausfälle auftreten."
Zuerst hatte Asko die Besatzung ein wenig beneidet, als er hörte, dass sie dieses Schiff besaß, und er hatte geglaubt, dass sie mehr oder weniger die Flugroute bestimmen konnte. Es war sicherlich nur wenigen Makrogens vergönnt, ein solches Arbeitsfeld zu erhalten. Für gewöhnlich waren Luftschiffe von Schichtpersonal im Dienste der Weltverkehrsföderation besetzt. Jetzt merkte Asko, dass diese Leute mehr im Sinn hatten, als nur umherzuschweifen. Hier setzte man sich für die übertragene Aufgabe ein, mehr jedenfalls, als das das fliegende Personal sonst zu tun pflegte; und hier im Luftschiffmakrogen hatte man auch Probleme, ähnlich wie Askos Gruppe am Moho-Pult.
Sie hatten hinter dem Schott einen Tunnel erreicht, der mitten durch den Rumpf des Luftschiffes führte. Es herrschte eine beträchtliche Wärme. Sie wurde von den elastischen Wänden ausgestrahlt, die Asko und seinen Begleiter von den Ballonets trennten. Diese waren mit Helium gefüllt und wurden vom Reaktor ständig nachgeheizt. Der Mann händigte Asko einen Schutzanzug, Sauerstoffmaske und Werkzeugtasche aus. Dann stapften sie den schmalen Steg entlang in die Tiefe des matt erleuchteten Tunnels hinein. An einer Kontrollapparatur machten sie halt.
Nach einer Stunde Arbeit waren die defekten Geräte im Tunnel geprüft und justiert. Ihr nächstes Ziel war die Kommandokanzel im Bug, in der auch ein Gerät ausgefallen war.
Zwischendurch unterhielten sich Asko und der Ingenieur über das Leben in ihren Makrogens. Dabei erfuhr Asko, dass die Besatzung zehn Monate lang hindurch im Liniendienst eingesetzt war und zwei Monate lang nach Belieben herumkreuzen durfte. Die Männer und Frauen dieser Besatzung hatten sich zu einem Makrogen zusammengefunden, weil jeder von ihnen seine größte Leidenschaft im Reisen entdeckt hatte.
"Wir sind zwar keine Raumfahrer, die mit einem unstillbaren Verlangen nach der Erde aus dem All zurückkehren, aber wir wollen unseren Planeten auch bis in seinen letzten Winkel kennen lernen", sagte der Ingenieur. "Und wir wissen, dass wir, wenn wir unsere Erde genießen wollen samt ihren kleinen und kleinsten Schönheiten, mehrere hundert Jahre benötigen. Ein fliegendes Zuhause, wie es ein solches Luftschiff darstellt, ist dafür geradezu ideal. Dieses Vorteils wegen nehmen wir es gern auf uns, im Liniendienst eingesetzt zu werden. Man lernt dabei große Teile unseres Planeten kennen."
Sie hatten in ihrer Gruppe auch Fachleute aus der Soziologie und der Psychologie, die die Mentalität von Reisenden ergründeten. Die Ergebnisse eines solchen Forschungsstudiums kamen der Verkehrsföderation und den Verkehrspsychologen zugute. Außerdem gab es Meteorologen in ihrer Gemeinschaft, die den regionalen Wettercomputern Daten von der Flugroute zulieferten. Hauptaufgabe war es jedoch, täglich Tausende Passagiere in diesem fliegenden Hotel zu befördern und zu betreuen sowie das Luftschiff technisch und navigatorisch zu führen.
Unter dem Personal in der Führungskanzel am Bug des Luftschiffes herrschte ruhige, konzentrierte Zusammenarbeit. Nur als man einen Haltepunkt ansteuerte, wurde es lebhafter. Asko sah kurz von dem Gerätepult auf, an dem er hinter der geöffneten Verkleidung an den Schaltungen arbeitete.
"Wo sind wir jetzt?", fragte er den Ingenieur.
Das Gerüst eines Portalturmes glitt heran. Noch war der Ankersteg nicht ausgeschwenkt. Hinter dem Glas der Abfertigungsplattform waren Menschen in farbenfroher Kleidung zu sehen. Es war das übliche Bild.
"Wir sind jetzt auf der Hälfte unserer täglichen Route, in Kib-E-Ombo", sagte der Ingenieur.
Asko legte schnell eine demontierte Gerätesektion auf den Boden und rannte los. Sein weißer Kittel flatterte. Auf der Stirn leuchtete die grelle Stichlampe für Falschlichtkontrolle bei Geräteuntersuchungen, und am Kragenaufschlag baumelte an einer Kette der Satz Justierindikatoren, den man benötigte, wenn man die feinen und feinsten Verbindungen in den Geräten und Baugruppen prüfen wollte.
"Ich komme gleich wieder zurück", rief er hastig.
Der Weg durch den Tunnel mitten durch die Ballonets zum Passagiertrakt erschien Asko unendlich lang zu sein. Die Hitze des Heliumgases, die aus den elastischen Wänden auf ihn einströmte, erstickte ihn fast. Die Kleidung fing an, am Körper zu kleben. Endlich hatte er das Schott zum Foyer erreicht. Nervös hielt er unter den Reisenden Umschau, die schon durch den geöffneten Ausstieg auf den Ankersteg hinausstrebten. Wo war Tri Quang? All die großen Menschen verdeckten ihre zierliche Figur. Vielleicht war sie auch schon längst draußen auf der Plattform.
Gerade als sie im Begriff war, das Luftschiff zu verlassen, entdeckte Asko sie. Aber er vermochte den Strom der aussteigenden Passagiere nicht zu stoppen. Asko steuerte aufgeregt auf eine Stewardess in seiner Nähe zu. "Bitte, schnell, leihen Sie mir für zwei Minuten ihren Lippenstift", bat er sie.
"He Junge, nur keine Panik", sagte sie erstaunt und blinzelte schließlich amüsiert. Sie nestelte das gewünschte Objekt irgendwo aus einer Tasche hervor. Asko ergriff den Lippenstift und rannte an der langen Glasfront der Aussichtspromenade entlang. An einer Stelle, von der er hoffte, dass man sie vom Ankerturm aus gut sehen konnte, schrieb er fieberhaft in Spiegelschrift mit ellengroßen Buchstaben: "Wo wohnst du, Tri Quang?"
Es war der stechende Lichtstrahl seiner Stirnleuchte, der den Leuten auf dem Ankersteg auffiel. Hier und dort machte man sich gegenseitig auf ihn aufmerksam. So kam es, dass auch Tri Quang die Schrift sah. Sie blickte genauer hin und erkannte schließlich in dem Menschen mit dem weißen Kittel ihren neuen Bekannten Asko. Vielleicht genierte sie sich einige Augenblicke lang. Aber schließlich griff sie zum gleichen Mittel und schrieb an die Scheiben der Abfertigungsplattform: "Bis 9.2. Kib-E-Ombo, Haus am See!" Dann winkte sie ihm lebhaft zu. Das Luftschiff war bereits wieder im Ablegen begriffen. Asko nahm schnell noch einmal den Lippenstift und schrieb auf seine Scheibe: "Danke!"
Dann versank der Portalturm des Landepunktes von Kib-E-Ombo unter ihm und schwenkte aus seinem Blickfeld. Unweit der Stadt sah er den See blinken, den sie angegeben hatte. Auch ein Fluss schlängelte sich durch das Land. Zwischen See und Fluss ragte ein technisches Gebilde in Form einer zylindrischen Spirale beziehungsweise in der Art einer riesigen Schraubenfeder ebenso hoch in die Luft wie der Ankerturm des Haltepunktes für Luftschiffe.
"Mein Makrogen bewacht das atlantische Epizentrum", erklärte Asko am nächsten Tag, als er dem Historiker Professor Sirju im Gebäude der Universität für Afrikanische Geschichte gegenüberstand.
"Die Seismographen zeigen in den letzten Jahren Kurven, die nicht natürlichen Ursprungs sein können. Es muss da noch ein Geheimnis geben. Ich will ergründen, ob es in der Vergangenheit Hinweise auf Vorgänge gibt, die mir diese Reaktion in der Erdkruste erklären."
Professor Sirju sah ihn lange schweigend an. Endlich entschloss er sich, seinem jungen Besucher etwas preiszugeben. "Du hast recht, Asko. Es gibt tatsächlich einen gewichtigeren Grund, die dünnste Stelle der Erdkruste im Atlantik zu beobachten als nur den, die normale Bebentätigkeit zu registrieren. Es hat ein Ereignis in der Vergangenheit gegeben, über das man nicht mehr genau Bescheid weiß. Wir Historiker lieben es nicht, wenn irgendjemand nur so aus bloßer Neugier die Vergangenheit nach Sensationen durchstöbert. Man sollte nicht unüberlegt in ihr nachforschen, vor allem nicht in der GRUM-Zeit, also in der Epoche des Großen Umbruchs der Gesellschaft. Sie ist durchstanden. Vor siebenhundertfünfzigtausend Jahren entzündete der Mensch seine ersten Feuer. Sie brachten ihm Nutzen und ließen ihn heimisch und damit zugleich friedlich werden. Das half ihm, zu neuen Erkenntnissen vorzudringen. Sein Dasein wurde leichter und vielfältiger. Vor vierhundert Jahren entzündete der Mensch wieder ein Feuer, das Mega-Feuer. Er zwang es, ihm zu dienen. Es trug ihn in das Universum hinaus. Ehe es das jedoch tat, geschah etwas, womit uns dieses Feuer nicht diente und das wir sogar heute noch fürchten müssen. Wichtige Hinweise auf die Gefahr und ihren Ursprung gingen in diesen vierhundert Jahren wieder verloren. Unsere Nachforschungen waren bisher nicht vergebens. Aber wir haben auch noch nicht alles herausgefunden, was wir wissen müssten, um diese Gefahr bannen zu können. Nun gut: Vielleicht gelingt es dir, einen neuen Hinweis aufzuspüren oder neue Zusammenhänge zu entdecken, wenn du unsere historischen Quellen durcharbeitest. Und da der Lehrstuhl für Geologie, Seismologie und Tektonik von Mos-A-Dreles dein Makrogen damit beauftragt hat, das Moho-Pult zu bedienen, sei es dir erlaubt, in die Gewölbe der Universität zu den Datenspeichern des zwanzigsten Jahrhunderts hinabzusteigen."
Es dauerte ein paar Tage, ehe Asko sich weit genug in die Vergangenheit zurückgearbeitet und Berichte über die einschlägigen Vorgänge jener Zeit auf dem Leseschirm gesichtet hatte. Unbekannte Wissenschaftler hatten eine umfangreiche Vorarbeit geleistet. Sie waren, wie das Professor Sirju schon angedeutet hatte, auch auf der Suche nach dem Geheimnis des Atlantiks und nach dem Ursprung dieser Gefahr gewesen.
Asko konnte bald jenen Zeitabschnitt eingrenzen, in dem das Ursprungsereignis für die ungewöhnlichen Reaktionen im atlantischen Epizentrum zu vermuten war. Er wusste kaum mehr über die geschichtlichen Abläufe als jeder andere aus seiner Generation auch. Asko hatte eine schwache Vorstellung davon, wie man in den verschiedenen Epochen gelebt und gewohnt hatte, was die Menschen ungefähr gegessen hatten und wie sie gekleidet gewesen waren; wie sie erst langsam und dann rasch in die Wissenschaften eingedrungen waren und schließlich die Hilfswelt der Maschinen geschaffen hatten.